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 5.2   Lord Lytton  — Das kommende Geschlecht  

wikipedia  Edward_Bulwer-Lytton,_1._Baron_Lytton   *1803 in London bis 1873 (69)

wikipedia  Vril-Gesellschaft#The_Coming_Race 

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Anders als die meisten Utopien des neunzehnten Jahrhunderts unternimmt Lord Lyttons Das kommende Geschlecht (The coming race) nicht den Versuch, einen Plan für gesellschaftliche Verbesserungen vorzustellen, die in ausführlicher und konkreter Form der Realisierung zugänglich wären. 

Es ist ein Roman des Typs Die Gestalt der Dinge, die da kommen werden, interessant wegen der kühnen und ziemlich erschreckenden Vision, die dort beschrieben wird. Vor hundert Jahren, als dieser Roman erschien, mag es ganz und gar phantastisch erschienen sein, sich eine Menschheit vorzustellen, in der jeder mit einem Vrilstab, einer Art Atombombe, ausgestattet ist, so mächtig, daß er in wenigen Sekunden ganze Bevölkerungen ausmerzen könnte; doch heute finden wir Wissenschaftler und Philosophen, Journalisten und den Mann auf der Straße, die ernsthaft die Probleme erörtern, die eine solche Entdeckung hervorgerufen hat.

Es ist eine Ironie des Zufalls, daß Lord Lytton einen Amerikaner mit der Aufgabe betraute, die Welt vor der Existenz einer mächtigen Nation zu warnen, die im Erdinnern lebte, und das amerikanische Volk erobern könnte, wenn sie nur wollte, dank seiner Atombombe. Offenbar soll eine Lektion in Bescheidenheit eingehämmert werden, denn die Mitglieder des kommenden Geschlechts erinnern in vieler Hinsicht an die Indianer und sind nicht nur unendlich viel stärker an Gestalt und weiter in ihrem Gesichtskreis als die Menschen auf der Oberfläche der Erde, sondern sie haben abnehmbare Flügel, mit denen sie aus Fenstern fliegen und in der Luft tanzen können.

Der erste Kontakt des amerikanischen Reisenden mit dieser Rasse von Übermenschen ruft in ihm einen Zustand fieberhaften Erstaunens hervor, der ihn dazu treibt, seine beflügelten Gastgeber anzugreifen, woraufhin er in den Schlaf hypnotisiert wird und mehrere Wochen in diesem Zustand bleiben muß. Als er wieder aufwachen darf, bemerkt er, daß seine Gastgeber, dank ihrer wunderbaren Kräfte, seine Sprache gelernt und ihm ihre beigebracht haben, und es findet ein Informationsaustausch über die Welten über und unter der Erde statt. Die Bewohner der unterirdischen Welt zeigen dieselbe Verachtung für die Menschheit, der der Reisende angehört, wie Gullivers Houyhnhnms, und sie verbieten ihm, von der Welt über der Erde zu sprechen, denn sie fürchten, er könnte sie ins Verderben stürzen.

Nachdem die Sprachschwierigkeiten überwunden sind, kann der Reisende vollständig mit der Zivilisation des kommenden Geschlechts bekannt gemacht werden. Seine erste Entdeckung ist, daß sie Vril benutzen, dessen erstaunliche Fähigkeit er schon am eigenen Leibe erfahren hatte:

... Mit einer Operation von Vril können sie Temperaturschwankungen beeinflussen — einfacher gesagt, das Wetter; mit anderen Operationen, ähnlich denen, die Mesmerismus, Elektrobiologie, odischer Kraft usw. zugeschrieben, jedoch von Vril-Führern wissenschaftlich angewandt werden, können sie Einfluß auf Seelen, tierische und pflanzliche Körper ausüben... Diese Flüssigkeit kann zum mächtigsten Mittel über alle anderen Formen der belebten und unbelebten Materie erhoben und gebändigt werden. Sie kann zerstören wie ein Blitzschlag; anders angewandt jedoch kann sie Leben kräftigen und stärken, heilen und bewahren...

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Mit diesem Mittel bahnen sie sich den Weg durch die härtesten Substanzen und öffnen fruchtbare Täler durch die Felsen ihrer unterirdischen Wildnis. Ihm entnehmen sie das Licht, das ihre Lampen versorgt, und sie finden es beständiger, weicher und gesünder als die anderen entflammbaren Materialien, die sie vorher benutzten.

 

Durch die Entdeckung von Vril hat sich die gesellschaftliche Organisation der unterirdischen Nation, in deren Besitz es sich befindet, vollständig umgeformt. Nicht die gesamte unterirdische Bevölkerung hat Kenntnis von Vril und der Anwendung seiner Kräfte, sondern nur gewisse Gemeinschaften, die sich Vrilya nennen, daß heißt die zivilisierten Nationen, und die sich natürlich gegenüber solchen Nationen, die das Geheimnis von Vril nicht entdeckt haben, in einer überlegenen Stellung befinden. Bei den zivilisierten Nationen blieb das Geheimnis nicht in den Händen der Regierungen, sondern gelangte in den Besitz des ganzen Volkes und hatte die Abschaffung der Regierungen, wie wir sie kennen, und einen vollkommenen Wandel der Gesellschaftsstruktur zur Folge:

Die Wirkungen der vermeintlichen Entdeckung des Mittels, um die noch schrecklichere Kraft von „Vril" zu lenken, waren vor allem bemerkenswert wegen ihres Einflusses auf die Gesellschaftspolitik. Als diese Wirkungen allgemein bekannt und geschickt angewandt wurden, gab es keinen Krieg mehr zwischen den Vril-Entdeckern, denn sie brachten die Kunst der Zerstörung zu einer solchen Vollkommenheit, daß sie alle Überlegenheit an Zahl, Disziplin und militärischem Geschick zunichte machte. Das Feuer in der Höhlung eines Stabes konnte, gelenkt von einer Kinderhand, die stärkste Festung zerstören oder sich seinen brennenden Weg von der Vorhut bis zur Nachhut eines in Schlachtordnung aufgestellten Feindes bahnen. Wenn zwei Armeen aufeinander trafen und beide über dieses Mittel verfügten, konnte das nur die Auslöschung beider bedeuten. Das Zeitalter des Krieges war deshalb vorüber, doch mit der Beendigung des Krieges traten andere Wirkungen auf den Gesellschaftsstaat in Erscheinung. Der Mensch stand so vollständig in der Gnade des Menschen, da jeder, auf den er traf, ihn auf der Stelle umbringen konnte, wenn er wollte, daß alle Vorstellungen von Gewaltregierungen nach und nach aus politischen Systemen und Gesetzesformen verschwanden. Nur durch Gewalt können riesige Gemeinwesen, die auf große räumliche Entfernungen verteilt sind, zusammengehalten werden; doch nun bestand weder die Notwendigkeit der Selbsterhaltung noch des Stolzes auf die Vermehrung, der früher einen Staat wünschen ließ, anderen an Bevölkerungszahl überlegen zu sein.

Die Vril-Entdecker haben sich somit im Laufe von einigen Generationen friedlich in Gemeinschaften von bescheidener Größe aufgespalten. Der Stamm, unter den ich gefallen war, war auf 12.000 Familien begrenzt. Jeder Stamm bewohnte ein Territorium, daß für all seine Bedürfnisse ausreichend war, und zu festgesetzten Zeiten machte sich die überschüssige Bevölkerung auf, um sich ein eigenes Gebiet zu suchen. Es bestand nie die Notwendigkeit willkürlicher Auslese dieser Emigranten; immer gab es eine ausreichende Anzahl, die freiwillig gingen.

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Die Vrilnationen werden von einer wohlwollenden Autokratie regiert, doch die Rolle des Magistrats und des Rates der Weisen besteht nur in der Verwaltung und der Förderung der wissenschaftlichen Entwicklung:

Diese einzigartige Gemeinschaft wählte einen einzigen obersten Magistrat mit dem Titel Tür; nominell blieb er auf Lebenszeit im Amt, doch bei den ersten Anzeichen des Alters konnte ihm in seltenen Fällen der Rücktritt nahegelegt werden. In dieser Gesellschaft gab es in der Tat nichts, was irgendeines ihrer Mitglieder dazu hätte bringen können, nach den Sorgen des Amtes zu streben. Keine Ehren, keine Insignien höheren Ranges waren ihm zugedacht. Der oberste Rat unterschied sich nicht von den übrigen durch bessere Wohnung oder Einkünfte.

Andererseits waren die Pflichten, die von ihm erwartet wurden, wunderbar leicht und einfach, und erforderten keinen höheren Grad an Energie oder Intelligenz. Da keine Kriege zu befürchten waren, gab es keine Armeen zu unterhalten; da es keine Gewaltregierung war, brauchte keine Polizei aufgestellt und geleitet zu werden. Was wir Verbrechen nennen, war den Vril-ya gänzlich unbekannt; und es gab keine Gerichte der Kriminaljustiz. Die seltenen Fälle von bürgerlichen Streitigkeiten wurden zur Schlichtung Freunden übergeben, die von jeder der Parteien gewählt wurden, oder vom Rat der Weisen entschieden. Es gab keine professionellen Anwälte; und in der Tat waren ihre Gesetze nichts als freundschaftliche Übereinkünfte, denn es gab keine Macht, die einem Übeltäter Gesetze aufzwingen konnte, der in seinem Stab die Macht trug, seine Richter zu vernichten. Es gab Gebräuche und Regelungen, die einzuhalten die Leute sich seit längerer Zeit schweigend gewöhnt hatten; oder wenn in einem Fall einem Individuum die Einhaltung schwer fiel, verließ er die Gemeinschaft und ging anderswo hin. Man kann sagen, in diesem Staat war stillschweigend der gleiche Pakt geschlossen worden, wie wir ihn in unseren privaten Familien finden, indem wir möglicherweise zu irgendeinem unabhängigen, erwachsenen Mitglied der Familie, das wir aufnehmen und aushalten, sagen: „Bleib oder geh, je nach dem, ob dir unsere Sitten und Regelungn gefallen oder nicht." Doch obwohl es keine Gesetze gab, wie wir sie kennen, ist kein irdisches Geschlecht so gesetzestreu. Die Beachtung der Regeln, die von der Gemeinschaft angenommen wurden, ist zu einem Instinkt geworden, als wäre er von Natur aus angeboren.

 

Eigentum und Geld sind nicht abgeschafft worden, doch sie verleihen keine politischen oder gesellschaftlichen Vorteile:

Armut ist unter den Ana (das ist der Name der großen Menschheitsfamilie, der diese unterirdische Bevölkerung angehört) ebenso unbekannt wie das Verbrechen: es gibt zwar kein gemeinschaftliches Eigentum, und es sind auch nicht alle gleich im Umfang ihres Besitzes und der Größe und dem Luxus ihrer Wohnungen: doch es gibt keinen Unterschied von Rang und Stellung zwischen den Stufen des Reichtums und der Wahl des Berufs, jeder folgt seinen eigenen Neigungen, ohne Neid oder Wetteifer hervorzurufen; die einen lieben eine bescheidene, die anderen eine prächtigere Lebensart; jeder wird auf seine Weise glücklich. Und da es keinen Wettbewerb gibt und der Bevölkerungszahl eine Grenze gesetzt ist, kann eine Familie kaum ins Elend stürzen; es gibt keine halsbrecherischen Spekulationen, keine Konkurrenten, die nach größerem Reichtum und höherer Macht streben.

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 Zweifellos ist allen Einwohnern jeder Siedlung ursprünglich der gleiche Anteil an Land zugeteilt worden: doch einige, die wagemutiger waren als andere, hatten ihren Besitz weiter in die angrenzende Wildnis ausgedehnt oder hatten die Fruchtbarkeit ihrer Felder verbessert oder waren in Handel oder Gewerbe eingetreten. Somit waren notwendigerweise einige reicher geworden als andere, doch niemand war vollkommen verarmt, und niemandem mangelte es an irgendetwas, das er begehrte. Wenn dies so war, stand es immer in ihrer Macht, auszuwandern oder im schlimmsten Fall ohne Scham und mit der Gewißheit der Hilfeleistung zu den Reichen zu gehen; denn alle Mitglieder der Gemeinschaft betrachteten sich als Brüder einer liebevollen, geeinten Familie.

 

Die Ana legen großen Wert auf wissenschaftlichen Fortschritt und haben ihr „Haus Salomon", doch, vielleicht um sich an der viktorianischen Verachtung für weibliche intellektuelle Fähigkeiten zu rächen, besetzt Lytton es fast ausschließlich mit Frauen:

Die Hauptsorge des obersten Magistrats war die Verbindung zu gewissen aktiven Ministerien, die mit der Verwaltung spezieller Einzelheiten beauftragt waren. Die wichtigste und wesentlichste dieser Einzelheiten war die ausreichende Versorgung mit Licht. Ein anderes Ministerium, welches das Auswärtige genannt werden mag, stand in Verbindung mit befreundeten Nachbarstaaten, vor allem zum Zweck der Ermittlung neuer Erfindungen; und einem dritten Ministerium wurden all diese Erfindungen und Verbesserungen der Maschinerie zur Prüfung übergeben. Verbunden mit diesem Ministerium war das Kollegium der Weisen — ein Kollegium, das vor allem von den verwitweten und kinderlosen Ana und den jungen unverheirateten Frauen bevorzugt wurde... Von den weiblichen Professoren dieses Kollegiums werden jene Studien, die für den geringsten Nutzen im praktischen Leben erachtet werden — wie spekulative Philosophie, die Geschichte vergangener Zeiten und solche Wissenschaften wie Insektenkunde, Muschelkunde usw. — umso sorgfältiger gepflegt... Doch die Forschungen der Weisen sind nicht auf solche spitzfindigen und vornehmen Studien beschränkt. Sie umfassen verschiedene andere, wichtigere Gebiete und vor allem die Eigenschaften von Vril, für deren Erkenntnis die feinere Organisation ihrer Nerven die weiblichen Professoren außerordentlich geeignet macht. Aus diesem Kollegium wählt sich der Tür, der oberste Magistrat, Berater, deren Zahl auf drei begrenzt ist, in den seltenen Fällen, wenn ein neues Ereignis oder ein neuer Umstand sein eigenes Urteilsvermögen verblüfft.

 

Das Problem der Arbeit, das die utopischen Schriftsteller immer sehr beschäftigt hat, wird hier einfach gelöst durch den ausgiebigen Gebrauch von Maschinerie, und Roboter, die ein vertrauter Zug in späteren Utopien sind, haben hier ihren ersten Auftritt als Diener des Menschen. Langweilige, unangenehme oder gefährliche Arbeit wird überraschenderweise von Kindern ausgeführt. Die Idee, Kinder die schmutzige Arbeit machen zu lassen, ist offensichtlich von Fourier entlehnt, der meinte, daß die destruktiven Instinkte und die Vorliebe für Schmutz, die bei vielen Kindern beobachtet werden, einem nützlichen Zweck zugeführt werden sollten, indem man ihnen Arbeit gibt, für die die Natur sie bestens ausgestattet hat.

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In Fouriers Phalanxen sind Kinder, die in Kleinen Horden organisiert sind, immer um drei Uhr morgens auf den Beinen, säubern die Ställe, versorgen die Tiere, arbeiten in den Schlachthöfen... Eine Pflicht der Kleinen Horden ist die gelegentliche Reparatur der Landstraßen, das heißt, die tägliche Instandhaltung der Straßendecke, und sie achten darauf, daß kein giftiges Reptil, Schlange oder Viper neben den Hauptstraßen zu sehen ist.

 

In Lyttons Utopie verrichten die Kinderbanden all diese Aufgaben und noch einiges mehr; tatsächlich wird die meiste Arbeit von ihnen verrichtet, da Kinder ihrer Meinung nach aktiver sind als Erwachsene, doch ihre Arbeit ist immer leichter Natur, denn sie können die Maschinerie und Vril benutzen.

Die Maschinerie wird in unfaßbarem Ausmaß bei allen Arbeitsoperationen, drinnen und im Freien, angewandt, und sie ist der unaufhörliche Gegenstand des Ministeriums, welches mit ihrer wirkungsvollen Erweiterung beauftragt ist. Es gibt keine Klasse von Arbeitern oder Knechten; alle benötigten Kräfte zur Bedienung und Kontrolle der Maschinen findet man in den Kindern, von der Zeit an, da sie aus der Fürsorge ihrer Mütter entlassen werden bis zum heiratsfähigen Alter, das sie für die Gyei (die Frauen) mit sechzehn, für die Ana (die Männer) mit zwanzig Jahren ansetzen. Diese Kinder werden zu Banden und Sektionen unter ihren eigenen Häuptlingen zusammengeschlossen, und jedes verrichtet die Aufgaben, die ihm am angenehmsten sind oder für die es sich am geeignetsten fühlt. Einige ergreifen ein Handwerk, einige die Landwirtschaft, einige die Hausarbeit und einige die einzig gefährlichen Dienste, denen die Bevölkerung ausgesetzt ist; denn die einzigen Gefahren, die diesen Stamm bedrohen, sind erstens gelegentliche Erschütterungen im Erdinnern, die vorherzusehen und zu überwachen ihre äußerste Genialität erfordert — Feuer- und Wassereinbrüche, die Stürme der unterirdischen Winde und entweichende Gase. An den Grenzen des Staatsgebietes und an allen Orten, wo solche Gefahren beobachtet werden könnten, sind zivile Wachen stationiert mit telegraphischer Verbindung zu dem Saal, wo gewählte Gelehrte reihum ständige Sitzungen abhalten. Diese Wachen werden immer aus der Gruppe der älteren Jungen kurz vor der Pubertät ausgesucht nach dem Grundsatz, daß in diesem Alter die Beobachtungsgabe schärfer und die körperlichen Kräfte reger sind als in jedem anderen. Der zweite, weniger schwierige, gefährliche Dienst ist die Vernichtung aller Kreaturen, die dem Leben, der Kultur oder auch nur der Bequemlichkeit der Ana schädlich sind. Die furchtbarsten sind riesige Reptilien, von denen antediluvianische Relikte in unseren Museen erhalten sind, und gewisse Geschöpfe mit gewaltigen Flügeln, halb Vogel, halb Reptil. Den Jungen ist es überlassen, diese und andere weniger wilde Tiere, ähnlich unseren Tigern oder Giftschlangen, zu jagen und zu vernichten; denn die Ana meinen, daß hier Unbarmherzigkeit erforderlich ist, und je jünger ein Kind ist, desto unbarmherziger vernichtet es.

 

Fourier gab seinen Kleinen Horden nur eine sehr geringe Belohnung, da die Kinder seiner Meinung nach die unangenehme Arbeit aus patriotischem Eifer und Hingabe an die Gesellschaft verrichten; er betrachtete sie als philantropische Gruppen, die Reichtümer verachten und sich widerwärtiger Arbeit hingeben, die sie als ehrenvolle Aufgabe verrichten.

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Lytton ist großzügiger ins Umgang mit Kindern; sie erhalten eine hohe Entlohnung, und wenn sie erwachsen werden, haben sie genügend Kapital angehäuft, um den Rest ihres Lebens müßig und nach ihren Wünschen zu verbringen:

Ich sagte, daß alle menschliche Arbeit, die der Staat erfordert, von Kindern bis zum heiratsfähigen Alter verrichtet wird. Für diese Arbeit zahlt der Staat, und zwar unermeßlich viel mehr als unser Arbeitslohn in den Vereinigten Staaten. Nach ihrer Theorie sollte jedes Kind, männlich oder weiblich, bis zum Eintritt in das heiratsfähige Alter und der Beendigung der Arbeitsperiode genügend für ein unabhängiges Auskommen auf Lebenszeit erworben haben. Denn, wie verschieden auch immer der Reichtum ihrer Eltern sein mag, so müssen doch alle Kinder gleichermaßen dienen und werden somit alle gleichermaßen bezahlt, je nach ihrem Alter und der Natur ihrer Arbeit. Wenn die Eltern oder Freunde ein Kind in ihren eigenen Diensten behalten wollen, müssen sie in den öffentlichen Fonds im selben Verhältnis einzahlen, wie der Staat den von ihm beschäftigten Kindern auszahlt; und diese Summe wird dem Kind ausgehändigt, wenn seine Dienstzeit abgelaufen ist. Dieses Vorgehen dient zweifellos dazu, die Vorstellung sozialer Gleichheit vertraut und annehmbar zu machen.

 

Die Stellung der Frauen ist ungewöhnlich, denn die Frauen dieser unterirdischen Nation sind körperlich stärker als die Männer und auch geschickter im Umgang mit Vril. Wenn sie wollten, könnten sie die gesamte männliche Bevölkerung vernichten, doch dies wäre nur zu ihrem Nachteil, und niemals stellen sie ihre überlegenen Kräfte auch nur zur Schau, aus Angst, die Männer könnten daran Anstoß nehmen und ihnen en masse davonlaufen. Die Frauen wachen eifersüchtig über ihr Recht, ihre zukünftigen Ehemänner zu wählen und ihnen den Hof zu machen, doch wenn sie erst einmal mit den Männern ihrer Wahl verheiratet sind, tun sie alles in ihrer Macht Stehende, um ihnen zu gefallen und gehorchen ihnen sogar, nicht aus moralischer Pflicht, sondern weil sie feststellen, daß dies das beste Mittel ist, ihre Ehemänner bei der Stange zu halten. Dies ist um so notwendiger angesichts der Tatsache, daß die Ehegesetze Männer und Frauen nur für eine begrenzte Zeitspanne aneinander binden. Als dieser Roman erschien, muß die freizügige Art, mit der Lord Lytton Geschlechterbeziehungen, Ehe und Scheidung behandelte, höchst unmoralisch erschienen sein (wenn er überhaupt ernst genommen wurde), doch es ist amüsant, wie ähnlich die Stellung seiner unterirdischen Frauen der Stellung englischer und amerikanischer Frauen heutzutage ist.

Die Amoralität, die in dem Buch an den Tag gelegt wird, erinnert mehr an unsere moderne Einstellung als an die des neunzehnten Jahrhunderts, als strenge moralische Grundsätze und eine ungeheure Liebe zur Humanität in Mode waren. Lytton redet nicht von Naturrechten oder dem Naturgesetz, sondern erklärt, daß es müßig ist, von Rechten zu sprechen, wenn es keine entsprechenden Mächte gibt, sie durchzusetzen. Dieses Axiom, das vor allem im politischen Leben so verbreitete Anwendung findet, wird in unserer Gesellschaft selten offen zugegeben. Die Ethik des kommenden Geschlechts gründet sich andererseits eindeutig auf Macht: gegenüber Menschen derselben Rasse, die ihresgleichen sind, verhalten sie sich brüderlich, denn sie haben alle die Fähgkeit, Vril zu benutzen, doch sie haben keine Bedenken, Barbaren zu töten, d.h. Menschen, die den Gebrauch von Vril nicht entdeckt haben und nicht in der Lage sind, sich zu verteidigen.

In dieser Hinsicht sind sie den nicht utopischen zivilisierten Nationen bemerkenswert ähnlich, die einen gewissen Verhaltenskodex gegenüber anderen mächtigen Nationen haben und einen vollkommen anderen gegenüber den rückständigen Völkern.

Weniger überzeugend ist Lord Lyttons Theorie, daß es der beste Weg zur Vermeidung von Konflikten ist, wenn jeder sich bis zu den Zähnen bewaffnet. Diese optimistische Ansicht ist oft von Waffenfabrikanten geäußert worden, aus erklärlichen Gründen, und auch Philosophen äußerten bei der Entdeckung der Atombombe z.B. die wohl aus dem Wunsch entstandene Ansicht, daß, wenn jede Nation in der Lage wäre, sie herzustellen, niemand so selbstmörderisch sein würde, davon Gebrauch zu machen, und daß die Welt das Ende der Kriege erleben würde. Leider kann man aus bisherigen Erfahrungen den Schluß ziehen, daß es auch bei einem gewissen Gleichgewicht der Kräfte immer Menschen gibt, die bereit sind, ihr Leben und das der anderen aufs Spiel zu setzen.

Das kommende Geschlecht ist die Art von utopischem Roman, die jeder wissenschaftliche Sozialist nur mit der größten Verachtung betrachten kann, wenn überhaupt einer von ihnen solch kleinbürgerliche Literatur liest. Sicherlich ist es ein merkwürdiger Versuch, gewisse sozialistische Grundsätze mit einem laissez-faire Kapitalismus zu verbinden.

Von William Godwin, der auf Lytton in seiner Jugend beträchtlichen Einfluß ausübte, entlehnte er wahrscheinlich die Konzeption einer staatslosen Gesellschaft, die sich aus einer Föderation kleiner, unabhängiger Gemein­schaften zusammensetzte, und von Fourier einige seiner Ideen bezüglich Arbeit, der Beibehaltung von Profiten und seine großzügige Einstellung gegenüber Müßiggängern.

Das Ergebnis widerstreitender Einflüsse ist eine Gesellschaft, wo Gleichheit als Grundsatz anerkannt wird, wo jedoch aus Kapital Profite gezogen werden und wo deshalb weiterhin Ausbeutung herrscht; wo Reichtümer keine Macht verleihen und niemals korrumpieren; wo es keine Regierung gibt, die die Interessen der privilegierten Klasse vertritt. Doch dies ist ein utopischer Roman und Inkonsequenzen sind de rigueur  — trotzdem, oder gerade deswegen, ist Das kommende Geschlecht weniger stumpfsinnig als die meisten wissenschaftlichen Utopien des neunzehnten Jahrhunderts.

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