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Unterwegs nach Ökotopia  

 

TWA-Flug-New-York-Reno, 3. Mai 1999

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Während ich diesen Bericht beginne, fliegt meine Maschine in Richtung Westen, auf Reno zu, die letzte amerikanische Stadt vor den drohend aufragenden Bergen der Sierra Nevada, die an den geschlossenen Grenzen Ökotopias Wacht halten.

Im Laufe der Zeit hat sich der Schock über die Loslösung Ökotopias von den Vereinigten Staaten ein wenig gelegt. Und daß Ökotopias Beispiel nicht so neuartig war, wie es seinerzeit schien, ist inzwischen klargeworden. 1969 hatte Biafra versucht, sich von Nigeria zu lösen. 1971 hatte sich Bangladesch erfolgreich von Pakistan getrennt. Auf die Sezession Ökotopias 1980 folgte 1983 die Quebecs von Kanada. Sogar aus der Sowjetunion berichten unsere Geheimdienste von fortdauernden Unruhen unter den ›Minderheiten‹.

Es ist eine weltweite Strömung. Die einzige nennenswerte gegenläufige Entwicklung war der Zusammenschluß der skandinavischen Länder im Jahre 1985 – und auch er stellt vielleicht nur eine Ausnahme dar, die die Regel bestätigt, denn kulturell gesehen waren die Skandinavier eigentlich von jeher ein einziges Volk.

Dennoch – viele Amerikaner erinnern sich noch an die furchtbare Knappheit an Obst, Salat, Wein, Baumwolle, Papier, Holz und anderen Erzeugnissen des amerikanischen Westens nach der Abspaltung der ehemaligen Bundesstaaten Washington, Oregon und Nordkalifornien. Diese Probleme verschärften die allgemeine wirtschaftliche Depression jener Tage in den USA, beschleunigten unsere chronische Inflation und riefen weitverbreitete Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik hervor. 

Darüber hinaus stellt Ökotopia nach wie vor eine unangenehme Herausforderung der grundlegenden amerikanischen National-Philosophie dar: 

In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben wir Amerikaner meist versucht, die Ereignisse in Ökotopia zu ignorieren – in der Hoffnung, alles würde sich als purer Unfug erweisen und in Wohlgefallen auflösen. Es steht aber nunmehr fest, daß Ökotopia nicht zusammenbrechen wird, wie viele amerikanische Fachleute in ihren Analysen zunächst prophezeiten. Es ist an der Zeit, daß wir ein besseres Verständnis von Ökotopia gewinnen.

Wenn seine sozialen Experimente sich als widersinnig und unverantwortlich erweisen, dann wird das Land seine Anziehungskraft auf begeisterungsfähige junge Amerikaner verlieren. Wenn seine seltsamen Gebräuche wirklich so barbarisch sind, wie Gerüchte vermuten lassen, dann muß Ökotopia den Preis einer empörten Weltmeinung zahlen. Wenn die offiziellen ökotopianischen Angaben sich als falsch erweisen, dann können die amerikanischen Spitzenpolitiker von diesem Wissen nur profitieren.

Beispielsweise müssen wir die Behauptung prüfen, daß es in Ökotopia keine Todesfälle infolge von Umwelt­verschmutzung mehr gebe. Bei uns ist die Zahl der Todesfälle von einem Maximum von 75.000 Toten pro Jahr auf 30.000 abgesunken – immer noch ein tragischer Tribut an den Fortschritt, aber ein Hinweis darauf, daß Maßnahmen von der Härte, wie sie in Ökotopia ergriffen wurden, wohl kaum notwendig sind. Kurz gesagt, wir sollten der ökotopianischen Herausforderung auf der Basis soliden Wissens und nicht mit Unkenntnis und Informationen aus dritter Hand entgegentreten.

Meine Aufgabe in den nächsten sechs Wochen wird also darin bestehen, das ökotopianische Leben in all seinen Aspekten zu durchleuchten – die Tatsachen hinter den Gerüchten ausfindig zu machen, in konkreten Einzelheiten zu beschreiben, wie die ökotopianische Gesellschaft tatsächlich funktioniert, ihre Probleme zu dokumentieren und, wo sie es verdient, ihre Errungenschaften anzuerkennen.

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Durch unmittelbare Kenntnis der Situation, in der sich unsere ehemaligen Mitbürger heute befinden, wird es uns vielleicht sogar gelingen, die von ihnen so übereilt gelösten alten Bande zu den USA wieder anzuknüpfen.

 

(3. Mai) Das gute alte Reno ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Nachdem die Sezession die Stadt vom lukrativen Spielbetrieb Kaliforniens abgeschnitten hatte, ging es schnell bergab mit ihr. Die luxuriösen Kasino-Hotels sind heute bessere Absteigen – ihre Besitzer haben sich schon vor langer Zeit nach Las Vegas abgesetzt. In der Nähe des Airline Terminal fragte ich die Leute auf der Straße, was sie hier draußen von Ökotopia hielten. Meistens zurückhaltende Antworten, obwohl ich manchmal einen Anflug von Verbitterung herauszuhören meinte. »Leben und leben lassen«, sagte mir ein grauhaariger alter Mann, »wenn man das da drüben Leben nennen kann.« Ein junger Mann, der behauptete, Cowboy zu sein, grinste bei meiner Frage. »Tjaaa«, sagte er, »ich kenne Typen, die sagen, sie wären wegen Mädchen drüben gewesen. Wenn man die Bergpässe kennt, ist es eigent lieh nicht gefährlich. Sie sind ganz in Ordnung, solange man nicht versucht, sie reinzulegen. Aber wissen Sie was? Die Mädchen haben alle ein Schießeisen! Das habe ich jedenfalls gehört. Das könnte einen ganz schön nervös machen, was?«

Hatte große Mühe, einen Taxifahrer zu finden, der bereit war, mich über die Grenze zu bringen. Schließlich habe ich einen überreden können, der aussah, als hätte er gerade zwanzig Jahre Knast hinter sich. Mußte ihm nicht nur den doppelten Fahrpreis versprechen, sondern obendrein noch 25 % Trinkgeld. Als Draufgabe bekam ich dafür giftige Blicke und jede Menge beruhigender Kommentare. »Was wollense denn da überhaupt hin. Sie hamse ja wohl nich mehr alle. Verdammtes Kanakenpack da drüben. Da kommen ’se lebendig nich wieder raus – hoffe nur, ich übersteh’s.«

 

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Über die ökotopianische Grenze

 

 

Sierra-Express Tahoe-San Francisco, 4. Mai.  Ich befinde mich nun auf ökotopianischem Gebiet – soweit bekannt der erste Amerikaner, der das neue Land besucht, seit es vor 19 Jahren unabhängig wurde.

Meine Maschine landete in Reno. Obwohl es wenig bekannt ist, gestattet die ökotopianische Regierung – aus Gründen der Luftverschmutzung und Lärmbelästigung – nicht einmal internationale Flüge über ihr Gebiet. Maschinen, die von San Francisco nach Asien oder über den Nordpol nach Europa fliegen, müssen nicht nur einen 40 Meilen von der Stadt entfernt gelegenen Flughafen benutzen, sondern sie sind auch gezwungen, Routen vor der Küste zu nehmen; amerikanische Düsenmaschinen nach Hawaii müssen über Los Angeles fliegen. Um San Francisco zu erreichen, blieb mir also nichts anderes übrig, als in Reno von Bord zu gehen und ein teures Taxi zum Bahnhof am nördlichen Ende des Lake Tahoe zu nehmen. Von Tahoe aus besteht häufige und schnelle Zugverbindung.

Die eigentliche Grenze wird markiert durch einen malerisch verwitterten Holzzaun mit einem großen, offenbar wenig benutzten Tor. Als mein Taxi vorfuhr, war niemand zu sehen. Der Fahrer mußte aussteigen, zur Wachstube, einem kleinen Steinhäuschen, hinübergehen und die ökotopianischen Soldaten dazu bringen, ihr Kartenspiel zu unterbrechen. Es waren zwei junge Männer in recht zerknittert ausschauenden Uniformen. Sie waren aber über mein Kommen unterrichtet, prüften meine Papiere mit einem Anflug informierter Autorität und ließen mein Taxi das Tor passieren – allerdings nicht ohne den Hinweis, daß es einer Sonder­erlaubnis bedurft habe, einem Auto mit Verbrennungsmotor die Fahrt durch ihre heiligen Pforten zu gestatten. Ich erwiderte, daß der Wagen mich lediglich zu der 20 Meilen entfernten Bahnstation bringen solle. »Sie haben Glück, daß wir Westwind haben«, sagte einer von ihnen. »Bei Ostwind hätten wir Sie hier eine Weile festhalten müssen.«

Sie durchsuchten mein Gepäck mit einiger Neugier, wobei sie sich besonders für meine Schlaftabletten interessierten. Ich durfte aber alles behalten, bis auf meine altgediente 45er mit Halfter. Möglich, daß dies zur Standardausrüstung in New York gehöre, wurde mir erklärt, in Ökotopia jedoch seien alle Waffen verboten, die nicht offen getragen würden.

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Einer der Wachposten, der vielleicht einen Anflug von Unbehagen bei mir bemerkt hatte, fügte hinzu, daß die ökotopianischen Straßen bei Tage wie auch bei Nacht völlig sicher seien. Dann überreichte er mir eine kleine Broschüre mit dem Titel: ›Ökotopia klärt auf‹. Diese Schrift war hübsch gedruckt, aber mit recht kuriosen Zeichnungen versehen. Offenbar ist sie hauptsächlich für Touristen aus Europa und Asien gedacht. »Vielleicht fällt Ihnen die Eingewöhnung damit etwas leichter«, sagte der andere Wachtposten in einem weichen, fast einschmeichelnd freundlichen Ton, der, wie ich inzwischen feststellte, eine nationale Eigenart ist. »Entspannen Sie sich, dies ist ein freies Land.« »Mein lieber Freund«, entgegnete ich, »ich habe schon sehr viel Seltsameres als dieses Land gesehen, und wann ich mich entspanne, können Sie getrost mir überlassen. Wenn Sie mit meinen Papieren fertig sind, würde ich gern gehen.«

Er klappte meinen Paß zu, behielt ihn aber noch in der Hand. »Weston«, sagte er und blickte mir dabei in die Augen. »Sie sind Schriftsteller. Wir verlassen uns darauf, daß Sie Ihre Worte sorgfältig abwägen, solange Sie hier sind. Falls Sie auf diesem Weg zurückkommen, können Sie das Wort ›Freund‹ vielleicht ohne Ironie verwenden. Wir würden uns jedenfalls freuen.« Dann lächelte er herzlich und streckte mir die Hand entgegen; zu meiner eigenen Überraschung ergriff ich sie und bemerkte, daß auch ich lächelte.

 

Weiter ging die Fahrt zum Bahnhof Tahoe, einer Station des ökotopianischen Bahnnetzes. Das Bahnhofs­gebäude entpuppte sich als eine rustikale Konstruktion aus mächtigen Holzbohlen. In Amerika wäre es für eine riesige Skihütte durchgegangen. Sogar offene Kamine gab es in den verschiedenen Wartesälen: einer davon eine Art Restaurant, ein anderer ein großer, leerer Raum mit Orchesterbühne, in dem wohl Tanzveranstaltungen stattfinden müssen, und schließlich ein kleiner und ruhiger Raum mit Ledersesseln und Bücherregalen. Die Züge, die für gewöhnlich nur zwei bis drei Wagen haben, dafür aber etwa stündlich gehen, fahren in das Untergeschoß des Bahnhofs ein, wo sich bei kalter Witterung riesige Türen hinter ihnen schließen, um Schnee und Wind abzuhalten.

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Besondere Einrichtungen für Wintersportler – wie Stellagen und Schließfächer – fallen ins Auge, um diese Jahreszeit liegt allerdings kaum noch Schnee, und es wird nur noch wenig Ski gefahren. Die elektrischen Kleinbusse, die zwischen dem Hahnhof, den Wintersportplätzen und den nahegelegenen Städten pendeln, sind fast leer.

Ich ging zu meinem Zug hinunter, der freilich mehr Ähnlichkeit mit einem Flugzeug ohne Tragflächen hatte. Im ersten Augenblick glaubte ich, in einen noch nicht fertiggestellten Wagen geraten zu sein – es gab überhaupt keine Sitze! Der Boden war mit einem dicken, schwammweichen Teppich ausgelegt und durch kniehohe Trennwände in einzelne Abteile untergliedert; einige Fahrgäste rekelten sich auf großen, sackähnlichen Lederkissen, die überall verstreut lagen. Ein älterer Mann hatte sich von einem Stapel am Ende des Wagens eine Decke geholt und sich zu einem Nickerchen hingelegt. Als einige der anderen Fahrgäste an meiner Ratlosigkeit bemerkten, daß ich Ausländer war, zeigten sie mir, wo ich meine Tasche verstauen konnte, und erklärten mir, wie ich beim Steward im nächsten Wagen Erfrischungen bestellen konnte. Da die riesigen, bis auf 15 Zentimeter über den Boden hinuntergezogenen Fenster eine gute Aussicht versprachen, ließ ich mich auf einem der Kissen nieder. Meine Reisegefährten zündeten sich Zigaretten an – am Geruch erkannte ich, daß es sich um Marihuana handelte – und begannen sie herumzureichen. Als erste Geste meines Willens zur Völkerverständigung tat auch ich ein paar Züge, und schon bald plauderten wir alle ungezwungen miteinander.

Die sentimentale Naturverbundenheit der Ökotopianer geht so weit, daß sie sogar ihre Züge mit allerlei Grünzeug, mit einer Fülle von hängenden Farnen und kleinen Pflanzen ausstatten, die mir unbekannt waren. (Meine Mitreisenden konnten die botanischen Namen allerdings nur so herunterrasseln.) Am Ende des Wagens standen Behälter, die wie Abfallkörbe aussahen, jeder mit einem großen Buchstaben – M, G und P – beschriftet. Wie man mir erklärte, handelte es sich dabei um ›Recycling-Körbe‹. Es mag für einen Amerikaner unwahrscheinlich klingen, aber ich konnte beobachten, daß meine Mitreisenden ihre Metall-, Glas-, Papier- oder Plastikabfälle während der Fahrt ausnahmslos in die dafür vorgesehenen Behälter warfen. Daß sie dies ohne die Verlegenheit taten, die ein Amerikaner dabei gezeigt hätte, war meine erste Bekanntschaft mit den strengen Recycling- und Wiederverwendungspraktiken, auf die die Ökotopianer angeblich so ungeheuer stolz sind.

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Man merkt praktisch nichts davon, wenn ein ökotopianischer Zug sich in Bewegung setzt. Da er nach dem Prinzip magnetischer Abstoßung und Anziehung funktioniert, gibt es kein Rädergeratter, kein Motorengeheul und keine Erschütterungen. Die Leute unterhalten sich, das Klingen von Gläsern und das Klappern von Teetassen sind zu hören, und einige Passagiere winken Freunden auf dem Bahnsteig zu. Im nächsten Augenblick schon scheint der Zug regelrecht über den Boden zu fliegen, obwohl er eigentlich nur wenige Zentimeter über einer rinnenartigen Leitschiene schwebt.

Meine Mitreisenden erzählten mir etwas über die Geschichte dieser Züge. Offenbar hatte sich die Boeing Company von dem schweren Schlag, den ihr die Weltwirtschaftskrise in den späten siebziger Jahren versetzt hatte, ganz zu schweigen von der Annullierung des lukrativen, ökologisch jedoch bedenklichen SST-Projekts im Jahre 1971, nicht mehr ganz erholt. Obwohl die langfristige Wirtschaftspolitik der ökotopianischen Regierung eine Auffächerung und Dezentralisierung der Produktion in jeder Stadt und jeder Region vorsah, bediente man sich beim Aufbau eines neuen nationalen Bahnnetzes der Boeing-Anlagen. 

Zwar waren die Deutschen und die Japaner auf dem Gebiet magnetischer Schwebebahnen mit Linearbeschleuniger-Motoren bahnbrechend gewesen, doch war es die Boeing, die bereits ein Jahr nach der Unabhängigkeit das System in Produktion gehen ließ. Auf meine Frage, wie die enormen Beträge dafür aufgebracht worden seien, lachten meine Reisegefährten. Einer von ihnen erklärte mir, daß sich die Kosten des gesamten Bahnkörpers von San Francisco bis Seattle auf etwa das gleiche beliefen wie die von zehn SSTs, und er argumentierte, daß die sozialen Aufwendungen pro Person und Meile geringer seien als für den Lufttransport auf einer beliebigen Distanz unter tausend Meilen.

Aus meiner Broschüre erfuhr ich, daß die Züge auf ebener Strecke im Schnitt 360 Kilometer in der Stunde fahren. (In Ökotopia gilt allgemein das Dezimalsystem.) Bei dieser Geschwindigkeit, umgerechnet etwa 225 Meilen pro Stunde, hat man noch einen guten Blick auf die Landschaft. Wir erreichten dieses Tempo allerdings erst 20 Minuten später, nachdem wir mit einer Geschwindigkeit von schätzungsweise 

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weniger als 90 Meilen die gewaltigen Osthänge der Sierra Nevada hinaufgekrochen waren. Der Donner-Paß wirkte fast so unwirtlich, wie er der Donner-Pioniertruppe erschienen sein muß, die hier umgekommen ist. In der Ortschaft Norden machten wir Halt, und nahmen einige Wintersportler der Nachsaison auf – ein ebenso lustiges Völkchen wie die Wintersportler bei uns, aber mit abgetragener Kleidung, zu der auch einige ziemlich abgewetzte Pelzjacken gehörten. Sie trugen selbstgemachte Rucksäcke und altertümliche Skier – lang, schmal, mit billigen, bei uns schon lange aus der Mode gekommenen Bindungen. Dann schoß der Zug die lang hingezogenen Schluchten der Sierra-Wälder hinunter, hin und wieder an einem Fluß vorbei, dessen eisiges, blauschwarzes Wasser zwischen den Felsen gurgelte. Wenige Minuten später glitten wir in Auburn ein. Der Fahrplan, der in einer Graphik die Strecken und ungefähren Abfahrtszeiten eines komplizierten Netzes von Verbindungszügen und -bussen darstellt, wies noch drei weitere Stationen vor San Francisco aus. Angenehm überrascht stellte ich fest, daß ein Halt jeweils weniger als 60 Sekunden dauerte, obwohl die Leute mit typischer ökotopianischer Lässigkeit ein- und ausstiegen.

Nachdem wir die Talsohle einmal erreicht hatten, wirkte die Szenerie auf mich wenig interessant, wohingegen meine Reise­gefährten nach wie vor fasziniert zu sein schienen. Sie machten sich gegenseitig auf Veränderungen der Felder und Wälder aufmerksam, an denen wir vorüberfuhren; in einem Waldstreifen entdeckte jemand ein Reh mit zwei Kitzen, und später sorgte ein Jack-Kaninchen für viel Vergnügen. Bald darauf erreichten wir das Hügelland um die San Francisco Bay und schossen durch eine Reihe von Tunneln in den grasbewachsenen, sanft gerundeten grünen Höhen. Man sah nun mehr Häuser, die jedoch ziemlich verstreut gelegen waren – darunter anscheinend viele kleine Bauernhöfe.

Die Obstgärten, Felder und Einfriedungen sahen gut und erstaunlich gepflegt aus, fast wie in Westeuropa. Doch wie schäbig und ärmlich wirkten die Häuser selbst, verglichen mit den weißgestrichenen Bauernhäusern Iowas oder New Englands! Die Ökotopianer müssen geradezu allergisch gegen Farbe sein. Sie bauen mit Bruchsteinen, Lehmziegeln, verwitterten Brettern – offenbar mit allem, was sich gerade anbietet, aber der Schönheitssinn dafür, diese Materialien unter einer Farbschicht zu verbergen, fehlt ihnen völlig. Sie würden ein Haus anscheinend lieber mit Kletterpflanzen überziehen oder hinter Sträuchern verslecken als es anstreichen.

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Die Eintönigkeit der Gegend wurde durch ihre sichtliche Abgeschiedenheit noch verstärkt. Die Straßen waren schmal und gewunden, mit Bäumen, die gefährlich dicht an der Fahrbahn standen. Es schien keinerlei Verkehr zu geben. Nirgendwo eine Reklametafel, geschweige eine Tankstelle oder eine Telefonzelle. Nicht eben ein beruhigender Gedanke, in einer solchen Gegend von der Dunkelheit überrascht zu werden.

Eineinviertel Stunden nachdem wir Tahoe verlassen hatten, verschwand der Zug in einem unterirdischen Tunnel nahe des Buchtufers, um einige Minuten später im Hauptbahnhof von San Francisco wiederaufzutauchen. In meinem nächsten Artikel werde ich meine ersten Eindrücke von der Stadt am Golden Gate beschreiben, wo einst so viele Amerikaner von Bord gingen, um ihr Glück auf den Goldfeldern zu machen.

 

(4. Mai) Allgemeiner Eindruck: Viele Ökotopianer sehen aus wie Wildwestfiguren von Anno dazumal, wie wiederauf­erstandene Gestalten aus dem Goldrausch. Es laufen ja weiß Gott genug ausgeflippt aussehende Typen bei uns in New York herum, aber deren Aufmachung ist gewollt, demonstrativ, theatralisch – eine Art Zurschaustellung. Die Ökotopianer dagegen könnten fast einem Buch von Dickens entsprungen sein: reichlich seltsam sehen sie oft aus, aber nicht übergeschnappt oder schmuddelig wie die Hippies in den sechziger Jahren. Phantasievolle Hüte und Frisuren, Jacken, Westen, Gamaschen, Trikots; und ich kann mir nicht helfen, ich habe sogar einen Schambeutel gesehen – oder aber der Junge war geradezu übernatürlich ausgestattet. Man findet viele Stickereien, Verzierungen aus kleinen Muscheln oder Federn und Patchwork – Stoff muß ungeheuer rar sein, daß sie sich sogar die Mühe machen, ihn wiederzuverwenden.

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Und ihr Verhalten kann einen noch mehr durcheinanderbringen. Es ist elektrisierend, wenn einem die Frauen auf der Straße direkt in die Augen sehen; bis jetzt bin ich ihren Blicken immer ausgewichen, aber was wäre, wenn ich sie erwiderte? Die Leute gehen anscheinend sehr locker und spielerisch miteinander um, als ob sie unendlich viel Zeit hätten, alle sich ergebenden Möglichkeiten auszuprobieren. Die unausgesprochene Drohung offener krimineller Gewalt, die bei uns außerhalb der eigenen vier Wände überall zu spüren ist, gibt es hier nicht, dafür werden aber Gefühlsregungen aller Art ganz bewußt gezeigt!

Die friedliche Stille der Zugfahrt wurde mehrere Male von lauten Wortwechseln und gegenseitigen Beschimpfungen durchbrochen; die Leute legen eine unverschämte Neugier an den Tag, was häufig zu Reibereien führt. Es ist, als hätten sie das Gefühl der Anonymität verloren, das es uns erst ermöglicht, in der Masse zu leben. Man kann einen ökotopianischen Beamten deshalb auch nicht so behandeln, wie es bei uns üblich ist. Der Ökotopianer am Fahrkartenschalter ließ es sich einfach nicht gefallen, als ich ihn in meiner gewohnten Art ansprach – er fragte mich, wofür ich ihn hielte, für einen Fahrkartenautomaten? Er verkauft einem tatsächlich keinen Fahrschein, wenn man ihn nicht wie einen Menschen aus Fleisch und Blut behandelt, und umgekehrt ist es genauso – er stellt Fragen, macht Bemerkungen, auf die er eine aufrichtige Reaktion erwartet, und schreit einen an, wenn er sie nicht bekommt. Solche lautstarken Ausbrüche haben in der Regel aber anscheinend nichts zu bedeuten. Es mag gefährliche Fälle unter diesen harmlosen Irren geben, ich habe aber noch keinen getroffen. Ich hoffe nur, daß meine geistige Gesundheit nicht zu Schaden kommt.

 

 

Die Straßen von San Francisco

 

San Francisco, 5. Mai. Als ich aus dem Bahnhof hinaus auf die Straße trat, wußte ich kaum, was ich von dieser Stadt erwarten sollte, die sich einst gerühmt hatte, nach einem schrecklichen Erdbeben und einer Feuersbrunst wie ein Phönix aus der Asche gestiegen zu sein. San Francisco galt einmal als ›Amerikas Lieblingsstadt‹ und übte ungeheure Anziehungskraft auf Touristen aus. Die faszinierenden Hügel und Brücken, die malerischen Cable Cars und die intellektuellen und doch angenehm lässigen Bürger hatten Besucher angezogen, die immer wiederkehrten. Würde sich herausstellen, daß San Francisco seinen Ruf als gepflegte, zivilisierte Stadt auch heute noch verdient?

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Ich gab meine Reisetasche in Verwahrung und ging los, um mich ein wenig umzusehen. Der erste Schock traf mich sofort, als ich die Straße betrat. Über allem lag eine eigenartige Ruhe. Ich hatte erwartet, wenigstens ein bißchen von der erregenden Geschäftigkeit unserer Städte vorzufinden – hupende Autos, heranbrausende Taxis, Menschenmassen, die sich in der Hast des Stadtlebens drängen. Als sich meine Überraschung über die Stille gelegt hatte, mußte ich feststellen, daß sich die Market Street – einst eine belebte Geschäftsstraße, die durch die Stadt bis hinunter ans Meer führte – in eine Promenade mit Tausenden von Bäumen verwandelt hat. Die ›Straße‹ selbst, auf der elektrische Taxis, Kleinbusse und Lieferwagen entlangsummen, ist zu einer zweispurigen Winzigkeit zusammengeschrumpft. Den verbleibenden riesigen Raum nehmen Radfahrwege, Brunnen, Skulpturen, Kioske und kuriose, mit Bänken umstellte Gärtchen ein.

Die fast unheimliche Stille wird nur vom Surren der Fahrräder und dem Geschrei von Kindern durchbrochen. Gelegentlich hört man sogar Vogelgesang – und das auf der Hauptstraße der Landesmetropole! Hier und da stehen große Pavillons mit kegelförmigen Dächern; ein zentral gelegener Kiosk bietet Zeitungen, Comics, Illustrierte, Fruchtsäfte und Snacks an. (Übrigens auch Zigaretten – es ist den Ökotopianern nicht gelungen, das Rauchen abzuschaffen!) Die Pavillons erwiesen sich als Haltestellen des Kleinbus-Netzes und dienen als Unterstände, wenn es regnet. Die Busse selbst sind ulkige batteriegetriebene Kästen, nicht unähnlich den alten Cable Cars, die bei den Einwohnern früher so beliebt waren. Sie haben keinen Fahrer, sondern werden von einer elektronischen Vorrichtung gesteuert und angehalten, die unter der Straße verlegten Leitungen folgt. (Eine Sicherheitsstoßstange stoppt die Wagen, falls jemand ihnen nicht rechtzeitig ausweichen kann.) Um ein schnelles Aus- und Einsteigen innerhalb der fünfzehnsekündigen Haltezeit zu ermöglichen, ist die Plattform der Wagen auf eine Höhe von nur etwa zehn Zentimetern über der Erde heruntergezogen; die Räder befinden sich an den äußeren Enden des Gefährts. Die Sitzreihen sind der Straßezugekehrt, so daß man auf einer kurzen Fahrt direkt Platz nehmen oder sich im Stehen an einem der Griffe festhalten kann. Bei schlechtem Wetter können fransenbesetzte Stoffdächer heruntergelassen werden, die zusätzlichen Schutz bieten.

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Diese Busse kriechen mit einer Geschwindigkeit von knapp zwanzig Stundenkilometern dahin, verkehren aber etwa alle fünf Minuten. Ein Fahrpreis wird nicht erhoben. Auf einer Probefahrt sprach ich einen der anderen Fahrgäste darauf an, und man erklärte mir, daß die Kleinbusse auf die gleiche Weise unterhalten werden wie die Straßen – nämlich aus dem Steueraufkommen. Lächelnd fügte mein Gesprächspartner hinzu, daß die Kosten für einen Schaffner, der das Fahrgeld kassiert, höher wären als die Einnahmen durch das Fahrgeld selbst. Wie viele Ökotopianer neigte er zur Schwatzhaftigkeit und trug mir das gesamte ökonomische Grundprinzip des Kleinbus-Systems vor, fast so, als wolle er es mir zum Kauf anbieten. Ich bedankte mich und stieg einige Häuserblocks weiter aus.

Die ländliche Atmosphäre des neuen San Francisco zeigt sich vielleicht am deutlichsten darin, daß sich an der Market Street wie auch an einigen anderen Straßen kleine Flußläufe entlangziehen, die man früher – wie in Städten üblich – mit erheblichem Kostenaufwand in riesige unterirdische Kanalisationsanlagen geleitet hatte. Die Ökotopianer gaben noch mehr Geld aus, um sie wieder ans Tageslicht zu bringen. So sieht man nun an dieser Hauptstraße eine reizende Folge kleiner plätschernder und gurgelnder Wasserfälle und Kanäle, die von Felsen, Bäumen, Bambus und Farnkräutern gesäumt werden. Es scheint dort sogar Elritzen zu geben – obwohl mir schleierhaft ist, wie sie vor dem räuberischen Zugriff von Kindern und Katzen geschützt werden. Trotz der Stille sind die Straßen voller Menschen, wenn auch nicht in der Ballung wie in Manhattan. (Ein Teil des Fußgänger­verkehrs ist auf zierliche Brücken verlagert worden, die die Wolkenkratzer, manchmal in einer Höhe von fünfzehn oder zwanzig Stockwerken, miteinander verbinden.) Da praktisch die gesamte Straße ›Bürgersteig‹ ist, muß sich niemand über Hindernisse auf seinem Weg ärgern – auch nicht über Löcher im Pflaster, die überall, wo sie sich zeigen, mit Blumen bepflanzt werden. Ich kam an einer Gruppe von Straßenmusikanten vorbei, die auf einem Cembalo und einem halben Dutzend anderer Instrumente Bach spielten.

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Straßenverkäufer schieben buntbemalte Handkarren vor sich her und bieten warme Snacks, Maronen und Eiscreme an. Einmal sah ich sogar eine Gruppe von Jongleuren und Zauberern, die eine Schar von Kindern in ihren Bann zog – eine Szene wie aus einem Film über das Mittelalter. Und es gibt viele Bummler, Gaffer und Faulenzer – Leute ohne eine erkennbare Beschäftigung, für die die Straße einfach ein einziges großes Wohnzimmer ist. Aber trotz so vieler Herumtreiber findet man auf den ökotopianischen Straßen lächerlicherweise weder Sicherheitstüren noch Pförtner, weder Wachposten noch andere Vorkehrungen gegen Verbrecher und Verbrechen. Und niemand scheint das bei uns so ausgeprägte Bedürfnis zu teilen, im Schutz eines Automobils durch die Stadt zu fahren.

Schon im Zug war mir aufgefallen, daß die ökotopianische Kleidung meist sehr locker sitzt und ihren Mangel an Stil und Schnitt durch leuchtende Farben wettzumachen sucht. Dieser Eindruck hat sich nun bestätigt, nachdem ich Tausende Bewohner von San Francisco gesehen habe. Der ökotopianische Durchschnittsmann trägt undefinierbare Hosen (sogar aus Drillich – vielleicht eine nostalgische Erinnerung an die amerikanische Mode der siebziger Jahre vor der Sezession) und darüber – oft scheußliche – Hemden, Pullover, Ponchos oder Jacketts. Trotz des gewöhnlich kühlen Wetters sind Sandalen bei beiden Geschlechtern üblich. Auch die Frauen tragen Hosen, aber häufiger sieht man lose fallende Zigeuner-Röcke. Manche Leute tragen exotische hautenge Kleidung, die wie ein nasser Taucheranzug aussieht und aus einem mir unbekannten Gewebe hergestellt ist. Möglicherweise handelt es sich um Mitglieder einer besonderen gesellschaftlichen Gruppe, da ihre Kleidung sich so sehr von dem unterscheidet, was sonst gängig ist. Leder und Fell scheinen bevorzugte Materialien zu sein – sie werden für Hand- und Tragetaschen, Hosen und Jacketts verwendet. Kinder tragen Miniaturausführungen der Erwachsenenkleidung; eine spezielle Mode für sie gibt es anscheinend nicht.

Ökotopianer, die mehr als einen kurzen Gang zu machen haben, benutzen gewöhnlich eines der weißlackierten Provo-Fahrräder, die zu Hunderten rechts und links der Straße zu finden sind und jedermann kostenlos zur Verfügung stehen. Tagsüber und abends werden sie durch die Fahrten der Bürger über die ganze Stadt verstreut, ein nächtlicher Sammeldienst bringt sie dann an die Plätze zurück, wo sie am nächsten Tag benötigt werden.

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Als ich einem freundlichen Fußgänger gegenüber die Bemerkung machte, daß dieses System ein großer Anreiz für Diebe und Rowdys sein müsse, wies dieser das hitzig zurück und führte eine – vielleicht gar nicht so weit hergeholte – Überlegung an: es sei billiger, ein paar Fahrräder einzubüßen, als eine größere Zahl von Taxis und Kleinbussen zu unterhalten. Wie ich entdeckte, sind Ökotopianer in derartigen Fragen ebenso eilfertig wie unbekümmert mit Statistiken bei der Hand. Sie haben eine Art, ›soziale Kosten‹ in Rechnung zu stellen, die notwendigerweise mit einem gewissen Prozentsatz optimistischer Spekulation einhergeht. Es wäre einmal interessant, solche Leute mit einem der nüchtern rechnenden Experten unserer Automobil- und Straßenbauindustrie zu konfrontieren – der natürlich über die Abschaffung der Autos in Ökotopia entsetzt sein würde. Bei meinem Spaziergang fiel mir auf, daß außer Leuten, die offensichtlich in den Büros, Ämtern und Läden arbeiteten, in der Innenstadt überdurchschnittlich viele Kinder mit ihren Eltern unterwegs waren. Meine Fragen an Passanten (die mit erstaunlicher Geduld beantwortet wurden) enthüllten die vielleicht erstaunlichste Tatsache, der ich in Ökotopia bisher begegnet bin: Die Wolkenkratzer der Innenstadt, früher die Zentralen großer Konzerne, sind in Wohnbauten verwandelt worden! Weitere Nachforschungen werden erforderlich sein, um ein klares Bild von dieser Entwicklung zu gewinnen, aber nach dem zu urteilen, was ich heute wiederholt auf der Straße hörte, sind die ehemaligen Wohnviertel in den Vororten weitgehend verlassen. Viele der meist dreistöckigen Häuser waren bereits durch das Erdbeben von 1982 schwer beschädigt worden. In den neueren Vierteln wurden Tausende von billigen Reihenhäusern (die meine Gesprächspartner spöttisch als ›Kreditkisten‹ bezeichneten) ausgeschlachtet und nach Entfernung der elektrischen Leitungen sowie der Glas- und Metallteile von Bulldozern niedergewalzt. Die Bewohner leben heute in der Innenstadt – in Häusern, in denen nicht nur Wohnungen, sondern neben Läden und Büros im Erdgeschoß auch Lebensmittelgeschäfte, Kindertagesstätten und Restaurants untergebracht sind.

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Obwohl die Straßen noch immer amerikanisches Gepräge besitzen, bereitet es lästige Schwierigkeiten, sich in Ökotopia zurechtzufinden. An den Gebäudefronten sind nur winzige Hinweistafeln zugelassen; die wenigen Straßenschilder, meist an Eckgebäuden angebracht, sind leicht zu übersehen. Schließlich fand ich aber zum Bahnhof zurück, löste meine Tasche aus und suchte ein nahegelegenes Hotel auf, das man mir empfohlen hatte, weil es bequem genug für einen Amerikaner sei, mir zugleich aber eine Kostprobe davon geben könne, »wie Ökotopianer leben«. Diese gepriesene Einrichtung wurde ihrem Ruf schon dadurch gerecht, daß sie fast unauffindbar war. Immerhin bietet das Hotel ausreichenden Komfort und wird mit als Rückzugsbasis dienen.

Wie alles in Ökotopia, ist auch mein Zimmer voller Widersprüche. Es ist bequem, wenn auch nach unseren Maßstäben ein wenig altmodisch. Das Bett ist scheußlich – es hat keinen Sprungrahmen, sondern besteht praktisch nur aus einer Schaumgummimatratze auf Brettern –, besitzt aber andererseits eine luxuriöse Steppdecke. Der große Arbeitstisch mit eingelassener Kochplatte und einer Teekanne hat eine Oberfläche aus rohem, unlackiertem Holz voll von geheimnisvollen Flecken – aber es steht ein kleines, schnittiges Bildtelefon darauf. (Trotz ihrer Abneigung gegen viele moderne Errungenschaften haben die Ökotopianer selbst eine ganze Reihe von Geräten entwickelt, die sogar besser als unsere sind. Ihre Bildtelefone müssen zwar an einen Fernsehschirm angeschlossen werden, sind aber wesentlich einfacher zu bedienen und haben eine weit bessere Bildqualität als unsere.)

Über meiner Toilette hängt ein Wasserbecken des Modells, das in den Vereinigten Staaten etwa 1945 auslief und mit einem drollig geformten Griff an einer Zugkette bedient wird. Das Toilettenpapier ist eine ökologische Greueltat – es ist rauh und ausgesprochen unschön. Aber die Badewanne ist aus sanft duftendem Holz hergestellt und außergewöhnlich groß und tief – von der Art, wie man sie noch in japanischen Luxushotels findet.

Ich bestätigte über Bildtelefon meine Verabredung mit der Ernährungsministerin; bei ihr werde ich morgen damit beginnen, die von den Ökotopianern so viel beschworenen und allenthalben heiß diskutierten ökologischen Systeme des ›stabilen Gleichgewichts‹ näher unter die Lupe zu nehmen.

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(5. Mai) 

Vielleicht sind sie wirklich in die Steinzeit zurückgefallen. Am Spätnachmittag sah ich eine Gruppe von Jägern mit bunt verzierten Pfeilen und Bogen. Sie sprangen von einem Kleinbus herunter, auf den ein erst kurz zuvor erlegtes Reh geladen war. Zwei von ihnen hoben sich das an einen langen Stock gebundene Tier auf die Schultern und marschierten damit die Straße hinunter. (Ein großer Jagdhund trottete hinterdrein – das erste Haustier, das ich bisher in Ökotopia zu Gesicht bekam, wo man Tiere offenbar so frei leben läßt wie nur eben möglich und auch ohne ihre Gesellschaft auszukommen scheint.) 

Die Leute liefen zusammen, um den Jägern zuzuschauen, kleine Jungen hefteten sich aufgeregt an ihre Fersen. In meiner Nähe machten die Männer Halt, um auszuruhen – und auch, wie ich vermute, um den Leuten Gelegenheit zu geben, ihre Beute zu bewundern. Einer von ihnen fing meinen Blick auf und muß Ekel darin gesehen haben. Er strich mit seiner Hand über die Wunde des Rehs, die noch feucht von Blut war, und fuhr mir dann mit den Fingern über die Wange, als ob er mich so in die Jagd miteinbeziehen wolle. Schockiert sprang ich zurück, und das Lachen der Menge klang mir häßlich in den Ohren. Als ich mich später mit einigen der Leute unterhielt, erfuhr ich, daß die Männer unmittelbar am Stadtrand gejagt hatten, wo es anscheinend reichlich Rotwild gibt. Die Jäger machten einen ziemlich wilden Eindruck (lange Messer, Barte, grobe Kleidung), waren aber zweifellos Durchschnittsbürger, die auf die Jagd gegangen waren. Das Reh würde zerlegt und das Fleisch unter den Männern aufgeteilt werden: angeblich deckt Wild einen beträchtlichen Teil des Fleischbedarfs der ökotopianischen Küche; es wird wegen seiner ›spirituellen‹ Eigenschaften sehr geschätzt!

Ob diese Gewohnheiten den Ökotopianern durch Lebensmittelknappheit aufgezwungen sind oder sich aus einer bewußten Politik des ›Zurück zu den Ursprüngen‹ erklären, kann ich noch nicht sagen. In der hereinbrechenden Dämmerung wirkte die Szene jedenfalls gespenstisch genug. (Die meisten ökotopianischen Straßen sind in der Nacht stockdunkel – offensichtlich muß die Straßenbeleuchtung aufgrund der Energiepolitik auf ein Minimum beschränkt werden. Unerklärlich ist mir allerdings, daß dies hier, anders als bei uns, keine Verbrechenshysterie hervorruft. 

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Habe Leute gefragt, ob sie sich nachts sicher fühlen, und sie antworteten ohne Zögern mit ›Ja‹ – sie behaupten, daß sie genug sehen könnten, und bringen das Gespräch auf irgendeinen anderen irrelevanten Gegenstand: etwa darauf, wie Fahrradlampen aussehen, wenn sie wie Glühwürmchen durch die Nacht zucken, oder wie schön es ist, daß man sogar in der Stadt die Sterne sehen kann. Zum Glück haben sie keine Autos – die Unfallquote wäre spektakulär.)

Hatte gestern Abend ein wenig Ärger mit dem Zimmermädchen, das glaubte, ich wollte mir ›Freiheiten‹ bei ihr erlauben. Wir hatten uns darüber unterhalten, daß ich auf der Straße Blumen gepflückt und sie auf mein Zimmer gebracht hatte. Offenbar pflücken Ökotopianer keine Blumen, sondern bewundern sie lieber dort, wo sie wachsen, und das Mädchen machte mir das auf eine ziemlich neckische Art klar. Möglich, daß sie nur freundlich sein sollte, aber sie schien ein Auge auf mich geworfen zu haben, ohne dann mitspielen zu wollen. Nun ja, ob Sublimation die schriftstellerische Potenz stärkt? (Nein, sie weckt bei mir den Wunsch, Francine für ein, zwei Tage einfliegen zu lassen.) Ich lege normalerweise Wert auf mein Äußeres, aber hier fiel ich mit meiner New Yorker Kleidung aus dem Rahmen; habe mir deshalb neue Garderobe zugelegt. Einen dunkelgrünen Umhang mit Kapuze, weich, aber, wie man mir sagte, so dicht gewebt, daß er den Regen abtropfen läßt (und mich wahrscheinlich stinken läßt wie ein nasses Schaf). 

Einige weite Hemden in entsprechend geschmacklosen Farben, eine Weste, eine lappige Wildlederjacke, zwei Drillichhosen. Dazu ein Paar schwere Schuhe – meine eleganten italienischen Straßenschuhe konnte ich hier einfach unmöglich tragen! Ich sehe in den Spiegel und muß lachen – wenn ich in diesem Aufzug an Francines Wohnungstür schellte, würde sie die Polizei rufen. (Ein Spiel, das wir noch nie gespielt haben: Vergewaltigung durch einen ökotopianischen Agenten, der sich in New York einschleicht und die Frau eines prominenten Journalisten verführt, um an geheime Informationen heranzukommen.)

Soweit ich das auf meinem kurzen Einkaufsbummel feststellen konnte, enthalten die Kleiderstoffe hier weder Nylon, Dralon, Dacron noch irgendwelche anderen synthetischen Fasern. (»Ich hätte gerne ein paar Oberhemden, bügelfrei.« Der Verkäufer ungläubig: »Sie meinen solche Hemden aus Kunstfaser? Die verkaufen wir schon seit 20 Jahren nicht mehr.« 

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Es folgte ein Vortrag darüber, daß die Produktion von Kunstfasern zuviel Wasser und Energie erfordere – und daß auch kein Recycling möglich sei.) Mir fielen einige Kleidungsstücke auf, deren Etiketten stolz verkündeten, daß sie aus »wiederverwendeter Wolle« hergestellt seien. Sämtliche Stoffe und Kleider stammen aus einheimischer Produktion – und die Preise erscheinen irrsinnig hoch.

Bin gegen die fetischistische Ablehnung von Kunstfasern, hatte aber tatsächlich vergessen, wie angenehm sich ein gutes Baumwollhemd auf der Haut trägt. Diese Eigenschaft wird auch von den Herstellern hervorgehoben – sie betonen, daß ihre Stoffe, bevor sie in den Verkauf gehen, mehrere Male gewaschen werden ....

 

 

Lebensmittel, Abwässer und ›stabiles Gleichgewicht‹ 

 

 

San Francisco, 6. Mai. Als ich im Ernährungsministerium zu meinem Interview mit der Ministerin eintraf, mußte ich zu meinem Bedauern hören, daß sie überlastet sei und mich nicht empfangen könne. Statt dessen wurde ich einem ihrer Staatssekretäre vorgestellt, einem Mann in den frühen Dreißigern, der mich in Arbeitskleidung empfing. In Anbetracht seiner Position war sein Büro erstaunlich unscheinbar: Es besaß weder Schreibtisch noch Konferenztisch noch Besuchersessel. An einer Wand stand eine Reihe überladener hölzerner Aktenschränke und Bücherregale, daneben Tische, auf denen ein absolutes Chaos von Papieren herrschte. An einer anderen Wand war eine Art Laboreinrichtung mit verschiedenen Testgeräten aufgebaut.

Der Staatssekretär ist, wie viele Ökotopianer von einer zermürbenden Lässigkeit und spricht mit tiefer, schleppender Stimme. Er lümmelte sich auf Webkissen in einer sonnenbeschienenen Ecke des Zimmers unter einem Dachfenster, von dem eine Art Efeu herabhing, während sein Laborassistent Teewasser auf einem Bunsenbrenner kochte. Ich hockte mich unbeholfen auf den Boden und begann mit meinen sorgfältig vorbereiteten Fragen über die landwirtschaftliche Produktion Ökotopias. Diese Fragen wurden einfach übergangen. Statt dessen wollte mir der Staatssekretär unbedingt »ein paar Hintergrundinformationen geben«. 

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Er begann dann nicht etwa über Landwirtschaft, sondern über Abwässer zu sprechen und erklärte, daß das erste bedeutende Projekt seines Ministeriums nach der Erlangung der Unabhängigkeit darin bestanden habe, den Ernährungszyklus des Landes auf die Grundlage eines stabilen Gleichgewichts zu stellen: sämtliche Lebensmittelabfälle, Abwässer und sonstiger Müll sollten in organischen Dünger umgewandelt und dem Boden wieder zugeführt werden, um den Nahrungsmittel-Kreislauf zu schließen. Von jedem ökotopianischen Haushalt wird aus diesem Grund verlangt, daß er alle seine Abfälle nach Kompostierbarkeit und Rückschleusbarkeit ordnet, was einen enormen persönlichen Arbeits­aufwand erfordern muß; außerdem werden größere Kolonnen von Müllfahrzeugen benötigt.

Das Abwässersystem der Vergangenheit konnte man, so der Staatssekretär, eigentlich nur als ›Beseitigungssystem‹ bezeichnen. Damals wurden Abwässer und Industriemüll nicht produktiv rückgeschleust, sondern in einem mehr oder weniger giftigen Zustand in Flüsse, Seen und Meere geleitet. Das sei, fuhr er fort, nicht nur gefährlich für die Volksgesundheit und die Existenz der Wasserlebewesen, sondern schon im Ansatz verschwenderisch und unnatürlich gewesen. Lächelnd fügte er hinzu, daß manche Formen der Abwässerbeseitigung früherer Tage, praktizierte man sie heute in Ökotopia, sogar als kriminell angesehen würden.

»In meinen Unterlagen dort drüben«, sagte er, »können Sie historische Dokumente darüber finden, daß große Summen für Öfen zur Verbrennung von Abwässerschlamm ausgegeben wurden. Ihre Konstrukteure wiesen stolz auf die relativ smogfreien Schornsteine hin. Wir dagegen wurden natürlich eines ›Kloaken-Sozialismus‹ beschuldigt wie schon unsere Vorgänger in Milwaukee. Nichtsdestoweniger bauten wir ein nationales System der Schlammtrocknung und der Produktion von natürlichen Dünger auf. Nach sieben Jahren konnten wir vollständig auf chemischen Dünger verzichten. An diesem Erfolg waren verschiedene Maßnahmen beteiligt: die Rückschleusung von Abwässern, die Kompostierung von Müll, die Verwendung stickstoffbindender Pflanzenzüchtungen und der Fruchtwechsel sowie schließlich auch die Nutzbarmachung von Tierdung. 

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Vielleicht haben Sie vom Zug aus gesehen, daß wir unsere Tiere in der Landwirtschaft, anders als bei Ihnen, nicht eng zusammengepfercht halten. Wir wollen, daß sie unter Bedingungen leben, die dem Naturzustand nahekommen. Aber das nicht nur aus sentimentalen Gründen. Wir verhindern auf diese Weise nämlich den gewaltigen Anfall von Dung, der auf Ihren Viehweiden und Geflügelfarmen ein solches Problem darstellt.«

Natürlich erweckte diese selbstgefällige Aufrechnung in jeder Beziehung meine Skepsis, und ich fragte ihn nach den ökonomischen Nachteilen eines derartigen Systems, die jedoch glatt geleugnet wurden. »Im Gegenteil«, erwiderte er, »unser System ist beträchtlich billiger als Ihres, wenn man alle anfallenden Kosten berücksichtigt. Viele Ihrer Kosten werden ignoriert oder insgeheim auf die Nachwelt oder die Öffentlichkeit abgewälzt. Wir dagegen müssen sämtliche Kosten berücksichtigen. Andernfalls können wir nicht hoffen, ein stabiles Gleichgewicht innerhalb unserer Lebenssysteme zu verwirklichen, wie es unser grundlegendes ökologisches und politisches Ziel ist.

Wenn wir beispielsweise Ihre ›freien‹ Praktiken der Flußverunreinigung fortgesetzt hätten, müßte früher oder später jemand anderes die Kosten in Rechnung stellen (und tragen), die durch die dann abgestorbenen Flüsse und Seen entstanden wären. Wir ziehen es vor, das selbst zu tun. In bestimmten Fällen ist es sicher nicht einfach, diese Kosten zu beziffern. Aber wir sind in der Lage gewesen, sie in Annäherungswerten zu erfassen, die politisch umsetzbar waren, nicht zuletzt auch deshalb, weil unser Land relativ gut überschaubar ist.« Ich erhielt die detaillierten Analysen, auf denen seine Äußerungen basieren, und habe sie in Ruhe studiert. Ausgedehnte wissenschaftliche Untersuchungen wären nötig, um sie zu bestätigen oder zu widerlegen. Sie wirken aber erstaunlich gediegen. Natürlich haben die Verhältnisse in Ökotopia der Regierung Maßnahmen gestattet, die bei den Kontrollinstanzen und Hemmschuhen unserer Demokratie unmöglich wären.

Meine nächsten Fragen an den Staatssekretär bezogen sich auf die Produktion und Verarbeitung von Lebensmitteln in Ökotopia. Ich wußte, daß ihm die großen Errungenschaften unserer Lebensmittelindustrie in den zurückliegenden Jahrzehnten – nicht nur die Einführung von synthetischem

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Fleisch und anderer Proteinnahrung, sondern auch die Herstellung von Fertiggerichten und die Verpackung im allgemeinen – bekannt sein mußten. Nun war ich gespannt auf seine Rechtfertigung der rückschrittlichen Praktiken, die vielen Gerüchten zufolge die Landwirtschaft des Westens in das finstere Mittelalter zurückgeworfen und die Köche wieder an ihre Hackklötze und heißen Küchenherde verbannt haben (Mikrowellenherde sind in Ökotopia verboten). Erneut gebe ich seine Antwort in voller Länge wieder. Sie ist, finde ich, bezeichnend für die Art, in der Ökotopianer extremistische Politik rechtfertigen.

 

»Wie Sie wissen«, begann er, »stand Ökotopia zunächst vor dem Problem einer riesigen Überproduktion von Nahrungsmitteln. Allein Kalifornien deckte etwa ein Drittel des Lebensmittelbedarfs der gesamten USA. Oregon und Washington verfügten über eine enorme Obst- und Getreideproduktion. Wir konnten daher etwa fünfmal so viel Lebensmittel produzieren, wie unsere eigene Bevölkerung tatsächlich benötigte. Als die politische Krise den Nahrungsmittelexport in die USA stoppte, bestand unser Problem darin, unsere landwirtschaftlichen Erträge drastisch zu senken. Gleichzeitig wollten wir einen Schlußstrich unter den Raubbau und die Umweltverschmutzung in der Landwirtschaft ziehen. Zum Glück kam uns die neue Beschäftigungspolitik mit ihrer Zwanzig-Stunden-Woche dabei sehr entgegen. Außerdem konnten wir überschüssige Arbeitskräfte auf dem Land in die Aufbauarbeit an unseren Recycling-Systemen einbeziehen.

Einhergehend mit der Vereinfachung der Nahrungsmittelverarbeitung erzielten wir viele Einsparungen in der Lebens­mittel­auslieferung. Den Geschäftsleuten in der Lebensmittelbranche bei Ihnen ist wohlbekannt, daß ein Geschäft mit nur tausend Artikeln weit einfacher und billiger zu führen ist als eines mit fünftausend oder mehr, wie sie bei Ihnen die Regel sind. Aber unsere größten Einsparungen erzielten wir vermutlich einfach dadurch, daß wir die Herstellung vieler vorverarbeiteter und abgepackter Lebensmittel stoppten, die entweder wegen ihrer gesundheitlichen Risiken verboten worden waren oder auf Schwarzen Listen standen.«

 

War ich auf einen Riß in der schönen Fassade gestoßen, der mir den Blick auf umfangreiche totalitäre Eingriffe freigab? »Was für Listen sind das, und wie werden sie durchgesetzt?« fragte ich.

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»Sie werden überhaupt nicht durchgesetzt. Vielleicht könnte man sagen, daß sie eine moralische Institution sind und uls solche Einfluß ausüben. Aber sie sind gänzlich inoffiziell und werden von Studienkomitees der Konsumentenvereinigungen herausgegeben. Gewöhnlich fällt die Nachfrage merklich ab, wenn ein Produkt auf einer solchen Liste auftaucht. Die Hersteller sind dann im allgemeinen gezwungen, die Produktion einzustellen oder den Verkauf auf Spezialgeschäfte zu beschränken.«

»Aber diese Komitees sind doch sicher nicht befugt, nach eigenem Gutdünken zu handeln, ohne wissenschaftliche Absicherung oder die Ermächtigung der Regierung?«

Der Staatssekretär lächelte ziemlich matt und erwiderte: »In Ökotopia geschehen viele, viele Dinge ohne Zustimmung der Regierung. Was die Studienkomitees betrifft, so stützen sie sich auf wissenschaftliche Gutachten, die mit aller nur erdenklichen Sorgfalt und Objektivität erstellt werden. Wissenschaftler dürfen in Ökotopia für eine beratende Tätigkeit oder für Gutachten keine Zahlungen oder sonstige Entschädigungen von staatlicher oder privater Seite annehmen. Ihre Äußerungen sind daher ebensowenig korrumpiert wie die der Bürger selbst. Auf diese Weise vermeiden wir die unselige Situation, daß wie in Ihrem Lande alle Ölexperten von den Ölgesellschaften, alle Landwirtschaftsexperten von der Landwirtschaft und so weiter bezahlt werden.«

Das war zuviel. »Zweifellos sind es gerade diese Wissenschaftler«, entgegnete ich, »die das große industrielle Erbe aus der Zeit vor der Unabhängigkeit verschleudert, das ausgezeichnete Autobahn- und Straßennetz ruiniert und die erstklassigen medizinischen Zentren aufgelöst haben. Welche Segnungen der Zivilisation werden sie als nächste untergraben?«

»Ich werde mich nur zu Ernährungsfragen äußern«, gab der Staatssekretär zur Antwort. »Ich kann Ihnen alle gewünschten Beweise dafür liefern, daß Ökotopianer bessere Nahrung zu sich nehmen als jede andere Nation der Erde, weil wir Wert darauf legen, daß sie nahrhaft und wohlschmeckend ist – und nicht optisch reizvoll und leicht zu verpacken. Unser Nahrungs­mittelangebot ist nicht verseucht mit Herbiziden und Insektiziden, weil wir unser Unkraut durch Hochzucht und die Insekten durch biologische Kontrolle beherrschen.

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Unsere Methoden der Lebensmittelverarbeitung sind gesund und kommen ohne Maßnahmen aus, bei denen wertvolle Bestandteile der Nahrung zerstört werden. Was aber am wichtigsten ist – unsere Landwirtschaft hat ein fast völlig stabiles Gleichgewicht erreicht; mehr als 99 % unserer Abfälle werden rückgeschleust. Kurz gesagt, wir haben ein Ernährungs­system aufgebaut, das unbegrenzt lebensfähig ist. Das heißt, wenn die bereits jetzt unverantwortlich hohen Mengen ausländischer Giftstoffe, die durch Regen und Wind auf unser Gebiet getragen werden, nicht noch zunehmen.«

Der Staatssekretär rappelte sich auf, trat an seine Regale und fischte ein halbes Dutzend Broschüren heraus. »Sie werden hier eine Zusammenfassung einiger wesentlicher Informationen finden«, sagte er. »Wenn Sie die verdaut haben, sollten Sie sie nach guter ökotopianischer Sitte weiterverwerten.«

Dieser schlechte Scherz überraschte mich, aber er löste die Spannung, und ich mußte lachen. Der Sekretär geleitete mich zur Tür. »Bitte rufen Sie an, wenn sich noch weitere Fragen ergeben sollten«, sagte er schlicht.

Ich kehrte in mein Hotel zurück und las die Broschüren. Eine davon bot eine hochtechnische Diskussion über die Wechsel­beziehungen zwischen Abwässerschlamm, Bedarf an mineralischem Dünger, Grundwasserspiegel und -abfluß, landwirtschaftlichem Dung und verschiedenen Krankheitserregern. Eine andere, die mir in ihrem moralisierenden Tonfall besonders trostlos erschien, ging auf die Ernährungsgewohnheiten vor der Unabhängigkeit, insbesondere auf ihre gesundheitlichen Risiken ein. In ihrer humorlosen Haltung schien sie Soda-Drinks als Anschlag auf die gesamte Menschheit zu betrachten – als hätte man Amerikas Soda-Hersteller über dreißig Jahre hinweg für zehn Milliarden Zahnlöcher persönlich verantwortlich machen sollen! Die unerbittliche Tendenz, die Schuld bei den Produzenten zu suchen, ist, wie mir langsam klar wird, in Ökotopia weitverbreitet und geht bis zur kompletten Leugnung der Verantwortlichkeit anderer – in diesem Fall der Soda-Konsumenten.

Mein Zimmer weist drei Abfallschächte auf, und ich habe jetzt, umsichtig wie ein echter Ökotopianer, die Broschüren in den Schacht mit der Aufschrift ›P‹ geworfen. Nur gut, daß es in Ökotopia kein Kaugummi gibt – in welchen Schacht würde das gehören?

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(7. Mai)  Das Konzept des stabilen Gleichgewichts hört sich eigentlich ganz harmlos an, bis man sich klarmacht, welche Konsequenzen es für sämtliche Bereiche des Lebens hat, vom persönlichsten bis zum allgemeinsten. Schuhsohlen dürfen keine Kunststoffbestandteile enthalten, weil diese »ich nicht in natürlicher Weise zersetzen. Neue Glas- und Keramikarten mußten entwickelt werden, die, wenn man sie zerkleinert, zu Sand zerfallen. Auf Aluminium und andere nicht-eisenhaltige Metalle wird weitgehend verzichtet, außer in einigen Anwendungsbereichen, wo es keine Alternative gibt – nur Eisen, das nach einer gewissen Zeit verrostet, scheint für die Ökotopianer ein ›natürliches‹ Metall zu sein. Gürtelschnallen werden aus Knochen oder sehr hartem Holz hergestellt. Kochtöpfe haben keine abweisende Innenbeschichtung aus Plastik und sind für gewöhnlich aus schwerem Eisen.

Fast nichts ist angestrichen, weil die Herstellung von Farben nur auf der Grundlage von Blei, Gummi oder Plastik möglich ist, die sich nicht zersetzen. Die Leute scheinen auch nur wenige Bücher zu besitzen; sie lesen im Vergleich zu den Amerikanern zwar eine ganze Menge, verleihen aber dann die Bücher an Freunde oder geben sie ins Recycling. Natürlich gibt es immer noch Momente, die sich mit dem Prinzip des stabilen Gleichgewichts nicht vereinbaren lassen: Fahrzeuge sind mit Gummireifen ausgestattet, Zahnfüllungen bestehen aus Silber, einige Gebäude aus Beton usw. Aber es ist und bleibt ein erstaunliches Verfahren, und die Leute haben sichtlich großen Spaß daran, es auf immer weitere Bereiche auszudehnen.

(Ich hatte übrigens Unrecht damit, daß mehr Müllwagen benötigt würden: Tatsächlich ist es so, daß die Ökotopianer sehr wenig von dem produzieren, was wir Müll nennen würden – Material, das man einfach irgendwo auf einer Kippe abladen muß. Aber natürlich brauchen sie mehr Lastwagen, um das Material aus den Recycling-Körben abzutransportieren.)

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Die Leute hier reagieren schrecklich überemotional. Gestern abend saß ich nach dem Essen in meinem Hotelzimmer und schrieb, als ich auf dem Flur lautes Schreien hörte. Es klang so, als drohten ein Mann und eine Frau sich gegenseitig umzubringen. Zuerst dachte ich, es sei besser, mich nicht einzumischen. Sie verzogen sich schließlich nach unten in die Halle, und ich rechnete eigentlich damit, daß sie das Haus verlassen oder zurück auf ihr Zimmer gehen würden. Sie machten jedoch kehrt, schreiend und kreischend, bis sie direkt vor meinem Zimmer standen. Schließlich steckte ich meinen Kopf zur Tür hinaus und sah drei oder vier Hotelgäste, die dem Ganzen seelenruhig zuschauten und nicht die geringsten Anstalten machten, einzugreifen. Ich hatte den Eindruck, als ob hier eine leidenschaftliche Affäre ihr bitteres Ende fände. Die Frau, das tränenüberströmte, aber hübsche Gesicht halb von Haaren verdeckt, schrie auf den Mann ein und trat haßerfüllt nach ihm – immer noch keine Reaktion bei den Zuschauern, einige von ihnen lächelten sogar leicht. Der Mann, das Gesicht rot vor Zorn, packte die Frau bei den Schultern, als wolle er ihren Kopf gegen die Wand schmettern – daraufhin traten zwei der anwesenden Ökotopianer endlich dazu und legten ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter. Anstatt ihr den Schädel einzuschlagen, begnügte sich der Mann daraufhin damit, ihr ins Gesicht zu spucken – worauf sie einen schrecklichen Schwall von Beschimpfungen und Beleidigungen vom Stapel ließ: Dinge, die persönlich so verletzend waren, wie ich sie selbst hinter verschlossenen Türen noch nie gehört (und noch viel weniger ausgesprochen) habe, geschweige denn vor fremden Leuten.

Der Mann schien aber weder betroffen noch überrascht zu sein und bedachte sie vielmehr seinerseits mit ebenso fürchterlichen Beleidigungen, wie er selbst sie hatte einstecken müssen. Der Auftritt dauerte nun schon ungefähr eine Viertelstunde, und es versammelten sich immer mehr Zuschauer. Er übertraf an Theatralik alles, was ich je in Italien zu sehen bekommen habe. Schließlich verrauchte der Zorn der beiden. Sie standen ermattet da, blickten sich gegenseitig an und fielen sich dann in die Arme, weinten und liebkosten einander unter Tränen und stolperten den Flur hinunter in ihr Zimmer. Die Zuschauer begannen daraufhin lebhaft Beobachtungen auszutauschen und gaben anerkennende oder vergleichende Kommentare ab, wie wir es für gewöhnlich bei einem Boxkampf nach einer Runde mit besonders intensivem Schlagabtausch tun. 

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Niemand schien sich dafür zu interessieren, worum es überhaupt gegangen war, was die Leute gefangen nahm war vielmehr der Gefühlsausbruch selbst! Offensichtlich haben sich die Beschränkungen im zwischenmenschlichen Verhalten hier sehr gelockert, und extreme Feindseligkeit kann als normale Verhaltensweise akzeptiert werden.

Als Reisender gebe ich dieser Tage wohl keine gute Figur ab. Mir fehlt der rechte Appetit auf das zuckerlose ökotopianische Essen, obwohl sie hier so stolz auf ihre ›natürliche‹ Küche sind, und ich brüte schon sorgenvoll darüber nach, was ich tun soll, wenn ich krank werde oder einen Unfall habe. Die Ökotopianer haben wahrscheinlich den Stand der Medizin um fünfzig Jahre zurückgeschraubt, und vor meinem geistigen Auge sehe ich schon, wie man mich in mittelalterlicher Manier zur Ader läßt.

Gestern nacht habe ich sogar fast liebevoll an meine Jahre mit Pat und den Kindern zurückgedacht. Vielleicht vermisse ich langsam den Luxus, einfach zu Hause herumzuliegen. (Die Frage ist, warum mich gerade dieser Trip so verwirrt und erschöpft? Es ist eine aufregende Sache, eine außergewöhnliche Gelegenheit – alle meine Kollegen beneiden mich darum. Aber irgendwie kriege ich die ganze Angelegenheit nicht recht in den Griff.) Die Kinder kamen sonntagsmorgens immer zu uns ins Bett und spielten ›Der Bär kommt über den Berg‹ – kichernd, tollpatschig und zum Liebhaben. Später, wenn sie gegangen waren, kam unweigerlich die Frage von Pat, wann ich wieder fort müsse. Vorwürfe vor dem Frühstück hält kein Mensch auf die Dauer aus. Aber auf meine Weise habe ich sie geliebt.

Die ökotopianische Arbeitsplanung und die Mischung von Arbeit und Spiel machen es manchmal praktisch unmöglich, auch nur die einfachsten Dinge zu regeln. Ging gestern zum Telegrafenamt, um meinen Artikel durchzugeben. Er muß über Seattle und Vancouver laufen, weil seit der Sezession keine direkten transkontinentalen Verbindungen mehr existieren. Dieses Mal war ein anderer Angestellter im Büro, nahm den Text entgegen, fing an zu lesen, lachte und wollte mit mir dann über die Art diskutieren, wie ich den Lebensmittelmenschen zitiert habe. »Hören Sie mal«, sagte ich, »ich tue hier meine Arbeit – wie wär's, wenn Sie das gleiche tun? Setzen Sie sich an Ihren verdammten Telegrafen!«

Er sah mich tief gekränkt an, als ob ich ihm gesagt hätte, daß es in seinem Büro stinkt. »Ich wußte nicht, daß Sie es so eilig haben«, sagte er. »Wissen Sie, wir haben hier nicht jeden Tag mit amerikanischen Reportern zu tun, und was Sie da geschrieben haben, ist wirklich interessant. Ich wollte nicht unverschämt sein.«

Mit diesen Leuten kann man nicht diskutieren. »Bitte, bitte, lesen Sie nur«, sagte ich in der Absicht, ihn zu beschämen und dadurch zur Eile anzutreiben. Er jedoch sah mich besänftigt an, sagte »danke« und ließ sich zum Lesen nieder. Ich trommelte eine Weile mit den Fingern auf der Schranke herum, aber kein Zweifel, die ökotopianische Freizeit hatte begonnen. Schließlich war er fertig, setzte sich vor seinen Apparat, wandte sich um und sagte: »Nun ja, für den Anfang ganz gut. Ich werde es besonders schnell für Sie durchgeben.« Dann hämmerte er das Ding mit etwa 80 Wörtern in der Minute durch, kam zurück und gab mir den Text mit einem breiten, zufriedenen Lächeln wieder. »Ich heiße übrigens Jerry. Ich bin mit George (dem Staatssekretär) zur Schule gegangen, und Sie haben ihn wirklich sehr gut getroffen.« Ich glaube nicht, daß er lügt. Jedenfalls erwiderte ich unwillkürlich sein Lächeln. »Danke, Jerry«, sagte ich. »Bis morgen.«

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