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5.4   William Morris — "Kunde von Nirgendwo" 

 

Morris auf detopia

 

 

231-255

Nach der stickigen Atmosphäre in Cabets und Bellamys Utopien mit ihren komplizierten bürokratischen Maschinen, die von einem allwissenden, alles durchdringenden Staat angetrieben werden, erscheint William Morris' utopisches England wie eine Oase, wo wir uns gerne, wenn auch nicht für immer, so doch für längere Zeit, aufhalten würden.

Hier können wir arbeiten ohne einen Vorarbeiter im Rücken, wir können schlafen, ohne den Wecker zu stellen, essen, was wir mögen und nicht, was die Experten für unsere körperliche Verfassung am geeignetsten befunden haben; wir können lieben, ohne tyrannische Gesetze oder eine nicht weniger tyrannische öffentliche Meinung berücksichtigen zu müssen; hier können wir anziehen, was wir wollen, lesen, was wir wollen und vor allem denken, was wir wollen.

Hier können wir leben, weil wir nicht katalogisiert und geführt werden, sondern unser Leben einrichten können, wie es uns paßt.

<Kunde von Nirgendwo> wurde als Fortsetzungsroman im Commonweal (der Zeitschrift der Sozialistischen Liga, deren Gründer und Herausgeber William Morris war) im Laufe des Jahres 1890 veröffentlicht. 

Wahrscheinlich wurde Morris zu seiner Utopie veranlaßt, nachdem er Ein Rückblick gelesen hatte, der einige Jahre zuvor in England erschienen war und für den er wohl kaum Sympathie empfunden haben konnte. Auch seine Schrift hat die Form eines Zukunftsromans, doch der hochzentralisierten Regierung in Bellamys idealer Gesellschaft stellte Morris eine Gesellschaft entgegen, in der eine Regierung überflüssig geworden ist, denn eine Regierung ist nur die Maschinerie der Tyrannei, und wenn die Tyrannei ein Ende hat, ist eine solche Maschinerie nicht mehr notwendig.

Der riesigen industriellen Organisation des utopischen Amerika stellte Morris eine Föderation autonomer landwirtschaftlichindustrieller Gemeinschaften entgegen. Der militärischen Disziplin der Arbeit stellte er das Recht des Individuums entgegen zu arbeiten, wann und wie es ihm gefiel; sich mit maschineller Massenproduktion zu beschäftigen oder mit handgearbeiteten, begrenzten doch vollendet schönen Gutem. Es gibt tatsächlich kaum einen Punkt, in dem Kunde von Nirgendwo nicht die Antithese von Ein Rückblick wäre.

William Morris unterscheidet sich auch von den meisten utopischen Schriftstellern des neunzehnten Jahrhunderts in seinem Wunsch, nicht nur vollkommen mit dem Elend zu brechen, das die industrielle Revolution mit sich gebracht hatte, sondern auch mit dem Glauben an den industriellen Fortschritt.

Bellamy, und mit ihm die Mehrzahl der utopischen Schreiber, glaubten, daß, wenn das System des Privatkapitalismus erst einmal abgeschafft wäre, der technische Fortschritt der Menschheit das Glück bringen würde, weil er all ihre ständig wachsenden Bedürfnisse befriedigen würde. Morris dagegen glaubte, daß Glück nichts mit steigender Produktion zu tun habe und daß der größte Teil des Fortschritts abgeworfen würde, wenn die neue Gesellschaft entstünde: das neunzehnte Jahrhundert sah sich als ein Mensch, der seine Kleider verloren hat, während er badete, und nun nackt durch die Stadt laufen muß.

William Morris glaubte weder, daß die neue Gesellschaft das Werk eines sozialistischen Napoleon sein könnte, noch daß sie sich in einer Art mechanischein Prozeß aus der alten entwickeln würde. Seiner Meinung nach kann eine freie, gerechte und glückliche Welt nur dann entstehen, wenn die Menschen die Freiheit so stark wünschen, daß sie von ihrer Stärke Gebrauch machen und das alte System umstürzen. Und so beschreibt er in Kunde von Nirgendwo die Kraft, welche die Revolution herbeiführte: Wenn wir jetzt zurückblicken, können wir sehen, daß die große treibende Kraft zur Umgestaltung das Verlangen nach Freiheit und Gleichheit war — ein Gefühl, verwandt der unvernünftigen Leidenschaft des Liebenden... Es ist wahr, daß die Sklavenklasse nicht das Glück des freien Lebens begreifen konnte. Doch die Arbeiter lernten verstehen (und sehr rasch), daß sie von ihren Herren unterdrückt und ausgebeutet waren, und sie nahmen an — und wie Sie sahen mit vollem Recht —, daß sie auch ohne ihre Herren leben könnten, obgleich sie anfangs noch kaum wußten wie.  

 

Und William Morris, dem man oft vorgeworfen hat, zu unrealistisch und optimistisch zu sein, schreckt nicht vor der Behauptung zurück, daß eine Revolution notwendig ist, um eine neue Gesellschaft herbeizuführen: die Welt erlebte ihre zweite Geburt; konnte das geschehen ohne eine Tragödie?

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Wenn die Welt von morgen, wie William Morris sie beschreibt, das neunzehnte Jahrhundert als ein Beispiel für all das betrachtet, was Leben nicht sein sollte, so ist sie doch bereit, aus der Vergangenheit zu lernen, insbesondere vom Mittelalter, als die Gemeinschaften noch klein genug waren, um freundschaftliche Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern zuzulassen, als die Arbeiter noch für den begrenzten Markt der Stadt produzierten, als Handwerker nicht die Pläne anderer ausführten, sondern die ihrer eigenen Schöpfung, als alle Angelegenheiten von den Gilden und Stadträten geregelt wurden und nicht von der unpersönlichen Autorität eines zentralisierten Staates.

Morris' Vorstellung vom Leben im vierzehnten Jahrhundert war vom historischen Gesichtspunkt vielleicht nicht ganz korrekt. Das England in seinem Dream of John Ball ist wohl zu strahlend, gesund und glücklich, um wahr zu sein, denn obwohl das Mittelalter verglichen mit dem neunzehnten Jahrhundert eine Epoche des Wohlstands und der Freiheit war, mußten die mittelalterlichen Städte nichtsdestoweniger ständige Kriege führen, um ihre Unabhängigkeit zu erhalten. Es macht jedoch nichts, wenn das Leben im Mittelalter nicht ganz so idyllisch war, wie Morris es gerne geglaubt hätte; wichtig ist, daß er den Geist jener Zeit wieder einfing, für die der Himmel und das Leben im Jenseits so real waren, daß sie Teil ihres Lebens auf der Erde wurden; die sie entsprechend liebten und verschönten trotz der asketischen Lehren ihres formalen Glaubens, der ihnen gebot, sie zu verdammen.

Die meisten Utopisten vor William Morris hatten Gesellschaften entworfen, wo das Privateigentum abgeschafft worden war, wo das Recht eines jeden auf gleichen Anteil am Reichtum der Gemeinschaft anerkannt wurde, wo Privateigentum im allgemeinen durch Staatseigentum, der Ansporn des Geldes durch den Ansporn von Ehren und Auszeichnungen, die Unterwerfung unter die alten Gesetze durch den Gehorsam gegenüber den neuen ersetzt worden waren. Und wenn auch die Verbrechen gegen das Eigentum verschwunden waren, so wurden doch Verbrechen gegen die neuen Institutionen genauso streng bestraft wie die früheren. In Kunde von Nirgendwo ist jeder sein eigener Herr und delegiert seine Macht nicht an eine Gruppe von Menschen, die Gesetze macht und Strafen verhängt, wenn die Gesetze nicht beachtet werden. Er ist wirklich gleich mit seinen Mitmenschen, nicht nur weil er den gleichen Anteil Nahrung und Kleidung erhält, sondern auch, weil er keine Macht über seinen Nachbarn hat oder sein Nachbar über ihn. 

 

Die meisten utopischen Schreiber nahmen auch an, daß das Glück der Menschen darin bestünde, in einer wohlgeordneten Gesellschaft zu leben, die für alle Bedürfnisse sorgte. Sie sahen offenbar nicht die Gefahr der äußersten Langeweile, wenn den Menschen jeglicher schöpferischer Ausdruck fehlte. William Morris suchte eine Garantie für das Glück der Menschheit in der Arbeit als ein Mittel zur Erfüllung des kreativer» Impulses des Menschen. In seiner idealen Gesellschaft ist der größte Teil der Arbeit eine Art künstlerischer Tätigkeit, was jedoch nicht unmittelbar erreicht wurde:

Die Kunst oder das Arbeitsvergnügen, wie man das nennen sollte, wovon ich jetzt spreche, entstand von selbst, aus einer Art von Instinkt des Volks, das nicht länger verzweifelt zu mühevoller und aufreibender Überanstrengung getrieben war und nun die Arbeit, welche es in der Hand hatte, so gut und so ausgezeichnet zu machen strebte, als nur irgend möglich.

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Nachdem das so eine Zeitlang fortgegangen war, erwachte allmählich ein Sehnen nach Schönheit in dem Geist der Menschen; sie fingen an, die Gegenstände, die sie anfertigten, zu verzieren, anfänglich zwar noch ungeschickt und plump; nachdem sie sich aber einmal ernstlich an die Arbeit gemacht hatten, ging es immer besser... Auf diese Weise und durch langsames Voranschreiten fanden wir mehr und mehr Vergnügen an unserer Arbeit, und dann wurden wir uns bald dieses Vergnügens bewußt; wir pflegten es und sorgten, daß wir zur Genüge hatten — damit war alles gewonnen, und wir waren glücklich.

 

Daraus folgt, daß sich in der neuen Gesellschaft nicht nur die Institutionen, sondern auch die ganze Weltan­schauung der Menschen verändert haben. Die menschliche Natur ist zum großen Teil abhängig von der Natur der Gesellschaft, es gibt die menschliche Natur der Armen, Sklaven, Sklavenhalter, und die menschliche Natur der wohlhabenden Freien, und Morris bevölkert deshalb seine freie Gesellschaft mit Menschen, die nicht mehr Sklavenmentalität haben, und versucht zu zeigen, wie sich diese Menschen verhalten würden, anstatt uns ein vollständiges Bild aller Mechanismen der neuen Gesellschaft zu zeichnen.

Dies mag auch von der Tatsache diktiert sein, daß Morris keine Meinung zu Angelegenheiten abgeben wollte, von denen er wenig verstand, anders als so viele Schreiber von Utopien, die sich in allem für Orakel hielten, von der Säuglingspflege bis zur Stadtplanung, von der Hausarbeit bis zur industriellen Produktion. Während William Morris keine Gelegenheit versäumt, seine Ansichten über Architektur, Malerei, Tischlerei oder Töpferei zu äußern, bewahrt er diskretes Schweigen über Angelegenheiten, mit denen er nicht vertraut ist, wie zum Beispiel die Schwierigkeiten bei der Regelung von Produktion und Distribution, oder die Vorkehrungen, die vermutlich getroffen werden, um Wissenschaftler zur Durchführung ihrer Arbeit zu befähigen, denn obwohl er behauptet, daß sein ideales Zeitalter kein Zeitalter der Erfindungen ist, ist eine neue Kraft entdeckt worden. Gerade weil Morris nur über Fragen schreibt, mit denen er eng vertraut ist und für die er sich leidenschaftlich interessiert, hat sein Buch nichts von der Stumpfsinnigkeit und Unnatürlichkeit, die die meisten Utopien jener Epoche charakterisiert.

 

Auch ist man Morris dankbar, daß er nicht den Anspruch erhebt, seine Gesellschaft wäre die einzig vollkommene, die einzig wünschenswerte. G.D.H. Cole schreibt: Kunde von Nirgendwo ist weder eine Prophezeiung noch ein Versprechen, sondern der Ausdruck einer persönlichen Vorliebe. Morris sagte: "Dies ist die Art von Gesellschaft, in der ich wohl gerne leben würde. Nun sagt mir, welches eure ist." 

Alle Utopien sind natürlich Ausdruck persönlicher Vorlieben, doch gewöhnlich sind die Autoren so eitel zu unterstellen, daß ihr persönlicher Geschmack gesetzlich festgelegt werden sollte; wenn sie Frühaufsteher sind, muß ihre gesamte imaginäre Gemein­schaft um vier Uhr morgens aufstehen; wenn sie es ablehnen, daß Frauen sich schminken, wird es zum Verbrechen; wenn sie eifersüchtige Ehemänner sind, wird Untreue mit dem Tode bestraft.

Morris bekennt offen seine Vorlieben und Abneigungen, doch niemand ist gezwungen, sie zu übernehmen, und wer einen anderen Geschmack hat, wird nicht bestraft. Er erkannte, daß die Lebensweise einer Gemeinschaft nicht künstlich im Kopf eines Individuums geregelt werden kann, sondern spontan von allen Mitgliedern dieser Gemeinschaft geschaffen werden muß. Er konnte träumen und für sein Ideal arbeiten, aber er konnte es nicht für andere verwirklichen. Das konnte nur von den Leuten selbst erreicht werden.

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 In The Earthly Paradise sagte er:

Dreamer of dreams, born out of my due time 
Why should I strive to set the crooked straight?

Let it suffice me that my murmuring rhyme 
Beats with light wing against the ivory gate, 
Telling a tale not too importunate 
To those who in the sieepy region stay, 
Lulled by the singer of an empty day.

Träumer der Träume, geboren aus meiner geschuldeten Zeit 
Warum sollte ich streben, das Krumme gerade zu richten?

Soll es mir genügen, daß mein murmelnder Reim 
Schlägt mit leichten Flügeln gegen das Elfenbeintor, 
Eine Geschichte erzählt, nicht zudringlich, 
Jenen, die im Reich des Schlafes weilen, 
Eingewiegt vom Sänger eines leeren Tags.

 

Der verlockende Zauber in Kunde von Nirgendwo liegt nicht so sehr in den zugegebenermaßen überzeugenden Argumenten, die die verschiedenen utopischen Bewohner vorbringen, warum sie ihre Art zu leben gewählt haben, sondern in der Atmosphäre von Schönheit, Freiheit, Frieden und Glück, die in der ganzen Geschichte vorherrscht.

Morris hat nichts vergessen, was uns verführen könnte: die Frauen sind gesund, athletisch und schön und tragen reizend bestickte Kleider aus Seide oder Leinen, die Männer sind stark, aufmerksam und sinnlich, jeder sieht jünger aus als er ist und Frauen haben mit vierzig noch kein einziges Fältchen; in den gemeinschaftlichen Speisesälen, die, man muß es kaum erwähnen, mit Schnitzereien und Bildern geschmückt sind und wunderschön geformte und reich verzierte Möbel enthalten, werden einfache, doch köstlich zubereitete Mahlzeiten serviert mit einer Flasche französischem Wein, und  während der ganzen Zeit unseres Aufenthalts im utopischen England ist das Wetter wunderbar schön und warm (hier merken wir, daß Morris wirklich gelogen hat).

 

Ein paar Auszüge aus Kunde von Nirgendwo können nur eine schwache Vorstellung von diesem Werk geben, denn es sollte gewürdigt werden wie ein Gemälde, das als Ganzes betrachtet werden muß.

William Gast hatte den Abend im Klub verbracht und mit einigen Genossen diskutiert, was am Tag der Revolution geschehen würde. Er kehrt zurück in sein Haus in Hammersmith und träumt von Tagen des Friedens und der Ruhe, von Sauberkeit und heiterem Wohlwollen. Zweihundert Jahre später erwacht er, oder träumt, daß er erwacht, und sieht an den Ufern der Themse schöne Häuser und blühende Gärten. Wir dürfen ihm auf seinem ersten Ausflug durch London folgen, den er mit Dick Hammond unternimmt, einem hübschen und liebenswürdigen Fährmann, der sein Führer wird und ihn in einer prächtigen und bequemen Kutsche fährt, die von einem starken grauen Pferd gezogen wird. Das neue London erinnert kaum noch an das alte; es ist nun eine Ansammlung von Dörfern, getrennt durch Wälder, Weiden und Gärten, und die häßlichen, rußbeschmutzten Häuser sind durch schöne Landhäuser und Gebäude ersetzt worden.

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*

Wir wandten uns sofort vom Flusse ab und befanden uns bald auf der Hauptstraße, die durch Hammersmith führt. Aber ich hätte nie erraten, wo ich war, wenn wir nicht vom Ufer her gekommen wären, denn die Straße führte durch weite sonnige Wiesen und gartenreich bewirtschaftetes Ackerland, und als wir über die hübsche Brücke fuhren, sahen wir den noch vom Flutwasser geschwellten Strom mit bunten Booten der verschiedensten Arten belebt. Häuser standen ringsum — die einen am Wege, die anderen zwischen den Feldern; reizende Heckenpfade führten zu ihnen hinab, und üppige Gärten schlossen sie ein. Alle diese Häuser waren zierlich und zugleich sehr fest ausgeführt, machten aber dabei einen ganz ländlichen Eindruck. Einige waren aus roten Backsteinen wie die Häuser am Fluß, die meisten jedoch aus Fachwerk und Gips-Mörtel und glichen den mittelalterlichen Häusern aus demselben Baumaterial so sehr, daß ich mich beinahe ins vierzehnte Jahrhundert versetzt glaubte — ein Eindruck, den die Tracht der Leute, an denen wir vorüberkamen, noch erhöhte. Sie hatte nichts 'Modernes'. Fast alle gingen hell gekleidet, besonders die Frauen, die so anziehend und meist geradezu reizend aussahen, daß ich mich kaum enthalten konnte, meinen Gefährten darauf aufmerksam zu machen. Verschiedene Gesichter hatten gedankenvolle Züge und zeichneten sich durch eine große Vornehmheit des Ausdrucks aus, aber ich erblickte keines, auf dem ein Schimmer von Sorge gelegen hätte, und die meisten — wir begegneten sehr vielen Leuten — trugen frank und frei die Freude am Leben zur Schau.

Ich glaubte, den Broadway an der Lage der Straßen zu erkennen, die dort immer noch zusammenliefen. An der Nordseite des Weges stand eine Reihe von Gebäuden und Höfen, die zwar niedrig, jedoch von so geschmackvoller Ausführung und so reich verziert waren, daß sie zu der Anspruchslosigkeit der Häuser ringsum einen auffälligen Gegensatz bildeten. Aber diese Gebäude wurden überragt von dem bleigedeckten Dach, den Strebepfeilern und dem oberen Mauerwerk einer großen Halle in einem glänzenden Prachtstil, der die besten Eigenschaften der nordeuropäischen Gotik mit denen des sarazenischen und byzantinischen Stiles zu vereinen schien, ohne sich sklavisch an eine dieser Stilarten zu binden. Auf der anderen, der Südseite der Straße erhob sich ein von einer Kuppel gekröntes Achteck, das im Umriß an das Baptisterium in Florenz erinnerte, nur daß es von einem Anbau umschlossen war, der augenscheinlich einen Säulen- oder Kreuzgang enthielt; auch dieser Bau war auf das Zarteste geschmückt.

Diese ganze Masse von Baukunst, die inmitten der üppigen Felder so plötzlich vor uns aufstieg, bot nicht nur an sich ein erlesen schönes Bild, sondern strahlte eine so edle und verschwenderische Lebensfülle aus, daß ich mich in nie gekanntem Maße von heiterem Frohmut durchdrungen fühlte. Ja, ich lachte hell auf vor lauter Wohlgefühl. Mein Freund schien das zu begreifen und sah mit freudig-herzlichem Anteil auf mich. Wir hielten unter einer Menge von Fuhrwerken an, in denen sich schöne gesunde Menschen befanden, Männer, Weiber und Kinder in den heitersten Trachten. Die Fuhrwerke mußten Marktwagen sein, denn sie waren mit äußerst appetitlichen Erzeugnissen der Land- und Gartenwirtschaft beladen.

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„Daß dies ein Markt ist, brauch' ich nicht erst zu fragen", bemerkte ich, „aber was hat denn eine solche Pracht hier zu bedeuten? Und was für ein wundervolles Schloß ist denn das da drüben? Und was stellt das Gebäude auf der Südseite vor?"

„Oh", sagte er, „das ist unser Hammersmither Markt; es freut mich, daß er Ihnen gefällt, denn wir sind wirklich stolz auf ihn. Das Schloß enthält unser Versammlungslokal für den Winter, denn sommers versammeln wir uns meistens auf den Feldern am Fluß, Barn Elms gegenüber. Das Gebäude zu unserer Rechten ist das Theater, und ich hoffe, daß es Ihren Beifall findet."

*

Nachdem sie Kensington durchquert haben, das nun ein Wald ist mit Eichen, Kastanien, Platanen und Maulbeerfeigenbäumen, und wo Kindergruppen zelten, erreichen sie Westminster:

Diese Rede erschien mir denn doch so überaus wunderlich, daß ich gerade im Begriff war, meinem Freund wieder eine Frage vorzulegen, als wir die Höhe einer Bodenschwellung erreichten und ich durch eine Waldlichtung zur Rechten ein stattliches Gebäude erblickte, dessen Umrisse mir genau bekannt waren.

„Die Westminster-Abtei!" rief ich aus.

"Jawohl", sagte Dick — „was von der Westminster-Abtei übrig geblieben ist."

„Aber was habt Ihr denn mit ihr angestellt?" fragte ich erschreckt.

„Was wir mit ihr angestellt haben? Nicht viel mehr als sie gesäubert", erwiderte er. „Sie wissen ja, daß die Außenseite seit Jahrhunderten schon verwittert war. Und das Innere ist nach der großen Wegräumung der abscheulichen Denkmäler von Narren und Schurken, mit denen sie, wie der Urgroßvater sagt, vollgestopft war, in der ganzen Schönheit erhalten geblieben."

Als wir ein Stückchen weiter gefahren waren, blickte ich wieder nach rechts und rief mit etwas zweifelnder Stimme: „Das ist ja das Parlamentsgebäude! Wie, braucht Ihr denn das noch?"

Er brach in ein Gelächter aus, von dem er sich nicht so schnell erholen konnte, dann klopfte er mir auf die Schulter und sagte:

„Ich verstehe Sie, Nachbar. Staunen Sie nur, daß wir es nicht niedergerissen haben, ich weiß Bescheid, und nicht umsonst hat mir mein Urgroßvater Bücher über das seltsame Spiel gegeben, das dort getrieben worden ist. Es brauchen! Ei ja, als eine Art Hilfsmarkt und als Düngermagazin und dazu eignet das Gebäude sich nicht übel, da es am Ufer liegt. Gleich zum Beginn unserer Zeitperiode sollte es wohl einmal niedergerissen werden, aber da kam so eine wunderliche Gesellschaft von Alterstumsforschern, die sich in früheren Zeiten einige Verdienste erworben hatte, und widersetzte sich stramm dem Abbruch dieses wie so manches anderen Gebäudes, das die meisten nicht nur als wertlos, sondern als öffentlichen Skandal betrachteten, und die Gesellschaft ging so nachdrücklich vor und hatte so gute Gründe anzuführen, daß sie ihren Willen durchsetzte. Nun, und alles wohlerwogen, muß ich sagen, daß ich nicht böse darüber bin, denn schlimmstenfalls dienen diese abgeschmackten Steinhaufen den herrlichen Gebäuden, die wir heutzutage aufführen, zur wirksamen Folie."

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*

Das Staunen des Mannes aus der anderen Welt wird noch größer, als sie Piccadilly erreichen, der immer noch ein elegantes Einkaufszentrum ist, wo die Massen gerne zusammenkommen, wo jedoch die Geschäfte von Kindern geführt werden und kein Geld im Austausch für Güter verlangt wird:

Mittlerweile waren wir in den Laden getreten, in welchem sich ein Ladentisch befand und Bretterschränke an den Wänden. Alles sehr nett, aber anspruchslos und im ganzen wenig verschieden von der Einrichtung, an die mein Auge gewöhnt war. Ein Kinderpaar hütete das Geschäft, ein brauner Bursche von etwa zwölf Jahren, der vor einem Buche saß, und ein hübsches kleines Mädchen, das ein Jahr älter sein mochte und hinter dem Ladentisch saß und sich gleichfalls in ein Buch vertieft hatte. Sie waren augenscheinlich Geschwister.

„Guten Morgen, ihr kleinen Nachbarn", begrüßte sie Dick. „Mein Freund hier möchte Tabak und eine Pfeife, könnt ihr ihm dazu verhelfen?"

„Oh, gewiß ".versetzte das kleine Mädchen so bescheiden und zugleich so munter, daß man seine Freude daran hatte. Der Junge ließ das Buch liegen und begann meinen fremdländischen Anzug zu mustern, errötete aber sofort und wandte den Kopf ab, als sei ihm zum Bewußtsein gekommen, daß sein Benehmen unziemlich sei.

„Lieber Nachbar", fragte das Mädchen mit der feierlichsten Miene, die ein Kind je beim .Kaufmannspielen' aufgesetzt hat, „welche Sorte Tabak wünschen Sie?"

„Latakia", antwortete ich, mit der Empfindung, daß ich ein Kinderspiel mitmache, und neugierig, ob ich nicht eine Kinderei statt Tabak empfangen würde.

Aber das Mädchen nahm ein zierliches Körbchen von einem Brett, ging zu einer Steinkruke, holte einen Haufen Tabak heraus und stellte das damit gefüllte Körbchen vor mich auf den Ladentisch hin, wo ich mich durch Gesicht und Geruch überzeugen konnte, daß es ausgezeichneter Latakia war.

„Sie haben ihn aber nicht gewogen", bemerkte ich, „und — und wieviel soll ich denn nehmen?"
"Ei", sagte sie, „ich würde Ihnen raten. Ihren Beutel vollzustopfen, weil Sie unterwegs vielleicht keinen Latakia mehr bekommen. Wo haben Sie ihren Beutel?"

Damit stopfte sie den Beutel auch schon mit Tabak voll, legte ihn vor mich hin und fuhr fort: „Und nun zur Pfeife. Die müssen Sie mich auch für Sie aussuchen lassen; es sind soeben drei sehr hübsche eingetroffen."

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Sie verschwand wiederum und kehrte mit einer dickbäuchigen Pfeife zurück, die aus einem harten Holz kunstvoll geschnitzt und in edle Steine und Gold gefaßt war. Kurz, das schönste und prächtigste Spielzeug, das ich je gesehen und das der besten japanischen Arbeit ähnelte, aber ihr überlegen war.

„Oh je", sagte ich, sobald mein Blick auf die Pfeife fiel, „das ist ja viel zu großartig für mich und würde sich nur für einen Beherrscher der Welt schicken. Außerdem würde ich sie doch verlieren; ich verliere meine Pfeifen allemal."

Ganz niedergeschlagen fragte die Kleine: „Sie gefällt Ihnen also nicht, Nachbar?" „Doch — freilich gefällt sie mir!"

„Nun, dann nehmen Sie sie nur", sagte sie, „und lassen Sie sich's nicht kümmern, wenn Sie sie verlieren. Was wäre denn dabei? Dann findet sie ein anderer und nimmt sie in Gebrauch, und Sie bekommen eine neue."

Ich nahm ihr die Pfeife aus der Hand, um sie genauer zu betrachten, vergaß darüber meine Vorsicht und fragte: „Aber was denken Sie, wie kann ich denn so etwas bezahlen?"

Dick legte mir die Hand auf die Schulter, ich sah mich um und begegnete einem drolligen Ausdruck in seinen Augen, der mich vor einer neuen Offenbarung einer verrotteten Geschäftsmoral warnte. Ich wurde feuerrot und hielt den Mund, während die Kleine mich mit großem Ernst anstarrte, als sei ich ein Fremder, der ihrer Sprache nicht mächtig sei, denn sie verstand kein Wort von dem, was ich gesagt...

Als wir wieder unterwegs waren, erkundigte ich mich, ob Kinder in den Markthallen den Leuten immer aufwarteten. „Oft genug wohl", sagte Dick, „wenn es sich nicht um schwere Gegenstände handelt, aber durchaus nicht immer. Den Kindern macht es Vergnügen, und sie lernen dabei mit einer Menge von Dingen umgehen, erfahren, woraus dieselben gemacht sind, woher sie stammen und ähnliches. Außerdem ist es eine so leichte Arbeit, daß ein jeder sie versehen kann. Ehedem sollen viele mit einem .Faulheit' genannten Erbübel behaftet gewesen sein, weil sie in gerader Linie von Leuten abstammten, die in der bösen alten Zeit gewohnt gewesen waren, andere für sich arbeiten zu lassen — von jenen Leuten, die man in den Geschichtsbüchern Sklavenhalter oder Arbeitgeber nennt. Diese faulheitbehafteten Leute nun füllten zu Anfang unserer Epoche ihre ganze Zeit damit aus, in den Läden zu bedienen, da sie zu ändern Dingen kein Geschick hatten. Und ich glaube sogar, daß man sie eine Zeitlang tatsächlich zwang, irgendwelche Arbeit zu verrichten, weil sie und die Frauen sonst zu häßlich wurden und zu häßliche Kinder bekamen, daß die Nachbarn es nicht länger mitansehen konnten. Glücklicherweise sind diese Zeiten vorbei; die Krankheit ist entweder ausgerottet oder es gibt sie nur noch in so schwacher Form, daß eine kleine Kur mit einem Abführmittel sie verschwinden läßt. Heute nennt man sie manchmal schlechte Laune oder Miesepetrigkeit. Seltsame Namen, nicht?"

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*

Dann überqueren sie Trafalgar Square, der nun ein großer offener Platz ist, bepflanzt mit einem Obstgarten hauptsächlich aus Aprikosenbäumen. In der Mitte desselben stand ein kleiner hübscher Holzbau, bemalt und vergoldet, der wie eine Büffetbude aussah. Dem Besucher kommen Erinnerungen an den blutigen Sonntag. Genau hier wurde 1887 eine friedliche Demonstration von der Polizei auseinandergejagt, die Leute wurden niedergeknüppelt und ins Gefängnis gebracht; die Erinnerung an diese Vorfälle führt zu einer Diskussion über das Verhalten der Menschen im neunzehnten Jahrhundert:

„Seltsam, daß Menschen unseresgleichen, mit denselben Empfindungen und Neigungen wie wir, in diesem schönen und gesegneten Lande leben und solche Taten verüben konnten."

„Freilich wohl", stimmte ich in lehrhaftem Tone bei, „trotz alledem waren jedoch jene Zeiten immerhin ein großer Fortschritt, verglichen mit den vorhergegangenen. Sie werden jedenfalls das Mittelalter mit der viehischen Rohheit seiner Strafgesetze kennen, jene Epoche, in welcher die Menschen geradezu einen Genuß darin fanden, ihre Mitmenschen zu foltern, und sogar in ihrem Gotte selbst nichts anderes erblicken wollten als einen Zucht- und Kerkermeister?"

„Über diese Periode gibt es ja ganz gute Bücher, von denen ich einige gelesen habe", sagte Dick. „Aber von einem gewaltigen Fortschritt des neunzehnten Jahrhunderts habe ich nichts verspüren können. Die Menschen des Mittelalters handelten schließlich nach den Eingebungen ihres Gewissens, wie ja Ihre ganz richtige Bemerkung über ihre Gottesauffassung dartut. Was sie anderen zufügten, waren sie selbst zu ertragen bereit, wohingegen die Heuchler des neunzehnten Jahrhunderts die Sache der Humanität zu vertreten behaupteten und dennoch fortfuhren, Menschen zu foltern und ins Gefängnis zu sperren, und zwar um keines anderen Grundes willen, als daß sie waren, was ihre Kerkermeister aus ihnen gemacht hatten. Oh, es ist grauenhaft, daran zu denken!"

„Vielleicht wußten sie nicht, wie die Gefängnisse beschaffen waren", wendete ich ein.

Dicks Erregung schien in Zorn übergehen zu wollen. „Um so schmählicher für sie, wenn wir. Sie und ich, es nach so langer Zeit noch wissen. Sehen Sie, Nachbar, was für eine Schande bestenfalls ein Gefängnis für ein Gemeinwesen ist; und daß ihre Gefängnisse ziemlich so schlecht waren wie nur irgend möglich, das mußten die Burschen doch wissen."

,Ja", fragte ich, „habt Ihr denn jetzt keine Gefängnisse mehr?" Kaum waren mir diese Worte entfahren, so fühlte ich auch, daß ich eine Dummheit gemacht hatte, denn Dicks Stirn faltete sich und wurde rot, und der Alte sah peinlichst überrascht drein. Zornig, aber offenbar bemüht, sich zurückzuhalten, sagte Dick:

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„Menschenskind! Wie können Sie eine solche Frage stellen? Sagte ich Ihnen nicht, daß wir auf das glaubwürdige Zeugnis zuverlässiger Bücher und unterstützt von unserer eigenen Einbildungskraft wohl wissen, was ein Gefängnis ist? Und haben Sie mich nicht selbst auf den Ausdruck des Glücks in den Gesichtern der Leute aufmerksam gemacht, die uns auf den Straßen und Fluren begegnen? Wie könnten sie einen solchen Ausdruck zur Schau tragen, wenn sie wüßten, daß ihre Mitmenschen im Gefängnis schmachteten? Könnten sie das gelassen ertragen? Und wenn Leute im Gefängnis säßen, so könnte man das nicht geheimhalten, wie einen gelegentlichen Menschenmord, denn der wird nicht mit Vorbedacht und vor einer Menge Zeugen verübt, die den Totschläger kaltblütig unterstützen, wie das beim Einkerkern in Gefängnisse der Fall ist. Gefängnisse, wahrhaftig! Nein, nein, oh nein!"

 

Dann fahren Dick und sein Begleiter an einer Fabrik vorbei und aus der kurzen Beschreibung kann man ersehen, daß die Industrie dank der Entdeckung einer neuen Kraft dezentralisiert wurde:*

Ich wollte mich eben — freilich recht unbeholfen — ihm verständlich machen, als wir an den Toren eines großen weitläufigen Gebäudes vorüber kamen, in weichern irgendein Arbeitsbetrieb vor sich zu gehen schien. „Was für ein Gebäude ist das?" fragte ich neugierig, denn es heimelte mich an, unter all den fremdländischen Dingen auch einmal etwas zu sehen, was mir bekannt vorkam. „Das scheint ja eine Fabrik zu sein."

„Ich glaube Sie zu verstehen", sagte er, „und Sie haben's getroffen; aber wir nennen derlei Betriebe nicht mehr Fabriken, sondern Vereinigte Werkstätten, das heißt Plätze, an denen Leute zusammenkommen, um solche Handarbeit zu verrichten, bei welcher das Zusammenwirken verschiedener Personen notwendig oder nützlich ist. Derlei Arbeit ist oft Sehr unterhaltend. Da machen sie zum Beispiel Töpfer- und Glas-Waren — Sie können dort die Spitzen der Öfen sehen. Es ist natürlich sehr bequem, geräumige Brennöfen und Glastöpfe und alles, was sonst nötig ist, zur Verfügung zu haben, und es gibt solcher Plätze eine Menge; denn es wäre lächerlich, wenn ein Mann, der sich gern mit Töpferei oder Glasbläserei beschäftigt, entweder an einem bestimmten Ort leben oder auf die Arbeit verzichten müßte, zu der er gerade Neigung hat."

„Ich sehe aber keinen Rauch aus den Öfen steigen", bemerkte ich. „Rauch?" fragte Dick, „weshalb sollten Sie denn Rauch sehen?"

 

* Eine ausführlichere Beschreibung einer idealen Fabrik findet sich in Morris' Aufsatz: „A Factory as it Might Be" (in der von der Nonesuch Press veröffentlichten Ausgabe seiner Werke).

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Ich hielt den Mund, und er fuhr fort: „Es ist innen ganz hübsch, freilich ebenso einfach, wie es sich Ihnen von außen zeigt. Was die Beschäftigung betrifft, so halte ich das Tonkneten für eine lustige Arbeit, das Glasblasen dagegen für ein heißes, ausdörrendes Geschäft. Und doch tun es sehr viele gern, und das nimmt mich nicht wunder: Mit der glühenden Masse gewandt umspringen zu können, verleiht einem solch ein Kraftgefühl! Überhaupt gibt's viel vergnügliche Arbeit dabei", sagte er lächelnd, „denn man mag mit solchen Waren so vorsichtig umgehen wie man will, dann und wann zerbrechen sie doch, und so hat man immer vollauf Beschäftigung."

*

Die beiden kommen nun beim British Museum an, wo ein alter Verwandter von Dick lebt, der seit vielen Jahren Bücheraufseher und in der Geschichte gut bewandert ist. Der junge Mann überläßt seinen Gast der Gesellschaft des alten Hammond, während er mit einer schönen Frau hinausgeht, die sowohl die Bewunderung als auch die Neugier des Besuchers erregt:

Ich schwieg eine Minute und sagte dann etwas befangen: „Verzeihen Sie, wenn ich ungezogen scheine, allein da sich Richard gegen mich, einen vollständig Fremden, so gütig benommen hat, interessiert mich sein Schicksal, und meine Frage betrifft ihn."

„Nun", meinte der alte Hammond, „wenn er nicht .gütig* gegen einen .vollständig Fremden' gewesen wäre, wie Sie es nennen, so müßte er wahrhaftig ein sonderbarer Mensch sein, dem man gut täte, aus dem Wege zu gehen. Aber fragen Sie nur, fragen Sie fort! Scheuen Sie sich nicht zu fragen."

„Ist ihm das schöne Mädchen zur Braut bestimmt?" fragte ich.

,Je nun", sagte er, „ja. Er war zwar schon einmal mit ihr verheiratet, es sieht aber genauso aus, als ob er sie wieder heiraten wollte."

„Wirklich", stotterte ich, ohne recht zu verstehen, was das bedeute.

„Hören Sie die ganze Geschichte", sagte der alte Hammond, „sie ist kurz und, wie ich nunmehr hoffe, auch glücklich. Das erste Mal lebten sie zwei Jahre miteinander. Sie waren beide noch sehr jung, und dann setzte sie sich's in den Kopf, daß sie in einen ändern verliebt sei. So verließ sie denn den armen Dick — ich sage den armen Dick, weil er keine andere gefunden hatte. Aber es dauerte nicht lange, nur ein Jahr ungefähr. Dann kam sie zu mir, wie s'e denn gewöhnt war, mir altem Burschen ihre Kümmernisse mitzuteilen, und fragte mich, wie es Dick ginge und ob er glücklich sei und was solcher Fragen mehr sind. Natürlich erkannte ich sofort, wie die Dinge lagen, und sagte, daß er sehr unglücklich sei und sich durchaus nicht wohl befinde - welch' letzteres entschieden eine Lüge war. Na, und das übrige erraten Sie. Klara kam heute her, um eine lange Unterredung mit mir zu haben, aber Dick wird seine Sache ja selbst viel besser führen. Und in der Tat, wenn er heute nicht zufällig hergekommen wäre, so hätte ich morgen nach ihm geschickt."

„Wie merkwürdig!" rief ich. „Haben sie Kinder?" 

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"Jawohl", sagte er, „zwei; sie sind jetzt bei einer meiner Töchter, bei der sich auch Klara die meiste Zeit aufgehalten hat. Ich wollte sie nicht aus dem Auge verlieren, da ich sicher war, daß sie wieder zusammenkommen würden, und Dick, der in der Tat der gutmütigste Mensch von der Welt ist, nahm sich die Sache ernstlich zu Herzen. Er hatte ja keine andere Liebe, zu der er hätte Zuflucht nehmen können, wie sie. Und so habe ich alles wieder in Ordnung gebracht, wie ich schon so manche ähnliche Geschichte in Ordnung gebracht habe."

„Aha!" sagte ich, „Sie wollten sie nicht mit dem Ehescheidungsgericht in Berührung bringen, aber ich vermute, daß es häufig dergleichen Fälle zu erledigen hat."

„Dann vermuten Sie baren Unsinn", erwiderte er. „Ich weiß wohl, daß es einst so verrückte Anstalten wie Ehescheidungsgerichte gegeben hat, aber bedenken Sie doch: Alle dort verhandelten Fälle drehten sich um Eigentumsstreitigkeiten, und wiewohl Sie, mein verehrter Gast", dabei lächelte er, „von einem anderen Stern herniedergestiegen sind, kann Sie der bloße Anblick unserer jetzigen Weltordnung doch davon überzeugen, daß Streitigkeiten um Privateigentum bei uns zu den Unmöglichkeiten zählen."

Und das stimmte, meine Fahrt von Hammersmith nach Bloomsbury und die Spuren und Anzeichen eines ruhigen beglückten Lebens, die mir überall begegnet waren, das hätte, auch von meinem Ladenbesuch ganz abgesehen, mir klarmachen sollen, daß ,die heiligen Rechte des Eigentums', wie wir uns auszudrücken pflegten, hier ganz überwundener Standpunkt waren. So hörte ich schweigend zu, als der Alte den Faden der Unterhaltung wiederaufnahm:

„Da Eigentumsstreit nunmehr zu den Unmöglichkeiten gehört, worüber bliebe einem solchen Gericht zu befinden übrig? Stellen Sie sich einmal einen Gerichtshof vor, der die Durchführung eines Vertrags der Leidenschaft oder des Gefühls mit Gewalt durchsetzen wollte! Wenn es überhaupt nötig wäre, die Tollheit eines Vertragszwanges darzulegen, so würde es durch einen solchen Unsinn geschehen."

Nach einer kleinen Pause hob er von neuem an: „Sie müssen sich ein für allemal darüber klarwerden, daß wir diesen Angelegenheiten eine andere Seite abgewonnen haben oder vielmehr, daß unsere Anschauungsweise sich geändert hat, wie wir selber uns in den letzten zweihundert Jahren geändert haben. Wir geben uns keineswegs Täuschungen hin und denken nicht daran, daß wir den Stürmen und Störungen im Verkehr der Geschlechter ein für allemal ein Ende setzen könnten. Allzuwohl wissen wir, daß wir das Unglück zu ertragen haben, welches daher rührt, daß Mann und Weib die Beziehungen natürlicher Leidenschaft und die Gefühle der Freundschaft miteinander verwechseln, die, wenn alles gutgeht, das Erwachen aus vorübergehendem Sinnenwahn mildert, aber so verrückt sind wir nicht, auf dieses Unglück noch Schmach zu häufen, indem wir uns in schmutzigen Hader einlassen über Lebensunterhalt, über Stellung und über Machtbefugnis, Kinder zu tyrannisieren, die aus Liebe oder Wollust entsprossen sind...

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Es schien Sie nicht unangenehm zu berühren, daß keine Gerichtshöfe mehr die Verträge der Leidenschaft oder Empfindungen erzwingen, aber so sonderbar ist der Mensch beschaffen, daß es Sie vielleicht unangenehm berührt, wenn ich Ihnen sage, daß an die Stelle solcher Gerichtshöfe auch kein Gesetzbuch der öffentlichen Meinung getreten ist, die vielleicht ebenso tyrannisch und unvernünftig spricht wie jene Gerichtshöfe. Damit will ich nicht sagen, daß ein Nachbar das Verhalten des ändern nicht zuweilen kritisiert; aber was ich sagen will, ist: Man richtet nicht mehr nach einem unwandelbaren System vereinbarter Regeln, kein Prokrustesbett streckt oder kürzt den Geist und das Leben der Menschen, keine heuchlerische Achterklärung besteht, welche die Menschen aussprechen müssen, weil sie entweder unter der Herrschaft gedankenloser Vorurteile sich befinden oder selber in Bann getan zu werden fürchten. Nun, sind Sie jetzt sittlich empört?"

„N-ein — nein", sagte ich zögernd. „Es ist alles so ganz anders."

*

Dann erkundigt sich William Gast nach der Stellung der Frauen in der neuen Gesellschaft:

Für einen Mann in seinen Jahren lachte er recht herzhaft und antwortete: „Ich habe nicht ohne Grund meinen Ruf als gewissenhafter Geschichtsforscher. Ich glaube, die Frauenemanzipations-Bewegung des neunzehnten Jahrhunderts wirklich zu verstehen, und das kann wohl kein anderer der jetzt Lebenden von sich sagen."

„Nun?" fragte ich, durch seine Heiterkeit ein klein wenig gereizt.

„Nun" .erwiderte er, „Sie werden natürlich begreifen, daß alles das jetzt ein überwundener Standpunkt ist. Die Männer haben keinen Anlaß mehr, die Frauen, und umgekehrt die Frauen keinen, die Männer zu unterdrücken, was beides in jenen entschwundenen Tagen vorkam. Die Frauen tun, was sie am besten tun können und was sie am liebsten tun, und die Männer sind weder eifersüchtig noch entrüstet darüber. Und das ist ein so abgedroschener Gemeinplatz, daß ich mich fast schäme, ihn zu wiederholen."

„Oh", rief ich, „und die Gesetzgebung? Welchen Anteil hat sie daran?"

„Mit der Beantwortung dieser Frage gedulden Sie sich wohl, bis wir zum Thema der Gesetzgebung gelangen", lächelte Hammond. "Vielleicht stehen Ihnen auch bei diesem Kapitel Überraschungen bevor."

„Sehr schön", sagte ich, „wie verhält sich's aber mit der Frauenfrage? Im Gästehaus gewahrte ich, daß die Frauen den Männern aufwarten. Schmeckt das nicht etwas nach Reaktion, he?"

„So?" fragte der Alte entgegen. „Sie glauben am Ende, das Haushalten sei eine unwichtige Beschäftigung, die keine Achtung verdient, he? Das war ja wohl die Meinung der .vorgeschrittenen' Frauen des neunzehnten Jahrhunderts und ihrer männlichen Helfershelfer.

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 Wenn es aber die Ihrige sein sollte, so empfehle ich Ihrer Aufmerksamkeit eine alte norwegische Volkssage: ,Wie der Mann die Wirtschaft führt' oder ähnlich betitelt. Als Endergebnis dieser männlichen Wirtschaft stellten sich allerlei Plagen heraus, daß der Mann und die Familienkuh an beiden Enden eines Stricks baumelten, der Mann in der Mitte des Schornsteins, die Kuh vom Dach herunter, das nach Landessitte aus Rasen bestand und sich tief bis zum Erdboden niederstreckte. Eine schwierige Lage für die Kuh, dünkt mich. Natürlich kann ein solches Mißgeschick keine so überlegene Persönlichkeit treffen, wie Sie sind", fügte er kichernd hinzu.

 

Dann erkundigt sich der Besucher nach den neuen Vorstellungen von Erziehung. Er hat Dick schon danach gefragt, der ihm eine seltsame Antwort gegeben hat und offensichtlich die Bedeutung des Wortes Schule nicht kannte.

„Schule?" sagt Dick, „ja, was meinen Sie mit diesem Wort? Ich wüßte nicht, in welchem Zusammenhang es mit Kindern zu bringen ist. Wir sprechen wohl von einer Philosophenschule, von einer Malerschule, — von einer Dichterschule — wie man aber von einer Kinderschule reden kann, das —" und er begann zu lachen — „das geht über meinen Horizont." Als er zu erklären versuchte, daß er das Wort im Sinne eines Erziehungssystems gebrauchte, verstand ihn der junge Mann keineswegs besser: „Erziehung —?" sagte er, „Ich habe das Wort schon anwenden hören, bin aber noch niemandem begegnet, der mir eine deutliche Erklärung des Sinnes zu geben vermocht hätte." Dann fährt er fort und sagt, daß Kinder lernen, „ohne daß sie durch ein Lehr- oder Unterweisungssystem zu gehen haben." Sie lernen, was Geschick erfordert, wie zum Beispiel kochen, schreinern oder einen Laden führen. Was das Bücherwissen angeht, „die meisten Kinder, welche Bücher umherliegen sehen, bekommen es schon mit vier Jahren fertig, zu lesen", doch sie werden nicht zu früh zum Kritzeln ermutigt, weil sie sich sonst eine schlechte Handschrift angewöhnen. Aus dieser Unterhaltung schloß der Besucher, daß Kinder sich selbst überlassen werden und nichts lernen. Dem alten Mann gegenüber sagt er, „daß Sie Ihr Erziehungswesen mit einem Wort derart vervollkommnet haben, daß Sie jetzt gar keine Erziehung mehr haben."

„Da sind Sie schief gewickelt", sagte er. „Aber natürlich begreife ich, daß Sie in Sachen der Erziehung den Standpunkt vergangener Zeiten vertreten, wo der Kampf ums Dasein, wie die Leute es nannten, das heißt Kampf um Sklavenrationen einerseits und um den fetten Löwenanteil der privilegierten Sklavenhalter andererseits, die Erziehung der meisten Menschen auf kümmerliche Dosen eines zum Teil sehr wenig genauen Wissens beschränkte — Dosen, die der Anfänger in der Lebenskunst wohl oder übel herunterzuwürgen hatte, einerlei ob er danach hungerte oder nicht, und die von Leuten, welche sich nichts daraus machten, vorgekaut und wieder und wieder verdaut wurden, um den Brei anderen Leuten vorzusetzen, die sich ebenfalls nichts daraus machten."

Ich mußte über den aufsteigenden Zorn des Alten laut lachen: „Auf keinen Fall sind Sie in dieser Weise unterrichtet worden, lassen Sie deshalb Ihren Grimm verrauchen, Freund."

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„Wahr, wahr!" sagte er und lächelte wieder. „Ich danke Ihnen, daß Sie meiner üblen Laune Einhalt tun, ich versetze mich nämlich sofort in jede Periode, von der man gerade spricht. Um das Thema also ruhiger zu behandeln: Sie erwarteten, daß die Kinder schulpflichtigen Alters ohne Rücksicht auf ihre verschiedenen Fähigkeiten und Anlagen in Schulen gesperrt und, wenn einmal dort, mit gleich brutaler Rücksichtslosigkeit einem herkömmlichen Lehrkursus unterworfen würden. Begreifen Sie nicht, mein Freund, daß ein solches Vorgehen das körperliche und geistige Wachstum gleich sehr außer acht setzt?

Niemand könnte ohne Schaden aus solch einer Tretmühle hervorgehen, und der Zermalmung würden nur die widerstehen, in denen der Geist der Rebellion stark genug ist. Zum Glück muß er den meisten Kindern zu allen Zeiten innegewohnt haben, sonst wüßte ich nicht, wie wir unsere jetzige Stellung hätten erreichen können. Alles das ist vorbei, wir werden nicht mehr hastig vorangepeitscht, und der Unterricht ist jedem erreichbar, dessen Neigungen ihn danach begehren lassen."

,Ja", wandte ich ein, „nehmen Sie aber an, daß das Kind, der Jüngling oder der Mann sich sträubt, Arithmetik oder Mathematik zu lernen. Wenn er erwachsen ist, können Sie ihn nicht zwingen. Könnten und sollten Sie es nicht tun, solange er wächst?"

„Schön", sagte er, „hat man Sie gezwungen, Arithmetik oder Mathematik zu lernen?"

„Ein bißchen."

„Und wie alt sind Sie jetzt?"

„Sagen wir sechsundfünfzig."

„Und wieviel Arithmetik und Mathematik wissen Sie jetzt?"

„Leider nicht das Geringste."

Hammond lachte vor sich hin, äußerte sich jedoch sonst nicht über mein Zugeständnis, und ich ließ das Thema über Erziehung fallen, da es mir hoffnungslos schien, ihn in diesem Punkt auf andere Gedanken zu bringen.*

Dann äußert sich der Gast erstaunt, daß er ihn von Haushalten sprechen hörte:

„Schmeckte das nicht etwas nach den Sitten der alten Zeit? Ich hätte gedacht, Sie würden jetzt mehr in der Gemeinschaft leben, mehr im öffentlichen Leben aufgehen?"

 

* Über William Morris' Erziehungsvorstellungen bemerkt Ethel Mannin in Bread und Roses: Alles, was Morris über die Sinnlosigkeit erzwungener Schulfächer schrieb, könnte heutzutage von A.S. Neill geschrieben worden sein."

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„Phalansterien, was?" rief er. „Nun, wir leben, wie es uns gefällt, und in der Regel gefällt es uns, mit bestimmten Hausgenossen zu leben, an die wir uns gewöhnt haben. Vergessen Sie doch nicht, daß es keine Armut mehr gibt und daß die Organisationen der Fourier und Konsorten nichts weiter waren als eine Zuflucht vor gänzlicher Entbehrung, wie's zur Zeit ja nicht anders zu verlangen war. Solch eine Lebensweise konnte nur von Leuten ausgeheckt werden, welche die Armut in ihrer bittersten Gestalt kannten. Wiewohl aber besondere Haushaltungen bei uns die Regel bilden und sie in ihren Gewohnheiten mehr oder minder voneinander abweichen, so ist es doch selbstverständlich, daß keine Tür einem freundlichen Gast verschlossen ist, der sich den Lebensgewohnheiten der übrigen Hausgenossen anzupassen bereit ist. Es wäre ja natürlich auch ein unbilliges Verlangen, wenn jemand in einen Haushalt eintreten wollte, um die ändern zu zwingen, ihm zuliebe ihre Gewohnheiten aufzugeben und sich den seinigen zu fügen; er kann ja anderswohin gehen und nach seiner Neigung leben."

 

Nachdem er gehört hat, wie der alte Mann das neue London beschrieb, wo Slums abgerissen und mit Weiden bedeckt oder durch schöne Häuser, umgeben von Gärten, ersetzt worden sind, will der Besucher etwas über die anderen Städte erfahren. Darauf antwortet Hammond:

„Was die früheren Fabrik-Mittelpunkte, die großen, finsteren, dumpfigen, rauchgeschwärzten Städte betrifft, so sind sie gleich der Ziegel- und Steinwüste Londons vom Erdboden verschwunden, nur haben sie, da sie eben nichts weiter als Fabrikstädte waren und keinem anderen Zwecke als dem Glücksspiel- und Schwindelmarkt dienten, weniger Spuren ihres Daseins hinterlassen als London. Der große Wechsel in der Benutzung mechanischer Kraft hat das auf leichte Weise herbeigeführt, und selbst wenn wir unsere Gewohnheiten nicht so sehr geändert hätten, würden diese Städte als Mittelpunkte in aller Wahrscheinlichkeit aufgehört haben zu bestehen."

„Und die kleineren Städte? Die haben Sie wohl ganz abgeschafft?"

„Im Gegenteil, da hat man wenig niedergerissen — nur viel umgebaut. Die Vorstädte, soweit sie welche hatten, sind in der Landschaft aufgegangen und in der Mitte ist Raum gewonnen. Aber die Städte mit ihren Straßen, Plätzen und Märkten sind immer noch vorhanden, und diese kleinen Städte vermitteln uns heutzutage die Vorstellung vom Aussehen der ehemaligen großen Städte — in deren Blütezeit natürlich."...

„Wir stehen so: England war einst das Land der lieblichen Lichtungen zwischen Wäldern und Wüsteneien, mit nur wenigen Städten, welche Festungen für die feudalen Armeen, Märkte für das Volk und Sammelplätze für die Handwerker waren. Dann wurde es das Land ungeheurer giftiger Werkstätten und noch giftigerer Spielhöllen, umgeben von schlecht bewirtschafteten, armseligen Farmen und Hütten, und das arbeitende Volk wurde ausgeplündert durch die Herren der Werkstätten. Jetzt ist England'ein Garten, in dem nichts öde, nichts verwahrlost ist, mit den nötigen Wohnungen, Scheunen und Werkstätten, die über das ganze Land zerstreut sind, alle schmuck, gesund und bequem..."

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Darauf sagte ich: „Nach dieser Seite hin hat die Umgestaltung zürn Besseren geführt, da ich aber nun bald selbst einige dieser Dörfer sehen werde, so bitte sagen Sie mir, um mich vorzubereiten, in wenigen Worten, wie sie ungefähr aussehen."

Er: ,,Vielleicht haben Sie eine leidlich gute Abbildung von Dörfern, wie sie zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts waren, gesehen. Es gibt solche."

Ich: ,Ja ich sah einige dieser Bilder."

„Nun denn", sagte Hammond, „unsere Dörfer gleichen einigermaßen den besten dieser ehemaligen Dörfer, mit der Kirche oder dem Versammlungshaus der Nachbarn als Hauptgebäude. Aber merken Sie wohl: ohne die Zeichen von Armut ringsherum — keine malerischen Umfall-Baracken, wie die Künstler sie — Ihnen die Wahrheit zu sagen — einst gerne benutzten, um ihre Unfähigkeit für architektonisches Zeichnen zu verbergen. Derartige Dinge gefallen uns nicht, selbst dann nicht, wenn sie kein Elend vorstellen. Wie die Leute des Mittelalters, so lieben auch wir alles nett, rein, ordentlich und freundlich, so, wie es das Volk macht, wenn es Sinn für architektonische Wirkung hat, denn jetzt wissen die Leute, daß sie haben können, was sie brauchen, und lassen sich in ihrem Verkehr mit der Natur keinen Unsinn gefallen."

„Gibt es außer den Dörfern noch vereinzelte Landhäuser?" fragte ich.

„Ja, viele", sagte Hammond, „in der Tat, wenn man die öden Gegenden und die Wälder ausnimmt, sieht man überall Häuser. Und da, wo die Häuser dünn gesät sind, sind sie sehr groß und gleichen mehr den alten Universitätsgebäuden als den gewöhnlichen Häusern, wie sie zu sein pflegten. Man hat dies zum besten der Gesellschaft so getan, weil viele Leute in solchen Häusern wohnen können und die Landbewohner nicht notwendig Landbauern sein müssen, obwohl beinahe alle zeitweise beim Landbau helfen. Das Leben in diesen großen Wohnungen ist sehr angenehm, besonders auch, weil einige der bedeutendsten Gelehrten unserer Zeit darin leben. Alles in allem herrscht da sehr viel Abwechslung durch die Verschiedenheit der Geister und der Stimmungen, wodurch die Gesellschaft angeregt und erheitert wird."

„Alles dies überrascht mich", sagte ich, „da mir das Land doch trotz alledem leidlich gut bevölkert zu sein scheint."

„Gewiß", antwortete er, „die Bevölkerung ist so ziemlich dieselbe wie zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts; wir haben sie nur besser verteilt — über das Land ausgebreitet, das ist alles. Natürlich haben wir auch andere Länder bevölkern helfen — wo man uns brauchte und wir verlangt wurden."

Noch größere Veränderungen haben in der Verwaltung des Landes stattgefunden, denn die Regierung ist ganz und gar verschwunden.

"Jetzt", sagte ich, „bin ich so weit gekommen, Fragen an Sie zu richten, von denen ich voraussetze, daß sie für Sie trocken zum Beantworten und schwierig zum

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Erklären sein werden. Ich habe aber schon vor einiger Zeit vorausgesehen, daß ich sie stellen muß: Welche Art von Regierung haben Sie? Hat die Republik endlich triumphiert? Oder sind Sie nur zu einer Diktatur gelangt, welche einige Personen des neunzehnten Jahrhunderts als das Endergebnis der Demokratie zu prophezeien pflegten? Diese letztere Frage scheint in der Tat nicht so sehr unvernünftig, da Sie Ihr Parlamentsgebäude zu einem Kehrichtlager und Düngermarkt gemacht haben. Oder wo haben Sie Ihr jetziges Parlament untergebracht?"

Der alte Mann beantwortete mein Lächeln mit einem herzlichen Lachen: „Nun, nun, Dünger ist nicht die schlechteste Art der Verfaultheit und Verderbnis; aus dem Dünger kann Fruchtbarkeit kommen, während nur Mangel und Not von der ändern Art der Fäulnis kam, deren Hauptstützen einst diese Mauern bargen. Lassen Sie mich Ihnen sagen, lieber Gast, daß unser jetziges Parlament sehr schwer in einem Hause unterzubringen wäre, weil das ganze Volk unser Parlament ist."

„Ich verstehe Sie nicht."

„Nein? Das konnte ich mir denken", erwiderte er. „Auf die Gefahr hin, gegen alle Ihre Vorstellungen anzustoßen, muß ich Ihnen sagen, daß wir kein Ding mehr haben, welches Sie, als Eingeborener eines anderen Planeten, eine Regierung nennen würden."

„Das ist mir keineswegs so anstößig, wie Sie vielleicht vennuten mögen", erwiderte ich, „denn ich weiß etwas von Regierungen. Aber sagen Sie mir, wie haben Sie sich eingerichtet und wie sind Sie zu diesem Stand der Dinge gekommen?"

Darauf erwiderte er: „Wahr ist, daß wir in bezug auf unsere Geschäfte und Verhältnisse einige Anordnungen zu treffen haben, über welche Sie gleich mehr hören können; und wahr ist auch, daß nicht immer jeder mit den Einzelheiten dieser Anordnung übereinstimmt. Es ist aber auch wahr, daß ein Mensch eine organisierte Regierung mit ihrer Armee, ihrer Kriegsflotte und ihrer Polizei ebensowenig braucht — ebensowenig nötig hat, um gezwungen zu werden, sich dem Willen der Majorität von seinesgleichen zu fügen, wie er eine derartige Maschinerie braucht, um zu begreifen, daß sein Kopf und ein Stein nicht zu gleicher Zeit denselben Raum einnehmen können."

*

Mit der Abschaffung des Eigentums und der Regierung haben die Leute eine neue Einstellung gegenüber ihren Mitmenschen entwickelt. Streit und Raub sind unbekannt, und gute Kameradschaft ist zur Gewohnheit geworden. Das bedeutet jedoch nicht, daß nicht gelegentlich Gesetzesübertretungen vorkommen:

„Gewiß nicht", sagte Hammond, „wenn aber einmal eine Überschreitung vorkommt, dann weiß jedermann — der Überschreiter selbst und alle anderen —, was es ist; der Irrtum eines Freundes, nicht die gewohnheitsmäßige Handlung einer Person, die zur Feindschaft gegen die Gesellschaft getrieben wurde."

„Ich sehe, Sie wollen sagen, daß Sie keine Verbrecherklasse haben."

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„Wie könnten wir sie auch haben, da es keine reiche Klasse mehr gibt, die durch die Ungerechtigkeit des Staates Feinde des Staates erzieht?"

„Mir ist", erwiderte ich, „als hätten Sie vorher einmal gesagt, daß Sie das bürgerliche Gesetzbuch abgeschafft hätten. Ist dem wirklich so?1'

„Es hat sich selbst abgeschafft, mein Freund. Die bürgerlichen Gerichtshöfe waren nur zur Verteidigung des Privateigentums dagewesen, denn jedermann glaubte, daß es nur durch rohe Gewalt möglich sei, die Leute anständig zu machen. Nachdem das Privateigentum abgeschafft war, hatten auch alle die Gesetze und all' die vom Gesetz statuierten Verbrechen, welche aus dem Privateigentum entstanden waren, ihr Ende erreicht. ,Du sollst nicht stehlen', mußte übersetzt werden in ,Du sollst arbeiten, um glücklich zu sein'. Brauchen wir diesen Befehl durch Gewalt zu erzwingen?"

„Nun gut", sagte ich, „das läßt sich verstehen, und ich stimme damit überein. Wie verhält es sich aber mit Verbrechern der Gewalttätigkeit? Machen sie — und Sie geben ja zu, daß solche Verbrechen vorkommen —, machen diese Verbrechen nicht ein Strafgesetz nötig?"

Darauf sagte er: „In Ihrem Sinne des Wortes haben wir kein Strafgesetz. Lassen Sie uns den Gegenstand näher betrachten und sehen, woraus die Verbrechen der Gewalttätigkeit entspringen. Der bei weitem größere Teil dieser Verbrechen war in früherer Zeit die Folge der Eigentumsgesetze, welche die Befriedigung der natürlichen Triebe nur den privilegierten Wenigen gestatteten; und des allgemeinen greif- und sichtbaren Zwanges, der aus jenen Gesetzen hervorging. Diese Ursache der Gewaltverbrechen ist vollständig weggefallen. Viele Gewalttaten entstanden auch durch die künstliche Verkehrung der geschlechtlichen Leidenschaften, welche übertriebene Eifersucht und ähnlichen Jammer hervorriefen. Wenn Sie diese Verbrechen eingehend betrachten, so werden Sie finden, daß das, was ihnen zugrundelag, meistens der Gedanke war (ein zum Gesetz gemachter Gedanke), daß die Frau das Eigentum des Mannes sei, ob er nun ihr Ehemann, Vater oder Bruder war. Dieser Gedanke ist natürlich mit dem Privateigentum verschwunden, ebenso wie gewisse Torheiten über den ,Fall' der Frau, weil sie ihren natürlichen Trieben in ungesetzlicher Weise folgte, was wieder nur die Folge einer aus den Eigentumsgesetzen hervorgegangenen Übereinkunft war."

„Eine andere verwandte Ursache der Gewaltverbrechen war die Familientyrannei, die früher so häufig den Gegenstand von Romanen und Erzählungen bildete und die gleichfalls dem Privateigentum entsprang. Natürlich ist dies alles vorüber, seitdem die Familien nicht mehr durch den Zwang sozialer oder gesetzlicher Bande, sondern nur durch gegenseitige Liebe und Zuneigung zusammengehalten sind und jeder und jede kommen und gehen kann, wie er oder sie will. Ferner ist unser Maßstab für Ehre und öffentliche Achtung sehr verschieden von dem früheren. Der Weg zum Ansehen durch Schädigung unseres Nächsten ist jetzt abgeschnitten und wir hoffen für immer. Jedermann kann frei seine besonderen Fähigkeiten bis zum Äußersten ausbilden, und jedermann ermuntert ihn dazu. So sind wir die

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scheelsehende Mißgunst losgeworden, die von den Dichtern gewiß mit gutem Grund dem Haß vermählt wird. Unsägliches Unglück und viel böses Blut wurden durch dieses schlimme Paar verursacht, welches bei erregbaren und leidenschaftlichen Menschen, d.h. bei tatkräftigen Naturen zur Gewalttätigkeit führte."

Ich lachte und sagte: „Mit anderen Worten, Sie behaupten jetzt, bei Ihnen gäbe es keine Gewalttätigkeit?"

„Nein", sagte er, „das wäre nicht richtig. Derlei Dinge kommen freilich zuweilen vor. Heißes Blut irrt mitunter. Ein Mensch schlägt den anderen und dieser gibt's zurück und — nehmen wir das Schlimmste an — das Ende ist ein Totschlag. Was aber dann? Sollen wir, seine Nachbarn, das Schlimme dann noch schlimmer machen? Sollen wir so kleinlich voneinander denken, daß wir annehmen, der Getötete rufe uns zur Rache auf, da wir doch wissen, daß, wenn er bloß verkrüppelt worden wäre, er seinem Gegner verziehen hätte, sobald er zur Besinnung und ruhigen Überlegung gelangt wäre? Oder wird der Tod des Totschlägers den Toten wieder ins Leben zurückrufen oder das Unglück, welches sein Verlust verursacht, wieder gutmachen?"

,Ja", sagte ich, „aber bedenken Sie, muß nicht die Sicherheit der Gesellschaft durch irgendwelche Strafe gewährleistet werden?"

„Nachbar", sagte der alte Mann mit einiger Erregung, „das ist der Punkt, auf den es ankommt. Die Strafe, betreffs welcher die Menschen so weise zu sprechen und so töricht zu handeln pflegten, was war sie anders, als der Ausdruck ihrer Furcht? Und sie hatten auch Grund, sich zu fürchten, weil sie, d.h. die Führer der Gesellschaft, wie eine bewaffnete Bande in einem feindlichen Lande wohnten. Aber wir, die wir unter unsern Freunden leben, wir brauchen weder Furcht noch Strafe. Gewiß ist: Wenn wir aus Furcht vor einem gelegentlichen seltenen Totschlag oder vor einer gelegentlichen derben Mißhandlung feierlich und gesetzlich Mord und Gewalttat verübten, so wären wir nur eine Gesellschaft von elenden Feiglingen. Denken Sie nicht auch so, Nachbar?"

„Ja, wenn ich es von dieser Seite betrachte, allerdings."

„Sie müssen begreifen", fuhr der alte Mann fort, „wenn irgendeine Gewalttat begangen worden ist, so erwarten wir, daß der Angreifer die ihm mögliche Sühne gibt —und er selber erwartet dies. Und bedenken Sie doch: Kann die Vernichtung oder ernstliche Beschädigung eines Menschen, den Wut oder Raserei einen Augenblick überkommen hat, eine Sühne für das Gemeinwesen sein? Es würde doch sicherlich nur eine weitere Schädigung der Gesellschaft bilden."

„Nehmen wir an", fuhr ich fort, „der Mann habe einen Hang zu Gewalttätigkeit, er tötet z.B. jährlich einen Menschen?"

„So etwas ist uns unbekannt", erwiderte Hammond, „in einer Gesellschaft, wo es keine Strafe gibt, der man zu entrinnen, kein Gesetz, über das man zu triumphieren sucht, folgen Gewissensbisse der Übertretung."

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„Und wie werden Sie mit kleineren Gewaltausbrüchen fertig? Denn bis jetzt sprachen wir doch nur von großen Trauerspielen."

„Wenn der Übeltäter weder krank noch wahnsinnig ist (und in diesem Fall muß er unter Bewachung gehalten werden, bis seine Krankheit oder sein Wahnsinn geheilt ist), so ist es klar, daß auf die schlechte Tat Reue und Zerknirschung folgen müssen; und die Gesellschaft weiß ihm dies klarzumachen, wenn er abgestumpft sein sollte. Und darauf wird wieder eine Art Sühne folgen — oder wenigstens ein offenes Bekenntnis der Reue und Zerknirschung. Ist es so schwer zu sagen: ich bitte um Verzeihung? —Ja, manchmal ist es schwer — indes, das schadet nichts."

„Sie halten das für genügend?"

,Ja, und außerdem ist es alles, was wir tun können. Wenn wir mehr tun und den Mann quälen, so verwandeln wir seinen Schmerz in Wut und die Demütigungen, die er sonst ob seines Handelns empfinden würde, wird durch die Hoffnung auf Rache für das Unrecht, das wir ihm zugefügt, verschlungen."

„Sie betrachten also das Verbrechen bloß als eine Krankheit, mit der sich das Strafgesetzbuch nicht zu befassen hat?"

„Ganz richtig! Und da wir, wie ich Ihnen schon sagte, im allgemeinen gesunde Leute sind, so werden wir durch diese Krankheit nicht sehr beunruhigt."

 

Alle Länder der Welt erfreuen sich derselben Freiheit und Gleichheit wie England, und Rivalitäten zwischen Nationen und Kriege gibt es nicht mehr. Innerhalb der Gemeinschaft gibt es keine politischen Parteien, und wenn Meinungsverschiedenheiten auftauchen, sind es Auseinandersetzungen über reale, konkrete Dinge, die, sagt Hammond,

„die Menschen nicht zu veruneinigen und nicht in dauernd feindliche politische Parteien zu spalten brauchen, die verschiedene Theorien über den Bau des Weltalls und den Fortschritt der Zeit haben. Bei uns betreffen die Meinungsverschiedenheiten technische Fragen und gelegentliche Vorkommnisse, die mit denselben zusammenhängen, und diese Verschiedenheiten trennen und entzweien uns nicht dauernd."

„Und Sie regeln diese Meinungsverschiedenheiten, große wie kleine, nach dem Willen der Mehrheit, vermute ich."

„Gewiß, wie anders sollten und könnten wir sie regeln? In rein persönlichen Fragen, die mit dem Wohl des Ganzen nichts zu tun haben — z.B. wie sich ein Mensch kleiden, was er essen und trinken, was er schreiben und lesen soll und so fort — darüber kann es keine Meinungsverschiedenheiten geben, das macht jeder, wie's ihm beliebt.

Ist aber die Sache von allgemeinem Interesse, so daß jedermann von dem Tun oder Lassen irgendwie berührt wird, dann muß die Mehrheit bestimmen, es sei denn, die Minderheit griffe zu den Waffen und zeigte durch die Gewalt,

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daß sie die tatsächliche und wirkliche Mehrheit ist, was jedoch in einer Gesellschaft von freien Menschen, in der einer dem anderen gleichsteht, kaum vorkommen kann, weil in einem solchen Gemeinwesen die scheinbare Mehrheit auch die wirkliche Mehrheit ist. Und die anderen, wie ich vorhin angedeutet habe, wissen das zu gut, um sich aus bloßer Dickköpfigkeit dagegen aufzulehnen, zumal sie hinreichend Gelegenheit haben, ihre Ansicht auszusprechen und die Sache von ihrem Standpunkt aus zu beleuchten."

„Wie verfährt man dabei?" fragte ich.

„Nun", sagte er, „nehmen wir eine unserer Verwaltungseinheiten, eine Gemeinde, einen Bezirk oder ein Kirchspiel, wir haben all' diese Benennungen beibehalten, sie bezeichnen jetzt aber nur noch kleine tatsächliche Unterschiede, obgleich es eine Zeit gab, wo der Unterschied sehr wesentlich war. Also gesetzt den Fall, in einem solchen Bezirk sind einige Nachbarn der Ansicht, daß irgendetwas getan oder beseitigt werden soll, z.B. eine neue Stadthalle errichtet, geschmacklose, unbequeme Häuser abgerissen — oder sagen wir: anstelle einer alten, häßlichen, eisernen Brücke eine Steinbrücke gebaut — da haben Sie Schaffen und Umstürzen. Gut — bei der nächsten regelmäßigen Zusammenkunft oder Note, wie wir es sagen, entsprechend der alten Sprache zu den Zeiten vor der Schreiberwirtschaft — Bureaukratie genannt — schlägt irgendein Nachbar diese Veränderungen vor, und wenn alle zustimmen, dann gibt es selbstverständlich bloß noch eine Besprechung über die Einzelheiten.

Ebenso ist's wenn niemand den Vorschlag unterstützt, so wird die Sache für den Augenblick fallengelassen. Das kommt aber unter vernünftigen Menschen nicht so leicht vor, weil man gewiß ist, daß der Antragsteller schon vor der Versammlung mit ändern über die Sache gesprochen hat.

Nehmen wir aber an, daß einige Nachbarn mit dem unterstützten Vorschlag nicht einverstanden sind, daß sie glauben, die häßliche eiserne Brücke könne noch eine Zeitlang Dienste leisten und daß sie nicht mit dem Bau einer neuen belästigt sein wollen, dann wird für dieses Mal nicht abgestimmt und die Beratung bis zur nächsten Sitzung vertagt. Inzwischen werden die Gründe für und wider überall erwogen, die wichtigeren Gutachten werden gedruckt — jeder kann sich das besorgen —, so daß jedermann weiß, um was es sich handelt; und wenn man dann wieder zusammenkommt, findet eine regelrechte Besprechung statt und zuletzt eine Abstimmung durch Erheben der Hände. Ergibt die Abstimmung keine entschiedene Mehrheit, dann wird die Beratung nochmals auf eine spätere Zeit vertagt. Ist die Meinungsverschiedenheit eine tiefgehende, dann wird die Minderheit gefragt, ob sie sich der allgemeinen Ansicht fügen wolle, was sie oft — nein, was sie meistens tut. Verweigert sie es, dann wird die Sache zum dritten Mal beraten. Nun gibt die Minderheit nach, wenn sie nicht ersichtlich gewachsen ist. Ich glaube zwar, daß es eine halb vergessene Regel gibt, nach der sie es noch weiter treiben könnte, aber ich erinnere mich nicht, daß von diesem Recht je Gebrauch gemacht worden ist. Soviel ich erfahren habe, ist die Minderheit immer der Ansicht, wenn vielleicht auch nicht, daß ihr Standpunkt ein falscher sei, so doch, daß sie die Gesamtheit nicht überzeugen und sie nicht zwingen kann, ihre, der Minderheit, Ansicht, als die richtige anzunehmen."

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"Sehr schön", sagte ich, "was geschieht aber, wenn die Abstimmung auch das zweite Mal keine entschiedene Mehrheit ergibt?"

Er erwiderte: „Dem Prinzip und der Regel für solche Fälle entsprechend muß dann die Angelegenheit bis auf weiteres fallengelassen werden, und die Mehrheit muß, wenn sie eine geringe ist, nachgeben und sich vorläufig den bestehenden Verhältnissen fügen. Ich kann Ihnen aber sagen, daß die Minderheit nur sehr selten auf der Anwendung dieser Regel besteht, gewöhnlich gibt sie in Güte nach."

 

In der neuen Gesellschaft ist die Arbeit keine Strafe mehr, sondern, im Gegenteil, eine angenehme Tätigkeit. Sogar für besonders gute Arbeit gibt es keine Belohnungen im Sinne materiellen Vorteils oder größerer Autorität. Die einzige Belohnung ist die des Schaffens, und, sagt der alte Mann, wenn Sie für die Freude des Schaffens, womit nur ausgezeichnete Arbeit gemeint ist, Belohnung verlangen, dann könnten wir es erleben, daß demnächst ein- Gesetzentwurf zur Förderung der Kindererzeugung ein-gebracht wird. Der Gebrauch von Anreizen, um Leute zur Arbeit zu bewegen, bedeutet, daß alle Arbeit Plage sei; und wir sind von diesem Gedanken so weit entfernt, daß bei uns, die wir, wie Sie bemerkt haben werden, recht wohlhabend sind, schon die Besorgnis aufgestiegen ist, eines Tags könnten wir zu wenig Arbeit haben. Die Arbeit ist ein Vergnügen, welches wir zu verlieren fürchten, und nicht eine Plage.

 

Arbeit, die an sich kein Vergnügen ist, ist ebenfalls angenehm geworden durch die Erkenntnis, daß sie sinnvoll ist. In der alten Gesellschaft, als die Leute hauptsächlich mit der Produktion sinnloser Güter beschäftigt waren, war die Arbeit das unaufhörliche Bestreben, möglichst wenig Arbeit auf die Anfertigung jedes Gegenstandes zu verwenden und doch zugleich so viele Gegenstände wie möglich herzustellen. Um diese Güter loszuwerden, mußten künstlich neue Bedürfnisse geschaffen und neue Märkte in unzivilisierten Ländern geöffnet werden. In der neuen Gesellschaft produzieren die Menschen keine sinnlosen Güter für den Profit irgendeines Kapitalisten, sondern nur, was die Gemeinschaft tatsächlich braucht. Wie in den Städten des Mittelalters gibt es eine enge Beziehung zwischen Produzenten und Konsumenten:

Die Gegenstände, die wir verfertigen, werden gemacht, weil wir sie brauchen; man macht sie ebensogut für seinen Nächsten als für sich selbst und nicht für einen unbestimmten Markt, von dem man nichts weiß und über den man keine Kontrolle hat. Und da es kein Kaufen und Verkaufen gibt, würde es reiner Unsinn sein, Güter ins Blaue hinein zu verfertigen, auf die bloße Möglichkeit hin, daß sie vielleicht gebraucht werden; denn jetzt gibt es niemand mehr, der gezwungen werden kann, das Zeug zu kaufen. Und so kommt es, daß alles, was verfertigt wird, gut und seinem Zweck entsprechend ist. Nichts kann gemacht werden, außer für den wirklichen Gebrauch und deshalb werden keine minderwertigen Güter mehr hergestellt.

Überdies haben wir, wie ich schon sagte, allmählich genau herausgefunden, was wir brauchen, und wir machen deshalb nie mehr, als wir brauchen; und da wir nicht gezwungen sind, eine große Masse nutzloser oder gar schädlicher Dinge zu

machen, so haben wir Zeit und Hilfsmittel genug, die Anfertigung der notwendigen Güter als ein Vergnügen zu betrachten.

Alle Arbeit, die schwer mit der Hand zu verrichten wäre, wird mit außerordentlich verbesserten Maschinen gemacht, und alle Arbeit, die mit der Hand herzustellen ein Vergnügen ist, wird ohne Maschine angefertigt. Und es ist für niemanden schwierig, die Arbeit zu finden, die ihm besonders gefällt und seinen Neigungen und Fähigkeiten entspricht, so daß keiner für die Bedürfnisse der ändern geopfert wird. Manchmal haben wir gefunden, daß die Herstellung irgendeines Gegenstandes zu mühsam oder zu unangenehm war und haben dann auf die Anfertigung verzichtet. Und nun, denke ich, werden Sie gewiß einsehen, daß unter diesen Verhältnissen alle Arbeit eine mehr oder weniger angenehme Beschäftigung für Geist und Körper ist und daß, statt der Arbeit aus dem Weg zu gehen, jedermann sie sucht. Da die Menschen von Generation • zu Generation immer mehr Geschick und Fertigkeit erlangten, so wurde die Arbeit allmählich so leicht, daß es den Anschein hat, als würde weniger gemacht, obgleich tatsächlich viel mehr hergestellt wird.

 

Ein wahrhaft glückliches Volk braucht nicht an ein glücklicheres Leben nach dem Tode zu glauben oder Trost in der Liebe Gottes zu suchen. Die christliche Religion ist durch die Religion der Menschlichkeit ersetzt worden, und die Menschen lieben ihre Mitmenschen, nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil sie ihrer Liebe wert sind:

Den Glauben an Himmel und Hölle als zwei Lebenswelten gibt es nicht mehr, und nun glauben wir in Wort und Tat an das ewige Leben der Menschenwelt, und fügen jeden Tag dieses gemeinsamen Lebens dem Schatz von Tagen zu, den unsere eigene, nur individuelle, Erfahrung uns zusammenträgt: und folglich sind wir glücklich. Verwundert Sie das? In früheren Zeiten befahl man den Menschen wohl, ihren Nächsten zu lieben, an die Religion der Menschlichkeit zu glauben und so weiter.

Doch sehen Sie, in dem Maße, wie ein Mensch die geistige Würde und Bildung hatte, um diese Idee schätzen zu können, stieß ihn der Anblick der Individuen ab, die die Masse bildeten, der er dienen sollte; und er konnte diesem Abscheu nur entkommen, indem er eine formale Abstraktion von der Menschheit machte, die kaum gegenwärtigen oder historischen Bezug zur Rasse hatte; die in seinen Augen in blinde Tyrannen einerseits und apathische, erniedrigte Sklaven anderseits unterteilt war. Doch wo liegt nun noch die Schwierigkeit, die Religion der Menschlichkeit anzuerkennen, da Männer und Frauen, die die Menschheit bilden, frei, glücklich und zum mindesten tatkräftig sind und gemeinhin von körperlicher Schönheit und umgeben von schönen Dingen ihrer eigenen Schöpfung und einer Natur, die durch den Kontakt mit der Menschheit verbessert und nicht verschlechtert worden ist?

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