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   Teil 4  -  Utopien der Aufklärung  

  Foigny       Diderot 

 

163-190

Während die Utopien der englischen Revolution sich hauptsächlich mit ökonomischen und politischen Problemen beschäftigen, behandeln die des späten 17. und des 18. Jahrhunderts vor allem philosophische und religiöse Fragen. Vor allem in Frankreich nahm diese utopische Literatur die vielfältigsten und originellsten Formen an. Der Mangel an intellektueller Freiheit unter der absolutistischen Monarchie zwang die Verfasser, ihre Ideen in der Gestalt des phantastischen Romans zu verbergen. Viele dieser Utopien erheben nicht den Anspruch, ein vollständiges System für ein ideales Gemeinwesen zu sein; die gesell­schaftliche Organisation wird nur grob skizziert und liefert nur den Hintergrund für die Diskussion nonkonformistischer Ideen.

Die revolutionären Einflüsse der Renaissance und die Reformation hatten das Denken der Menschen auf konkrete Probleme der Gesellschafts­reform gelenkt, doch mit der Konsolidierung der Nationalstaaten, seien sie nun protestantisch oder katholisch, wäre es müßig gewesen, von Gesellschaftsreform zu reden. Es gab jedoch einen Vorwand, wie man Verhältnisse und Regierungen anprangern und lächerlich machen konnte, indem man nämlich irgendein phantastisches Land oder sogar einen Planeten benutzte. 

In Frankreich wurde die Mode der satirischen Phantasiereisen von Cyrano de Bergerac eingeleitet, dessen Hauptwerke zwischen 1657 und 1662 veröffent­licht wurden. Sie waren ein heftiger Angriff gegen die Religion, insbesondere den Katholizismus, als Grundpfeiler der Monarchie. Ungefähr siebzig Jahre später benutzte Swift eine ähnliche Form, die Gesellschaft seiner Zeit zu kritisieren, und er wurde seinerseits in Frankreich nachgeahmt, wo Gullivers Reisen sofort übersetzt worden waren.

So sehr man jedoch versucht sein mag, diese satirischen Werke zu untersuchen, können sie hier nicht aufgenommen werden, denn sie sind gerade das Gegenteil eines idealen Gemeinwesens. Gelegentlich finden wir in Swifts Reise ins Land der Houyhnhnms die ideale Gesellschaft des Autors kurz umrissen, doch diese Beschreibungen dienen vor allem dazu, die Dummheit und Schlechtigkeit der gegenwärtigen Welt herauszustellen.

Die französischen Utopien des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts sind stark von Thomas Morus beeinflußt. Die Institutionen seiner Utopia werden im allgemeinen wenig verändert auf einen anderen Schauplatz übertragen, doch die Diskussion der philosophischen und religiösen Ideen, die sich oft durch ihre Kühnheit auszeichnen, nimmt weit größeren Raum ein.

Andererseits ist die langweiligste französische Utopie des siebzehnten Jahrhunderts zweifellos die Histoire du Grand Admirable Royaume d'Antangil*. Sie erschien 1617 und wurde als erste französische Utopie bezeichnet. Der Verfasser, der bis heute anonym geblieben ist, entlehnte praktisch all seine Ideen von Morus und ist wie dieser sehr großzügig in Fragen der Religion. Er muß ein Militarist gewesen sein, denn fünfzehn Kapitel seines Buches sind der Organisation der Polizeigewalt gewidmet.

* Antangil bedeutet himmlische Gnade. (Anm. d. Hrsg.)


Die Historie der neugefundenen Völker* von Denis Veiras, deren beide erste Bände 1675 in Englisch erschienen, die fünf französischen Bände wurden zwischen 1677 und 1679 in Paris veröffentlicht, ist ebenfalls in großem Ausmaß von Morus Utopia beeinflußt, enthalt jedoch einige gewagte philosophische Ideen und einen heftigen Angriff gegen den Offenbarungsglauben. Denis Veiras, oder mit seinem selbst verherrlichten Namen, Veiras d'Alais, wurde in einer protestantischen Familie geboren, und nachdem er Recht studiert und das Erbe seines Vaters durchgebracht hatte, kam er nach London, wo er offenbar in der englischen Gesellschaft Erfolg hatte, denn er wurde mit Buckingham, Arlington und Halifax in einer diplomatischen Mission nach Den Haag entsandt. Als er nach London zurückkehrte, schrieb er den ersten Teil der Historie der neugefundenen Völker, wahrscheinlich in Englisch, das er offenbar gut beherrschte.**

Ein Jahr vor seinem Erscheinen mußte er London verlassen, nachdem er bei Buckingham und Arlington in Ungnade gefallen war. Er kehrte nach Paris zurück, wo er seine Histoire des Sevarambes*** vollendete. Die ersten vier Bände erschienen mit dem königlichen Privileg, während der letzte Band, der die heftigsten Angriffe gegen die Religion enthält, ohne offizielle Genehmigung veröffentlicht wurde.

Die Utopie des Claude Gilbert, eines Anwalts aus Dijon, erlebte ein weniger glückliches Schicksal. Seine <Histoire de Caiejava> (oder Die Insel der Vernünftigen) wurde 1700 gedruckt, doch ehe noch ein einziges Exemplar verkauft war, vernichtete der Verfasser aus Angst vor Verfolgung die gesamte Auflage mit Ausnahme eines einzigen Exemplars, das er für sich selbst behielt. Wie Veiras' Utopie ist Claude Gilberts Geschichte vor allem interessant wegen ihrer Ideen bezüglich der Religion.

Diese Utopien sind sowohl vom gesellschaftlichen als auch vom religiösen Gesichtspunkt her bedeutsam, vor allem, wenn man berücksichtigt, unter welchem Regime sie verfaßt wurden, doch im ganzen gesehen ahmen sie zu sehr Morus' Utopia nach, als daß es sich lohnte, Auszüge daraus in diesem Abschnitt zu zitieren. Eine Ausnahme wurde im Fall von Gabriel de Foignys idealem Land der Australier gemacht, denn er ist origineller und wagemutiger als seine Zeitgenossen.

Obwohl die utopischen Schriftsteller dieser Epoche sehr vorsichtig waren und ihre Ideen unter dem Mantel des phantastischen Romans versteckten, mußten sie sich vor Verfolgung schützen und druckten ihre Bücher im Ausland oder mit falschem Impressum. Die Utopien gehören zur Geheimliteratur jener Zeit, und die Tatsache, daß ihre Verfasser im allgemeinen protestantischen Ursprungs waren, muß sie doppelt verdächtig gemacht haben. 

*  In Deutsch erstmals 1689 erschienen. (Anm. d. Hrsg.)
**  Während seines Aufenthalts in London hatte er Colonel Scott kennengelernt, den Sohn des Königsmörders Thomas Scott, ein ehemaliger Führer der Rundköpfe in Holland und Verbündeter von Aphra Behn während ihrer Karriere als Spionin. Veiras fungierte als sein Sekretär. Später trug Scott offenbar dazu bei, Pepys in das papistische Komplott zu verwickeln. Pepys zahlte hohe Geldsummen, um seine Verteidigung vorzubereiten und Zeugen zu finden, die seinen Ankläger diskreditieren könnten, und Veiras sagte gegen seinen ehemaligen Gönner aus. Pepys schrieb an Veiras, dankte ihm für seine Aussage und forderte ihn auf, weiterhin in Englisch zu schreiben, da er diese Sprache so gut wie seine eigene beherrschte.
***  In Deutsch: Reise nach dem Land der Sevaramben oder Geschichte der Staatsverfassung, Sitten und Gebräuche der Sevaramben. Göttingen und Itzehoe 1717 (Anm. d. Hrsg.)

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Auch Fenelons <Telemaque>*, der 1699 veröffentlicht wurde und zur angeseheneren Gattung gehört, da er von einem Erzbischof zur Erbauung des zukünftigen Königs von Frankreich geschrieben wurde, hatte zur Folge, daß sein Verfasser in Ungnade fiel. Wahrscheinlich hätte Ludwig XIV. keine Einwände gegen die Beschreibung der idyllischen Länder La Betique und Salente gehabt, wo die Menschen ein arbeitsames und bescheidenes Leben führten, wo Gold zu Pflügen geschmiedet wurde und Krieg unbekannt war, doch die verschleierte Kritik gegen seine Herrschaft konnte ihn nicht gleichgültig lassen. Fenelon kritisiert Ludwig XIV. aus genau den gleichen Gründen wie Morus Heinrich VIII. — seine Kriegsleidenschaft, seine Luxusliebe und die Vernachlässigung der Landwirtschaft, was die bäuerliche Bevölkerung zu einem Leben in äußerster Armut verdammte, während das Land die Hauptquelle des Reichtums der Nation hätte sein können.

 

Während des 18. Jahrhunderts wurden Utopien immer beliebter, und es gibt kaum einen Winkel auf der Erde, der nicht einen Schauplatz für ein ideales Gemeinwesen abgegeben hätte. Der Baron de Lahontan führt uns nach Nordamerika, die Reisen und Abenteuer des Francois Leguat auf die ostindischen Inseln, Tyssot de Patot, der unorthodoxe Mathematiklehrer an der berühmten Schule von Daventer, erzählt von den Abenteuern eines „Hochwürden Pere Cordelier" in Grönland. Wir werden auf eine Insel von Kriegerinnen oder nach Ägypten versetzt, und selbstverständlich bleibt Australien äußerst beliebt (die verschiedenen idealen Gemeinwesen, die angeblich in Australien existierten, würden allein eine ganze Anthologie füllen). Die Memoiren des Gaudencio di Lucca von seinen Reisen in ein unbekanntes Land mitten in der afrikanischen Wüste, 1746 veröffentlicht, sind vermutlich ein Bericht an die Väter der Inquisition zu Bologna, die ihn verhafteten. Und wenn die Welt zu klein wird, um die ständig wachsende Anzahl von Utopien zu beherbergen, werden die idealen Gemeinwesen in eine andere Welt oder in die Zukunft, wie bei L.S. Mercier, verlegt.

Wir finden auch eine ganze Literatur, die mit den Utopien viele Wesenszüge gemeinsam hat, die jedoch eher ideale Familien oder ideale kleine Gemeinschaften beschreibt als ganze Gemeinwesen, und die ihre ursprüngliche Inspiration aus der Geschichte von Robinson Crusoe bezog. Während Defoe eine Einmann-Utopie geschaffen hatte, ließen seine ehrgeizigeren Nachahmer einen Mann und eine Frau oder eine ganze Schiffsbesatzung auf einer einsamen Insel Schiffbruch erleiden, und diese gründeten dort eine ideale Familie oder eine ideale Gemeinschaft. 

Auf diese Weise versuchten sie, den Ursprung und die Formation der Gesellschaft zu rekonstruieren. L'Isle Inconnue gehört zu diesem Typ des Romans. Der Autor hat, mit den Worten des Verlegers, in diesem Werk „das Vorbild unschuldiger Liebe, das Vorbild ehelicher Liebe, das Vorbild der Hauswirtschaft, das Vorbild vollkommener Erziehung, das Vorbild guter Sitten, das Vorbild einer bäuerlichen Gemeinschaft, das Vorbild einer wohlgeordneten Gesellschaft" geschaffen.

* Deutsch: Die seltsamen Begebenheiten des Telemach, in einer auf die wahre Sitten- und Staats-Lehre gegründeten, angenehmen und sinnreichen Heldengeschichte, 1733. - Anm. d. Hrsg.

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Die rein mythischen edlen Wilden, wie sie von Jean-Jacques Rousseau und Bernardin de St. Pierre beschrieben werden, bevölkerten viele Utopien des achtzehnten Jahrhunderts; andere versuchten, in von der Zivilisation unberührten Ländern die „echten Wilden" zu entdecken. Im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert boten die noch kaum bekannten Kontinente Amerika und Australien nur einen Schauplatz, wohin London oder Paris verpflanzt werden konnten. Im achtzehnten Jahrhundert beginnen diese Länder, ein eigenes Leben zu führen, und die Gebräuche der Leute, die Reisende und Missionare dort entdeckten, sind in die Rahmenhandlung der Utopien eingebettet. 

Wir stellen auch fest, daß, während frühere Utopien versucht hatten, eine Gesellschaft darzustellen, wo vollkommene Gleichheit herrschte, viele nun um die Schaffung einer freien Gesellschaft bemüht sind. Die Einwohner von Diderots Tahiti zum Beispiel kennen weder Regierung noch Gesetze. Utopien hatten für ausreichend Nahrung und Kleidung, angenehme Häuser und gute Erziehung gesorgt, doch dafür hatten sie die vollständige Unterwerfung des Individuums unter den Staat und seine Gesetze gefordert; nun strebten sie vor allen Dingen nach Freiheit von Gesetzen und Regierungen.

Vor allem in sexuellen Beziehungen forderte das achtzehnte Jahrhundert größere Freiheit. Angefangen bei Plato hatten Utopisten immer großes Interesse an sexuellen Fragen gezeigt, jedoch immer unter eugenischen und moralischen Gesichtspunkten, und sie hatten strenge Gesetze empfohlen, die die Ehen den Interessen des Staates oder der Religion unterordneten. Auch die französischen Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts hatten lebhaftes Interesse an Fragen der Sexualität, doch sie waren weit davon entfernt, sexuelle Beziehungen nur als ein Mittel zur Reproduktion zu betrachten; für sie war Sexualität ein Genuß per se, und sie wandten sich heftig gegen die Restriktionen, die die religiöse Moral ihnen auferlegte. Ebenso wie sie versuchten, sich von dem geistigen Zwang der Religion zu befreien, so wollten sie auch den sexuellen Moralkodex umstürzen. Diese Revolte drückte sich zum Teil in den erotischen Gedichten und Romanen aus, die viele nicht für unter ihrer Würde hielten zu schreiben.

 

Wir werden sehen, wie Diderot zeigte, daß der primitive Mensch frei von religiösen und moralischen Gesetzen ein glückliches Leben führte, wo Luxus, Eigentum und monogame Ehe unbekannt sind. Kein Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts hat vielleicht deutlicher als Marquis de Sade die Unmöglichkeit ausgedrückt, Religion und anerkannten Moralkodex mit der Freiheit in Einklang zu bringen. In Philosophie im Boudoir stellte er die Grundsätze auf, die den Bürger eines freien Staates leiten sollten. Während viele Utopien versucht hatten, die Ideen der Gleichheit mit dem christlichen Glauben in Einklang zu bringen, glaubte Sade, daß es keine Gleichheit geben könnte, so lange die Menschen nicht das Joch der Religion abgeworfen hätten, und er rief die Franzosen auf, sich ihre Freiheit selbst zu erringen:

O ihr, die ihr die Axt in den Händen habt, versetzt dem Baum des Aberglaubens den letzten Schlag; begnügt euch nicht damit, seine Zweige zu lichten: entwurzelt nur ganz und gar eine Pflanze, deren Wirkungen so ansteckend sind; seid absolut überzeugt davon, daß euer System der Freiheit und Gleichheit den Dienern an Christi Altären allzu offenbar zuwiderläuft, als daß je auch nur ein einziger es bona fide übernähme, wenn es ihm gelänge, wieder einige Gewalt über die Gewissen zu bekommen...

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Vernichtet also für immer all das, was eines Tages euer Werk zerstören könnte. Bedenkt, da die Frucht eurer Mühen erst euren Enkeln zufallen wird, daß es eure Pflicht, euer Anstand verlangen, ihnen keinen einzigen der gefährlichen Keime zu lassen, die sie wieder in das Chaos stürzen könnten, aus dem wir uns so mühsam herausarbeiten. Schon verschwinden unsere Vorurteile, schon schwört das Volk den katholischen Hirngespinsten ab; es hat schon die Tempel abgeschafft, es hat die Idole umgestürzt, es gilt, daß der Eheschluß nur noch ein ziviler Akt ist; die zerbrochenen Beichtstühle dienen in öffentlichen Räumen; die angeblichen Gläubigen entlaufen dem apostolischen Mahl und überlassen die Götter aus Mehl den Mäusen. Franzosen, haltet nicht inne: ganz Europa, eine Hand schon an der Binde, die seine Augen blendet, erwartet von euch die Anstrengung, welche sie ihr von der Stirne reißen soll. Beeilt euch: laßt nicht dem heiligen Rom, das schon allerorten tätig ist, um eure Energie zu brechen, die Zeit, sich vielleicht noch ein paar Proselyten zu bewahren. Schlagt ohne Schonung sein hochmütiges und zitterndes Haupt, und ehe zwei Monate vergehen, wird der Baum der Freiheit, die Trümmer des Stuhls von Sankt Peter beschattend, mit dem Gewicht seiner siegreichen Zweige all jene verächtlichen Idole des Christentums verdecken, die einst über der Asche der Cato und Brutus errichtet wurden.

Dieser Aufruf an die Franzosen wurde 1795 verfaßt, als das alte Regime schon vernichtet war, jedoch nicht die Ideen, auf denen dieses Regime sich gründete. Sade erkannte sehr deutlich, daß es nicht ausreichte, die Regierungsform zu ändern, um zur Freiheit zu gelangen, sondern daß auch die alten Vorstellungen überwunden werden mußten:

Ja, Bürger, die Religion paßt nicht in das System der Freiheit; ihr habt es gespürt. Nie wird sich der freie Mensch vor den Göttern des Christentums beugen; nie werden seine Dogmen, nie seine Riten, seine Mysterien und seine Moral einem Republikaner angemessen sein. Noch eine kleine Anstrengung; da ihr euch alle Vorurteile zu zerstören bemüht, laßt keines überleben, wenn es nur eines einzigen bedarf, sie alle wieder zurückzubringen. Um wieviel sicherer müssen wir ihrer aller Rückkehr sein, wenn das, welches ihr leben laßt, tatsächlich die Wiege aller anderen ist! Hören wir auf zu glauben, die Religion könne dem Menschen nützlich sein. Wir wollen gute Gesetze haben, und dann werden wir ohne Religion auskommen... von jenem märchenhaften Schöpfer eines sich selbst bewegenden Universums wollen wir nichts mehr wissen; wir wollen keinen Gott ohne räumliche Ausdehnung mehr, der dennoch alles mit seiner Unendlichkeit erfüllt, keinen allmächtigen Gott mehr, der jedoch nie tut, was er will, kein Wesen von höchster Güte mehr, das jedoch nur Unzufriedene erschafft, kein ordnungsliebendes Wesen mehr, in dessen Herrschaft jedoch alles in Unordnung ist. Nein, wir wollen keinen Gott mehr, der die Natur stört, der Vater der Verwirrung ist, der den Menschen bewegt, wenn der Mensch Schandtaten vollbringt; ein solcher Gott läßt uns vor Empörung schaudern, und wir stoßen ihn für immer ins Vergessen, aus dem der infame Robespierre ihn hat hervorholen wollen...

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Franzosen, ihr werdet die ersten Schläge tun; eure Volkserziehung wird das übrige erledigen; doch greift diese Aufgabe unverzüglich an; laßt sie zu einer eurer wichtigsten Sorgen werden; vor allem sollte ihr jene wesentliche Moral zugrundeliegen, die in der religiösen Erziehung so stark vernachlässigt worden ist. Ersetzt die vergötternden Torheiten, mit denen ihr die jungen Organe eurer Kinder ermattet, durch hohe soziale Prinzipien; statt ihnen das Hersagen sinnloser Gebete beizubringen, die sie sich mit spätestens sechzehn Jahren vergessen zu haben rühmen werden, belehre man sie über ihre Pflichten in der Gesellschaft; bringt ihnen bei, Tugenden zu lieben, von denen ihr ihnen früher kaum gesprochen habt und die ihnen, ohne eure religiösen Fabeln, zu ihrem individuellen Glück genügen; laßt sie spüren, daß dieses Glück darin besteht, die ändern ebenso glückselig zu machen, wie wir selbst es zu sein trachten.

Während wiederum die meisten Utopisten annahmen, die einzige Aufgabe der Ehe wäre, dem Naturgesetz zufolge, die Reproduktion, erblickte Sade in der Befriedigung körperlicher Liebe eine natürliche Handlung, die nicht an förmliche Ehe oder Vorurteile gebunden sein darf:

Umsonst sollen die Frauen zu ihrer Verteidigung Schamhaftigkeit oder ihre Zuneigung zu anderen Männern ins Feld führen; diese trügerischen Mittel sind nichtig; wir haben oben gesehen, welch künstliches und verächtliches Gefühl die Scham ist. Die Liebe, die man Wahnsinn der Seele nennen kann, besitzt auch keine besseren Rechte, den Widerstand der Frauen zu legitimieren; da sie nur zwei Individuen, das liebende und das geliebte Wesen, befriedigt, kann sie nicht dem Glück der anderen dienen, und es geschah doch zum Glück aller und nicht eines egoistischen und privilegierten Glücks wegen, daß uns die Frauen gegeben wurden. Alle Männer haben also ein gleiches Recht auf den Genuß aller Frauen; nach den Gesetzen der Natur gibt es daher keinen Mann, der ein persönliches und einmaliges Recht an einer Frau beanspruchen kann...

Wenn wir annehmen, wie wir es eben getan haben, daß alle Frauen unseren Begierden unterworfen werden müssen, können wir ihnen gewiß auch gestatten, ihre eigenen weidlich zu befriedigen; unsere Gesetze müssen in diesem Punkte ihr feurigeres Temperament begünstigen, und es ist absurd, daß man ihre Ehre sowohl als ihre Tugend in die wider­natürliche Anstrengung eingesetzt hat, die sie aufbieten, um jenen Neigungen zu widerstehen, die ihnen in ungleich größerem Maße zuteil geworden sind als uns; dieses Unrecht in den Sitten ist um so schreiender, als wir zugleich ihrer Schwächung mittels der Verführung zustimmen und sie hernach dafür bestrafen, daß sie all unseren Anstrengungen, sie zu Fall zu bringen, nachgegeben haben. Die ganze Absurdität unserer Sitten liegt, so scheint mir, in dieser ungerechten Abscheulichkeit, und allein ihre Darlegung müßte uns begreifen lassen, wie überaus dringend es wäre, sie gegen reinere zu vertauschen.

Ich sage deshalb, daß die Frauen, da sie viel ungestümere Neigungen zu den Freuden der Wollust empfangen haben als wir, ihnen sollen frönen können, soviel sie wollen, absolut ungebunden durch jegliche Ehebande und falsche Vorurteile der Schamhaftigkeit; ich will, daß die Gesetze ihnen erlauben, sich soviel Männern hinzugeben, wie ihnen beliebt; ich will, daß ihnen genau wie den Männern der Geschlechtsgenuß mit allen Geschlechtern und allen ihren Körperteilen erlaubt

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werde; und unter der besonderen Bedingung, daß sie sich selbst allen hingeben, die dies begehren, müssen sie die Freiheit erhalten, all jene zu genießen, die sie für würdig befinden, sie zu befriedigen.

Eine neue Regierung, sagt Sade, macht neue Sitten notwendig, denn

es ist unmöglich, daß der Bürger eines freien Staates sich wie der Sklave eines despotischen Königs aufführt... eine Vielzahl kleiner Irrtümer, kleiner sozialer Delikte, welche unter der Regierung der Könige als sehr wesentlich angesehen wurden, werden hier nichtig... andere Missetaten, unter dem Namen Königsmord oder Sakrileg bekannt, werden in einem republikanischen Staat ebenfalls zunichte, da dessen Regierung weder Könige noch Religion mehr kennt.

Gesetze, fährt Sade fort, sind unmenschlich, weil sie die Motive menschlichen Handelns nicht berücksichtigen können. Sie müssen darum so milde wie möglich sein, und in seiner Verfassung würde es keine Todesstrafe geben:

Aus diesen ersten Prinzipien folgt, wie man spürt, die Notwendigkeit, milde Gesetze zu erlassen und vor allem für immer die Abscheulichkeit der Todesstrafe abzuschaffen... weil das Gesetz, seinem Wesen nach kalt, keinerlei Zugang zu den Leidenschaften haben kann, die im Menschen die grausame Handlung des Tötens rechtfertigen mögen; der Mensch erhält von der Natur die Impulse, die diese seine Handlung verzeihlich machen können, das Gesetz hingegen, immer im Gegensatz zur Natur und nichts von ihr empfangend, darf nicht ermächtigt werden, sich dieselben Verirrungen zu leisten: da es nicht dieselben Motive hat, kann es unmöglich die gleichen Rechte haben...

Der zweite Grund für die Abschaffung der Todesstrafe liegt darin, daß diese nie das Verbrechen verhindert hat, denn man begeht es ja sogar angesichts des Schafotts. Diese Strafe muß, kurz gesagt, abgeschafft werden, weil es keine schlechtere Rechnung gibt als die, einen Menschen dafür sterben zu lassen, daß er einen anderen getötet hat, weil doch dieses Verfahren offensichtlich dazu führt, daß statt eines Menschen gleich zwei weniger auf der Welt sind, und eine solche Rechnung dürfte wohl nur Henkern und Dummköpfen einleuchten...

 

Während die Schriften von Foigny, Diderot und Sade mit der utopischen Tradition brechen, indem sie der Freiheit des Individuums große Bedeutung zumessen, wollen Mably und Morelly dagegen die Gleichheit der Menschen herbeiführen, die, wie sie versichern, in der Natur begründet liegt, und sie fordern einen strengen Gesetzeskodex und Institutionen, deren Ziel es ist, die Menschen wahrhaft gleichzumachen. Sie verurteilen das Eigentum als den Ursprung allen Übels und des Unglücks der Menschheit und fordern, daß der Staat Eigentümer aller Dinge sein soll und sie nach Bedarf an die Bürger verteilen soll. Dies waren im achtzehnten Jahrhundert geläufige Vorstellungen und erklären die Popularität, derer sich die Werke Mablys und, in geringerem Ausmaß, Morellys erfreuten.

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In den Theorien des Abbé Gabriel de Bonnot de Mably gibt es nur wenig auffallend Originelles. Er war ein Jurist, der sich schon als junger Mann aus dem öffentlichen Leben zurückzog, um sich dem Studium und dem Verfassen unzähliger Bücher zu widmen. Seine Utopie, wie er sie in seiner Abhandlung über die Rechte und Pflichten der Bürger beschreibt, ist die von Sir Thomas Morus:

Ich werde euch nun eine meiner Schwächen offenbaren. Nie las ich eine Reisebeschreibung von einer einsamen Insel, wo der Himmel blau und das Wasser klar ist, ohne das Verlangen, dorthin zu gehen und eine Republik zu errichten, wo alle gleich sind, alle reich sind, alle arm sind, alle frei sind und unser oberstes Gesetz ist, daß nichts Privat­eigentum sein darf. Wir brächten die Früchte unserer Arbeit in die öffentlichen Magazine: das wäre unser Staatsschatz und das Erbteil jedes Bürgers. Jedes Jahr wählten die Familienväter die Verwalter, deren Aufgabe es wäre, die Güter an jeden einzelnen nach seinen Bedürfnissen zu verteilen und ihnen die Arbeit, die die Gemeinschaft erfordert, zuzuweisen.

 

Eigentum, Ungleichheit und die Liebe zum Reichtum, behauptet er immer wieder, sind der Fluch der Menschheit:

Ungleichheit ist erniedrigend und sät Zwietracht und Haß, sie ruft nationale und Bürgerkriege hervor. Eigentum ist die Hauptursache allen Unglücks der Menschheit...

Je mehr ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich, daß Ungleichheit der Güter und Bedingungen den Menschen zersetzt und das natürliche Gefühl seines Herzens verändert...

Reichtum bewirkt Not und ist das feigste aller Laster, oder Luxus, der den Reichen alle Laster der Armut gibt und den Armen die Habgier, die sie nur durch Verbrechen und niedrigste Gemeinheiten befriedigen können; Wollust ist eine Folge des Reichtums, und während sie die Seelen der Reichen schwächt, so daß sie zu jeder Großmut unfähig werden, stürzt es das Volk ins Elend und macht es grausam oder dumm.

 

Es ist nicht wahr, behauptet Mably, daß Eigentum arbeitswillig macht; die Menschen arbeiten besser, wenn alle Güter gemeinsam sind, und eine „übereinstimmende Idee" beflügelt sie. Anreize jedoch könnten bestimmte Ehren oder Auszeichnungen für den besten Arbeiter sein.

Wie J.J. Rousseau glaubte Mably, daß der Mensch von Natur aus gut ist und daß nur die menschliche Klaviatur durch­einander­geraten sei. Ebenfalls wie Rousseau glaubte er aber nicht, daß es möglich wäre, das Privateigentum abzuschaffen und zu einem goldenen Zeitalter vollkommener Gleichheit zurückzukehren. Diese Gütergemeinschaft, sagt n, kann wegen der Verderbtheit der Sitten auf dieser Welt nur eine Schimäre sein... es wäre unmöglich, heutzutage eine solche Republik zu errichten, und er stellt ein paar schüchterne Reformen bezüglich Erbschaft, Handel, Steuer usw. auf. Offenbar erkannte er jedoch, daß Revolutionen in einigen Fällen gerechtfertigt waren, denn er sagte: Den Bürgerkrieg als in jedem Fall ungerechtfertigt zu betrachten, ist eine Lehre gegen die 'bonnes moers' und das allgemeine Wohl.

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Wie so viele Denker seiner Zeit verband Mably den absoluten Glauben an die Güte der menschlichen Natur mit einer Verehrung für die griechische Antike, Plato und vor allem Plutarch, die an Vergötterung grenzte. Diese Denker sahen nicht, wie inkonsequent es war, ihre idealen Konzeptionen auf dem Sparta des Lykurgos oder Platos Republik zu gründen, Systemen, die auf Sklaverei basierten und auch den Bürgern eine strenge Hierarchie auferlegten.

 

Morellys Das Gesetzbuch der Natur (Code de la Natur ou le Verkable Esprit de ses Loix) erschien 1755, im selben Jahr wie Rousseaus Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit (Discours sur l'Origine et les Fondements de l'Inégalité parmi les Hommes) und wiederholt die allgemeingültigen Vorstellungen seiner Zeit. Der Mensch ist grundsätzlich gut, doch die auf Privateigentum gründenden Institutionen haben ihn zersetzt. Die Gesellschaft hat die natürliche Harmonie zerstört. Niemand konnte bisher feststellen, wer Morelly war, doch es wird allgemein angenommen, daß er der Verfasser eines Prosagedichtes mit dem Titel La Basiliade war, das 1753 erschien und ähnliche Ideen ausdrückte. Doch wer Morelly auch immer gewesen sein mag, so gibt es kaum Zweifel, daß er sich als Sekretär der Natur betrachtete, denn im letzten Abschnitt seines Gesetzbuch der Natur legte er in allen Einzelheiten die Verfassung einer idealen Gesellschaft gemäß den Naturgesetzen dar.

Nach dem Willen der Natur, so belehrt er uns, sollte die Familie die Einheit der Gesellschaft sein, in der Regierung sollte das Rotationsprinzip durchgeführt werden, Güter sollten in gemeinsamen Magazinen aufbewahrt und verteilt werden, jeder Bürger sollte zwischen dem zwanzigsten und fünfundzwanzigsten Lebensjahr Landarbeit verrichten, Kinder sollten mit fünf Jahren aus dem Haus kommen und öffentlich erzogen werden, strenge Strafgesetze sollten die Durchführung der öffentlichen Pflichten erzwingen. Morelly ist nicht der erste, der an die dem Menschen innewohnende Güte glaubt, doch nachdem er festgestellt hat, daß Gesetzgeber die Menschheit verkehrt haben, stellt er einen ebenso rigiden Gesetzeskodex auf wie jene Herrscher der Gesellschaft, die er verurteilte.

Sowohl Mably als auch Morelly hatten beträchtlichen Einfluß auf das Denken ihrer Zeit. Mablys bemerkenswertester Anhänger war wahrscheinlich Rousseau, während Morelly die Ehre zukommt, von Babeuf als der eigentliche Anstifter der Verschwörung der Gleichen bezeichnet worden zu sein. Somit nehmen sie einen bedeutenden Platz in der Geschichte des sozialistischen Gedankens ein, doch als Utopisten haben sie nur wenig Neues und Originelles beigetragen.

 

   

  Gabriel de Foigny —  Eine neue Entdeckung der Terra Incognita Australis  

 

Gabriel de Foigny ist vielleicht nicht der repräsentativste Utopist der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts, doch ihm gebührt das Verdienst, eine originelle und unterhaltende Utopie geschrieben zu haben, und seine Lebensgeschichte illustriert, was einem ungläubigen Utopisten widerfährt, wenn er in der Idealstadt eines christlichen Utopisten lebt und dort sein Werk publiziert.

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Wir haben gesehen, wie Andreaes Christianopolis nach dem Modell der Stadt Calvins geformt wurde, und wir werden nun sehen, wie fünfzig Jahre später Foigny aus Genf, wo er Les Aventwes de Jacques Sadeur schrieb, ausgewiesen wurde, wo zweifellos immer noch jener satanische Geist herrschte, gegen den sowohl Calvin als auch Andreae einen unbarmherzigen Kampf geführt hatten. Es war nicht Foignys einziges "Verbrechen", seine Utopie verfaßt zu haben, und zu seinem Glück waren die Gesetze von Genf zu dieser Zeit auf eine liberalere Linie eingeschwenkt, denn sonst hätte er für sein schlechtes Betragen teuer zahlen müssen.

Gabriel de Foigny wurde ungefähr 1630 in einem kleinen Dorf in den Ardennen als Sohn einer katholischen Familie geboren. Er erhielt eine gute Erziehung und trat anschließend in ein Kloster des Ordens der Cordeliers ein, wo er dank seiner Rednergabe ein Prediger wurde. Aufgrund seines skandalösen Betragens jedoch mußte er den Orden bald verlassen und die Kutte ablegen. Das Leben in Frankreich wurde schwierig für ihn, und er beschloß, sowohl das Land als auch die Religion zu wechseln. 1666 ging er vollständig verarmt nach Genf und war sehr darauf bedacht, eine Aufenthaltsgenehmigung in der Stadt zu bekommen. Nachdem das Konsistorium, bestehend aus Geistlichen und Stadtältesten, seinen Glauben und Charakter überprüft hatte, nahm es seine Bekehrung zum "wahren Glauben" an, und er durfte bleiben.

Es dauerte nicht lange und die ehrenwerten Bürger von Genf hatten allen Grund, ihre Entscheidung zu bedauern und die Beweggründe seiner Bekehrung mit Argwohn zu betrachten. Das Konsistorium erhielt Berichte seines skandalösen Betragens, und nachdem er mehrere Dienstmädchen verführt, ein Heiratsversprechen gebrochen und die Absicht geäußert hatte, eine Witwe, die in schlechtem Ruf stand, zu heiraten, wurde er aus Genf ausgewiesen.

Von dort ging er nach Lausanne und dann nach Bern, wo er ein kärgliches Leben führte und wo er durch einen glücklichen Zufall Magister an der Universität von Morges wurde. In der Zwischenzeit hatte er die verrufene Witwe geheiratet und hätte sich wahrscheinlich zu einem friedlichen Familienleben niedergelassen, wäre er nicht auf den unglücklichen Gedanken gekommen, eine Schrift über die Anziehungskraft des Gottesdienstes zu verfassen. Er zeigte Freunden das Manuskript, und vermutlich kam es einigen Mitgliedern des Konsistoriums zu Gesicht, die es von papistischem Geist beeinflußt befanden: ihr Mißtrauen gegen Foigny wuchs, und es wurden Versuche unternommen, ihn von seinem Posten zu entfernen. Foigny selbst versorgte sie bald mit einer guten Gelegenheit, denn zu seinen übrigen Ordnungswidrigkeiten kam noch die Trunkenheit, und eines Tages hielt er in der Kirche unter Alkoholeinfluß einen Gottesdienst ab und übergab sich vor dem Altar.

Er mußte die Universität verlassen und schaffte es anschließend, nach Genf zurückzukehren, wo er sich bemühte, die Gemüter der Konsistoriumsmitglieder und der Ehrenwerten Gesellschaft zu besänftigen, indem er die Psalmen von Marot und Beze neu herausgab. Doch er fügte ihnen einige eigene Ansichten und Gebete hinzu, und man befand sie mit dem Geruch papistischer Abgötterei behaftet; der Verkauf des Buches wurde deshalb verboten und alle Exemplare beschlagnahmt, um sie in die öffentliche Bibliothek zu stellen.*

* Frederick Lachevre bemerkt in seiner Biographie über Foigny, die ich hier benutzt habe, dies bedeutete in Wirklichkeit, daß die Bücher vernichtet wurden, und das geschah tatsächlich so gründlich, daß weder die Bibliothek von Genf noch die des Consistoire ein Exemplar dieser Psalmenmeditation besitzen.

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Es scheint, daß Foigny nach dieser Erfahrung alle Hoffnung aufgegeben hatte, jemals ein guter Schweizer Bürger zu werden, und er fing an, 

Sehr curiöse Reise-Beschreibung durch das neu-entdeckte Südland. In welcher Die Sitten und Gewohnheiten dieser Völcker / ihre Religion/Studio, Arten Krieg zu führen / sonderbare und nie gehörte Thiere / so in diesem Lande angetroffen werden / samt allen, was sonst merckwürdig / und zwar in Französisch durch Jacques Sadeur (by Johann Jacob Wincklern, 1704)** (Les Aventures de Jacques Sadeur dans la Dicouverte de la terre Australe) 

zu schreiben, oder mit dem englischen Titel A new Discovery of Terra Incognita Australis, das 1676 veröffentlicht wurde. Foigny machte sich keine Illusionen bezüglich der Anerkennung des Buches und fragte weder um Erlaubnis, es zu veröffentlichen noch setzte er seinen Namen darunter, während der Genfer Drucker La Pierre das Impressum eines vermeintlichen Jacques Verneuil, Drucker in Vannes in Frankreich, beifügte.

Sobald das Buch erschien, zeigte die Ehrenwerte Gesellschaft, die Calvin als Wächter über die Moral der Stadt geschaffen hatte, ein lebhaftes Interesse und bat die Professoren der Theologie, es zu lesen und einen Bericht vorzulegen. Zwei Professoren der Genfer Akademie prüften das Buch und teilten der Ehrenwerten Gesellschaft mit, daß es voller Ausschweifungen und Unwahrheiten, ja sogar gefährlich, schändlich und blasphemisch sei. Sie wandten sich vor allem gegen die Kapitel, die Sitten und Religion der Australier behandelten.

Foigny wurde vor die Ehrenwerte Gesellschaft geladen. Er bestritt, der Verfasser des Buches zu sein und erzählte eine wenig überzeugende Geschichte, wie das Manuskript in seine Hände gekommen wäre. Er behauptete auch, die Erlaubnis zur Veröffentlichung des Buches von einem Syndikus erhalten zu haben, der zufällig vor ein paar Wochen gestorben war. Drei Monate lang untersuchte und diskutierte die Ehrenwerte Gesellschaft den Fall Foigny und schließlich wurden er und sein Drucker ins Gefängnis gesteckt. Als Foigny vor den Richtern erschien, gestand er, der Autor des Buches zu sein, bat die Richter jedoch um Gnade und wurde gegen Bürgschaft freigelassen. Er nutzte seine Freiheit, um die Unterstützung mehrerer Konsistoriums­mitglieder und des ersten Richters zu gewinnen, und die Angelegenheit blieb unentschieden in der Schwebe.

Wir können seinen weiteren Aufenthalt in Genf und seine neuerlichen Mißgeschicke hier nicht weiter behandeln, obwohl sie uns einen interessanten Einblick in die Sitten der Stadt Genf jener Zeit bieten. Gegen Ende seines Lebens ging Foigny zurück nach Frankreich und zur römisch katholischen Kirche, nahm ein Dienstmädchen mit (das er verführt hatte) und diejenigen seiner Kinder, die die Einwohner von Genf ihm nicht hatten abspenstig machen können. Er verbrachte die letzten Jahre im Kloster, wo er 1692 starb.

** In vollständiger und ungekürzter Ausgabe: „Die Abenteuer des Jacques Sadeur", Karin Kramer Verlag 1982

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Obwohl Gabriel de Foignys Utopie erbaulicher ist als sein Leben, ist es nicht überraschend, daß sich die Genfer Theologen darüber entsetzten. Seine Ansichten über Religion waren wirklich blasphemisch und er greift in der Tat sämtliche Grundlagen der Religion an. Die Australier glauben nicht an die Lehre von der Offenbarung, denn sie finden es absurd, daß Gott einigen seiner Geschöpfe den Vorzug vor anderen geben sollte. Sie machen sich lustig über den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele, welcher unlogisch ist, weil er zuläßt, daß die Toten zur nächsten Welt reisen können, während die Lebenden das nicht können, und das würde bedeuten, daß die Toten mehr Bewegungsfreiheit haben als die Lebenden, was ein Widerspruch ist. 

Gebete sind eine gedankenlose Handlung; zu beten bedeutet anzunehmen, daß Gott unsere Wünsche nicht kennt, und das ist blasphemisch; wenn wir glauben, daß er sie kennt, sie uns aber nicht erfüllen will, sind wir nicht fromm, und wenn wir meinen, er ist gleichgültig, begehen wir eine Gotteslästerung. Gott ist jenseits unseres schwachen Fassungsvermögens, und man kann ihm keine festen Eigenschaften geben; man kann nur seine Existenz bestätigen. Doch sogar die Annahme, daß ein Wissen von Gott möglich ist, würde nur dazu dienen, uns auseinanderzubringen und uns unglücklich zu machen.

Die Australier glauben an Gott, doch sie erwähnen ihn nie; ihre Religion ist, nicht von Religion zu sprechen. Sie haben keine Priester, und die Leute versammeln sich, um zu meditieren und nicht, um zu beten. Die Religion ist somit aller üblichen Eigenschaften und Funktionen beraubt und wird zum Deismus des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts.

Foigny nimmt auch die Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts vorweg in seinem Glauben an die der menschlichen Natur innewohnende Güte. Der Mensch wird nicht böse geboren, wie es die christliche Religion lehrt, sondern frei, vernünftig und gut. Einige Kritiker haben Foignys Utopie als Paradies vor dem Sündenfall beschrieben, doch es wäre richtiger zu sagen, daß er nicht an die Erbsünde glaubte, die er offensichtlich für eine Erfindung der Religion hielt.

Da die Australier gut und frei geboren sind, brauchen sie ebensowenig eine Regierung wie die Religion. Sie versammeln sich, um die Angelegenheiten der Gemeinschaft zu besprechen, doch sie haben keine geschriebenen Gesetze und keine Herrscher. Selbstverständlich haben sie kein Privateigentum und kennen noch nicht einmal den Unterschied zwischen mein und dein. Die Familie kann die Einheit der Gemeinschaft nicht bedrohen, denn sie existiert nicht.

Sexuelle Beziehungen sind überhaupt abgeschafft, und hier wird Foignys Gedankengang ziemlich merkwürdig. Die Australier sind eine Nation von Hermaphroditen (oder wäre es genauer zu sagen Androgynen?); sie frönen nicht dem Geschlechtsverkehr, und Kinder werden auf geheimnisvolle Art und Weise geboren. Erfand Foigny diese geschlechtslose Rasse, um, wie Herr Lachevre vermutet, die Diskussion eines Themas zu vermeiden, bei welchem seine Ansichten die Ehrenwerte Gesellschaft entsetzt hätten? Dies scheint unwahrscheinlich, denn er hat keine Hemmungen zu „schockieren", wenn er Jacques Sadeurs Gefühle den anderen Hermaphroditen gegenüber beschreibt. Vielleicht wollte Foigny nur die christliche Haltung der Sexualität gegenüber verspotten.

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Wenn sexuelle Beziehungen nur dem Zweck der Reproduktion dienen dürfen, warum sie dann nicht überhaupt abschaffen! Die Geheimnistuerei, mit der die Australier den Akt der Fortpflanzung umgeben, der Abscheu, mit dem sie sexuelle Beziehungen betrachten, ist dem der Calvinisten, unter denen Foigny lebte, nicht unähnlich. Es ist jedoch merkwürdig, wie viele Utopien geschlechtslose Gesellschaften vorgestellt werden. In Platos Republik ist die Liebe zwischen Männern und Frauen auf die bloße eugenische Funktion zurückgeführt, Swifts Houyhnhnms betrachten sexuelle Beziehungen mit demselben Abscheu wie Foignys Australier; bei den Einwohnern von Hudsons Das Kristallzeitalter (Th Crystal Age) kennen Männer und Frauen nur geschwisterliche Gefühle zueinander, während in Schöne neue Welt (Brave New Worid) von Aldous Huxley dieselbe Gleichgültigkeit durch einen Prozess der Übersättigung erreicht worden ist.

Les Aventures de Jacques Sadeur erschienen in einer englischen Übersetzung in London 1693; die Titelseite beschreibt sie als:

Eine 
neue Entdeckung
der
Terra Incognita Australis 
oder der Südwelt
von 
James Sadeur, einem Franzosen
der

nach einem Schiffbruch dort angespült wurde und 35 Jahre in jenem Land lebte und uns eine genaue Beschreibung der Sitten, Gebräuche, Religion, Gesetze, Studien und Kriege jenes Südvolks gibt: und einiger an diesem Ort vorkommender Tiere: nebst weiterer Raritäten.

 

Das Imprimatur war von Charles Hern, und es wurde im Zeichen des Raben im Geflügelhof für John Dunton gedruckt, der berüchtigt war für seine literarischen Enten, wie zum Beispiel die Herausgabe der Protokolle einer Athenischen Gesellschaft, die niemals existiert hatte. Er war wahrscheinlich verantwortlich für die Verzierung der Titelseite mit folgendem Zusatz: Diese Memoiren wurden für so seltsam erachtet, daß sie im Klosett des letzten großen Staatsministers geheimgehalten und bisher, bis zu seinem Tod, niemals veröffentlicht wurden.

Die Übersetzung wurde anhand der zweiten französischen Ausgabe gemacht, die im Jahre 1692, ein Jahr nach Foignys Tod, mit dem königlichen Privileg (und amtlicher Genehmigung) herausgegeben wurde. Diese Ausgabe unterscheidet sich beträchtlich von der ersten und ist viel kürzer, und es ist nicht bekannt, ob Foigny für diese Veränderungen verantwortlich war.

Die folgenden Zitate sind dieser englischen Ausgabe von 1693 entnommen. Die Rechtschreibung ist auf den neueren Stand gebracht und einige Übersetzungsfehler sind korrigiert worden. Gelegentlich sind. einige Passagen der ersten Ausgabe in Klammern eingefügt.

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Die Version, die mit königlicher Genehmigung erschien, ist sehr viel anständiger als die andere, die mit falschem Impressum in Genf veröffentlicht wurde, und um den gelehrten Theologen der Ehrenwerten Gesellschaft gerecht zu werden, ist es notwendig, einige Passagen zu zitieren, über die sie sich so entsetzten.

Der erste Teil des Buches handelt von den Abenteuern des Jacques Sadeur in vielen Ländern der Welt und erst der zweite Teil ist Australien gewidmet. Der australische Kontinent beherrschte die Nachrichten der Zeit, als Foigny sein Buch schrieb, und er scheint von Die Beziehung des Ferdinand de Quiros zum König von Spanien inspiriert worden zu sein, das in lateinischer Sprache 1612 oder 1613 und in Französisch 1617 erschien. Entsprechend dem Vorwort Foignys beschreibt de Quiros Australien als ein Land, fruchtbarer und bevölkerungsreicher als irgendeines in Europa; die Einwohner wären größer und kräftiger als die Europäer und lebten viel länger.

Jacques Sadeur, der die Geschichte erzählt, hatte eine bewegte Kindheit; er wurde während einer Seereise geboren, und jedesmal, wenn er wieder zur See fuhr, traf ihn ein" größeres Mißgeschick. Weiterhin wurde sein Leben dadurch erschwert, daß er ein Hermaphrodit war. Diese Besonderheiten kamen ihm jedoch bei seiner Ankunft in Australien zustatten, wie er selbst beschreibt:

Wenn irgendetwas in der Welt mich von der unausweichlichen Schicksalhaftigkeit alles Menschlichen, dem unfehlbaren Eintritt jener Ereignisse, der Kette, aus der sich das Schicksal der Menschheit zusammensetzt, überzeugen könnte, so wäre es sicherlich diese Geschichte, die ich nun aufschreibe; es gibt nicht einen einzigen Zufall in meinem Leben, der mir in diesem neuen Land, in welches die Fügung mich gesandt hat, nicht unmittelbar dienlich gewesen wäre oder mir geholfen hätte. Meine häufigen Schiffbrüche lehrten mich, sie zu ertragen: beide Geschlechter waren notwendig für mich, denn sonst wäre ich bei meiner Ankunft vernichtet worden, wie ich im Verlauf meiner Geschichte zeigen werde. Es war mein großes Glück, daß ich nackt gefunden wurde, andernfalls wäre ich sofort als Fremder erkannt worden in einem Land, wo niemand Kleidung trägt; ohne jenen schrecklichen Kampf, in dem ich mich gegen die Riesenvögel behaupten mußte und der mich bei jenen in hohes Ansehen brachte, die sein Zeuge wurden, hätte ich mich einer Prüfung unterziehen müssen, deren unausweichliche Folge mein Tod gewesen wäre. Je eingehender man also all die Umstände meiner Reisen und Abenteuer betrachtet, desto deutlicher will es scheinen, daß es eine gewisse Ordnung im Schicksal des Menschen gibt und eine solche Kette von Wirkungen, die niemand verhindern kann, die uns nach tausend undurchschaubaren Wendungen schließlich zu dem Ziel bringt, zu dem wir bestimmt sind.

Bei den Einwohnern dieses Landes ist es Sitte, niemanden bei sich aufzunehmen, dessen Temperament, Geburt und Heimatland sie nicht vorher kennen: doch aufgrund des außergewöhnlichen Muts, mit dem sie mich hatten kämpfen sehen, und der großen Bewunderung, die sie für meine anschließende Wiederherstellung faßten, ließen sie mich ohne irgendeine Untersuchung in das benachbarte Wohngebiet, wo jedermann kam, um mir die Hände (und die Schamteile) zu küssen.

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Sie hätten mich auch auf den Häuptern getragen, das äußerste Zeichen höchster Wertschätzung, das sie je einem Menschen erweisen; doch da sie erkannten, daß es mir unangenehm wäre, unterließen sie diese Zeremonie.

Nach meinem Empfang trugen mich jene, die mich gebracht und erquickt hatten, zum Haus des Heb, was bedeutet, ein Haus der Erziehung und Bildung; sie gaben mir eine Unterkunft und alles Notwendige mit einer Sorgfalt, die die Höflichkeit der gesittetsten Europäer überstieg.

 

Die Beschreibung des Landes verrät unmißverständlich den Einfluß von Sir Thomas Morus, während Foigny bei der Beschreibung der Gebäude und Wohnungen wahrscheinlich an das Kloster dachte:

Noch viel erstaunlicher im australischen Reich ist dies, daß man weit und breit keinen Berg sieht;die Eingeborenen haben sie alle eingeebnet... dieses große Land ist eben, ohne Wälder, Sümpfe und Wüsten und überall gleichmäßig besiedelt... Ein weiteres Wunder ist die erstaunliche Gleichförmigkeit der Sprachen, Sitten, Gebäude und anderer Dinge, die man in diesem Land vorfindet. Die Kenntnis eines Wohnbezirks genügt, um ein sicheres Urteil über alle übrigen fällen zu können; all dies entspringt zweifellos der Natur der Leute, die alle mit der Neigung geboren sind, nichts Gegenteiliges zu wollen als die anderen; und sollte es vorkommen, daß irgendjemand irgendetwas Ungewöhnliches besitzt, so wäre es ihm unmöglich, davon Gebrauch zu machen.

In diesem wunderlichen Land gibt es fünfzehntausend Seizains. Jede Seizain umfaßt sechzehn Wohnbezirke, das Hab und die vier Hebs nicht mitgerechnet; in jedem Wohnbezirk gibt es fünfundzwanzig Häuser, und jedes Haus hat vier Wohnungen für je vier Personen; somit gibt es in jeder Seizain vierhundert Häuser und sechstausendvierhundert Personen, die, wenn man sie mit den fünfzehntausend Seizains multipliziert, die Zahl der Einwohner des ganzen australischen Landes ergeben, also ungefähr 96 Millionen, die Jugendlichen und die Lehrer in den Hebs, in denen je mindestens achthundert Personen wohnen, nicht mitgerechnet; und da es in fünfzehntausend Seizains sechzigtausend Hebs gibt, beträgt die Anzahl der jungen Leute und der Lehrer, die sie unterrichten, ungefähr achtundvierzig Millionen.

Das große Haus der Seizain, das sie das Hab nennen, das bedeutet das Haus der Erhabenheit, ist nur aus gläsernen, durchsichtigen Steinen erbaut, wie unsere feinsten Kristalle, nur sind diese Steine belebt mit einer erstaunlichen Anzahl von zierlichen und lebendigen Figuren aller Farbschattierungen, die in ihrer unendlichen Vielfalt einmal menschliche Gestalten, ein anderes Mal die Felder in all ihrer Schönheit und wieder ein anderes Mal Sonnen und andere Figuren mit solcher Lebendigkeit darstellen, daß man sie nicht genug bewundern kann. Das ganze Gebäude ist ohne jeglichen Kunstgriff erbaut, bis auf den seltsam geschliffenen Stein, der es ganz umgibt, und große Tafeln von lebendigerem Rot als unser Scharlach.

Es hat vier beträchtlich große Eingänge am Ende von viel; breiten Wegen, die zu ihm hinführen: Überall herrscht eine Fülle von höchst ungewöhnlichen Erfindungen.

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Auf tausend Treppen steigen sie auf die Spitze, auf der sich eine Art Plattform befindet, wo leicht vierzig Personen Platz haben... Niemand lebt ständig dort, doch jeder Wohnbezirk ist einmal an der Reihe, die Tafeln mit genügend Speisen für zwölf Personen zu versehen als Erfrischung für die Vorübergehenden.

Von den gewöhnlichen Häusern, die sie Hiebs nennen, das bedeutet die Wohnungen der Menschen, befindet sich in jedem Wohngebiet eine Anzahl von fünfundzwanzig im Umkreis von achtzig Schritt. Wie die Hebs sind sie von zwei großen Mauern unterteilt, die vier verschiedene Abteilungen bilden, die jeweils eine Wohnung darstellen... Jede Abteilung wird von vier Personen bewohnt, die sie Cle nennen, das bedeutet Brüder. In diesen Gebäuden findet man nichts als vier Sitzgelegenheiten, ähnlich wie Bänke, die ihnen als Ruhestätte dienen, und einige ähnliche Sitzgelegenheiten zum selben Zweck... Eine große Menge Wasser strömt von den Bergen, und die Australier wissen es so genau zu leiten, daß sie seinen Lauf verändert haben und es in genialer Weise in ihren Seizains, Wohngebieten und Wohnungen nutzen, was sehr zur Fruchtbarkeit ihres Bodens beiträgt.

 

Wir kommen nun zur Beschreibung der Australier:

Alle Australier sind beiderlei Geschlechts, oder Hermaphroditen, und wenn es vorkommt, daß ein Kind mit nur einem Geschlecht geboren wird, erwürgen sie es als ein Ungeheuer. Sie sind behende und sehr flink; ihre Haut ist röter als Zinnober; sie sind gewöhnlich acht Fuß groß, haben ein ziemlich langes Gesicht, eine hohe Stirn, vorstehende Augen und einen kleinen Mund, ihre Lippen sind von tiefem Korallenrot, die Nase eher lang als rund und Bart und Haare, die sie niemals schneiden, weil sie nur wenig wachsen, immer schwarz; ihr Kinn ist lang (gespalten) und ein wenig aufwärts gebogen; sie haben einen schlanken Hals und breite, hohe Schultern; ihre Brüste sind sehr klein (ihre Brüste sind rund und vorstehend), sitzen sehr tief und sind ein wenig röter als Zinnober, ihre Arme sind sehnig und ihre Hände ziemlich breit und lang (mit sechs Fingern), sie haben einen gewölbten Brustkorb, doch einen flachen Bauch, der nur wenig hervortritt, wenn sie schwanger sind; sie haben breite Hüften, große Schenkel und lange Beine (und Füße mit sechs Zehen). Sie sind so daran gewöhnt, nackt herumzulaufen, daß der Gedanke, sich zu bekleiden, noch nicht einmal ausgesprochen werden kann, ohne daß sie zu Feinden der Natur und des Verstandes beraubt erklärt werden. An manchen Orten gibt es einige, die an ihren Hüften eine Art Arm haben, dünner doch genauso lang wie die anderen, den sie bei Bedarf ausstrecken können und der stärker ist als die anderen.

Jeder ist verpflichtet, dem Heb mindestens ein Kind zu geben: Doch sie gebären sie auf so verschwiegene Weise, daß es bei ihnen als ein Verbrechen gilt, von den notwendigen Zusammenhängen bei der Fortpflanzung der Menschheit zu sprechen.

In der ganzen Zeit, die ich dort war, konnte ich nie entdecken, wie der Zeugungsakt bei ihnen vor sich ging; ich habe nur beobachtet, daß sie einander mit herzlicher Liebe liebten und daß sie niemanden mehr liebten als einen anderen. Ich kann versichern, niemals Streit und Feindschaften unter ihnen gesehen zu haben.

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Sie kennen nicht den Unterschied zwischen mein und dein, und es gibt eine vollkommenere Aufrichtigkeit und Uneigennützigkeit unter ihnen als zwischen Männern und Frauen in Europa.

Ich habe immer ausgesprochen, was ich dachte; doch ich war wohl ein wenig zu offen, wenn ich ihnen erklärte, daß ich ihre Sitten nicht mochte, manchmal einem Bruder, manchmal einem anderen, auch wenn ich meine eigenen Ansichten mit Argumenten vertrat; von ihrer Nacktheit sprach ich mit bestimmten Ausdrücken der Abneigung, die für sie äußerst beleidigend waren. (Ich versuchte, einen der Brüder zu liebkosen und ihn zu dem zu erregen, was wir Lust nennen.) Eines Tages hielt ich einen Bruder an und fragte ihn im Spaß, doch mit scheinbarem Ernst, wo denn die Väter all jener Kinder wären, die schon geboren waren und nieinte, es wäre doch lächerlich, daß sie aus diesem Punkt ein solches Geheimnis machten. Dieses Gespräch und einige andere ähnlicher Natur erfüllten die Australier mit einer Art Haß gegen mich, und viele von ihnen behaupteten, ich wäre nur ein halber Mensch und beschlossen, daß ich vernichtet werden müßte.

 

Foigny ist der erste, der uns eine Beschreibung einer utopischen Geburt liefert:

Sobald ein Australier empfangen hat, verläßt er seine Wohnung und wird zum Heb getragen, wo er mit außergewöhnlichen Wohltätigkeitsbekundungen empfangen und ernährt wird, ohne dafür arbeiten zu müssen. Sie haben einen bestimmten erhöhten Platz, auf dem sie ihr Kind zur Welt bringen, welches anschließend auf balsamischen Blättern gebettet wird; daraufhin nimmt es die Mutter (oder die Person, die es geboren hat) auf, reibt es mit diesen Blättern ab und gibt ihm zu trinken, ohne den Anschein zu erwecken, daß sie Schmerzen erlitten hat.

Sie brauchen keine Windeln und Wiegen. Die Muttermilch ernährt es so gut, daß es zwei Jahre lang keine weitere Nahrung braucht; und seine Ausscheidungen sind von so geringer Menge, daß man fast sagen kann, es macht keine.

Die Erziehung wird nach streng gleichheitlichen Richtlinien durchgeführt, und das Alter der Schulentlassung ist fünfunddreißig Jahre!

Das viergeteilte Haus, das sie Heb nennen, welches das Haus der Erziehung ist, ist aus demselben Stein erbaut, mit dem das Hab gepflastert ist, bis auf das Dach, welches aus durchsichtigem Stein besteht, welcher das Licht hereinläßt.

Dieses schöne Gebäude wird von zwölf großen Scheidewänden, die wie vier Halbmesser gebildet sind, in vier Bereiche aufgeteilt: es hat einen Durchmesser von ungefähr fünfzig Schritt und ungefähr hundertdreiundfünfzig Schritt Umfang. Jede Unterteilung wird den Jugendlichen desjenigen Wohnbezirks zugewiesen, zu dem sie gehört; und es gibt wenigstens zweihundert Kinder, deren Mütter, sobald sie sie empfangen haben, dorthin kommen und nicht eher wieder weggehen, als bis die Kinder zwei Jahre alt sind, und dann gehen sie hinaus und überlassen sie der Obhut gewisser junger Leute, die sich dort zum Zweck ihrer Unterweisung aufhalten. Von diesen jungen Leuten, die sehr zahlreich sind, unterscheidet man fünf Abteilungen.

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 Die ersten sind dazu da, die ersten Grundsätze zu unterrichten, für die es fünf Lehrer gibt. Die Aufgabe der zweiten ist es, die allgemeine Grundlage der Natur darzustellen, für die es vier Lehrer gibt. Die dritten sind diejenigen, die die Erlaubnis haben, einen Disput zu führen, dafür gibt es zwei Lehrer. Die vierten können komponieren und haben nur einen Meister. Die fünften und letzten sind jene, die darauf warten, zu Leutnants erwählt zu werden, das heißt, den Platz der Brüder einzunehmen, die sich von der Welt zurückziehen.

Sie sprechen im allgemeinen mit acht Monaten, laufen am Ende eines Jahres und werden mit zwei Jahren entwöhnt. Mit drei Jahren fangen sie an, vernünftig zu denken: und sobald die Mutter sie verläßt, lehrt der erste Lehrer der ersten Abteilung sie das Lesen und unterrichtet sie gleichzeitig in den Grundlagen des fortgeschritteneren Wissens. Sie bleiben gewöhnlich drei Jahre unter der Leitung des ersten Lehrers, wechseln dann über in die Schulung des zweiten, der sie schreiben lehrt, bei dem sie fünf Jahre bleiben, und im selben Verhältnis bei den anderen, bis sie fünfunddreißig Jahre alt sind und vollkommen in allen Wissensgebieten, ohne daß man einen Unterschied zwischen ihnen feststellen kann, weder in ihren Fähigkeiten, noch ihrem Geist und ihren Kenntnissen. Wenn sie somit all ihre Studien durchlaufen haben, können sie zu Leutnants erwählt werden, das heißt, den Platz jener einnehmen, die aus diesem Leben scheiden.

Das Problem der Arbeit ist in Australien sehr vereinfacht, denn die Bewohner ernähren sich nur von Früchten, die das ganze Jahr über auf den Bäumen wachsen. Es gibt ein wenig Gartenarbeit zu tun, doch gekocht wird nicht, und da sie keine Kleider tragen und nur wenig Möbel haben, besteht kein Bedarf an Industrie. Sie blicken au/unsere prächtigsten Stoffe und unsere feinsten Seiden wie auf Spinnweben, sie wissen noch nicht einmal, was die Wörter Gold und Silber bedeuten, mit einem Wort, alles, was wir für kostbar halten, erscheint in ihren Augen lächerlich. Die Australier verbringen den ersten Teil des Tages in der Schule oder mit dem Studium der Wissenschaften, den zweiten Teil mit der Arbeit in ihren Gärten, die sie mit solcher Kunstfertigkeit und Geschicklichkeit kultivieren, wie sie in Europa unbekannt sind, und den dritten mit der Ausübung öffentlicher Ämter.

Alle fünf Tage verbringen sie ein Drittel des Tages im Hab in Meditation, wobei sie kein Wort sprechen, darauf achten, daß immer ein Schritt Abstand zwischen zwei Personen besteht, und die ganze Zeit so aufmerksam sind auf das, was sie denken, daß nichts auch nur im geringsten ihre Gedanken ablenken kann.

Wissenschaftliche Forschung und Diskussion spielen eine bedeutende Rolle:

An jenen Tagen, an denen sie nicht ins Hab gehen, müssen sie sich im Heb aufhalten und sich mit den Wissenschaften beschäftigen, was mit einer Ordnung und bewundernswert schlichten Methode geschieht, die in all ihren Teilen vollkommen übereinstimmt. Sie legen der Reihe nach alle ihre Probleme dar, die sie mit überzeugenden Argumenten behaupten, woraufhin sie auf alle Einsprüche antworten, die ihre Widersacher ihnen entgegenbringen. Wenn irgendetwas von Bedeutung dargelegt worden ist, schreiben sie es am Ende des Disputs in das öffentliche Buch, und jedermann überträgt es sorgfältig auch in sein eigenes.

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Wenn irgendjemand etwas weiß, das ihm mißfällt, oder wovon er meint, daß es seinem Land von Vorteil sein könnte, legt er es seinen Brüdern dar, woraufhin sie solcher Art Beschlüsse fassen, die sie für die vernünftigsten halten, ohne dabei an etwas anderes zu denken als an das allgemeine Wohl.

Das letzte Drittel ihres Tages ist für drei sehr unterschiedliche Verrichtungen vorgesehen. Die erste besteht darin, das herzustellen, was sie neu erfunden haben oder die Experimente zu wiederholen, die sie schon bewiesen haben; doch es vergeht selten ein Tag, an dem nicht irgendeine neue Erfindung vorgestellt wird, woraufhin sie jedesmal sorgfältig den Namen des Erfinders in ihr Buch der allgemeinen Raritäten eintragen, was in ihren Augen als die höchste Ehre gilt; und im Verlauf von zweiunddreißig Jahren beobachtete ich über 5000 dieser neuen Erfindungen, die bei uns für ebenso viele Wunder gelten würden.

Ihre zweite Verrichtung besteht darin, zwei Arten von Waffen herzustellen, von denen die eine sehr unserer Hellebarde ähnelt und die andere an unsere Orgelpfeifen erinnert und aus zehn oder zwölf Pfeifen zusammengesetzt ist, die an einem Ende mit bestimmten Federn versehen sind, die, wenn man sie abfeuert, Kugeln mit so großer Gewalt ausstoßen, daß sie die Körper von sechs Menschen durchdringen.

 

Einen beträchtlichen Teil des Buches nimmt der Dialog zwischen Jacques Sadeur und einem alten Mann ein, der ihn unter seine Obhut genommen hat und der ihn mit den philosophischen Ideen und den Sitten der Australier bekannt macht. Wenn man dem alten Mann zuhört, hat man den Eindruck, einen der Enzyklopädisten vor sich zu haben, und gewisse Passagen erinnern sogar an das Manifest der Gleichen.

Auf Jacques Sadeurs Bemerkung hin, daß eine ähnliche Sorgfalt bei der Erziehung der Menschen nirgendwo auf der Welt ihresgleichen hat, sagt der alte Mann:

Diese Ungleichmäßigkeit verursacht viele Mißverständnisse, Dispute, Streitereien und Klagen, denn der, welcher weniger wüßte (und andere über sich spürte, die mehr wüßten), schätzte sich um so unglücklicher, als von Geburt an alle gleich geschaffen wären. Was uns betrifft, fügte er hinzu, so machen wir es uns zur Aufgabe, alle gleich zu sein, unser Ruhm besteht darin, daß wir alle gleich sind und mit derselben Sorgfalt und auf dieselbe Weise gewürdigt werden; der einzige Unterschied besteht in den verschiedenen Verrichtungen, denen wir uns widmen, zum Beispiel neue Erfindungen zu machen, auf daß die Entdecker sie zum allgemeinen Wohl beisteuern.

Anschließend sprach er von den Gewohnheiten, die er bei den Europäern für überflüssig hielt, und ich versicherte ihm, daß sie genauso großen Abscheu davor hätten, eine Person nackt zu sehen wie sie, die Australier, andere bekleidet zu sehen; ich brachte Gründe dafür vor, Schamgefühl, die Härte des Klimas und der Sitten.

Darauf antwortete er, soweit ich mich entsinne, daß unser Geist so sehr von Sitten beherrscht wird, daß man glaubte, all das, was man von Geburt an tut, sei

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notwendig und daß man eine Sitte nicht ohne größere Gewalt verändern kann als die eigene Natur. In meiner Antwort bestand ich auf der Begründung des unterschiedlichen Klimas und sagte ihm, daß es einige Länder in Europa gäbe, wo die Kälte für den Körper, der empfindlicher wäre als der der Australier, so unerträglich wäre, daß einige schon daran gestorben wären, und daß es unmöglich wäre, ohne Kleider zu überleben: schließlich, sagte ich ihm, wäre die schwache Natur eines jeden Geschlechts derart, daß niemand einen anderen nackt betrachten könnte, ohne zu erröten, ohne Schamgefühl zu zeigen und ohne empfänglich zu sein für solcher Art Regungen, über die der Anstand mich zwingt. Stillschweigen zu bewahren.

Welche Bedeutung hat all das, was ihr erreicht habt (sagte er), und woher mag dieser Brauch rühren? Ruft ihr nicht in aller Welt hervor, was im Widerspruch zur Natur steht? Wir werden nackt geboren und können uns nicht bekleiden, ohne zu glauben, daß es schändlich ist, uns so zu sehen, wie wir sind: was du jedoch bezüglich der Härte der Jahreszeit gesagt hast, so kann ich, nein, darf ich dem keinen Glauben schenken; denn wenn dies Land so unerträglich ist, was zwingt den, der den Grund dafür kennt, es zu seinem Land zu machen? ... was die Schwäche betrifft, die du Schamgefühl nennst, so habe ich dazu nichts zu sagen, da du sie mit so großer Aufrichtigkeit als einen Fehler eingesehen hast, es ist wirklich eine große Schwäche, die uns nicht erlaubt, einander anzusehen ohne Groll auf die viehischen Regungen, von denen du sprachest. Tiere sehen sich selbst und einander beständig, doch dieser Anblick ruft in ihnen keine Veränderungen hervor: Wie kannst dann du, der du dich selbst als ihnen übergeordnet betrachtest, schwächer sein als sie?

Weiter sagte er nichts dazu, doch ohne mir Zeit zu einer Antwort zu geben, ging er über zum Problem der Habsucht.

Ich erkannte schnell, daß er davon nicht mehr wußte als die Bezeichnung, denn als ich ihn bat zu erklären, was er damit meinte, verstand ich, daß es in seiner Vorstellung eine geistige Schwäche war, die darin bestand, ohne irgendeinen Nutzen Kostbarkeiten anzuhäufen.

Alle Australier besitzen im Überfluß alles zum Leben Notwendige, doch sie wissen nicht, was anhäufen ist und aufbewahren bis morgen, und ihre Lebensweise mag für das vollkommene Abbild des Zustandes gelten, dessen sich die ersten Menschen im Paradies erfreuten.

Was den Ehrgeiz betraf, so hatte er eine grobe Vorstellung davon; doch er bezeichnete ihn als den Wunsch der Menschen, sich über andere zu erheben.

 

Foigny entwirft als erster Utopist eine Gesellschaft ohne Regierung. Der libertäre Charakter seiner Utopie ist von dem Historiker Max Nettlau angemerkt worden, der ihn in seiner Bibliographie anarchistischer Utopien erwähnt. Die Australier haben keine Zentralregierung, alle Entscheidungen werden in den örtlichen Versammlungen jedes Wohnbezirks getroffen.

Nahrung wird nicht, wie in den früheren Utopien, vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern jeden Morgen von den Mitgliedern jedes Be-

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zirks mitgebracht, wenn sie sich zu ihren morgendlichen Versammlungen treffen. Sogar im Krieg gibt es keine Führer:

... was mir bei ihnen höchst bewundernswert erscheint ist, daß sie keine Befehlshaber haben, die sie führen, und ohne vorherige Absprache oder gegenseitige Verständigung, ohne einen Befehl oder eine Anweisung erhalten zu haben, wissen sie, wie sie sich aufstellen müssen, mit einer solchen Ordnung und Disziplin, daß man meinen könnte, sie wären alle ebenso viele erfahrene Hauptmänner, die alle von dem selben Plan beflügelt sind und sich über die Mittel verständigt haben, wie er durchzuführen sei.

 

In seiner Unterhaltung mit Sadeur erläutert der alte Mann seine Philosophie des Anarchismus:

Ich erzählte ihm, daß in Europa der Grundsatz gelte, daß Vielfalt ohne jegliche Ordnung Verwirrung stiftete, in welcher der Genuß der guten Dinge im Leben unmöglich würde, und daß die Voraussetzung für Ordnung ein Oberhaupt wäre. dem alle anderen unterworfen sind. An dieser Stelle ergriff der alte Mann die Gelegenheit, eine Lehre darzulegen, deren Bedeutung mir durchaus einleuchtete; doch es ist unmöglich, anderen dieses Wissen in so mächtigen und überzeugenden Wendungen zu entdecken, wie die, von denen er Gebrauch machte, um es mir verständlich zu machen. Er sagte, daß es in der Natur des Menschen läge, frei geboren zu werden und zu leben und daß man ihn deshalb nicht unterwerfen könnte, ohne ihn seiner Natur zu berauben, und daß ein Mensch durch solche Unterwerfung noch unter die Tiere hinabstiege, denn da ein Tier nur zu Diensten des Menschen geschaffen ist, wäre ihm die Unterwerfung in gewisser Weise natürlich. Doch ein Mensch könnte nicht zu Diensten eines anderen Menschen geboren sein; ein Zwang wäre in diesem Falle eine Art von Gewalt, die einen Menschen in gewisser Weise sogar in seiner eigenen Existenz herabsetzte; er erläuterte ausgiebig, um zu beweisen, daß die Unterwerfung eines Menschen unter einen anderen eine Unterwerfung der menschlichen Natur bedeutete und den Menschen zu einer Art Sklaven seiner, selbst machte, und diese Sklaverei hätte so viele Widersprüche und Gewalt zur Folge, daß es unfaßbar wäre. Er fügte hinzu, da das Wesen des Menschen in der Freiheit bestünde, könnte man sie ihm nicht wegnehmen, ohne ihn zu zerstören, und deshalb gebiete derjenige, der einem anderen die Freiheit nimmt, diesem stillschweigend, ohne sein Wesen zu existieren.

(Wenn es geschieht, daß ein Mensch gefesselt oder gefangengenommen wird, verliert er seine äußere Bewegungs­freiheit, die innere jedoch wird nicht geschmälert. Wie ein Stein sein Gewicht nicht verliert, wenn er aufgehoben und in der Luft festgehalten wird, denn er behält Gewicht und Masse, da er wieder zu Boden fällt, sobald wir aufhören, ihn daran zu hindern; genauso erleidet ein Mensch seine Gefangenschaft nur, weil er dazu gezwungen wird. Sobald der Zwang von ihm genommen ist, erscheint er wieder als der, der er wirklich ist, und sein Ruhm ist es, eher zu sterben als sich zwingen zu lassen. Das bedeutet nicht, daß er nicht auch oft tut, was andere wünschen, doch er tut es nicht, weil andere ihn dazu zwingen oder ihm befehlen.

Das gebieterische Wort ist ihm verhaßt, er tut, was ihm die Vernunft eingibt; die Vernunft ist sein Gesetz, seine Regel, sein einziger Maßstab.

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Es gibt einen Unterschied zwischen wahren Menschen und halben Menschen, daß nämlich die Gedanken und Wünsche der ersten vollkommen überein­stimmen und deshalb ohne Unterschied dieselben sind, und es genügt, sie zu erklären, so daß jedermann damit übereinstimmt ohne jeglichen Widerspruch, so wie vernünftige Personen mit Vergnügen dem rechten Weg folgen, wenn er ihnen gewiesen wird. Doch da halbe Menschen nur ein verschwommenes Wissen und schwache Geistesgaben besitzen, geschieht es notwendig, daß der eine das eine denkt und der andere etwas anderes; und daß der eine einen bestimmten Weg einschlagen möchte, während der andere ihm fast ständig widerspricht. Der Grund dafür ist einleuchtend, denn wer nur undeutlich sehen kann, ist nicht in der Lage, die Gefahr, Fehler zu machen und das eine für das andere zu halten, zu vermeiden.)

 

Wir haben schon früher darauf hingewiesen, daß die Religion der "Australier" in Wirklichkeit eine Negation der Religion ist:

Es gibt kein wunderlicheres und geheimnisvolleres Thema bei den Australiern als das der Religion, und es ist ein unerhörtes Vergehen, auch nur davon zu sprechen, sowohl im Disput als auch in einer Form der Erläuterung; sogar die Mütter flößen den Kindern mit den ersten Grundsätzen das Haab ein, das bedeutet das Unfaßbare.

Sie glauben, daß das Unfaßbare Wesen überall zugegen ist, und sie zeigen ihm alle nur denkbare Verehrung, doch sie legen den jungen Menschen eindringlich ans Herz, es immer anzubeten, ohne von ihm zu sprechen, und sie sind überzeugt, daß es ein sehr großes Verbrechen ist, seine heilige Vollkommenheit zum Thema ihrer Gespräche zu machen, so daß man in gewisser Weise sagen kann, ihre große Religion ist es, nicht von Religion zu sprechen.

 

Und der alte Mann weist auf die Gefahren religiöser Erörterungen hin:

Die Menschen können nicht von etwas Unfaßbarem sprechen, ohne verschiedene Ansichten dazu zu haben; ja, die sich sogar widersprechen... lieber bewahren wir in dieser Angelegenheit vollkommenes Stillschweigen, als uns mit vielen falschen Vorstellungen bezüglich der Natur eines Wesens zur Schau zu stellen, das so sehr über unser Fassungsvermögen erhaben ist. Wir versammeln uns deshalb im Hab, einzig um seine überragende Größe zu würdigen und seine uneingeschränkte Macht anzubeten und lassen jedem die Freiheit zu denken, was ihm beliebt; doch es ist unser unverbrüchliches Gesetz, niemals von ihm zu sprechen, damit wir uns bei der Erörterung nicht in Irrtümer verwickeln, die ihn beleidigen könnten.

Die Australier sind ein friedliches Volk und kämpfen niemals gegeneinander, doch manchmal sind sie gezwungen, große Kriege zu führen, um ihr Land gegen die Invasion fremder Nationen zu verteidigen. Sie führen diese Kriege mit erschreckender Gründ­lichkeit und Unbarm­herzigkeit, hören erst auf, wenn der letzte Feind vernichtet ist und machen in einigen Fällen das gesamte Feindesland dem Erdboden gleich.

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Einer dieser Kriege war der Grund, warum Sadeur Australien verlassen mußte, denn er hatte die unglückliche Idee vorzuschlagen, daß es besser wäre, sich die Frauen des Feindes zu nehmen als sie zu töten. Wegen dieses Verbrechens wurde er von der Versammlung des Hab zum Tode verurteilt. Die Todesstrafe besteht darin, daß der Verurteilte aufgefordert wird, eine bestimmte Frucht zu essen, die seinem Leben mit einem Schlag und auf angenehme Weise ein Ende macht, und sie lassen ihn den Augenblick seiner Hinrichtung selbst wählen! Daraus zog Jacques Sadeur seinen Vorteil und als er gefragt wurde, ob er noch etwas zu sagen hätte:

Ich hielt eine Rede und sagte ihnen, daß ich mich nun als jemanden betrachtete, der in gewisser Weise aufgehört hätte zu sein; in unserer Nation wäre es Sitte, daß jemand, der dem Tode nahe ist, in großer Zurückgezogenheit lebt, und mein Geist erlaubte mir nicht, derselbe zu sein, der ich gewesen war, und mit dem Wissen, daß ich in kurzer Zeit aufhören würde zu sein, wollte ich die letzten Augenblicke, die mir verblieben, dazu nutzen, eine letzte Handlung zu ersinnen, die für sie erbaulicher wäre als meine früheren. Diese Überlegungen befriedigten die Versammlung sehr, und sie beschlossen, mich mein Leben beenden zu lassen, wie es mir beliebte, ohne noch weiter über meine Worte und Handlungen zu sprechen. Und da ich demnächst zu den Toten gezählt werden sollte, ernannten sie mich selbst zum Leutnant und betrachteten mich als nichts weiter als einen Sterbenden, der die Freiheit hatte, seinem Leben ein Ende zu machen, wenn er es selbst für richtig hielt.

 

Trotz der offensichtlichen Unvereinbarkeit seines Charakters und dem der Australier, hegt Sadeur doch die tiefste Bewunderung für ihre Vollkommenheit und wir erlauben ihm einen letzten Kommentar über die Überlegenheit ihrer Sitten und Gebräuche gegenüber unseren:

Ich konnte nicht umhin, eine Lebensführung zu bewundern, die unserer unvollkommenen so entgegengesetzt ist und war beschämt, wenn ich daran dachte, wie weit wir von der Vollkommenheit dieser Leute entfernt sind. Kann es wahr sein, dachte ich bei mir, daß wir nicht alle als Menschen geschaffen sind? Doch fügte ich hinzu, wenn es nicht so ist, was ist dann der Unterschied zwischen diesen Leuten und uns? Sie haben sich im gewöhnlichen Leben zu einer Höhe der Tugend aufgeschwungen, die wir unter größter Anstrengung unserer edelsten Ideen nicht erreichen können. Unsere beste Sittlichkeit ist keiner besseren Überlegungen, keiner größeren Genauigkeit fähig als was sie ganz natürlich ohne Regeln und Rezepte ausüben; diese Einheit, die nichts zerstören kann, diese Entfernung von weltlichen Gütern, diese unverbrüchliche Reinheit; mit einem Wort, diese Befolgung strikter Vernunft, die sie eint und zu dem trägt, was gut und gerecht ist, können nur die Früchte vollendeter Tugend sein, über die hinaus wir uns nichts Vollkommeneres vorstellen können, sondern im Gegenteil, wie vielen Lastern und Unvollkommenheiten sind wir nicht unterworfen? Der unersättliche Hunger nach Reichtümern, diese ständigen Meinungs­verschiedenheiten, diese schwarzen Hinterhältigkeiten, blutigen Verschwörungen und grausamen Gemetzel, die wir ständig gegeneinander üben; zwingen sie uns nicht zu erkennen, daß wir eher von Leidenschaft als vom Verstand geleitet sind? Ist es nicht wünschenswert, daß in diesem Zustand einer dieser Menschen, die wir Barbaren nennen mögen, kommt, um uns von unserem Irrtum zu befreien und uns in solcher Tugend erscheint, wie sie sie täglich mit Hilfe ihres natürlichen Verstandes üben, um die Eitelkeit zu verdammen, die wir aus unserem angeblichen Wissen ziehen und aufgrund dessen wir leben wie die Tiere.

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   Diderot  —  Nachtrag zu Bougainvilles Reise  

 

Diderot glaubte, daß die Natur niemandem das Recht gab, über andere zu herrschen, und diesem Glauben blieb er treu, als er sich weigerte, Gesetzgeber zu werden, wie so viele seiner Zeitgenossen. Es gibt eine bezaubernde Anekdote, aus der hervorgeht, daß er der Versuchung des Königtums widerstehen konnte. Für drei aufeinanderfolgende Jahre wurde Diderot König par la grâce du gâteau, das heißt, er wurde einer der Drei Könige, weil er die Bohne in seinem Kuchenstück gefunden hatte. Als König mußte er einen Kodex aufstellen, was er in einem kleinen Gedicht tat, welches lautete:

Teile und herrsche, dieser Grundsatz ist alt,
Er stammt von einem Tyrannen, ist also nicht der Meinige
Euch zu einen ist mein Wunsch, ich liebe die Freiheit
Und wenn ich einen Willen habe
Ist es der, daß jeder das Seinige tue. 
  Le Code de Denis

 

Im dritten Jahr schrieb er ein weiteres Gedicht, in welchem er auch das Recht widerrief zu verordnen, daß jeder tun sollte, was er will, und er erklärte, daß er weder ein Gesetz erhalten noch für andere eines machen wollte:

Niemals hat der Mensch zum allgemeinen Vorteil freiwillig seine Rechte geopfert!
Die Natur hat weder Knecht noch Herrn geschaffen,
Ich will weder Gesetze geben noch erhalten!
Und seine Hände werden die Eingeweide des Priesters aneinandernähen
Mangels eines Stricks, um die Könige zu erwürgen.
   Les Eleutheromanes ou abdication d'un roi de la feve

 

Mit größerer Ernsthaftigkeit jedoch beschrieb Diderot eine freie, primitive Gesellschaft, die weder Regierungen noch Gesetze kennt. Der Nachtrag zu Bougainvilles Reise ist eine imaginäre Beschreibung der Sitten, die Bougainville und seine Begleiter vorfanden, als sie zum ersten Mal auf der Insel landeten. Louis Antoine Bougainville hatte auf seiner großen Reise zwischen 1766 und 1769 die ozeanischen Inseln einschließlich Tahiti erforscht. Nach seiner Rückkehr veröffentlichte er einen Bericht seiner Reisen (1771), der viel gelesen wurde. Ein Jahr später schrieb Diderot seinen erfundenen Bericht über Bougainvilles Aufenthalt auf Tahiti: er war eine heftige Anklage gegen die Zivilisation mit ihrem Vertrauen auf Waffen und Religion, doch er gab Diderot auch die Möglichkeit, eine primitive Gesellschaft zu beschreiben, vielleicht nicht, wie sie wirklich war, sondern wie sie sein sollte. 

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Wie der Untertitel des Nachtrags andeutet, enthält er einen heftigen Angriff auf den anerkannten Moralkodex — Über die Unsitte, moralische Ideen an gewisse physische Handlungen zu knüpfen, zu denen sie nicht passen. Die heftige und unverhohlene Kritik verhinderte, daß er gedruckt wurde. Zu Diderots Lebzeiten zirkulierte er als Manuskript und wurde erst nach der Revolution 1796 gedruckt.

Der Nachtrag ist in der Form eines Dialogs verfaßt, und anstatt zu versuchen, ihn zusammenzufassen oder hier und dort Auszüge zu zitieren, ist es wohl besser, die Abschiedsrede des Greises im ganzen wiederzugeben, denn sie ermöglicht uns eine umfassende Vorstellung von den Sitten der Einwohner von Tahiti.

 

  Die Abschiedsrede des Greises 

 

Er war der Vater einer großen Familie. Bei der Ankunft der Europäer ließ er verachtungsvolle Blicke auf sie fallen, ohne Erstaunen, Furcht oder Neugierde zu zeigen. Sie näherten sich ihm; er kehrte ihnen den Rücken zu und zog sich in seine Hütte zurück. Sein Schweigen und seine Besorgnis verrieten nur zu deutlich seine Gedanken. Im stillen trauerte er über die entschwundenen schönen Tage seines Landes. Bei der Abfahrt Bougainvilles, als die Bewohner in Massen zum Ufer eilten, sich an seinen Kleidern festhielten, seine Gefährten in die Arme schlossen und weinten, trat dieser Greis mit strenger Miene vor und sagte:

»Weint, unglückliche Tahitianer, weint ruhig; aber weint über die Ankunft und nicht über die Abfahrt dieser ehrgeizigen und bösen Menschen. Eines Tages werdet ihr sie besser erkennen. In der einen Hand das Holzscheit, das ihr am Gürtel des Mannes dort befestigt seht, und in der anderen das Schwert, das an der Hüfte des ändern dort hängt, — so werden sie eines Tages wiederkommen, um euch in Ketten zu legen, euch niederzumachen oder euch ihren Ausschweifungen und Lastern zu unterwerfen. Eines Tages werdet ihr unter ihnen dienen, ebenso verdorben, niedrig und unglücklich wie sie. Doch ich habe einen Trost; ich bin am Ende meines Weges und werde das Unheil, das ich euch verkünde, nicht mehr erleben. Ach, Tahitianer, liebe Freunde, ihr hättet wohl ein Mittel, um einer so verhängnisvollen Zukunft zu entgehen; aber ich würde lieber sterben, als es euch anzuraten. Mögen sie sich entfernen und weiterleben!"

Dann wandte er sich an Bougainville und fügte hinzu:

„Und du, Häuptling jener Räuber, die dir gehorchen, entferne dich mit deinem Schiffe schnell von unserem Gestade. Wir sind unschuldig, wir sind glücklich, und du kannst unserem Glück nur schaden. Wir folgen dem reinen Trieb der Natur; du aber hast versucht, seine Eigenart in unseren Gemütern auszulöschen. Hier gehört alles allen; du aber hast uns irgendeinen Unterschied von Mein und Dein – ich weiß nicht welchen – gepredigt. Unsere Töchter und unsere Frauen gehören uns allen; du hast dieses Vorrecht mit uns geteilt, hast in ihnen aber fremde Leidenschaften entfacht, rasende Leidenschaften. Sie wurden in deinen Armen toll, du wurdest in ihren Armen grausam. Sie fingen an, sich gegenseitig zu hassen; ihr brachtet euch ihretwegen um, und sie kehrten zu uns zurück, aber befleckt mit eurem Blut. Wir sind frei; du aber hast nun in unserem Boden den Vorwand für unsere künftige Versklavung vergraben. Du bist weder ein Gott noch ein Dämon. Wer gibt dir also das Recht, andere zu Sklaven zu machen?

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Oru, du verstehst doch die Sprache der Männer dort; sage uns allen, so wie du es mir gesagt, was sie auf diese Metallplatte geschrieben haben: Dieses Land gehört uns. Dir gehört dieses Land? Und warum? Weil du es betreten hast? Wenn eines Tages ein Tahitianer an eurer Küste landete und in einen eurer Felsen oder in die Rinde eines eurer Bäume ritzte: Dieses Land gehört den Bewohnern von Tahiti — was würdest du davon halten? Du bist der Stärkere! Doch was bedeutet das? Als man dir etwas von dem verächtlichen Kram nahm, mit dem dein Schiff beladen ist, da tobtest du und nahmst Rache. In diesem Augenblick plantest du im Grunde deines Herzens schon den Raub eines ganzen Landes. Du bist kein Sklave; du würdest lieber den Tod erleiden, als Sklave zu werden, und willst uns doch versklaven! Du glaubst also, der Tahitianer könne seine Freiheit nicht verteidigen und sterben? Derjenige, den du in Besitz nehmen willst wie ein Stück Vieh, der Tahitianer, ist dein Bruder. Beide seid ihr Söhne der Natur. Welches Recht hast du über ihn, wenn er kein Recht über dich hat? Du bist hergekommen. Haben wir uns auf dich gestürzt? Haben wir dein Schiff geplündert? Haben wir dich gefangengenommen und den Pfeilen unserer Feinde ausgesetzt? Haben wir dich gezwungen, auf unseren Feldern mit unseren Tieren zu arbeiten? Wir haben unser Ebenbild in dir geachtet.

Laß uns unsere Sitten; sie sind vernünftiger und ehrlicher als deine Sitten. Wir wollen das, was du unsere Unwissenheit nennst, nicht gegen dein unnützes Wissen eintauschen. Alles, was wir brauchen und was gut ist, besitzen wir ja. Sind wir verachtenswert, weil wir es nicht fertiggebracht haben, überflüssige Bedürfnisse zu erfinden? Wenn wir hungrig sind, haben wir etwas zu essen. Wenn wir frieren, haben wir etwas, womit wir uns bekleiden können. Du hast unsere Hütten betreten. Was fehlt dort - deiner Ansicht nach? Treibe das, was du Annehmlichkeiten des Lebens nennst, soweit du willst; aber erlaube verständigen Wesen, haltzumachen, wenn sie bei Fortsetzung ihrer mühsamen Anstrengungen nur eingebildete Güter erlangen können. Wenn du uns überredest, die enge Grenze des Bedürfnisses zu überschreiten, wann werden wir dann aufhören zu arbeiten? Wann werden wir genießen? Wir haben die Summe unserer jährlichen und täglichen Mühen möglichst klein gehalten, weil unserer Meinung nach nichts der Ruhe vorzuziehen ist.

Kehre in dein Land zurück, rege und plage dich dort soviel du willst; aber laß uns in Ruhe. Rede uns weder deine künstlichen Bedürfnisse noch deine trügerischen Tugenden ein. Sieh diese Männer an; sieh doch, wie aufrecht, wie gesund und kräftig sie sind. Sieh diese Frauen an; sieh doch, wie aufrecht, wie gesund, blühend und schön sie sind. Nimm diesen Bogen, er gehört mir; rufe einen zwei, drei, ja vier von deinen Kameraden zu Hilfe, und versucht dann gemeinsam, ihn zu spannen. Ich pflüge den Boden, ersteige das Gebirge, dringe in den Urwald vor, lege in der Ebene eine Meile in weniger als einer Stunde zurück. Deine jungen Gefährten hatten große Mühe, mir zu folgen, und ich bin doch über neunzig Jahre alt. Wehe dieser Insel, wehe den lebenden Tahitianern und allen kommenden Tahitianern, seitdem du uns besucht hast! Wir kannten nur eine Krankheit, nämlich diejenige, zu der Mensch, Tier und Pflanze verurteilt sind: das Alter. Du aber hast uns eine andere gebracht; du hast unser Blut verseucht. Vielleicht müssen wir nun mit unseren eigenen Händen unsere Töchter, Frauen und Kinder ausrotten, sowohl diejenigen, die mit deinen Frauen zusammen­gekommen sind, als auch diejenigen, die mit deinen Männern verkehrt haben.

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Unsere Felder werden mit jenem unreinen Blut getränkt sein, das aus deinen Adern in unsere eigenen übergegangen ist; oder unsere Nachkommen werden verurteilt sein, jenes Übel zu nähren und fortzupflanzen, das du auf ihre Väter und Mütter übertragen hast, und werden es weiter vererben.

Unglücklicher, du bist Schuld an den verheerenden Folgen, welche die verhängnisvolle Umarmung deiner Leute noch haben wird, oder an den Morden, die wir begehen werden, um eine weitere Vergiftung zu verhüten. Du sprichst von Verbrechen? Kannst du dir ein Verbrechen vorstellen, das größer wäre als das deinige? Welche Strafe trifft in deiner Heimat denjenigen, der seinen Nächsten tötet? Der Tod durch das Schwert! Welche Strafe trifft in deiner Heimat den Elenden, der ihn vergiftet? Der Tod durch das Feuer! Vergleiche deine Schandtat mit der letzteren und sage uns, du Vergifter von Völkern, welche Todesstrafe du selbst verdienst.

Noch vor kurzem gab die junge Tahitianerin sich den leidenschaftlichen Regungen und glühenden Umarmungen des jungen Tahitianers ohne weiteres hin. Ungeduldig wartete sie darauf, daß ihre Mutter – ermächtigt durch das heiratsfähige Alter – sie entschleiere und ihren Busen entblöße. Sie war stolz darauf, Begierden zu erregen und die verliebten Blicke des Unbekannten, aber auch ihrer Eltern und ihres Bruders auf sich zu ziehen. Ohne Furcht und Scham, in unserer Gegenwart, inmitten eines Kreises von unschuldigen Tahitianern, beim Klang der Flöten und bei Tänzen, nahm sie die Liebkosungen desjenigen hin, für den ihr junges Herz und der heimliche Ruf ihrer Sinnlichkeit sie bestimmten.

Mit dir ist die Vorstellung des Verbrechens, mit dir die Gefahr der Krankheit zu uns gekommen. Unsere Genüsse, früher so hold, sind jetzt von Reue und Angst begleitet. Der Mann in Schwarz, der neben dir steht und mir zuhört, hat zu unseren Jünglingen gesprochen. Ich weiß nicht, was er unseren Mädchen eingeredet hat; aber seitdem zögern unsere Jünglinge und erröten unsere Mädchen. Verstecke dich, wenn du willst, im dunklen Wald mit der verdorbenen Gefährtin deiner Freuden; aber gewähre den guten und einfältigen Tahitianern das Recht, sich ohne Scham fortzupflanzen, unter freiem Himmel und am hellen Tag. Könntest du denn durch ein ehrlicheres und größeres Gefühl jenes Gefühl ersetzen, das wir ihnen eingeflößt haben und das sie beseelt? Sie nehmen an, der Augenblick sei gekommen, Volk und Familie durch einen neuen Staatsbürger zu bereichern, und sie rühmen sich dessen. Sie essen, um zu leben und zu wachsen; sie wachsen heran, um sich zu vermehren, und finden dabei weder Laster noch Schande. Vernimm die Fortsetzung deiner Schandtaten! Kaum hattest du dich den Tahitianern gezeigt, da wurden sie zu Dieben. Kaum warst du bei uns gelandet, da dampfte der Boden von Blut. Den Tahitianer, der dir entgegenlief, der dich begrüßte mit dem Ruf: „Tajo — Freund, Freund" — den habt ihr getötet. Und warum habt ihr ihn getötet? Weil ihn das Glitzern deiner kleinen Schlangeneier verführt hatte!

Er gab dir seine Früchte, bot dir sein Weib und seine Tochter an, trat dir seine Hütte ab; du aber hast ihn getötet wegen einer Handvoll glitzernder Körner, die er dir genommen, ohne dich darum zu bitten. Und die Menge dort oben? Beim Donner deiner Mordwaffe wurde sie von Entsetzen gepackt und floh in die Berge. Doch glaube mir, sie wäre schon bald zurückgekommen; ja, glaube mir: wenn ich nicht gewesen wäre, würdet ihr alle in einem Augenblick umgekommen sein. Ach, warum habe ich sie beschwichtigt, warum habe ich sie zurückgehalten? Warum halte ich sie auch jetzt noch zurück? Ich weiß es wirklich nicht; denn du verdienst kein Mitleid, du hast eine grausame Seele, die nie Mitleid gespürt hat. Auf unserer Insel seid ihr umhergewandert, du und deine Leute.

Man hat dich geachtet, du hast alles genossen. Auf deinem Weg stießest du weder auf Schranken noch auf Ablehnung. Man lud dich ein, du nahmst Platz; man breitete vor dir den ganzen Reichtum des Landes aus. Wünschtest du dir junge Mädchen? Mit Ausnahme derjenigen, die noch nicht das Recht haben, ihr Gesicht und ihren Busen zu zeigen, führten dir die Mütter alle anderen unverhüllt vor. Schon warst du im Besitz solch eines zarten Opfers der Gast­freundschaft. Man streute für euch beide Blätter und Blumen auf den Boden; die Musikanten stimmten ihre Instrumente; nichts störte eure Wonne, nichts hinderte die Ungezwungenheit eurer Liebkosungen. Man sang das Hochzeitslied, jenes Lied, das dich aufforderte, Mann zu sein, und unsere Tochter, Weib zu sein: hingebungsvolles, sinnliches Weib. Man tanzte um euer Lager herum. Doch als du aus den Armen jener Frau kamst, nachdem du an ihrer Brust die süßeste Trunkenheit empfunden, da gingst du hin, um ihren Bruder, ihren Freund, vielleicht sogar ihren Vater zu töten.

Du hast noch Schlimmeres getan! Schau dorthin; sieh dir jenen Pferch an, der von Pfeilen starrt. Die Waffen, die bisher nur unsere Feinde bedroht haben, siehst du nun auf unsere eigenen Kinder gerichtet. Betrachte die unglück­lichen Gefährtinnen unserer Freuden; sieh ihre Trauer, sieh den Schmerz ihrer Väter, sieh die Verzweiflung ihrer Mütter. Da sind sie nun dazu verurteilt, entweder durch unsere Hand zu sterben oder an dem Übel zugrunde zu gehen, das du ihnen gebracht hast. Entferne dich, falls deine grausamen Augen sich nicht noch am Schauspiel des Todes ergötzen wollen! Ja, entferne dich, geh! Möge das Meer, das dich auf der Herfahrt verschont hat, seine Schuld sühnen und uns rächen, indem es dich verschlingt vor deiner Heimkehr! Aber ihr, Tahitianer, sollt nun in eure Hütten zurückkehren. Ja, ihr alle. Diese nichtswürdigen Fremden sollen bei ihrer Abfahrt nichts anderes hören als die brüllende See und nur sehen, wie die tobende Brandung einen öden Strand rein wäscht."

189-190

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