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Leben ohne Autos

Die neuen Städte Ökotopias

 

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San Francisco, 7. Mai 1999  

Unter dem neuen Regime sind die bestehenden Städte Ökotopias in einem gewissen Maß in sogenannte ›Nachbarschaften‹ oder Gemeinden aufgefächert worden, die jedoch noch keineswegs völlig dem Idealbild entsprechen, das man innerhalb des ökotopianischen Lebensmodells langfristig anstrebt. 

Ich hatte soeben Gelegenheit, eine der eigenartigen neuen Kleinstädte zu besuchen, die überall im Entstehen begriffen sind und auf extreme Weise die Vorstellung dieser dezentralisierten Gesellschaft von einer Stadt verwirklichen. Sie heißt Alviso und war einst ein verschlafenes Nest am südlichen Ende der San Francisco Bay. Man erreicht sie mit der Stadtbahn und steigt im Untergeschoß eines großen Gebäudekomplexes aus. Zentrum der Anlage ist, wie sich herausstellte, nicht etwa das Rathaus oder der Gerichtshof, sondern eine Fabrik.

Sie stellt elektrische Zugmaschinen her – man kann sie kaum in unserem Sinne als Autos oder Lastwagen bezeichnen –, die für den Transport von Menschen und Frachtgütern in Stadt und Land benutzt werden. (Bald nach der Unabhängigkeit wurde privater Fahrzeugbesitz innerhalb 'autofreier' Zonen verboten. Diese Zonen erstreckten sich anfangs nur auf die Innenstädte, wo Umweltverschmutzung und Überbevölkerung die bedenklichsten Ausmaße angenommen hatten. Als das Kleinbusnetz ausgebaut wurde, erweiterte man dann die Zonen, die heute alle dichtbesiedelten Stadtgebiete umfassen.)

Rund um die Fabrik, wo bei uns ein riesiger Parkplatz angelegt wäre, stehen in Alviso in dichtgedrängter Gruppe Gebäude und dazwischen überall Bäume. Es gibt dort Restaurants, eine Bücherei, Bäckereien, einen 'Grundbedarfsladen' für Lebensmittel und Kleidung, kleine Geschäfte, ja sogar Fabriken und Betriebe – im bunten Wechsel mit Wohnhäusern, die im allgemeinen nur drei bis vier Stockwerke hoch sind und einen Innenhof umschließen, wie man ihn in dieser Art aus dem alten Paris kennt.

Die Gebäude bestehen fast vollständig aus Holz, das im Zuge des Aufforstungs­programms zum vorherrschenden Baumaterial in Ökotopia geworden ist, und wirken zwar altmodisch, haben aber hübsche kleine Balkons, Dachgärten und Veranden, die oft mit Pflanzen oder sogar kleinen Bäumen bestanden sind. Die Wohnungen selbst sind nach unseren Maßstäben sehr groß – den Wohngemeinschaften, für die sie gedacht sind, stehen zehn bis fünfzehn Räume zur Verfügung. 

Die Straßen von Alviso tragen Namen, keine Nummern, und sind fast ebenso schmal und gewunden wie in mittelalterlichen Städten – nicht leicht für einen Fremden, sich hier zurechtzufinden. Sie sind kaum breit genug für zwei Autos nebeneinander – aber natürlich gibt es keine Autos, so daß dieses Problem entfällt. Neben Fußgängern und Radfahrern schlängelt sich höchstens dann und wann einmal ein Lieferwagen hier entlang, der ein Möbelstück oder einen anderen größeren Gegenstand befördert; ihre Lebensmitteleinkäufe jedoch transportieren die Ökotopianer in Netzen oder großen Fahrradtaschen nach Hause. Die Waren für die Geschäfte werden, wie die meisten Frachtgüter, in Containern angeliefert, die weitaus kleiner als unsere Frachtcontainer und in ihrer Größe auf die ökotopianischen Lieferwagen und elektrischen Lastwagen abgestimmt sind.

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Landwirtschaftliche Produkte beispielsweise werden entweder auf den Farmen oder im Container-Terminal an der Peripherie jeder Kleinstadt in solche Container verladen. Vom Terminal aus stellt ein unterirdisches Förderbandsystem die Verbindung zu allen Läden und Fabriken der Kleinstadt her, die wiederum alle über eine Art Nebengleis verfügen, wo die Container entladen werden. Wahrscheinlich geht die Idee auf unsere vollautomatisierten Lagerhäuser zurück, doch läuft der Prozeß hier genau umgekehrt ab. Es scheint sehr gut zu funktionieren, obwohl ein fürchterliches Chaos entstehen muß, wenn es unter der Erde zu irgendeinem Stau kommt.

Meine Führer auf dieser ›Expedition‹ waren zwei junge Studenten, die gerade ein Lehrjahr in der Fabrik hinter sich haben. Sie sprudeln über vor Informationen und Beobachtungen. Anscheinend lebt die gesamte Bevölkerung von Alviso, etwa 9000 Menschen, innerhalb eines Kilometerradius um den Transitbahnhof. Aber selbst bei dieser hohen Bevölkerungsdichte bleibt noch genügend Raum für eine große Anzahl parkähnlicher Plätze; manchmal bloße Verbreiterungen der Straße, manchmal ganze Gartenanlagen. Und überall Bäume – man findet kaum ein größeres Stück Straßenpflaster, das offen in der Sonne liegt.

Am Stadtrand befinden sich die Schulen und verschiedene Erholungsstätten. Im Nordosten der Stadt stößt man auf die Sumpfgebiete und Salzfelder der Bay. Man hat einen Hafen für kleinere Schiffe ausgebaggert; er mündet in einen Kanal, durch den Frachter unmittelbar bis zum Fabrikdock fahren können. Meine Gesprächspartner gaben mit einigem Unbehagen zu, daß ein bescheidener Exporthandel mit Elektrowagen existiert – die Ökotopianer führen zu diesem Zweck gerade soviel Metall ein, wie sie für die exportierten Elektromotoren und anderen Metallteile benötigen.

Am Fabrikdock stehen Jungen und angeln; das Wasser ist klar. Ökotopianer lieben das Wasser, und im Hafen liegt eine wunderschöne Kollektion von Booten in traditionellen wie auch in höchst unorthodoxen Bauweisen. Meine Führer erzählten mir voller Begeisterung, daß sie von diesem Hafen aus oft über die Bay und in das Delta hinein, manchmal sogar durch das Golden Gate auf die offene See hinaus und an der Küste entlang bis nach Monterey segeln. Ihr Boot ist zwar etwas klobig, aber durchaus hübsch; stolz boten die beiden mir an, mich bei Gelegenheit einmal mit hinauszunehmen.

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Wir unternahmen einen Rundgang durch die Fabrik, die einen verwirrenden Eindruck macht. Wie man mir erklärte, herrscht hier, wie auch in anderen ökotopianischen Produktionsstätten, nicht das Fließbandprinzip, das doch nach allgemeiner Auffassung Voraussetzung für eine wirklich effektive Massenproduktion ist. Bestimmte Bereiche sind automatisiert: die Herstellung der Elektromotoren, Aufhängungsrahmen und anderer größerer Teile. Die Montage der Einzelteile jedoch wird von Arbeitergruppen durchgeführt, die die Teile Stück für Stück zusammensetzen, indem sie sie aus Materialbehältern nehmen, die von den automatisierten Maschinen gespeist werden. Die Atmosphäre in der Fabrik ist, verglichen mit dem Heidenlärm eines Werks in Detroit, ruhig und angenehm; die Arbeiter scheinen auch nicht wie in Detroit unter hohem Leistungsdruck zu stehen. Natürlich erleichtert die extrem einfache Bauweise ökotopianischer Fahrzeuge auch die Planung und Durchführung des Herstellungs­prozesses – ja, einer vollständigen Automatisierung dürfte kaum etwas im Wege stehen.

Wie ich außerdem feststellen konnte, besteht ein Großteil der Fabrikproduktion keineswegs aus fertigen Fahrzeugen. Entsprechend der ›Do it yourself‹–Manier, die ein so wesentlicher Bestandteil des ökotopianischen Lebens ist, produziert diese Fabrik hauptsächlich Frontpartien, Heckpartien und Batteriesätze. Privatleute oder Organisationen bauen diese Teile dann nach eigenen Konstruktionsplänen zusammen. Die Fahrzeuge sehen häufig so sonderbar aus, daß die Kleinbusse in San Francisco daneben geradezu alltäglich wirken. Ich habe beispielsweise einen Lastwagen mit einer Treibholz-Karosserie gesehen, die über und über mit Seemuscheln geschmückt war; er gehörte einer Fischereikommune an der Küste.

Die Frontpartie besteht aus zwei Rädern, die jeweils von einem Elektromotor angetrieben werden und mit Bremsen versehen sind. Der Rahmen verbindet sie mit einer Lenk- und Aufhängungsvorrichtung. Dazu gehören noch ein einfaches Lenkrad, ferner Gas- und Bremspedal, ein Armaturenbrett und zwei Scheinwerfer. Der Motor leistet nicht mehr als fünfzig Stundenkilometer (auf ebener Strecke!), so

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daß die Wagen nur bescheidene technische Anforderungen erfüllen müssen – auch wenn meine Führer mir erklärten, daß die Radaufhängung eine technische Neuerung sei: die Achslast wird dabei auf hydraulischem Wege ausgependelt, zudem benötigt man nur sehr wenig Metall zu ihrer Herstellung. Das Heckteil ist von der Lenkung unabhängig und daher noch einfacher in der Konstruktion. Die Batteriesätze, kleiner und leichter noch als selbst unsere besten japanischen Importe, sind für Fahrzeuge unterschiedlicher Ausführungen verwendbar. Jede Batterie kann mit einer Schnappschnur an ein Aufladegerät angeschlossen werden. Die Fabrik produziert verschiedene Standardkarosserien, an denen die Antriebseinheiten an jedem Ende mit nur vier Schrauben befestigt werden können. (Diese Einheiten werden bei jeder Reparatur ausgebaut.) Die kleinste und gängigste Karosserie ist eine Miniaturausgabe unserer Kleintransporter. Sie besteht aus einer winzigen Fahrerkabine mit nur zwei Sitzen und einem flachen, quadratischen, offenen Laderaum. Die Rückseite der Führerhäuser kann zu einem Dach hochgeklappt werden, und manchmal läßt man an den Seiten Planen herunter, um den Laderaum vollständig abzuschließen.

Außerdem wird noch eine Karosserie vom Taxi-Typ in geringer Stückzahl hergestellt. In der ersten Zeit nach der Unabhängigkeit, als das Kleinbus- und Transitzugsystem noch im Aufbau war, setzte man in den Städten viele dieser Fahrzeuge als Lückenbüßer ein. Die aus Schwerplastik bestehenden Karosserien werden in einem Stück in einer riesigen Form gegossen.

Diese primitiven und leistungsschwachen Fahrzeuge können natürlich den Drang nach Geschwindigkeit und Freiheit nicht befriedigen, dem die amerikanische Autoindustrie und unser rühriger Autobahnausbau so sehr entgegengekommen sind. Meine Führer und ich gerieten über diese Frage in eine heiße Diskussion, in der sie sich, wie ich gestehen muß, unangenehm gut über die Verhältnisse auf unseren städtischen Durchgangsstraßen informiert zeigten, wo manchmal tatsächlich überhaupt kein Fortkommen mehr ist. Als ich aber fragte, warum in Ökotopia keine schnellen Autos für die Tausende von Kilometern Überlandautobahnen gebaut werden (die nun völlig ungenutzt liegen, auch wenn sie dem Zugverkehr teilweise als Trasse dienen), muß-

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ten sie mir die Antwort schuldig bleiben. Ich versuchte ihre Ansichten ins Wanken zu bringen, indem ich behauptete, daß niemand ganz und gar unempfänglich für die Reize einer frei vor ihm liegenden Straße sein könne und erzählte ihnen, wie es ist, wenn man in einem unserer schnellen, bequemen Wagen dahinbraust, ein Mädchen mit wehendem Haar auf dem Beifahrersitz ...

Wir aßen in einem der Restaurants in der Nähe der Fabrik inmitten einer heiteren, lauten Menge von Bürgern und Arbeitern zu Mittag. Mir fiel auf, daß sie eine ganze Menge von dem ausgezeichneten Lokalwein zu ihren Suppen und Sandwiches tranken. Anschließend besichtigten wir das Rathaus, einen bescheidenen Holzbau, der sich in keiner Weise von den Wohnhäusern abhebt. Dort wurde mir eine Landkarte gezeigt, auf der die neuen Nachbarstädte eingezeichnet waren, jede mit ihrer eigenen Schnellbahnstation im Zentrum. Es hat den Anschein, daß sich ein ganzer Ring solcher Städte rund um die Bay im Bau befindet. 

Jede Stadt stellt eine unabhängige Gemeinde dar, ist aber durch die Bahnlinie mit den Nachbarstädten verbunden, so daß die gesamte Kette von Siedlungen schließlich eine einzige Stadt bilden wird. Es soll, um ein Beispiel zu nennen, einmal möglich sein, in fünf Minuten den Bahnhof zu erreichen, von dort mit dem Zug in fünf Minuten in eine Stadt zu fahren, die zehn Haltestellen entfernt ist, und dann in weiteren fünf Minuten zu Fuß sein Ziel zu erreichen. Meine Gesprächspartner sind davon überzeugt, daß man so nur die Hälfte der Zeit brauchen wird, die bei uns für eine ähnliche Reise benötigt würde, ganz zu schweigen von unseren Park- und Verkehrsproblemen sowie natürlich der Umweltverschmutzung.

Was wird aus den alten Städten, wenn diese neuen Kleinstädte einmal fertiggestellt sind? Man wird sie nach und nach niederreißen: nur ein paar Viertel sollen als eine Art Freilichtmuseum erhalten bleiben (als Zeugnisse unserer »barbarischen Vergangenheit«, wie die Jungen sich scherzhaft ausdrückten). Auf dem jetzigen Stadtgebiet wird man dann Weiden, Wälder, Obstplantagen oder Gärten anlegen – anscheinend besitzen Gruppen in der Stadt häufig Grundstücke draußen auf dem Land, zumeist wohl mit einem Häuschen, wo sie vielleicht, falls sie nicht nur zur Abwechslung hinausfahren, Gemüse anbauen.

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Nachdem wir Alviso verlassen hatten, fuhren wir mit dem Zug nach Redwood City, wo der Rückwandlungs­prozeß bereits im Gange ist. Drei neue Städte sind hier an der Bay aus dem Boden geschossen, voneinander jeweils durch einen knappen Kilometer offenes Land getrennt. Zwei weitere befinden sich im Bau; sie gehören zu einer zweiten Stadtkette, die mehrere Kilometer von der Küste entfernt in den Vorbergen liegt. Ein Teil der ehemaligen Vorortwohnviertel zwischen den neuen Siedlungsringen ist bereits abwechselnd in Wald und Weideland umgewandelt worden. Der Anblick erinnert mich ein wenig an die Sommer, die ich als Kind in Pennsylvania verbrachte. Schmale Waldstücke säumen die gewundenen Flußläufe. Habichte ziehen träge ihre Kreise. Jungen mit Pfeil und Bogen winken dem vorbeifliegenden Zug zu. Die Symbole des früheren Zivilisationsgetriebes – Straßen, Autos, Tankstellen, Supermärkte – sind vollständig vom Erdboden getilgt, als ob sie nie existiert hätten. Der Anblick war ernüchternd, und ich fragte mich, was wohl ein Bürger des alten Karthago empfunden haben mag, als er seine Stadt von den römischen Eroberern zerstört und geschleift sah.

 

(8. Mai) Alles hier ist irgendwie merkwürdig. Kann aber noch nicht genau sagen, woher dieser Eindruck kommt. Es ist, wie wenn man aus einem Traum erwacht und sich nicht mehr recht erinnern kann, wovon er gehandelt hat. Die Art und Weise, wie die Leute miteinander – und mit mir – umgehen, erinnert mich stets an irgend etwas – ich weiß aber nicht, woran. Es kommt immer ganz plötzlich, gibt mir das Gefühl, als habe sich mir irgendeine besondere persönliche Gelegenheit geboten – eine Freundschaft, die Möglichkeit, etwas Wichtiges zu lernen, Liebe –, die im selben Augenblick auch schon wieder vorüber ist. Und die Leute scheinen oft erstaunt zu sein, vielleicht auch ein bißchen enttäuscht – als sei ich ein Kind, das keine allzu schnelle Auffassungsgabe zeigt. (Aber was soll ich eigentlich lernen?)

Dann wieder fühle ich mich hier zurück in eine Vergangenheit versetzt, die mir von alten Fotografien her vertraut sein könnte. Oder aber in die Zukunft: diese Leute, die trotz ihrer sonderbaren gesellschaftlichen Praktiken so amerikanisch wirken, befinden sich vielleicht schon dort, wo wir ei-

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nes Tages sein werden. (Sie lassen natürlich keine Gelegenheit aus, mir zu sagen, daß wir uns beeilen sollen.) Werde außerdem den Eindruck nicht los, als verbrächte ich einen Urlaub auf dem Land. Zum Teil mögen daran die vielen Bäume, vielleicht auch die dunklen Nächte schuld sein (in denen ich immer noch das Gefühl habe, die Stromversorgung sei zusammengebrochen), und auch an die Stille kann ich mich nur schwer gewöhnen. Offenbar setzt sie meinem New Yorker Paranoia-Mechanismus zu, der es gewohnt ist, auf Hupen, Kreischen, Summen, Krachen und Klopfen zu reagieren, ganz zu schweigen von einem Schuß oder einem Schrei. Stille, das ist etwas, das man auf dem Land erwartet, aber nicht in einer Metropole mit mehreren Millionen Einwohnern, ständig umgeben von Menschen – und doch sind die einzigen wirklich lauten Geräusche, die man hier hört, menschliche Schreie und das Weinen von Säuglingen. In Ökotopia wird nicht dieser Quatsch vom ›neuen Menschen‹ erzählt, aber die Frage ist, wie werden sie mit der Stille fertig?

Oder, da wir schon mal dabei sind, wie werden die mit ihrer Isolation von uns fertig? Sie hat ein unbekümmertes Selbst­bewußtsein bei ihnen erzeugt. Zum Rest der Welt scheinen die Ökotopianer erstaunlich gute Beziehungen zu unterhalten, aber was uns angeht, so haben sie sich völlig abgekapselt – wie heranwachsende Kinder, die von der Lebensweise ihrer Eltern abgestoßen sind. Sie werden es wahrscheinlich überwinden.

Mir fällt auf, daß die Ökotopianer es mit der Zeit nicht so genau nehmen – nur wenige Leute tragen Armbanduhren, man achtet mehr auf Dinge wie Sonnenauf- und -untergang oder die Gezeiten als auf die eigentliche Uhrzeit. Und wenn sie auch den Erfordernissen einer industriellen Zivilisation genüge tun, so geschieht das doch nur widerwillig. »Sie werden nie einem Indianer mit einer Armbanduhr begegnen.« Viele Ökotopianer haben eine sentimentale Vorliebe für Indianer, und in gewissem Sinne beneiden sie die Indianer um ihren einstigen natürlichen Lebensraum in der amerikanischen Wildnis. Wahrscheinlich ist das einer der Hauptmythen der Ökotopianer; immer wieder weisen sie daraufhin, was Indianer in einer bestimmten Situation tun würden und was nicht. Einige ökotopianische Erzeugnisse – Kleider, Körbe und persönliche Schmuckgegenstände – sind mögli-

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cherweise unmittelbar von der indianischen Tradition inspiriert. Ganz im Vordergrund aber steht der Wunsch, mit der Natur im Einklang zu leben, »leichten Fußes über das Land zu schreiten«, die Erde wie eine Mutter zu behandeln. Kein Wunder angesichts solcher Grundsätze, daß man den meisten industriellen Prozessen, Arbeitsprogrammen und Produkten mit Mißtrauen begegnet! Wer wird schon mit einer Planierraupe auf seine eigene Mutter losgehen?

Im Hotel zu leben, war für eine gewisse Zeit ganz schön, wird aber allmählich langweilig. Inzwischen verbringe ich einen guten Teil meiner Zeit einige Blocks weiter, in ›Franklin's Cove‹, einer Art Pressekommune unten am Wasser, wo etwa 40 ökotopianische Journalisten, Schriftsteller und Fernsehleute leben. Sie waren außerordentlich gastfreundlich – gaben mir wirklich das Gefühl, willkommen zu sein. Das Gebäude muß einmal ein Lagerhaus gewesen sein und ist jetzt in einzelne Zimmer unterteilt. Gekocht wird im Kollektiv, es gibt Arbeitszimmer (wo statt elektrischer Schreibmaschinen, wie mir auffällt, eine Menge handlicher leichter Video-Recorder zur Verfügung stehen) und sogar eine Art Turnhalle. Hinter dem Haus ist ein wunderschöner wilder Garten, wo die Leute bei gutem Wetter viel Zeit verbringen und in der Sonne liegen – in einem Teil des Gartens die Ruinen eines der Lagerhaustrakte, denn niemand hat sich bisher die Mühe gemacht, sie abzureißen und den Abraum wegzuschaffen. (»Die Zeit nimmt ihren Lauf, und wir lassen sie ganz einfach«, erklärte mir einer der Cove-Bewohner auf die Frage, warum dieser unansehnliche Zustand hingenommen wird.) Mittelpunkt des Ganzen ist eine Wohnbibliothek, ausgestattet mit Sesseln und Sofas. Ich bin so oft dort gewesen, daß ich sogar schon einen Lieblingssessel besitze.

Ökotopianer, Männer wie Frauen, haben ein sicheres Gespür für ihre animalischen Bedürfnisse. Im Cove liegt man völlig entspannt herum, rollt sich auf Couches oder auf dem Fußboden zusammen oder macht es sich auf kleinen Teppichen und Matten in der Sonne bequem, fast wie eine Schar von Katzen. Die Leute recken sich, suchen sich eine neue Lage, führen geheimnisvolle, Yoga-ähnliche Übungen aus und scheinen den eigenen Körper einfach ungeheuer zu genießen. Vor allem sondern sie sich dabei auch nicht voneinander ab – einige Male bin ich zufällig dazugekommen, wie sich

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ein Pärchen gerade liebte, ohne daß die beiden sonderlich verlegen oder verärgert gewesen wären – es war nicht viel anders, als wenn man hereinkommt und jemand gerade ein Bad nimmt. Ich muß feststellen, daß ich sie um ihr Wohlbefinden als biologische Wesen beneide. Sie scheinen ruhiger zu atmen, sich lockerer zu bewegen. Ich versuche im Augenblick, es ihnen nachzutun ...

Besonders an den Abenden, obwohl sie natürlich auch am Tage eine Menge Freizeit haben, setzen die Leute sich zusammen und unterhalten sich – mit einer Muße zum Gespräch, wie ich sie nur aus meiner Studienzeit kenne. Man springt von einem Thema zum anderen, scherzt viel und heitert sich gegenseitig auf, wenn es nötig ist, aber gewöhnlich gibt es immer einen Gesprächszusammenhang. Gestern abend unterhielt ich mich lange mit einem interessanten Burschen, den ich im Cove kennengelernt habe – Bert Glücksmann (er scheint wirklich so zu heißen). Zu der Zeit, als Ökotopia unabhängig wurde, studierte er an der Berkeley-Universität – ein aufgeweckter junger Jude aus New York. Nach einer maoistischen Phase war er zur Sezessionsbewegung gestoßen. Journalist für Politik und Wissenschaft (keine seltene Kombination hier) bei der S.F.Times. Hat ein Buch über Kosmologie geschrieben und besitzt eine mystische Ader, aber Reporter oleibt Reporter: er schreibt einen straffen, ironischen, ökonomischen Stil. Steht der US-Wissenschaft erstaunlich skeptisch gegenüber. Seiner Meinung nach leidet sie an bürokratischer Verstopfung und ist viel zu aufwendig. »Ihr habt den verhängnisvollen Fehler gemacht«, sagte er, »den wissenschaftlichen Apparat mit etablierten Wissenschaftlern zu besetzen, auf die man sich verlassen kann. Aber es sind gerade die jungen und nicht verläßlichen Wissenschaftler, die bedeutende Ideen hervorbringen. – Bei euch spielt sich sicher noch einiges ab, aber den Schwung, auf den es ankommt, habt ihr verloren.« (Wäre zu überprüfen. Werde mich mal darum kümmern, wenn ich wieder zurück bin.)

Nach einigen Drinks wurde die Unterhaltung lebhafter und persönlicher. Gute Gelegenheit, mal auf den Busch zu klopfen. »Wird dieses Herumreiten auf dem stabilen Gleichgewicht nicht allmählich schrecklich monoton? Ich könnte mir vorstellen, daß es von einem bestimmten Punkt ab auf die Nerven geht!«

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Bert sah mich amüsiert an und konterte: »Nun, vergiß nicht, daß wir nicht monoton sein müssen. Das System sorgt für das Gleichgewicht, wir selbst können uns innerhalb des Systems beliebig bewegen. Ich meine damit, daß wir nicht vollkommen sein wollen, wir bemühen uns nur darum, daß sich unser ständiges Auf und Ab insgesamt zu einem guten Durchschnittswert summiert.« »Das heißt aber, daß man jeden Gedanken an Fortschritt aufgibt. Ihr wollt nur dieses Gleichgewicht erreichen und dann stehenbleiben wie ein Klotz.«

»Es mag sich vielleicht so anhören, in der Praxis gibt es aber keinen Punkt, an dem ein völliges Gleichgewicht herrscht. Wir kämpfen ständig darum, ihm näherzukommen, werden ihn aber nie erreichen. Und du weißt, wie weit die Ansichten bei uns darüber auseinandergehen, was im einzelnen getan werden muß – wir stimmen lediglich in den wesentlichen Grundlagen überein, alles andere ist in der Diskussion.« Ich grinste. »Das habe ich gemerkt, ihr seid ein streitbares Völkchen !« »Wir können es uns leisten, eben wegen der grundlegenden Übereinstimmung. Außerdem besteht ja gerade darin das halbe Vergnügen miteinander – daß man versucht, die verschiedenen Sichtweisen nachzuvollziehen und herauszufinden, wie andere Leute über die Dinge denken.«

»Aber sie ist und bleibt eine Flucht vor der Realität, diese Suche nach einem Gleichgewicht.« Dieses Argument nahm Bert schon ernster: »Wirklich? Aber wir haben tatsächlich so etwas wie Stabilität erreicht. Der friedliche Weg unseres Systems verläuft in Schlangenlinien, während euer System von regelmäßigen Erschütterungen heimgesucht wird. Ich stelle mir unser System als eine Wiese in der Sonne vor. Vieles verändert sich – die Pflanzen wachsen oder welken, Bakterien zersetzen sie, die Mäuse fressen die Samenkörner, die Habichte fressen die Mäuse, einige Bäume wachsen in die Höhe und werfen Schatten auf die Halme. Die Wiese selbst aber behält ihr natürliches Gleichgewicht – sofern nicht der Mensch kommt und es stört.«

»Langsam verstehe ich, was du meinst. Für die Maus dürfte das Ganze nicht so monoton sein.«

Nach seiner Studienzeit ist Bert viel gereist – Kanada, Lateinamerika, Europa, Asien. Er hatte sogar vor, mit falschen Papieren in die Vereinigten Staaten zu gehen – tat es

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aber dann doch nicht (wenigstens behauptete er das). Ist mit einer sympathischen, flotten Frau namens Clara zusammen, die einige Jahre älter ist als er und ebenfalls journalistisch arbeitet – sie haben getrennte Zimmer im Cove. Bert scheint es nirgends lange auszuhalten – hat schon bei Blättern in Seattle, Vancouver und einem kleinen kalifornischen Seebad namens Mendocino gearbeitet. Wir erzählten einander unsere Lebensgeschichte, und er löcherte mich mit Fragen über die Hintergründe meiner Reisen, über meine Beziehungen zu Regierungsstellen und so fort. Er ertappte mich bei einigen Ausflüchten, schien sie aber schnell zu durchschauen und Verständnis dafür zu haben. Da das Gespräch offen und fast brüderlich war, bemühte ich mich, freimütiger und einfühlsamer zu sein. Erzählte ihm von Francine; er wollte genau wissen, wie meine Beziehung zu ihr aussieht, und schien überrascht darüber, daß unser Verhältnis so unverbindlich ist, obwohl es sich nun schon über drei Jahre hinzieht.

»Das scheint mir ein Widerspruch zu sein«, sagte er. »Ihr lebt in zwei verschiedenen Apartments, seht einander nur ein paar Mal die Woche, trefft euch manchmal wochenlang überhaupt nicht. Gleichzeitig habt ihr aber keine feste Gruppe von Menschen, mit denen ihr zusammenlebt, die euch emotional eine Hilfe sein könnten, mit denen ihr für die Zeit, in der ihr getrennt seid, starke und aktive soziale Beziehungen unterhalten könntet. Es würde mich auch nicht wundern, wenn es schon vor langer Zeit während einer dieser Trennungen zu einem Bruch zwischen euch gekommen ist – weil einer von euch etwas Ernstes mit einem anderen Partner angefangen hat und so anstelle der beiden Welten, in denen ihr jetzt lebt, zwei weitere kleine Extrawelten entstanden sind. Ich fände das beängstigend.«

»Es ist beängstigend«, sagte ich, »und ein- oder zweimal hat es tatsächlich Seitensprünge gegeben. Aber wir sind immer wieder zueinander zurückgekehrt.« - »Ich halte es trotzdem für sehr leichtsinnig«, sagte er und runzelte die Stirn. »Es läßt der Einsamkeit zu viel Raum. Hier bei uns versuchen wir es so einzurichten, daß niemand allzuoft allein ist. Das schützt uns vor einer Menge emotionaler Verirrungen. Wir glauben, daß eine partnerschaftliche Beziehung nicht einfach von zwei Menschen im Alleingang aufgebaut werden kann. Sie muß ein Gerüst haben, soziale Beziehungen, auf die man sich verlassen kann. Menschen sind Herdentiere

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und brauchen vielfältige Kontakte.« »Vielleicht hast du recht«, sagte ich zweifelnd. »Ich hatte mich bislang eigentlich nicht in dieser Weise gesehen. Obwohl ich mir schon einmal überlegt habe, ob es nicht eine gute Sache wäre, jede Menge Kinder in die Welt zu setzen.« »Weißt du, es gibt auch noch andere Arten von Familien«, sagte er sanft und mit einem leichten Lächeln. »Ich werde mal eine mit dir besuchen.«

Habe auch einige interessante Gespräche mit Tom geführt, der für Flow, ein großes Magazin, schreibt. Er ist vielleicht 35, hat aber schon Falten im Gesicht – ein aufbrausender Typ. Er beschimpfte gerade jemanden, der seine Einschätzung des jüngsten amerikanischen Vorgehens in Brasilien in Frage stellte. Ich schwieg zunächst dazu, wußte aber zufällig, daß Tom im Recht war: die USA hatten tatsächlich, getarnt als Maßnahme zur Stadtsanierung, ein System von elektronisch gesicherten Enklaven in Sao Paulo angelegt, um Guerilla-Bewegungen kontrollieren zu können. - »Hör mal«, sagte Tom schließlich, »wir haben doch einen amerikanischen Reporter hier, warum fragen wir nicht ihn?« - »Okay«, sagte sein Gesprächspartner und wandte sich mir zu, »weißt du etwas darüber?«

»Ja«, sagte ich, »Tom hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Ganz Sao Paulo ist mit Sensorenfeldern überzogen. Die Armee ist über jede Bewegung informiert.« »Woher stammt diese Information? Bist du sicher?«

»Sicher bin ich sicher. Ich habe mit eigenen Ohren gehört, wie der Präsident den Befehl gab – und auch, wie er vor der Presse klar machte, daß er alles dementieren wird, wenn wir es bringen.« Tom lachte schallend. Er und sein Kontrahent sprachen tagelang nicht mehr miteinander, Tom und ich dafür um so mehr. Wir unterhielten uns nicht nur über Brasilien, sondern auch über die Funktion von Journalisten und den Wandel in den Beziehungen zwischen Mann und Frau in Ökotopia. Er behauptet, daß die Frauen in Ökotopia sich völlig aus ihrer abhängigen Rolle befreit haben, in der sie sich bei uns in der Regel immer noch befinden. Nicht, daß sie die Männer beherrschen – aber sie tragen ebenso wie diese bei der Arbeit wie auch in den persönlichen Beziehungen Verantwortung. Vor allem aber müssen sie die Männer nicht manipulieren: die Survivalist Party und die sozialen Entwicklungen allgemein haben eine Gesellschaft geschaf-

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fen, in der die objektive Situation der Frau derjenigen der Männer gleich ist. So können die Menschen einfach Menschen sein, ohne den symbolischen Ballast der Geschlechterrollen wie bei uns. (Dabei machen die ökotopianischen Frauen mit ihrer natürlichen Einstellung zur eigenen biologischen Anziehungskraft und auch zur eigenen Fruchtbarkeit immer noch einen weiblichen Eindruck auf mich, obwohl mir nicht klar ist, wie sie das mit ihren weitreichenden Verpflichtungen und der harten Arbeit in Einklang bringen. Und die Männer wirken nach wie vor männlich, obwohl sie ihre Gefühle offener zeigen als amerikanische Männer – auch Gefühle der Schwäche.)

Tom ist ein heller Kopf und so zynisch wie jeder gute Zeitungsmann, dabei jedoch merkwürdig optimistisch, was die Zukunft angeht. Er glaubt, daß das Wesen der politischen Macht in einem Wandel begriffen ist, daß Technik und Gesellschaftsstruktur in den Dienst der Menschen gestellt werden können, anstatt umgekehrt. Er ist skeptisch, aber, wie ich feststelle, nicht verbittert. Es muß angenehm sein, so zu denken wie er.

 

Ich vermisse Francines verläßliche und liebevolle ›Aufmerksamkeiten‹. (Jedesmal, wenn ich auf Reisen bin, wird mir aufs neue klar, was für eine treue Gespielin sie mir ist – obwohl wir uns bewußt darauf geeinigt haben, einander nicht treu zu sein.) Habe den üblen Verdacht, daß alle Frauen in meiner Umgebung ständig heimlich irgendwo bumsen und daß ich sie haben könnte, wenn ich nur das Kennwort wüßte – ich weiß es aber nicht. Ich muß irgend etwas übersehen – es sei denn, daß mich die Journalistinnen im Cove aus unerfindlichen Gründen einfach nicht attraktiv finden. Sie sind freundlich, direkt und offen; sie fassen mich sogar manchmal an, was natürlich sehr angenehm und prickelnd ist. Aber auch dahinter stehen nur schwesterliche Gefühle: wenn ich sie umgekehrt anfasse, wirkt das anscheinend wie ein ungehöriger Annäherungsversuch, und sie ziehen sich zurück. Muß man hier vielleicht, wenn eine Frau sich nähert, in einer bestimmten Weise reagieren, die ich nicht beherrsche? Ich beobachte allerdings die ökotopianischen Männer, und sie scheinen gar nichts zu machen, außer vielleicht etwas zu lächeln; von da an entwickeln sich die Dinge von selbst oder manchmal auch nicht – alles vollzieht sich sehr spontan, und niemand scheint sich Gedanken darüber zu machen.

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Es ist in jeder Beziehung verwirrend; ich habe das Gefühl, daß mir meine eigenen Verhaltensmuster im Weg sind. Viele ökotopianische Frauen sind auf eine einfache, schlichte Weise schön. Ihre Attraktivität beruht nicht auf Kosmetika oder Kleidern – sie machen den Eindruck starker, selbstsicherer, genußliebender Menschen und wirken sehr aufrichtig und unkompliziert in ihren Gefühlen. Sie scheinen mich zu mögen: im Cove wie auch auf der Straße sehen sie mir offen in die Augen, und sie unterhalten sich gern mit mir, selbst über ganz persönliche Dinge. Aber es gelingt mir nicht, über dieses Stadium hinaus wirklich zur Sache zu kommen. Muß mir das alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Vielleicht kommt mir noch eine Erleuchtung.

 

Das unsportliche Leben der Ökotopianer

 

San Francisco, 9. Mai. Amerikanische Sportfans würden in Ökotopia ein trauriges Dasein fristen. Es gäbe weder Baseball noch Football, keinen Basketball, nicht einmal Eishockey. Die Zeitungen haben zwar sogenannte ›Sportseiten‹, die jedoch sonderbaren Einzelsportarten gewidmet sind. Über Skilaufen, besonders über den Langlauf, wird ausführlich berichtet. Wandern und Campen, gewöhnlich in Verbindung mit Angeln und Jagen, werden als Sport betrachtet. Schwimmen, Segeln, Gymnastik, Tischtennis und Tennis finden viel Aufmerksamkeit. Und auch Schach! Es gibt weder Box- noch Ringkämpfe in Ökotopia, auch keine Roller-Derbys. Kurz gesagt, Ökotopia ist für Sportbegeisterte denkbar langweilig; die Sportszene bietet ausschließlich den Beteiligten selbst etwas.

Auf der anderen Seite wirkt der ökotopianische Durchschnittsbürger körperlich bemerkenswert fit und gesund. Ein Amerikaner wie ich kommt sich hier etwas schwächlich vor. Ökotopianer sind es gewohnt, alle Wege zu Fuß zu erledigen und dabei schwere Lasten – wie Rucksäcke und Lebensmitteleinkäufe – über große Strecken zu tragen; insgesamt legen sie mehr körperliche Aktivität an den Tag als Amerikaner. Vor allem die Frauen machen einen erstaunlich gesunden Eindruck, selbst wenn sie nicht unseren Vorstellungen von Eleganz entsprechen.

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Übergewichtige und körperlich verbrauchte Menschen, wie sie in den Straßen unserer Städte ein gewohnter Anblick sind, gibt es hier nicht, und auch die alten Leute wirken überraschend rüstig. Auf meine Fragen zu diesem Thema antwortete man mir: »Nun, die Natur hat uns gut ausgestattet, und wir führen ein körperlich aktives Leben!« – oder mit ähnlichen Allgemeinplätzen. Es kommt ihnen offenbar nicht in den Sinn, daß Menschen in anderen Ländern nicht in gleich guter körperlicher Verfassung sind.

Meine weiteren Nachforschungen ergaben allerdings, daß das ökotopianische Leben – fast wie im alten Sparta – von einem Netzwerk unauffälliger körperlicher Betätigung durchzogen ist und daß praktisch jeder Ökotopianer irgendeine Art von Kleinsport treibt. Sogar Volleyball – Gott sei ihnen gnädig! – ist ein beliebter Zeitvertreib, und man kann mittags oder auch zu anderen Tageszeiten die Mannschaften auf Fabrikhöfen oder in den Straßen ihre Luftsprünge machen sehen. Man spielt zwar alles andere als kampfbetont, doch macht es den Teilnehmern sichtlich Spaß.

Ökotopianer tanzen auch gern (ein gutes Mittel, um in Form zu bleiben) und müssen als Folge des Autoverbots viel zu Fuß gehen, was immerhin ebenfalls den Vorteil hat, daß ihre Gesundheit davon profitiert. (Dauerläufer, ob aus Eile oder aus Gesundheitsbewußtsein, gehören hier zum gewohnten Bild.) Tischtennisplatten scheinen zu den gebräuchlichsten Möbelstücken zu gehören, und ich muß gestehen, daß ich buchstäblich von der Platte gefegt wurde, als ich einen täppisch aussehenden Teenager zu einem Freundschaftsspiel aufforderte.

Der lockere Stundenplan an den ökotopianischen Schulen (und das mildere Klima) erlaubt es den Kindern, weitaus längere Zeit an der frischen Luft zu verbringen, als bei uns üblich. Das bedeutet, daß die Jugendlichen bereits während ihrer gesamten Schulzeit körperlich überdurchschnittlich aktiv sind. Schulgruppen unternehmen häufig Ausflüge: es ist nichts Außergewöhnliches, wenn Sechsjährige sich zusammen mit älteren Kindern mit schweren Rucksäcken auf Wanderungen abplagen, die vier oder fünf Tage dauern und durch recht unwegsames Gelände führen können.

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Wenn die Schüler eine höhere Unterrichtsstufe erreicht haben (der Begriff ›Klasse‹ wird nicht in unserem Sinne gebraucht), beginnt eine Ausbildung in Angeln, Jagen und Überlebenstechniken, die viel Zeit in Anspruch nimmt und auf Kosten der Allgemeinbildung geht. Sie sind gehalten, nicht nur die Grundtechniken, sondern auch die Herstellung ökologisch akzeptabler Hilfsmittel – Angelhaken, Pfeil und Bogen usw. – unter den Bedingungen der Wildnis zu erlernen.

Manche Eltern und andere Erwachsene nehmen freiwillig an diesen Kinderausflügen teil – die sportliche Leistung reizt sie dabei ebenso wie die Aussicht auf Wildbret, denn die wiederaufgeforsteten Gebiete verfügen über einen großen Wildbestand. Man kann heute wieder Berglöwen, Wildkatzen, Bären (auch Grizzlies), Wölfe, Rotwild, Füchse und Kaninchen jagen. (Gejagt wird im allgemeinen mit Pfeil und Bogen und nicht mit Schußwaffen, auch wenn die meisten ökotopianischen Wohngemeinschaften Schrotflinten besitzen.) Die praktische Ausbildung der Kinder ist eng verknüpft mit einem Studium der Pflanzen, Tiere und der Landschaft. Ich war beeindruckt von dem Wissen, das selbst kleine Kinder von diesen Dingen haben – ein Sechsjähriger kann einem alles über den ›ökologischen Lebensraum‹ der Tiere und Pflanzen erzählen, mit denen er in seinem Alltag zu tun hat. Er weiß auch, welche Wurzeln und Beeren eßbar sind, was man mit Seifenkraut machen kann und wie man aus einem Zweig einen Topfhalter schnitzt.

Die ökotopianischen Flüsse und Seen spielen im Sportleben eine große Rolle und üben anscheinend eine magnetische Anziehungskraft auf junge Leute aus, obwohl die Küstengewässer eiskalt sind. Kurz nach der Unabhängigkeit wurde der gesamte Grundbesitz entlang der Küste auf gesetzlicher Grundlage enteignet und zu ›Wasserparks‹ erklärt. Man beschlagnahmte bezaubernde Strandvillen und machte sie zu Fischereikommunen, Schulen, Krankenhäusern, ozeanographisch-limnologischen Instituten und naturgeschichtlichen Museen. Seen, die früher zu abgezäunten und bewachten Privatgrundstücken gehört hatten, wurden der Öffentlichkeit zum Rudern, Angeln und Schwimmen zugänglich gemacht. Die neue Regierung ging sogar so weit, einige Staudämme zu sprengen, und zwar mit der zweifelhaften Begründung, daß sie die Wildwasserkanuten und die Wanderung der Lachse behinderten (die man übrigens mit großer Mühe in die Flüsse zurückgebracht hat, wo sie jetzt die rege Anteilnahme der Öffentlichkeit genießen).

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Ein eigenartiger Aspekt der körperlichen Ertüchtigung im ökotopianischen Leben besteht darin, daß die Schulkurse in Tischlerei und anderer handwerklicher Arbeit (die von den meisten Schülern, Mädchen wie Jungen, besucht werden) Bauvorhaben in Angriff nehmen, die häufig den Umgang mit Bauholz, Mauersteinen und anderem schweren Material erfordern.

Am unverständlichsten für einen Amerikaner aber ist, wie die Ökotopianer ohne die Dramatik und Spannung unserer Wettkampfsaison, ohne den Glanz unserer Sportstadien und ohne die Möglichkeit einer Identifikation mit den Spielerstars auskommen. Offenkundig gilt das gespannte Interesse, das sich bei uns auf die wichtigsten Sportarten konzentriert, in Ökotopia ganz und gar den sogenannten ›Kriegsspielen‹. Sie werden jedoch nie auf den Sportseiten oder in irgendwelchen anderen Veröffentlichungen beschrieben. Die Leute, die ich auf die ›Spiele‹ ansprach, gaben ausweichende Antworten, aber Gerüchten zufolge, die außerhalb Ökotopias zu hören waren, spielen dabei ziemlich barbarische Praktiken eine Rolle. Aus Unterhaltungen – vor allem junger Männer –, die ich aufgeschnappt habe, geht klar hervor, daß die Ökotopianer großen Anteil an diesen blutigen Ritualen nehmen, in denen Jahr für Jahr Hunderte Jugendlicher den Tod finden. Ich hoffe, bald einen Augenzeugenbericht über eines dieser umstrittenen Schauspiele geben zu können.

 

(10. Mai) Immer noch keine Fortschritte bei meinen Bemühungen, eine Zusammenkunft mit Präsidentin Vera Allwen zu vereinbaren. Ihr Sekretär ist immerhin sehr freundlich und versichert mir, daß ein Treffen zu gegebener Zeit stattfinden werde. Ob ich mir nicht zuerst das Land näher ansehen wolle, »damit Sie etwas haben, worüber Sie sich unterhalten können«. Er bat mich ausdrücklich darum sicherzustellen, daß sie jeweils sofort Kopien aller meiner Depeschen bekommen. Wollen sie abwarten, was ich schreibe, bevor sie sich entscheiden, ob sie mir meinen kostbaren Termin gewähren?

Habe Vera Allwen in einer Fernsehsendung gesehen – Einweihung eines Sonnenkraftwerks. Ganz anders als unsere Schleifenschneide-Zeremonien. Die Leute, die hier die Zeremonie vollziehen, sind diejenigen, die auch die Arbeit getan haben.

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Die Kameramänner mischen sich mitten unter die Leute; es ist alles ein ziemliches Durcheinander, es scheint keine passiven Zuschauer zu geben, jeder spricht mit jedem. Die Kamera verweilte jeweils einige Zeit bei verschiedenen Gruppen – zu einer davon gehörte dann auch diese ziemlich unscheinbare, aber kraftvolle, anonym bleibende Frau, die mit den anderen plauderte und lachte. Man zeigte ihr einige Papiere und sie scherzte mit den Leuten. Nach einer Weile stellte sich heraus, daß es sich um Vera handelte. Aber niemand bat sie, eine Rede zu halten. Sie wandte sich an eine der Frauen in ihrer Nähe und sagte: »Erzählen Sie den Leuten doch mal, wie alles hier angefangen hat.«

Mit großem Ernst, aber ohne die geringste Wichtigtuerei erläuterte die Frau die Geschichte des Kraftwerks – warum es gerade hier benötigt wird, wie die Leute in den Kommunen, die dieses Werk versorgen soll, entschieden haben, welche Art von Kraftwerk es sein soll, und aufweiche Weise einige neue wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Arbeit einbezogen wurden. Dann gab sie das Wort an andere weiter, die dann über den eigentlichen Bau sprachen – hauptsächlich lustige Geschichten, alles andere als unser feierliches Jahrhundertwerk-Gerede. Einige Teile der Anlage sind offenbar weit davon entfernt, perfekt zu sein – zumindest sind sie es in den Augen einiger Leute nicht – und man hielt nicht im geringsten mit kritischen Äußerungen hinter dem Berg. Als es ein wenig heftig wurde, schaltete Vera Allwen sich wieder ins Gespräch ein. Sie spielte sich aber weder als große Schiedsrichterin noch als Mutterfigur auf, sondern sprach über einen anderen Fall, in dem etwas schiefgegangen war, und erzählte in der Form einer politischen Anekdote, wie die Leute sich schließlich zusammengerauft und die Sache mehr oder weniger in Ordnung gebracht hatten. Die Atmosphäre entspannte sich daraufhin und das gegenseitige Vertrauen war wiederhergestellt.

 

Als schließlich jeder das gesagt zu haben schien, was er sagen wollte, beschloß die Gruppe spontan, daß es nun an der Zeit sei, die Anlage in Betrieb zu setzen. Begleitet von Scherzen, daß es zu guter Letzt vielleicht doch nicht funktionieren werde, wurde ein Kind nach vorn geschoben, um den Knopf zu drücken. Es funktionierte. Glühlampen leuchteten auf; die Leute jubelten und fielen sich in die Arme; als Champagner die Runde machte, ließen die Kamerateams ihre Ausrüstung im Stich und bedienten sich – womit die Übertragung beendet war.

Einen Teil meiner freien Zeit habe ich damit verbracht, mir einige der gesammelten Reden von Vera Allwen auf meinem Video-Plattenspieler anzusehen. (Habe mir einen ganzen Satz davon gekauft, um sie mit nach Hause zu nehmen.) Auf jeden Fall eine bemerkenswerte Frau: eine starke Persönlichkeit mit der Gabe, volkstümlich und dennoch hochpolitisch zu sprechen. Es geht sehr viel Wärme, zugleich aber auch eine gewisse Bedrohung von ihr aus: man möchte sie nicht zum Feind haben.

Gleichzeitig scheint sie aber nie das Spiel ›Wir gegen die anderen‹ zu spielen. Sie geht immer von einer gewissen Gemeinsamkeit aus; es herrscht ein Gefühl von Familienzusammengehörigkeit, selbst wenn sie jemanden verurteilt. Ich bezweifle, ob irgend jemand, ganz gleich, welche Politik er verfolgt, bei ihr gänzlich in Ungnade fallen könnte! Sie hat eine Art, den Zuschauer so ins Vertrauen zu ziehen, daß er die Logik und Überzeugung ihrer Argumentation teilt. Anders als bei so vielen unserer Fernseh­ansprachen hat man bei ihr nicht das Gefühl, daß sie einem etwas verkaufen will. Vielmehr scheint sie etwas zu geben – Klarheit, Stärke, Klugheit. Vielleicht ist sie ebensosehr eine religiöse wie eine politische Führergestalt? Oberhaupt der ökologischen Staatskirche, Hohepriesterin? Sie sieht weiß Gott nicht danach aus! In jedem Fall eine Macht, mit der man rechnen muß.

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