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5.3  

Edward Bellamy —

"Ein Rückblick" 

 

Berneri-1950

 

Bellamy - deto

220-231

Wenn <Ein Rückblick> trotz seines paradoxen Titels ein Zukunftsroman ist, dann ist es eine Zukunft, mit der wir schon vertraut sind. Die Verstaatlichung der Industrie, die Arbeitsdienstpflicht, die Bedeutung der Manager­klasse, all dies sind Züge, die eher der Gegenwart als der Zukunft angehören, und wir mögen versucht sein, Edward Bellamy eher einen Propheten zu nennen als einen Utopisten, wenn ihm nicht der bedauerliche Irrtum unterlaufen wäre, zu glauben, daß diese Veränderungen uns das Glück brächten.

Die Öffentlichkeit der neunziger Jahre, die die Realität der Staatskontrolle noch nicht zu spüren bekommen hatte, nahm Bellamys Utopie mit Begeisterung auf. Peter Kropotkin erwähnte in seiner Rezension von <Ein Rückblick> in <La Revolte> Ende des Jahres 1889, zwei Jahre, nachdem das Buch in Amerika erschienen war, daß schon 139.000 Exemplare der amerikanischen Ausgabe und 40.000 der englischen Ausgabe verkauft worden waren und daß es zu vielen Bekehrungen geführt hatte. 

Darwins großer Mitarbeiter A.R. Wallace erklärte, daß er bisher nur die Verstaatlichung des Bodens befürwortet hätte, doch Bellamys Buch hätte ihn überzeugt, daß die Vereinigten Staaten bereit wären für den Sozialismus.

Bellamys klare und praktische Behandlung der ökonomischen Probleme war wahrscheinlich die Hauptursache für seinen Erfolg, während die sentimentale Romanze, die in die Beschreibung der Zukunfts­gesellschaft eingeflochten ist, ihre Wirkung auf den Zeitgeschmack nicht verfehlen konnte. Bellamy war auch vorsichtig genug, seine autoritären Züge so zu verstecken, daß sie den empfindlichen Individualismus der amerikanischen Bourgeoisie nicht verletzten.

Cabet dachte bei seiner Utopie an die arbeitslosen und hungernden Massen, die, wie er vermutete, sich mehr für Nahrung und Obdach interessierten als für den Luxus, entscheiden zu dürfen, was sie essen oder anziehen wollten. Bellamy schrieb offensichtlich mit Rücksicht auf die Mittelklassen, und indem er versuchte, Leute zu begeistern, denen es nicht an den wesentlichen Annehmlichkeiten des Lebens mangelte, mußte er andere Verlockungen als Nahrung und Obdach betonen, wie zum Beispiel die Möglichkeit, mit fünfundvierzig in den Ruhestand zu treten und keine Probleme mit den Dienstboten zu haben.

Auch ist es offensichtlich, daß die gebildeten Klassen Vorschriften in Geschmacksangelegenheiten und Beschränkungen dessen, was sie als ihre intellektuelle Freiheit ansahen, nicht akzeptiert hätten, und Bellamy verband in genialer Weise Staatskontrolle bei Produktion und Distribution mit Privatinitiative in Kunst und Literatur und gestand den freien Berufen einen höheren Grad an Unabhängigkeit zu als den Industrie­arbeitern.

Mr. West, der Held der Geschichte, lebte in Boston Ende des neunzehnten Jahrhunderts, als Armut und Arbeitslosigkeit vielerorts industrielle Unruhen hervorriefen. Dieser wohlhabende junge Mann, dessen Hauptsorge im Leben die Errichtung eines Hauses für seine zukünftige Frau gewesen zu sein scheint, wurde durch ständige Streiks aufgehalten, litt an Schlaflosigkeit und ließ sich eigens eine unterirdische Kammer konstruieren, so daß er schlafen konnte, ohne vom Lärm der Stadt gestört zu werden. Gelegentlich mußte er aber auch die Dienste eines Arztes in Anspruch nehmen, der ihn mittels Hypnose einschläferte. In der Nacht des 30. Mai 1887 brannte sein Haus bis auf die Grundmauern nieder, und da niemand etwas von seiner unterirdischen Kammer wußte, außer seinem Arzt, der die Stadt verlassen hatte, und seinem Kammerdiener, der wahrscheinlich in den Flammen umgekommen war, blieb er in seinem hypnotischen Zustand liegen bis zum Jahre 2000, als er bei Ausgrabungsarbeiten entdeckt wurde.

Dr. Leete, der sein Gastgeber werden soll, erweckt ihn aus seinem langen Schlaf und kann mit Hilfe seiner jungen, schönen Tochter den jungen Mann mit seinem ungewöhnlichen Erlebnis versöhnen und zu einem glühenden Verehrer des neuen Systems machen.

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Um die romantische Seite des Buches zu beschließen, sollten wir noch erwähnen, daß Edith Leete zufällig die Urenkelin der anderen Edith ist, die zu heiraten Mr. West verhindert war, zuerst durch die Streiks im Baugewerbe und anschließend durch seinen angeblichen Tod, daß die beiden sich natürlich leidenschaftlich verlieben und dieses Mal keine Wohnungsprobleme ihre Ehe verhindern. Mr. West erhält einen Lehrstuhl für Geschichte am Shawmut College in Boston und in eben dieser Eigenschaft als Historiker erzählt er die Geschichte seiner Erfahrungen sowohl im neunzehnten als auch im einundzwanzigsten Jahrhundert.

 

Die erste Überraschung für Julian West, dessen Kopf noch voll ist von Berichten über Streiks, Aussperrungen und Boykotten, ist, daß es in der neuen Gesellschaft kein Arbeiterproblem mehr gibt, nicht einmal mehr Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Dr. Leete erklärt ihm, daß Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine friedliche soziale Revolution stattfand:

Die wirtschaftliche Entwicklung, die zur Zusammenlegung der Betriebe führte, hinter denen immer gewaltigere Kapitalanhäufungen standen; sie, die jene Monopole schuf, denen man sich so verzweifelt und vergeblich entgegengestemmt hatte, wurde endlich in ihrem wahren Wesen erkannt. Nämlich als ein Vorgang, der nur seinen natürlichen Abschluß zu finden brauchte, um der Menschheit das Tor zu einer goldenen Zukunft zu öffnen.

Zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war dieser Entwicklungsgang vollendet. Die Konzentration des gesamten Reichtums der Nation war schließlich Tatsache geworden. Die Industrie und der Handel des Landes wurden nicht länger von einer Gruppe von Aktiengesellschaften und Trusts beherrscht, die aus unverantwortlichen Privatpersonen bestanden und für die nichts als die persönliche Laune und der persönliche Vorteil einiger weniger maßgebend waren. Ihre Leitung war vielmehr einem Ausschuß anvertraut worden, der das ganze Volk vertrat und sie im Interesse und zum Nutzen aller führte.

Die Nation organisierte sich zu einem einzigen Riesenbetrieb, in dem alle anderen Betriebe aufgingen; sie trat als einziger Kapitalist an die Stelle aller anderen Kapitalisten; sie wurde der einzige Unternehmer, der letzte Monopolist, der alle früheren und kleineren Monopole verschlang, ein Monopolist, dessen Gewinne und Ersparnisse allen Bürgern zugute kamen. Mit einem Wort: das Volk der Vereinigten Staaten beschloß, die Leitung seines Wirtschaftslebens in die Hand zu nehmen, genau so, wie es hundert und etliche Jahre zuvor den Beschluß gefaßt hatte, seine Regierung selbst zu führen.

Es organisierte sich jetzt zu wirtschaftlichen Zwecken auf derselben Grundlage, auf der es sich damals zu politischen Zwecken organisiert hatte... Als die Nation der einzige Unternehmer wurde, da wurden auch alle ihre Mitglieder zufolge ihres Bürgerrechts Arbeiter, die nach den Bedürfnissen der gesellschaftlichen Wirtschaft Pflichten zuerteilt erhielten... Das Volk war bereits gewöhnt, es für gerecht zu halten, daß aufgrund der allgemeinen Wehrpflicht jeder körperlich taugliche Bürger zur Verteidigung der Nation das Seine beitragen müsse. Daß es in gleicher Weise die Pflicht jedes Bürgers sei, für den Unterhalt der Nation seinen Teil Handarbeit oder Kopfarbeit beizusteuern, verstand sich gleichfalls von selbst. Allein diese Art Dienstpflicht konnte erst dann allgemein und planmäßig, ohne Unterschied von allen geleistet werden, als die Gesellschaft der allgemeine und einzige Arbeitgeber geworden war.

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Jeder Bürger, vom 21. Lebensjahr, wenn seine Ausbildung abgeschlossen ist, bis zum 45. Lebensjahr, wird zu irgendeiner staatlichen Arbeit herangezogen. Er kann seinen Beruf entsprechend seinem Geschmack und seinen Neigungen frei wählen, wenn es nicht zu viele Bewerber für die Anforderungen eines bestimmten Industriezweiges gibt. In diesem Fall werden nur die geeignetsten genommen. Große Sorgfalt wird darauf verwendet, alle Berufe gleich verlockend zu gestalten:

Soweit die Anziehungskraft der Berufe von den Arbeitsbedingungen abhängt, ist es die Aufgabe der Verwaltung, dafür zu sorgen, daß möglichstes Gleichgewicht zwischen allen Gewerben herrscht. Alle Berufe sollen gleich anziehend für Leute sein, die eine natürliche Neigung für sie empfinden. Das Gleichgewicht in der Anziehungskraft wird dadurch hergestellt, daß sich die Länge der Arbeitszeit in den verschiedenen Gewerben nach der Schwere der Arbeit richtet. So haben die leichteren Berufe, die unter den angenehmsten Bedingungen ausgeübt werden, die längste Arbeitszeit: für schwere Berufsarten dagegen, wie zum Beispiel für den Bergbau, ist die Arbeitszeit nur kurz. Keine Theorie, keine im voraus festgesetzte Regel bestimmt die Anziehungskraft der Berufe. Wenn die Verwaltung einer Art von Arbeitern Lasten abnimmt und sie anderen auferlegt, so folgt sie damit müden Schwankungen in der Meinung der Arbeiter selbst, wie sie sich in dem Angebot von Freiwilligen äußern. Als Grundsatz gilt, daß alles in allem genommen für niemand eine bestimmte Arbeit schwerer sein soll, als es irgendeine andere Arbeit für jemand anders ist, und daß in dieser Frage die Arbeiter selbst das entscheidende Wort zu sprechen haben.

 

Das Problem wer macht die schmutzige Arbeit wird gelöst, indem die neuen Rekruten für eine Zeitspanne von drei Jahren dorthin geschickt werden, wo sie gebraucht werden: Die jungen Leute dürfen erst einen bestimmten Beruf erwählen, nachdem diese Zeit um ist, während der sie jede Arbeit verrichten müssen, die ihnen von den Vorgesetzten zugewiesen wird. Niemand kann sich der dreijährigen ernsten Zucht entziehen. Im Alter von 45 Jahren sind sowohl Männer als auch Frauen von weiterem Dienst befreit und können sich beschäftigen, womit sie wollen, oder, wenn sie es vorziehen, den Rest ihres Lebens vollkommen müßig verbringen.

 

Die nächste große Neuerung des neuen Systems ist das Recht jedes einzelnen auf gleichen Anteil am Wohlstand der Nation, unabhängig von seiner Arbeitsleistung. Mit anderen Worten, das Lohnsystem ist abgeschafft, und auch hier zieht Bellamy eine Parallele zwischen militärischer und industrieller Dienstpflicht. Wie sie in einer kapitalistischen Gesellschaft

für alle Wehrtüchtigen zwingend war, begriff sie keineswegs in sich, daß die Dienstuntauglichen ihrer Bürgerrechte beraubt wurden. Sie blieben zu Hause und wurden von denen beschützt, die in den Kampf zogen, ohne daß deswegen jemand ihr Existenzrecht in Frage stellte oder geringer von ihnen dachte. Die Nutzanwendung für unseren Fall liegt nahe. Wenngleich sich alle arbeitsfähigen Glieder der Nation der allgemeinen Arbeitspflicht unterwerfen müssen, so bedeutet das doch nicht, daß Arbeitsunfähige ihres Bürgerrechts verlustig gehen, und dieses begreift das Recht auf Unterhalt in sich. Der Arbeiter ist nicht Bürger, weil er arbeitet,

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sondern er arbeitet, weil er Bürger ist. Wie man zu ihrer Zeit die Pflicht des Starken anerkannte, für den Schwachen zu kämpfen, so anerkennen wir jetzt, wo aller Kampf vorbei ist, seine Pflicht, für ihn zu arbeiten. Die Lösung einer Frage, die einen nicht aufgehenden Rest übrigläßt, ist überhaupt keine Lösung. Auch unsere Lösung des sozialen Problems wäre keine solche, wenn sie es den Lahmen, Blinden und Krüppeln überließe, sich wie wilde Tiere durchzuschlagen, so gut es eben ginge. Es würde wahrhaftig noch besser sein, die Gesunden und Starken sich selbst zu überlassen, als die Mühseligen und Beladenen, für die jedes Herz blutet und für deren körperliches und geistiges Wohlbefinden vor allem gesorgt werden muß. Das Recht jedes Mannes, jedes Weibes und jedes Kindes auf volle Existenzmittel durch die Gesellschaft beruht auf der sicheren, breiten und einfachen Grundlage der Tatsache, daß sie alle Glieder der einen großen menschlichen Familie sind.

 

Da der Staat der einzige Produzent aller Annehmlichkeiten ist, besteht keine Notwendigkeit mehr des Austauschs zwischen den Individuen: So trat an die Stelle des Handels ein System direkter Güterverteilung von den nationalen Vorratshäusern aus. Dabei ist aber das Geld ein durchaus überflüssiges Ding. Die Verteilung geschieht nach einem möglichst einfachen Plan: Zu Beginn jedes Jahres wird in den staatlichen Geschäftsbüchern für den einzelnen Bürger ein Kredit eröffnet, der seinem Anteil an der jährlichen Gesamtproduktion des Landes gleichkommt. Darauf erhält jeder eine entsprechende Kreditkarte, mittels der er sich aus den öffentlichen Vorratshäusern alles verschafft, was er nur wünscht und wann immer er es wünscht. Solche Vorratshäuser aber gibt es in jeder Gemeinde. Wie Sie sehen, beseitigt diese Regelung durchaus die Notwendigkeit von Handelsgeschäften zwischen den einzelnen. Diese Karte ist auf einen bestimmten Dollarbetrag ausgestellt; das alte Wort wurde beibehalten, wird aber nur noch benutzt als ein algebraisches Zeichen, dessen wir uns bedienen, um die Werte der verschiedenen Produkte miteinander zu vergleichen. Der Kredit, den diese Karte gewährt, ist so reichlich bemessen, daß er die Befriedigung aller Bedürfnisse und sogar manchen Luxus erlaubt, doch wenn ein Bürger einmal besondere Ausgaben haben sollte, kann er einen Vorschuß auf den Kredit des nächsten Jahres erhalten, jedoch wird dies nicht gern gesehen und ist mit großen Abzügen verbunden.

Jeder Bürger hat die Freiheit, seine Ration nach seinen Wünschen auszugeben: Zwar haben alle Bürger das gleiche Einkommen, über seine Verwendung aber entscheidet das Belieben des einzelnen. Die einen haben schöne Pferde gern, die anderen, wie ich zum Beispiel, ziehen schöne Kleider vor, und dritte haben an einer wohlbesetzten Tafel ihre Freude. Der Mietzins, den die Nation für diese Häuser bezieht, ist je nach Größe, Eleganz und Lage verschieden, so daß jeder eine ihm zusagende Wohnung finden kann. Niemand versucht, andere durch prunkvolle Häuser oder Kleidung zu beeindrucken, denn man weiß, wie hoch das Einkommen eines jeden ist, und daß alles, was auf der einen Seite mehr ausgegeben wird, auf der anderen gespart werden muß. Andererseits ist die Nation reich, die Leute brauchen sich keine Annehmlichkeiten zu versagen, und Sparsamkeit gilt nicht mehr als eine Tugend.

Alle Besorgungen werden in den staatlichen Läden gemacht, die nach einem extrem wirtschaftlichen (wenn auch etwas unpersönlichen) System geführt werden. Es gibt keine Verkäufer oder Verkäuferinnen, sondern nur Angestellte, die die Bestellungen entgegennehmen und den Wert der erworbenen Güter auf die Kreditkarte stanzen.

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Man erwartet von ihnen nicht, daß sie die Eigenschaften der Güter kennen oder anpreisen, denn jegliche Information, die für den Kunden erforderlich sein mag, ist säuberlich auf eine Karte gedruckt, die an den ausgestellten Mustern angebracht ist. Läden werden eher nach dem Prinzip unserer Industriemessen geführt und nicht wie Geschäfte heutzutage; es werden nur Warenmuster gezeigt, und die entgegen­genommenen Bestellungen werden dem zentralen Warenhaus der Stadt übermittelt, wo sie bearbeitet und mittels einer Röhrenleitung in die Stadtteile befördert und von dort aus in die Häuser verteilt werden. Der Musterladen des kleinsten Dorfes ist ein genaues Abbild des städtischen Ladens und bietet die Auswahl aller Sorten von Gütern, die der Nation zur Verfügung stehen. Die Musterlager der Dörfer sind durch Leitungsrohre mit dem Zentralwarenlager des Bezirks verbunden, das manchmal zwanzig Meilen entfernt liegt, doch der Transport geht so rasch, daß der Zeitverlust unterwegs geringfügig ist.

Die Mahlzeiten können zu Hause eingenommen werden oder in einem öffentlichen Restaurant, das alle Pracht unserer Lyons' Corner Houses aufweist, wo sich jedoch jede Familie eines Bezirks für eine kleine Jahresmiete einen Raum für ihren ständigen und ausschließenden Gebrauch reservieren lassen kann.

Die Leute sind nicht gezwungen, ihre Ration nur in den Vereinigten Staaten auszugeben, sondern können sie auch in Europa, Australien, Mexiko und Teilen von Südamerika gebrauchen, welche, wie die Vereinigten Staaten, industrielle Republiken sind:

Heute gilt in Europa eine amerikanische Kreditkarte geradeso wie ehemals amerikanisches Gold... Und zwar genau unter derselben Voraussetzung, nämlich, daß sie in die Münze des bereisten Landes umgesetzt wird. Ein Amerikaner, der Berlin besucht, präsentiert dort seine Kreditkarte im Büro des Bundesrats und empfängt für ihren ganzen oder teilweisen Betrag eine deutsche Kreditkarte. Die Vereinigten Staaten werden dafür in entsprechender Höhe als Schuldner Deutschlands in den internationalen Geschäftsbüchern belastet.

 

Die Kreditkarte kann auch dazu benutzt werden, Arbeiter vom Staat zu mieten. Obwohl Dienstboten abgeschafft sind, ist es möglich, Putzfrauen oder Dekorateure vom Arbeitsaustausch zu erhalten, wenn das Haus einen Frühjahrsputz nötig hat. Noch wichtiger ist vielleicht, daß die Leute ihre eigenen Zeitungen besitzen können, indem sie einen bestimmten Geldbetrag zeichnen, der die Produktionskosten deckt, und der Redakteur, den sie sich wählen, wird für die Dauer seiner Amtszeit vom Arbeitsdienst befreit, denn anstatt dem Redakteur ein Gehalt zu zahlen wie zu Ihrer Zeit, leisten die Subskribenten der Nation eine Entschädigung dafür, daß er der allgemeinen Arbeitspflicht entzogen wird. Die Kreditkarte sorgt auch für die Unterhaltung von Kirchen und Geistlichen.

„Die Formen der Religionsausübung des Volkes haben natürlich im Laufe eines Jahrhunderts ganz erhebliche Veränderungen erfahren", versetzte Doktor Leete, „aber selbst vorausgesetzt, daß dies nicht der Fall gewesen wäre, würden sie sich doch sehr gut unserer Gesellschaftsordnung anpassen können.

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Die Nation stellt gegen einen verbürgten Mietzins jedem einzelnen oder jeder Gruppe von Personen ein Gebäude zur Verfügung, das so lange benutzt werden darf, wie der Mietzins entrichtet wird. Was die Geistlichen anbelangt, so kann man sich ihre Amtstätigkeit genau auf die nämliche Weise sichern wie die Dienste eines Redakteurs. Jeder beliebigen Anzahl von Bürgern steht es frei, sich die Dienste jemandes — seine Zustimmung natürlich vorausgesetzt — für einen besonderen persönlichen Zweck zu verschaffen, der mit der nationalen Arbeitspflicht nichts zu tun hat. Sie braucht nur auf Rechnung der betreffenden Kreditkarten der Nation eine Entschädigung dafür zu zahlen, daß sie dem Arbeitsheer die Arbeitskraft jener Persönlichkeit entzieht. Die der Nation entrichtete Entschädigung entspricht dem Gehalt, das zu Ihrer Zeit den Geistlichen usw. selbst gezahlt wurde. Die mannigfaltige Anwendung des angedeuteten Grundsatzes läßt der Privatinitiative auf all den Gebieten freien Spielraum, wo die Verstaatlichung nicht durchführbar ist.

 

Autoren und Künstler bilden eine besondere Kategorie, denn sie können ihre Kreditkarte dazu benutzen, ein Buch herauszubringen oder ein Kunstwerk zu produzieren und haben dann ein Anrecht auf die Tantiemen durch den Verkauf ihres Werkes.

Daraus und aus dem vorher Gesagten kann man ersehen, daß Bellamys Staatssozialismus einen höheren Grad persönlicher Freiheit zuläßt als die meisten auf denselben Prinzipien gegründeten Utopien. Doch es ist die Freiheit, die man einem Soldaten gewährt, wenn er erst einmal eingezogen ist. Für Kriegsdienst­verweigerer ist nicht gesorgt. Wenn einer sich weigert, die Autorität des Staates und die Unvermeidlichkeit der Arbeitsdienstpflicht anzuerkennen, verliert er alle Menschenrechte:

Wollte ich jedoch von der Arbeit als von einer Zwangspflicht sprechen, so würde ich Ihnen nur eine schwache Vorstellung davon geben, wie unvermeidlich die Arbeit schlechterdings für uns alle ist. Unsere gesamte Gesellschaftsordnung ist völlig auf die Arbeit gegründet und mit ihr verwachsen. Wenn sich jemand seiner Arbeitspflicht entziehen wollte, so hätte er keine Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu finden. Ein solcher Wunsch ist jedoch undenkbar. Wer ihn verwirklichen wollte, würde sich aus der Welt ausschließen, von der Verbindung mit seinesgleichen abschneiden, mit einem Worte: er würde Selbstmord begehen.

 

Wir sehen daraus, daß jeder Bürger der neuen Gesellschaft gezwungen ist, einen Vertrag anzuerkennen, den vorhergehende Generationen zwischen sich und dem Staat geschlossen haben. Es gibt kein Mittel, einen solchen Vertrag zu revidieren, denn die arbeitende Bevölkerung ist all ihrer politischen Rechte beraubt. Der Präsident der Vereinigten Staaten, der gleichzeitig Oberbefehlshaber des Arbeitsheeres ist und darüber wacht, daß die bestehenden Gesetze allen Klassen von Bürgern zugute kommen und von ihnen beachtet werden, wird nicht vom Arbeitsheer gewählt, weil das der Disziplin abträglich sein könnte, sondern von den Mitgliedern im Ruhestand. Das bedeutet, daß bis zum Alter von fünfundvierzig Jahren weder Mann noch Frau Wahlrecht haben und von der älteren Generation regiert werden.

Während jeder Bürger gleichen Anteil am Wohlstand der Nation hat, besteht die herrschende Klasse aus Menschen, die sich durch ihre Fähigkeiten in der Industriearbeit auszeichnen.

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Diese industrielle Aristokratie bildet das, was James Burnham die Managerklasse genannt hat. Bellamy zufolge sollen Ehren und Auszeichnungen, hohe Ämter und Autorität im Arbeitsheer und im Staat den Männern und Frauen entsprechend ihrem Fleiß und ihren ausgezeichneten Arbeitsergebnissen zugewiesen werden, damit nur die Fähigsten führen und regieren. Die Anerkennung für gute Ergebnisse auf industriellem Gebiet begründet nicht nur eine Managerklasse, sondern dient auch als Ansporn für maximale Leistung. Während dies früher durch den Wunsch nach Reichtum erreicht wurde, streben die Menschen der neuen Gesellschaft nach einer Autoritätsstellung. Wie in der militärischen Armee wird der Wetteifer durch die Aufstiegsmöglichkeit von den untersten Reihen bis zu Befehlsstellungen erreicht:

Ich setzte Ihnen bereits auseinander, wie Leute für besonders verdienstliche Leistungen nach drei erreichten Rangstufen zum Offizier emporsteigen. Einmal Offizier geworden, werden sie vom Leutnant zum Hauptmann oder Werkführer und von diesem zum Obermeister oder Oberst befördert. Über dem Oberst —jedoch bei einigen größeren Arbeitsgebieten erst nach einer weiteren Zwischenstufe — steht der General eines Gewerbes, unter dessen unmittelbarer Leitung alle einschlägigen Arbeiten ausgeführt werden. Der General steht an der Spitze des nationalen Betriebsamts eines Gewerbes, und er ist in der Hauptverwaltung für dessen Arbeiten verantwortlich. Solch ein General hat eine glänzende Stellung, die dem Ehrgeiz der meisten genügt. Sein Rang — um mich eines ihnen geläufigen militärischen Vergleichs zu bedienen — entspricht etwa dem eines Brigade- oder Divisionsgenerals Ihrer Zeit. Über ihm stehen die Leiter der zehn großen Berufsgenossenschaften, von denen jede einzeln alle miteinander verwandten Gewerbe umfaßt. Die Führer dieser zehn großen Abteilungen des Arbeitsheeres können ungefähr mit Ihren kommandierenden Generälen von ganzen Armeekorps verglichen werden. Jeder von ihnen hat nämlich ein Dutzend Generäle unter sich, die die einzelnen Gewerbe leiten. Als Höchstkommandierender steht der Präsident der Vereinigten Staaten über den zehn hohen Beamten, die das Ministerium bilden.

 

Für diejenigen, die führende Stellungen nicht allein aus Machtgründen anstreben, sind greifbarere Privilegien vorgesehen:

Aber hiervon abgesehen, werden unsere Bürger noch durch andere, gröbere, aber nicht weniger wirksame Mittel angefeuert, ihr Bestes zu geben: durch Vorteile und Freiheiten , deren sich die Arbeiter höherer Grade erfreuen. Obgleich solche Vorrechte nicht so bedeutend sind, daß sie den Neid der minder erfolgreichen Bürger erwecken könnten, lassen sie es doch jedermann empfinden, wie wünschenswert es ist, den nächsthöheren Grad zu erhalten.

 

Andererseits werden diejenigen, die gegen die Disziplin des Arbeitsheeres verstoßen, streng bestraft:

Die Disziplin des Arbeitsheeres ist viel zu streng, als daß wirklich nachlässige, positiv schlechte Arbeit oder offenbare Trägheit von solchen Bürgern geduldet werden könnten, die höherer Beweggründe nicht fähig sind. Wer seiner Dienstpflicht genügen kann, sich aber hartnäckig weigert, sie zu erfüllen, wird von aller menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen.

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Die Rangordnung benötigt eine gewaltige bürokratische Maschine und die Beibehaltung der Stückarbeit, die mit der Abschaffung des Lohnsystems hätte verschwinden können:

Um die Leistungsprüfung zu vereinfachen, wird alle industrielle Arbeit, wann immer es irgendwie, auch mit einiger Unbequemlichkeit, möglich ist, in Stückarbeit verrichtet, und wenn dies ganz und gar nicht in Frage kommt, wird der bestmögliche Ersatz angewandt, um die Leistungsfähigkeit zu bestimmen. Diese Festsetzungen erfolgen in jedem Beruf nach Zwischenräumen, die der Länge der Lehrzeit entsprechen. Das Verdienst braucht also nicht lange zu warten, bis es emporsteigt, und niemand kann auf seinen bisherigen Leistungen ausruhen, wenn er nicht zu einem niederen Rang hinabsinken will. Die Ergebnisse jeder neuen Rangordnung in den einzelnen Berufen werden in den Amtsblättern bekanntgegeben.

 

Außerhalb des Arbeitsheeres wird durch Medaillen für Ansporn gesorgt:

Nur hervorragenden Gelehrten, Künstlern, Technikern wird die höchste Ehre zuteil, die die Nation zu vergeben hat, und die sogar mehr als die Präsidentenwürde geschätzt wird, denn diese kann man durch offenen Verstand und treue Pflichterfüllung erwerben. Es ist die Zuerkennung des ,roten Bandes', das den großen Schriftstellern, Gelehrten, Künstlern, Ingenieuren, Ärzten, Erfindern usw. durch Volksabstimmung verliehen wird. Nicht über hundert tragen es zu gleicher Zeit, obgleich jeder fähige und strebsame junge Mann im Lande ungezählte schlaflose Nächte von dieser Ehre träumt.

 

Die gesamte Produktion und Distribution der Nation wird von einer zentralen Verwaltung geleitet und, Bellamy zufolge, kann niemals etwas schief gehen aufgrund der Einfachheit und Weisheit der Gesetze und weil alle Führungsarbeit in den Händen von Experten liegt. Die Regierungen der einzelnen Bundesstaaten sind abgeschafft worden, denn die Einzelregierungen wären der Kontrolle und Disziplin des Arbeitsheeres nur hinderlich gewesen, es bedarf einer zentralisierten, einheitlichen Organisation.

Die Aufgaben der Regierung sind durch das Verschwinden von Armee und Marine, von Staats- und Finanzministerien, Steuern und Steuereintreibern stark vereinfacht worden. Bellamys Gesellschaft ist jedoch nicht so ideal, daß sie keine Polizei und Richter nötig hätte, obwohl sich ihre Anzahl und Pflichten, wie man uns versichert, auf ein Minimum reduziert haben, und Gefängnisse sind verschwunden, weil alle Fälle von Atavismus in Krankenhäusern behandelt werden. Nebenbei sollten wir erwähnen, daß die Geschworenen abgeschafft wurden und daß die Richter vom Präsidenten aus der Gruppe der Bürger über fünfundvierzig Jahre ernannt werden.

Bellamys grenzenloses Vertrauen in die Weisheit der Experten und der Verwaltung wird nur von seinem Glauben an den technischen Fortschritt übertroffen. Er scheint das Glück der Menschheit in Begriffe zu fassen, wie z.B. eine ständig wachsende Menge von Konsumgütern, größere und bessere Restaurants, schnellere Verteilung der Güter aus den Warenhäusern, Wolken­kratzer und Straßen, die bei schlechtem Wetter mit einem wasserdichten Stoff überdacht sind.

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Bellamys Erfindungen, wie zum Beispiel das Musiktelephon, amüsieren uns als interessante Antizipation, und wenn der folgende Abschnitt uns unsere glückliche Lage bewußt macht, durch die Begeisterung eines Menschen des neunzehnten Jahrhunderts für eine Erfindung, die wir schon als selbstverständlich betrachten, so haben wir auch das Gefühl, daß das Glück letztlich nicht allein im technischen Fortschritt gefunden werden kann:

„Bitte, kommen Sie dann mit mir in das Musikzimmer", sagte sie. Ich folgte ihr in ein Gemach ohne Tapeten, Vorhänge und Portieren; die Wände hatten Holztäfelung, und der Fußboden war spiegelblankes Parkett. Ich war darauf gefaßt, ganz neue Arten von Instrumenten zu erblicken, allein ich konnte im Zimmer absolut nichts entdecken, was man selbst mit dem größten Aufwand von Einbildungskraft für dergleichen hätte halten können. Augenscheinlich amüsierte mein verdutztes Gesicht Edith höchlichst.

„Bitte werfen Sie einen Blick auf das heutige Programm", sagte sie, indem sie mir eine Karte reichte, „und sagen Sie mir, was Sie am liebsten hören möchten. Nur bitte ich zu beachten, daß es jetzt fünf Uhr ist."

Die Karte trug das Datum: „Den 12. September 2000" und enthielt das größte Konzertprogramm, das mir je vor Augen gekommen war. Es war ebenso reichhaltig wie lang und bot eine schier endlos schemende Reihe von Soli, Duetten und Quartetten für Vokal- und Instrumentalmusik, dazu viele Kompositionen für Orchester.

Die riesige Liste verblüffte mich aufs äußerste. Da wies Ediths rosige Fingerspitze auf eine besondere Abteilung hin, die den Vermerk trug: „Fünf Uhr nachmittags." Es wurde mir nun klar, daß das ungewöhnliche Programm für den ganzen heutigen Tag galt und in vierundzwanzig Abteilungen zerfiel, die den Stunden entsprachen. Die Abteilung „Fünf Uhr nachmittags" enthielt nur eine kleine Anzahl von Stücken, von denen ich eine Orgelkomposition anhören wollte.

„Es freut mich, daß Sie die Orgel lieben", sagte Edith zu mir, „ich kenne kein zweites Instrument, das so sehr jeder meiner Stimmungen zusagt."

Sie ließ mich auf einem bequemen Sessel Platz nehmen, ging nach der anderen Seite des Zimmers und — wie es mir schien — drückte hier nur auf einen oder zwei Knöpfe. Sofort ward das Gemach mit den erhabenen Klängen eines Orgelchors erfüllt — erfüllt und nicht durchbraust, denn durch irgendeine Vorrichtung war die Stärke der Töne genau der Größe des Raumes angepaßt. Mit angehaltenem Atem lauschte ich der Musik bis zu Ende. Ich hatte nicht im entferntesten erwartet, ein so herrliches Werk so vorzüglich vorgetragen zu hören.

„Prachtvoll!" rief ich aus, nachdem die letzte mächtige Tonwelle langsam verklungen war. „Ein Bach muß diese Orgel gespielt haben, aber wo befindet sie sich?"

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„Bitte, gedulden Sie sich noch einen Augenblick", sagte Edith. „Ehe Sie weiterfragen, möchte ich gern, daß Sie noch diesen Walzer hören; ich finde ihn nämlich ganz allerliebst."

Während sie noch sprach, schwebten auch schon Geigentöne durch das Zimmer und schufen hier den Zauber einer Sommernacht.

Nachdem der Walzer verklungen war, wendete sich Edith zu mir. „Die Musik, die Sie soeben gehört haben, ist durchaus nicht geheimnisvoll und märchenhaft. Nicht Feen und Elfen spielen sie, sondern gute, ehrliche und außerordentlich geschickte Menschenhände. Wie auf alles andere, so haben wir auch auf die Musik den Grundsatz übertragen, durch das Zusammenwirken der geeignetsten Kräfte mit Arbeitsersparnis das Höchste zu leisten. Die Stadt besitzt eine Anzahl von Musiksälen, deren Akustik den verschiedenen Arten der Musik genau angepaßt ist. Diese Säle sind durch Telephon mit allen Häusern der Stadt verbunden, deren Bewohner einen unbedeutenden Betrag entrichten. Sie können überzeugt sein, daß es in ganz Boston niemand gibt, der nicht angeschlossen ist. Jeder Saal hat seinen Stab von Musikern, der so zahlreich ist, daß das Tagesprogramm der dort aufgeführten Werke volle vierundzwanzig Stunden ausfüllt, obgleich jeder Solist und jede Gruppe von Musikern nur bei wenigen Nummern mitwirken. Wenn Sie sich die Karte ansehen, so werden Sie bemerken, daß sie das Programm für vier Konzerte enthält. Jedes einzelne davon ist einer besonderen Musikgattung gewidmet und findet gleichzeitig mit den übrigen statt. Sie können jedes der vier Stücke hören, die gerade jetzt gespielt werden, sobald Sie auf den Knopf drücken, dessen Leitung Ihr Haus mit dem Musiksaal verbindet, wo das ausgewählte Werk aufgeführt wird. Die Programme sind derartig zusammengestellt, daß die gleichzeitig gespielten Stücke eine große Auswahl bieten, und zwar nicht nur von Insturmental- und Vokalmusik und den verschiedenen Instrumenten, sondern auch der mannigfaltigsten Motive, von den ernstesten bis zu den heitersten. Auf diese Weise können jeder Geschmack und jede Stimmung befriedigt werden."

„Es scheint mir, Fräulein Leete", sagte ich, „daß wir zu meiner Zeit geglaubt hätten, den Gipfel der menschlichen Glückseligkeit erklommen zu haben, wäre es uns gelungen, eine Einrichtung wie diese zu ersinnen. Nämlich daß jeder in seinem Heim Musik hören konnte, die nicht nur vollendet in ihrer Ausführung und unabhängig von einer bestimmten Veranstaltung war, sondern auch jeder Stimmung angemessen, und die nach Belieben des Zuhörers anfing und endete. Es scheint ,mü, daß wir bei diesem Wirklichkeit gewordenen Märchen darauf verzichtet hätten, nach weiteren Verbesserungen zu streben."

 

Wenn wir bezüglich des Glücks, das technische Erfindungen uns bringen mögen, skeptisch sind, so sind wir ebenfalls schwerlich begeistert von der Lösung des Arbeiterproblems, die Bellamy uns anbietet. Abgesehen von der Tatsache, daß die Erfahrungen der letzten Jahre gezeigt haben, daß die Arbeitsdienstpflicht nicht immer so sanft vonstatten geht, wie er offenbar gehofft hat, nimmt seine strenge Reglementierung des menschlichen Lebens wenig Notiz von den Unterschieden in der psychologischen Veranlagung der Individuen.

Es ist schwerlich einzusehen, warum jeder gezwungen sein sollte, bis zu seinem 21. Lebensjahr zu studieren, während viele sich lieber mit einem Handwerk beschäftigen, und warum jeder mit 45 in den Ruhestand treten sollte, während viele dann erst anfangen, die Früchte ihrer Erfahrungen, die sie in ihrer Jugend erworben haben, zu ernten.

Auch tröstet uns nicht die Vorstellung, daß wir nach drei Jahren Drecksarbeit einen Beruf wählen können, der unserem Geschmack entspricht, denn angesichts der Entwicklung der Massenproduktion wären die meisten erhältlichen Jobs wahrscheinlich mit Fabrikarbeit und irgendeiner Art Fließbandsystem verbunden.

Die Freude, mit der die Bürger von Bellamys Gesellschaft ihren Ruhestand begrüßen, ist Beweis genug, daß die Arbeits­dienst­pflicht als Last empfunden wird. Unserer Dienstentlassung, sagte Dr. Leete, sehen wir alle als der Zeit entgegen, in der wir erst zum vollen Genuß unseres angeborenen Rechts kommen, wo wir erst wirklich unsere Großjährigkeit erreicht haben und allen Zwangs und aller Aufsicht ledig werden; wo wir den Lohn unserer Arbeit genießen, der gleichsam in uns selbst angelegt worden ist. Bellamy war überzeugt, daß einundzwanzig Jahre Zwangserziehung und vierundzwanzig Jahre Arbeitsdienst eine sehr bescheidene Forderung seitens des Staates wären, und daß dem wohl keiner widersprechen könnte. Daß das Leben erst mit fünfundvierzig anfängt, ist jedoch eine Ansicht, bei der es erlaubt sein muß, anderer Meinung zu sein.

Auch mag man wenig Sympathie dafür empfinden, daß Bellamy ständig von Zwang Gebrauch macht. Wenn die Bürger der neuen Gesellschaft wirklich zufrieden mit ihrer Lage sind, warum müssen sie dann zu einer Arbeit gezwungen werden, die, wie man uns versichert, leicht und sogar angenehm ist? Besteht nicht auch die Gefahr, daß eine Arbeit, die angenehm sein kann, wenn sie freiwillig ausgeführt wird, unter Zwang beschwerlich wird? Bellamy war jedoch so überzeugt, daß er eine Lösung für alle Probleme der Welt gefunden hatte, daß er sich bis zu seinem Lebensende der Perfektionierung seines Systems widmete und mehrere Bücher veröffentlichte, um es im einzelnen zu erläutern. Daß er eine Lösung gefunden hat, kann nicht bestritten werden, doch wie wir in der folgenden Utopie sehen werden, kann es auch eine verlockendere geben.

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