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Teil 5  - Utopien des 19. Jahrhunderts

 

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Die Geschichte der Utopien im 19. Jahrhundert ist eng verknüpft mit der Entstehung der sozialistischen Bewegung, und es ist mitunter schwer zu unter­scheiden, welche Darstellungen zum Bereich utopischen Denkens und welche zum Gebiet praktischer Gesellschafts­reform gehören. In dieser Zeit gibt es kaum eine Schrift über gesellschaftliche Probleme, die nicht hin und wieder als utopisch bezeichnet wurde.

Das Wort verlor seine ursprüngliche Bedeutung und wurde das Gegenteil von wissen­schaftlich; utopisch wurde fast zu einem Schimpfwort, mit dem selbstherrliche wissenschaftliche Sozialisten ihre Wider­sacher gern bedachten. Dank dieser marxistischen Richter hat der Katalog der Utopien des neunzehnten Jahrhunderts ein solch ungeheures Ausmaß angenommen.

In <Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft> gab Friedrich Engels dem Wort utopisch eine marxistische Definition, die weitgehend übernommen wurde. Während Utopien bis dahin als imaginäre ideale Gemeinwesen betrachtet wurden, deren Verwirklichung unmöglich oder schwierig war, gab Engels ihnen eine viel umfassendere Bedeutung und schloß alle Gesellschafts­modelle, die nicht die Teilung der Gesellschaft in Klassen, die Unvermeidlichkeit des Klassenkampfes und der sozialen Revolution berücksichtigten, mit ein. 

Er zählte Saint-Simon, Fourier und Owen zu den Utopisten, denn

allen dreien ist gemeinsam, daß sie nicht als Vertreter der Interessen des inzwischen historisch erzeugten Proletariats auftreten. Wie die Aufklärer, wollen sie nicht zunächst eine bestimmte Klasse, sondern sogleich die ganze Menschheit befreien.

Darüberhinaus warf Engels den utopischen Schreibern vor, sie hätten nicht erkannt, daß der Sozialismus nur möglich wäre, wenn der Kapitalismus einen gewissen Stand der Entwicklung erreicht hätte:

Dem unreifen Stand der kapitalistischen Produktion, der unreifen Klassenlage, entsprachen unreife Theorien. Die Lösung der gesellschaftlichen Aufgaben, die in den unentwickelten ökonomischen Verhältnissen noch verborgen lag, sollte aus dem Kopfe erzeugt werden. Die Gesellschaft bot nur Mißstände; diese zu beseitigen war Aufgabe der denkenden Vernunft. Es handelte sich darum, eine neues, vollkommeneres System der gesellschaftlichen Ordnung zu erfinden und dies der Gesellschaft von außen her, durch Propaganda, womöglich durch das Beispiel von Muster­experimenten aufzuoktroyieren. Diese neuen sozialen Systeme waren von vornherein zur Utopie verdammt; je weiter sie in ihren Einzelheiten ausgearbeitet wurden, desto mehr mußten sie in reine Phantasterei verlaufen.

Engels' Beschreibung sozialistischer Utopien ist im wesentlichen richtig. Die meisten von ihnen wollen alle Produktions- und Distributionsmittel vergesellschaften, bedenken aber nicht, daß eine Revolution notwendig ist, um dies herbeizuführen. Sie gehen davon aus, daß der Staat die ökonomische Maschinerie eines Landes übernehmen kann, wenn die Mehrheit der Bevölkerung übereingekommen ist, daß dies die vernünftigste Lösung ist.

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Sie bedenken nicht, daß es einen unüberbrückbaren Klassenwiderspruch gibt und daß nur die Klasse des Proletariats in der Lage ist, eine Revolution herbeizuführen. Im Gegensatz zu marxistischen Theorien wiederum behaupten sie, daß eine neue Gesellschaft zu jeder Zeit und an jedem Ort entstehen kann, vorausgesetzt, daß Regierungen und Volk entschlossen sind, sie herbeizuführen; sie sehen keine Beziehung zwischen der Entwicklung des Kapitalismus und der Möglichkeit der Entstehung einer neuen Gesellschaft.

Engels hatte jedoch unrecht mit seiner Annahme, daß die utopischen Modelle weniger realistisch wären als die der wissen­schaftlichen Sozialisten. Im Lichte der Geschichte vergangener Jahrhunderte wäre es ein schwieriges Unterfangen zu entscheiden, welche Schule des Sozialismus die Bezeichnung utopisch verdient. Der hohe Entwicklungsstand des Kapitalismus ist weit davon entfernt, den Tag der Revolution näher zu bringen und hat dagegen eine neue Klasse von Technikern und Managern, gut bezahlten Arbeitern und Gewerkschaftsführern geschaffen, deren Interessen mit denen der Kapitalistenklasse identisch sind.

Die beiden einzigen europäischen Länder, die in den letzten dreißig Jahren den Versuch einer sozialen Revolution gemacht haben, Rußland und Spanien, waren Länder, wo der Kapitalismus noch keinen hohen Entwicklungs­stand erreicht hatte. Darüberhinaus haben wir erlebt, daß der Staatssozialismus in einigen Ländern teilweise verwirklicht wurde, nicht durch die militante Aktion der Arbeiterklasse, sondern durch Regierungen, die durch ein gewähltes Parlament an die Macht gekommen waren. Noch paradoxer - vom marxistischen Standpunkt aus gesehen - ist es, daß faschistische Regierungen sich gezwungen sahen, Maßnahmen der Sozial­reform ähnlich den von Sozialisten geforderten zu übernehmen.

Der Sozialismus, wie wir ihn heute kennen, ist den Vorstellungen der utopischen Sozialisten näher als denen von Karl Marx, dem Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus. Er kümmert sich nicht mehr um die Unvermeid­lichkeit des Klassenkampfes, sondern zielt auf allmähliche Sozialreformen, die schließlich die ökonomischen Unterschiede zwischen Kapitalisten und Arbeitern beseitigen sollen. Auch in einem Land wie Rußland, das den Anspruch erhebt, eine marxistische Revolution durchgeführt zu haben, erinnert die Struktur der Gesellschaft eher an die von einigen Utopisten beschriebene als an die von Marx oder Lenin vorhergesehene. Deshalb ist es wohl klüger, die heute willkürlich erscheinende Teilung in utopische und wissenschaftliche Sozialisten beiseite zu lassen und nur die repräsentativsten Schriften zu berücksichtigen, die in der utopischen Tradition bleiben und ideale Gemeinwesen in einem imaginären Land oder einer imaginären Zukunft beschreiben.

Zur Zeit der Renaissance erhielt der utopische Gedanke starken Anstoß durch die neuen philosophischen Ideen, die Geburt der Nationalstaaten und die Entdeckung der Neuen Welt. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts flößten Ereignisse von ähnlich großer Bedeutung ihm neues Leben ein: dies waren unter anderem die Nachwirkungen der französischen Revolution, die rapide Entwicklung der Industrie und die Ausarbeitung sozialistischer Systeme.

Die französische Revolution hatte der Bourgeoisie die Macht gebracht, doch gleichzeitig machten die Arbeiter und Bauern ihre Rechte geltend und zeigten ihre Bereitschaft, sie mit Gewalt zu verteidigen.

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Die siegreiche Bourgeoisie konnte ihre Augen vor der sozialen Ungleichheit nicht verschließen, die jeden Augenblick eine revolutionäre Bewegung freisetzen konnte. Ein paar humanitäre Philosophen und Philanthropen versuchten, das wachsende Elend des Volkes zu lindern und einige gingen so weit, jene Gleichheit zu fordern, die vorrevolutionäre Philosophen gepredigt hatten und die angeblich ein Ziel der Revolution war. Doch sie trauten dem Volk nicht, denn sie fürchteten, es könnte das System nur durch revolutionäre Methoden verändern, und sie suchten nach einer friedlichen Lösung durch gesellschaftliche Reformen. Kropotkin hat in seiner Einleitung zu Die Eroberung des Brotes darauf hingewiesen:

Da sie in der Periode der Reaktion schrieben, die auf die französische Revolution folgte, und ihr Versagen stärker als ihre Erfolge wahrnahmen, setzten sie zudem in die Massen kein Vertrauen und appellierten nicht an sie, die Veränderungen, die sie für notwendig hielten, zu bewerkstelligen. Im Gegenteil, sie glaubten an einen großen Herrscher, einen sozialistischen Napoleon. Er würde die neue Offenbarung begreifen; angesichts der erfolgreichen Experimente mit ihren Phalansteres oder Assoziationen würde er überzeugt sein, daß sie wünschenswert wäre; und kraft seiner eigenen Autorität würde er die Revolution, die der Menschheit Wohlstand und Glück brächte, friedlich durchführen. Ein militärisches Genie, Napoleon, hatte eben noch Europa beherrscht. Warum sollte nun nicht ein soziales Genie hervortreten, Europa mit sich reißen und das neue Evangelium zu Leben bringen?

Die industrielle Revolution hatte neue Horizonte eröffnet, und vielen schien es, als böte sie eine Lösung für Armut und Ungleichheit. Es gab offenbar keine Grenzen für das Wachstum der Produktion, und es schien deshalb keinen Grund zu geben, warum nicht jeder wie ein Bourgeois leben sollte. Gleichheit würde für niemanden ein Opfer bedeuten, da die neue Gesellschaft nicht den Wohlstand der Reichen schmälern, sondern den Lebensstandard der Armen auf ihr Niveau anheben würde. 

Während die Utopien der Vergangenheit die Notwendigkeit der Abkehr von materiellen Gütern betont hatten, suchten die des neunzehnten Jahrhunderts ihr Glück in der Befriedigung einer ständig wachsenden Zahl materieller Bedürfnisse. Nicht nur, daß der industrielle Fortschritt nun größeren Luxus erlaubte; die ganze Einstellung zu materiellen Annehmlichkeiten hatte sich geändert. In Morus' Utopia lebten die Leute asketisch, nicht aus Notwendigkeit, denn sie hatten Gold und Silber, das sie gegen Güter aus fremden Ländern hätten tauschen können, um so ihren Lebensstandard zu verbessern, sondern weil sie glaubten, daß Luxus unausweichlich Korruption und moralischen Verfall mit sich bringen würde. Bis auf wenige Ausnahmen, wie z.B. Francis Bacon, faßten utopische Schreiber den Fortschritt in Begriffe geistiger, körperlicher und moralischer Verbesserung des Menschen, und das konnte nicht erreicht werden, wenn man zuviel Wert auf materielle Güter legte. Zuviel Schwelgen in Fleischeslust würde den Verfall des Geistes mit sich bringen. 

Im neunzehnten Jahrhundert finden wir eine solch moralistische Besorgnis nicht; die Utopisten waren schamlos materialistisch und berechneten das persönliche Glück geradezu mit Faktoren wie Möbelstücken, Kleidungsstücken oder der Anzahl der Gänge bei jeder Mahlzeit. Nur gelegentlich finden wir eine Reaktion gegen diese Tendenz, wie in William Morris' Kunde von Nirgendwo.

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Der Einfluß der Väter des Sozialismus auf die Utopien des neunzehnten Jahrhunderts war natürlich beträchtlich. Owen, Fourier und Saint-Simon beeinflußten die Utopien nicht nur durch ihre theoretischen Schriften, sondern auch durch ihre konkreten gesellschaftlichen Reformpläne, und die Dörfer der Zusammenarbeit, die Parallelogramme und Phalanxen haben viele Charakterzüge späterer Utopien angeregt. 

In mancher Hinsicht jedoch unterscheiden sich Owen und Fourier von der Hauptrichtung des sozialistischen Gedankens im neunzehnten Jahrhundert, denn sie fordern keine zentralisierte Regierung und keine intensive Industrialisierung der Landwirtschaft, sondern treten im Gegenteil für kleine, autonome landwirtschaftliche Gemeinschaften ein.

Owen regt bei aufgeklärten Regierungen die Bildung dieser kleinen landwirtschaftlichen Gemeinschaften mit nicht mehr als 3.000 Einwohnern an, sie müssen sich jedoch selbst versorgen und autonom verwalten. Alle inneren Angelegenheiten sollten von einem Generalrat regiert werden, der sich aus allen Mitgliedern der Gemeinschaft zwischen 30 und 40 Jahren zusammensetzt, während alle äußeren Angelegenheiten von einem zweiten Generalrat verwaltet werden sollten, der aus Mitgliedern zwischen 40 und 60 Jahren besteht.

Alle Mitglieder der Gemeinschaft sollten gleich sein und gleichen Anteil an den produzierten Gütern erhalten; die Generalräte sollten gemäß den Gesetzen der menschlichen Natur regieren. Wenn die ganze Welt mit Vereinigungen landwirtschaftlicher Gemeinschaften bedeckt wäre, würden Regierungen überflüssig und überhaupt verschwinden. Owens Vorstellungen von Erziehung hatten wahrscheinlich den größten Einfluß auf utopische Schreiber. Wiederholt behauptete er in seinen Schriften, daß der Charakter des Menschen ausnahmslos für ihn geformt wird; daß er vor allem von seinen Vorfahren geschaffen werden kann und wird; daß sie ihm Vorstellungen und Gewohnheiten mitgeben oder mitgeben können, welche die Mächte sind, die sein Leben lenken und leiten. Deshalb wäre es die Aufgabe der Erziehung, den Menschen in einem Leben ohne Müßiggang, ohne Armut, ohne Verbrechen und ohne Bestrafung zu üben. Owens Versuche, seine Vorstellungen in die Praxis umzusetzen, zuerst in New Lanark und später in den Gemeinschaften, die er in Amerika gründete, waren Anregung für viele ähnliche Experimente, und nicht selten findet man im neunzehnten Jahrhundert, daß Utopien Genossenschaftsbewegungen ins Leben riefen.

 

Der Name Fouriers wird oft mit Owen verknüpft aufgrund gewisser oberflächlicher Ähnlichkeiten zwischen den beiden Denkern und trotz der Tatsache, daß Fourier immer nur in den verächtlichsten Tönen von Owen sprach. Fourier ist, eher noch als Owen, zu Unrecht als Vater des Sozialismus bezeichnet worden, denn er trat in Wirklichkeit nicht für die Gütergemeinschaft ein. Diese Vorstellung war ihm in der Tat sehr zuwider, denn er glaubte, daß Ungleichheit für das reibungslose Funktionieren einer idealen Gesellschaft unvermeidlich wäre.

Obwohl er die Abschaffung der Löhne befürwortete, meinte er, daß im Verhältnis zum investierten Kapital, zu den Erträgen und Anteilen des individuellen Aktionärs Dividenden ausgezahlt werden sollten. Fourier war jedoch der Meinung, daß die Gesellschaft auch für diejenigen sorgen sollte, die die Arbeit verweigerten, nicht nur, um die Arbeit von ihrem zwanghaften Charakter zu befreien, sondern weil die Gesellschaft auch eine Verpflichtung gegenüber ihren Mitgliedern hätte, ob sie nun produzierten oder nicht. Doch die Arbeit sollte so attraktiv wie möglich gemacht werden und soviel Erfreuliches bieten, daß es nur wenige Müßiggänger geben würde.

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Fourier vertraute nicht auf aufgeklärte Regierungen, sondern hoffte, einen wohlhabenden Gönner zu finden, der die notwendigen Mittel für eine Phalanx bereitstellen würde, und daß die Leute so beeindruckt von den bewundernswerten Ergebnissen wären, daß es bald auf der ganzen Erde solche Phalanxen gäbe. Der Vorteil seines Systems, behauptete er, wäre die Verbindung der Interessen von Kapitalisten, Arbeitern und Konsumenten, indem all diese Funktionen in einer Person vereinigt würden. Diese Ideen wurden von vielen Genossenschaftern in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts aufgenommen und werden auch heute noch von einem Teil der sozialistischen Bewegung vertreten. 

Charles Gide bemerkt in Geschichte volkswirtschaftlicher Lehrmeinungen:

Dieses Programm, das nicht auf die Abschaffung des Eigentums, sondern im Gegenteil auf die des Lohnes durch den Erwerb eines gemeinsamen und allgemeinen Eigentums abzielt, das als Hilfsmittel nicht den Klassenkampf, sondern die Assoziation der Intelligenz, der Arbeit und des Kapitals annimmt, das die entgegengesetzten Interessen des Kapitalisten und des Arbeiters, des Produzenten und des Verbrauchers, des Gläubigers und des Schuldners zu vereinigen sucht, indem es alle diese Interessen in die gleiche Person verlegt, — dieses Programm ist sicherlich keine mittelmäßige Leistung. Während des ganzen 19. Jahrhunderts ist es das Ideal der Arbeiterklasse, wenigstens in Frankreich, bis zu dem Tage, an dem der marxistische Kollektivismus es zurückdrängte, — wahrscheinlich aber keineswegs auf immer.

Charles Fouriers Ansichten waren zu exzentrisch, als daß sie großen Einfluß ausgeübt hätten, doch seine Schriften enthalten einen solchen Ideenreichtum, daß sie für viele Gesellschaftsreformer zu einer unerschöpflichen Inspirationsquelle wurden, und sogar seine erbittertsten Widersacher waren von ihm beeinflußt. Die Vorwegnahme von Gartenstädten, die die Zusammenballung großer Städte ersetzen sollten, die Befürwortung von Handelsgärtnereien an Stelle umfassender Landwirtschaft, die Erforschung der Mittel, wie die Arbeit attraktiver gestaltet werden könnte, die Lehren über Erziehung und sexuelle Fragen, beschäftigten unmittelbar sicherlich nur eine kleine Minderheit, doch durch ihre Vermittlung wurden sie vielen vertraut, die Fouriers Schriften nie gelesen haben.

Obwohl Fourier selbst seinen Traum von einer Phalanx nie verwirklichen konnte, wurden sowohl in Frankreich als auch in Amerika Gemeinschaften gegründet, die auf seinen Vorstellungen basierten. Die gefeiertste war Brook Farm in den Vereinigten Staat, obwohl sie nicht lange bestand. Auch Genossenschaften von Produzenten und Konsumenten, die nach Fouriers Prinzipien organisiert waren, wurden mit einigem Erfolg gegründet.

Unter den Vätern des Sozialismus sollten wir auch Saint-Simon erwähnen, denn er und wahrscheinlich eher noch seine Anhänger stellten Ideen auf, die in vielen Utopien der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu finden sind. Während Owen und Fourier in vieler Hinsicht eine Reaktion gegen die Industrialisierung verkörperten und sich eine Rückkehr zu kleinen landwirt­schaftlichen Gemeinschaften wünschten, war Saint-Simon ein begeisterter Vertreter des neuen industriellen Systems und der neuen herrschenden Klasse, die von der großen Revolution geschaffen und der rapiden Expansion der Industrie bereichert worden war.

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Unter der alten Ordnung wurde die Gesellschaft von Adel und Klerus regiert. An ihrer Stelle war nun die Bourgeoisie getreten, deren Hauptaufgabe es war, Wissenschaft und Industrie zu fördern. Es wäre lächerlich, sagte Saint-Simon, wenn eine industrielle Gesellschaft von Adligen regiert würde, die keine raison d'etre mehr haben, oder von Politikern, die von industriellen Problemen nichts verstehen. Die alten Regierungsformen müssen verschwinden, denn für die Gesellschaft sind sie vollkommen sinnlos.

In dem berühmten Dokument, bekannt als Saint-Simons Parabel, zeigte er anschaulich, daß der lebens­wichtige Teil der Gesellschaft sich aus Wissenschaftlern, Technikern, Bankiers und Geschäftsleuten zusammensetzt und nicht aus Politikern, Staatsbeamten oder Geistlichen:

Nehmen wir an, sagt er, daß Frankreich plötzlich seine 50 besten Ärzte, seine 50 besten Chemiker, seine 50 ersten Physiologen, seine 50 besten Bankiers, seine 200 besten Kaulleute, seine 600 besten Landwirte, seine 50 besten Hüttenbesitzer usw., usw. (er führt so alle bedeutendsten Berufe auf) verliere. Da diese Männer die Haupt­produzenten Frankreichs sind und die bedeutendsten Produkte hervorbringen..., so würde die Nation mit dem Augenblick, in dem sie sie verliert, ein Körper ohne Seele werden; sie würde sofort in einen Zustand der Inferiorität den Nationen gegenüber versinken, deren Konkurrentin sie heute ist, und sie würde, solange sie diesen Verlust nicht wieder eingebracht hat, solange ihr kein neues Haupt gewachsen ist, in dieser Hinsicht in einer untergeordneten Stellung verbleiben müssen.... ...Gehen wir jetzt zu einer anderen Voraussetzung über. Nehmen wir an, daß Frankreich all die genialen Menschen behält, die es in den Wissenschaften, in den schönen Künsten, im Handel und Gewerbe besitzt, daß es aber das Unglück habe, am gleichen Tage zu verlieren: Monsieur, den Bruder des Königs, Mgr. den Herzog von Angouleme (Saint-Simon führt hier alle Mitglieder der königlichen Familie auf), und daß es zur gleichen Zeit alle Groß-Offiziere der Krone, alle Staatsminister mit und ohne Portefeuille, alle Staatsräte, alle Zeremonien­meister, alle Marschälle, alle Kardinale, Erzbischöfe, Bischöfe, Großvikare und Pröbste, alle Präfekten und darüberhinaus noch zehntausend der reichsten Grundbesitzer, die gut leben, verliere, so würde dieser Unglücksfall sicherlich die Franzosen betrüben, weil sie ein gutes Herz haben, . ..aber dieser Verlust von dreißig­tausend Individuen, von denen man annimmt, daß sie für den Staat von der größten Bedeutung sind, würde nur von diesem sentimentalen Gesichtspunkte aus Trauer hervorrufen, denn für den Staat würde daraus kein politisches Übel irgendwelcher Art erwachsen.

 

Schon 1816 hatte Saint-Simon erklärt, Politik wäre die Wissenschaft von der Produktion und würde schließlich vollständig in der Ökonomie aufgehen; Frankreich sollte in eine große Fabrik verwandelt und die Nation nach dem Modell einer riesigen Werkstatt organisiert werden. In der neuen Gesellschaft würden alle Klassenunterschiede verschwinden; es würde nur noch Arbeiter geben, ein Begriff, der im weiteren Sinne Fabrikanten, Wissenschaftler, Bankiers und Künstler miteinschließt. Dies bedeutet jedoch nicht, daß alle gleich wären, denn jeder erhält nach seinen Fähigkeiten (und auch entsprechend dem investierten Kapital).

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Die Originalität Saint-Simons besteht darin, den besten Industrieführern, Wissenschaftlern, Bankiers usw. die Verwaltung des Landes zu übertragen. Mit anderen Worten, die alte Regierung der Politiker wird durch eine Regierung der Manager ersetzt.

Mehr als hundert Jahre, bevor wir anfingen, von einer Managerklasse oder von einer Revolution der Manager zu sprechen, sah Saint-Simon voraus, daß die industrielle Revolution eine neue herrschende Klasse ins Leben rufen würde. Wir werden sehen, wie Edward Bellamy Saint-Simon nachahmt, wenn er seine Utopie auf eine sozialistische Basis stellt. Die Idee, daß die Regierung der Menschen durch die Verwaltung der Dinge ersetzt werden müßte und daß alle Probleme der Gesellschaft sich in der Frage der Produktion auflösen, wurde im neunzehnten Jahrhundert zur gängigen Vorstellung. 

In einem der vielen Regierungssysteme, die Saint-Simon aufstellte, überträgt er die Exekutive einer Abgeordnetenkammer, die sich aus Vertretern von Handel, Industrie, Handwerk und Landwirtschaft zusammensetzt. Sie soll Gesetzesvorschläge, die ihr von zwei Kammern, bestehend aus Wissen­schaftlern, Künstlern und Ingenieuren, unterbreitet werden, annehmen oder ablehnen. Die einzige Aufgabe dieser Regierung wäre es, den materiellen Wohlstand des Landes zu vergrößern. Dieses System ließe der Masse der Arbeiter, in die Saint-Simon überhaupt kein Vertrauen hatte, keine Eigeninitiative: 

Das Problem der gesellschaftlichen Organisation, sagte er, muß für das Volk gelöst werden. Das Volk selbst ist passiv und gleichgültig und muß bei jeglicher Überlegung zu dieser Frage außerachtgelassen werden. Es wäre das Beste, die industrielle Führung mit der öffentlichen Verwaltung zu betrauen, die immer unmittelbar versuchen wird, ihren Unternehmungen den größtmöglichen Umfang zu geben, mit dem Erfolg, daß ihre Bemühungen in dieser Richtung zu der größtmöglichen Steigerung des Arbeitsertrags führen, der von der Masse des Volkes erbracht wird.  

Obwohl sozialistische Theoretiker sich entsetzt über Saint-Simons anmaßenden Umgang mit dem Proletariat zeigten, findet man in vielen sozialistischen Schriften die Vorstellung, daß die Verwaltung eines Landes eine Angelegenheit von Experten sei und daß die Staatsmaschine sich aus Komitees und Kommissariaten von Technikern und Unternehmensleitung zusammensetzen soll, und in Rußland haben wir die Herausbildung einer Managerklasse erlebt, die mit ökonomischen und politischen Privilegien ausgestattet ist, wie Saint-Simon es befürwortet hätte, obwohl er die Beibehaltung einer politischen Partei und professioneller Politiker streng verurteilt hätte.

Während Owen, Fourier und Saint-Simon wenig Vertrauen auf das Eingreifen des Staates bei der Umbildung der Gesellschaft setzten, ist Louis Blanc einer der ersten Sozialisten, der dem Staat die Aufgabe der Gesellschaftsreform zuteilt. Er behauptete, es wäre die Pflicht des Staates, darauf zu achten, daß das 'Recht auf Arbeit' durchgesetzt und dadurch das Verbrechen beseitigt würde, welches nur auf die Armut zurückzuführen sei. Nur durch Abschaffung des Wettbewerbs kann die Regierung Arbeitslosigkeit, Armut und moralischen Verfall, die daraus resultieren, beseitigen. Seine Aufgabe ist es deshalb, zum obersten Steuerer der Produktion zu werden und zuerst in den wichtigsten Industriezweigen »gesellschaftliche Werkstätten« einzurichten und sie allmählich auf das ganze Land auszudehnen. Der Staat würde schließlich zum einzigen Eigentümer aller Produktionsmittel, zumindest so lange die Ungleichheit besteht, denn wenn vollkommene Gleichheit herrscht, würde der Staat absterben.

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Louis Blancs Reformvorschläge wurden in einer Broschüre mit dem Titel Organisation der Arbeit (L'Organisation du Travail) dargelegt, die 1839 veröffentlicht wurde und sich zu jener Zeit ungeheurer Beliebtheit erfreute. Sie wird oft als Utopie bezeichnet, obwohl sie gerade das Gegenteil ist, nämlich ein Vorschlag für unmittelbare Reformen und der Anfang eines kollektivistischen Produktionssystems.

Daß Louis Blanc selbst fest an die Durchführbarkeit seiner Vorschläge glaubte, zeigt die Tatsache, daß er nach der Revolution 1848 die Generalversammlung bat, ein Ministerium für den Fortschritt einzurichten, das die Pläne, die er in Organisation der Arbeit umrissen hatte »durchführen sollte. Das Ministerium für den Fortschritt würde ,die Revolution in Bewegung setzen': Banken, Eisenbahnen und Bergwerke würden verstaatlicht und das Geld dazu verwandt, gesellschaftliche Werkstätten in den wichtigsten Industriezweigen einzurichten.

Der Staat würde Beamte benennen, die im ersten Jahr die Fabrik leiteten, doch wenn die Arbeiter einander erst kennengelernt und Interesse an dem Unternehmen bekommen hätten, würden sie ihre eigenen Beamten wählen. Jedes Mitglied der gesellschaftlichen Werkstatt hätte das Recht, nach Belieben über das Produkt seiner Arbeit zu verfügen, doch bald führten die einleuchtende Ökonomie und die unbestreitbaren Vorteile des Gemeinschaftslebens von der Arbeitsassoziation zur freiwilligen Assoziation zur Befriedigung der Bedürfnisse und des Vergnügens. Louis Blanc stellte auch einen Plan für die kollektive Kultivierung des Landes auf, indem er gesellschaftliche Landwirtschaftswerkstätten schuf, die nach ähnlichen Prinzipien funktionierten wie die gesellschaftlichen Industrie-Werkstätten. Louis Blancs System wurde nie in die Praxis umgesetzt. Der Versuch der Regierung 1848, Nationale Werkstätten einzurichten, wurde nur unternommen, um seine Ideen zu diskreditieren, doch unter dem Einfluß seiner Schriften entstanden in Frankreich zu jener Zeit viele Produktionskooperativen.

 

Im ganzen gesehen sind die Utopien des neunzehnten Jahrhunderts, die ihre Anregungen aus den bisher kurz betrachteten Theorien beziehen, erbärmlich einfallslos. Ihr Ziel ist die Errichtung einer riesigen Maschinerie, die das perfekte Funktionieren der Gesellschaft und den materiellen Wohlstand aller garantiert. Doch in diesen komplizierten Mechanismen geht die menschliche Persönlichkeit vollständig unter.

Der Staat wird zum allwissenden, für alles sorgenden Gott, dem niemals Fehler unterlaufen, und wenn es so wäre, hätte niemand die Macht, sie zu berichtigen. Ob der Staat durch allgemeines Wahlrecht, wie in Cabets Reise nach Ikarien, oder durch eine industrielle Hierarchie, wie in Bellamys Rückblick, verwaltet wird, die Ergebnisse sind die gleichen: der Mensch ist unfähig, seine Persönlichkeit auszudrücken, außer in den staatlich vorgeschriebenen Bahnen. Er wird zum Automaten, arbeitet die gesetzlich vorgeschriebene Stundenzahl, erfüllt Aufgaben, die durch eine ausgeprägte Industrialisierung eintönig und unpersönlich geworden sind. Das Produkt seiner Arbeit wird in gigantischen Magazinen angehäuft, um von einer Gemeinschaft konsumiert zu werden, zu der er keine wirklichen Verbindungen hat, denn sie ist zu ungeheuer und zentralisiert, um intime Beziehungen zuzulassen. Manchmal wird der Versuch gemacht, einen Gemeinschaftssinn zu schaffen, indem zum Beispiel alle Leute desselben Gebiets in Gemeinderestaurants versammelt werden, doch wie so viele Einrichtungen in den Utopien des neunzehnten Jahrhunderts ist es ein rein künstliches Mittel zur Herstellung eines Gemeinschaftssinns. In den Utopien der Vergangenheit, wie in Andreaes Christianopolis, war die Einheit der Gemeinschaft 'funktional'.

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Arbeiter, die in demselben Handwerk beschäftigt waren, versammelten sich, um die mit ihrer Arbeit verbundenen Probleme zu besprechen, die ganze Gemeinschaft kam zusammen, um die benötigte Menge von Nahrung, Kleidung, Mobiliar usw. zu besprechen, und die Produktion wurde entsprechend den Bedürfnissen der Gemeinschaft geregelt, die sich aufgrund ihrer geringen Größe gut kannte. Doch in den Utopien des neunzehnten Jahrhunderts ist der Grad der Autonomie, der Fabrikkomitees und Konsumentenvereinigungen zugestanden wird, meist nur scheinbar. Es gibt wenig, was die Arbeiter besprechen könnten, wenn alles vom Staat geregelt wird, dank seiner Experten und statistischen Büros. 

Mumford hat darauf hingewiesen:

Diese Utopien werden zu riesigen Netzwerken aus Stahl und Bürokratie, bis wir uns im Alptraum des Maschinen­zeitalters gefangen sehen und niemals mehr entkommen... Das Mittel ist zum Zweck geworden, und die eigentliche Frage des Zwecks wurde vergessen... Ich bezweifle, daß ein intelligenter Bauer in Indien oder China in diesem ganzen Berg von Utopien eine einzige Idee finden könnte, die irgendeine Bedeutung für sein Leben hätte, wie er es erfährt — so wenig menschliche Bedeutung bleibt, wenn man die Probleme mechanischer und politischer Organisation beiseite läßt!

 

Zum Glück gibt es einige Utopien, wo der Mensch wieder zu sich selbst findet, wo er nicht auf eine Maschine reduziert wird, die gefüttert, gekleidet und untergebracht werden muß wie irgendein Maschinenteil, das sorgfältige Behandlung erfordert, wenn es den größtmöglichen Ertrag bringen soll, wo er nicht von Jugend an zu einem guten Bürger geformt wird, das heißt, zu einem Bürger, der dem Gesetz vollkommen gehorsam und unfähig ist, selbständig zu denken. Von diesen Utopien des freien Sozialismus ist William Morris' Kunde von Nirgendwo die verlockendste, und sie ist von bleibendem Wert, aufgrund dessen sie hierzulande und im Ausland immer noch viel gelesen wird. 

Es gibt auch zahlreiche utopische Romane, wie W.H. Hudsons Das Kristallzeitalter (The Crystal Age) und W.H. Mallocks Die neue Republik (The New Republic), die nicht den Anspruch erheben, einen idiotensicheren Plan für eine vollkommene Gesellschaft aufgestellt zu haben, sondern die Art von Gemeinschaft beschreiben, in der die Verfasser gerne leben möchten. H.W. Hudson hat selbst darauf hingewiesen, daß diese Romane 

wie phantastisch sie auch immer sein mögen, für die meisten von uns von einem ständigen, versteckten Interesse sind, denn sie sind aus einem gemeinsamen Gefühl geboren — einem Gefühl der Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung der Dinge, verbunden mit einem vagen Glauben oder einer Hoffnung auf eine bessere Zukunft... (Man kommt nicht) umhin, einander zu fragen, Was ist dein Traum, dein Ideal? Was ist deine Kunde von Nirgendwo?  

Wie wenig man sich auch zu Hudsons geschlechtsloser Gesellschaft oder W.H. Mallocks veredeltem Landhaus hingezogen fühlen mag, man kommt nicht umhin, diese utopischen Schreiber etwas erfrischender zu finden als die zahllosen Messias, mit denen der Pfad des neunzehnten Jahrhunderts übersät ist.

Ich hätte gern in diesem Abschnitt Auszüge aus Butlers Erewhon (Jenseits der Berge) aufgenommen, denn es ist eine Satire auf viele Ideen, die im neunzehnten Jahrhundert häufig geäußert werden, insbesondere auf den Glauben, daß der umfassende Gebrauch der Maschinerie der Menschheit automatisch das Glück bringen wird, doch Erewhon kann nicht im eigentlichen Sinn als Utopie betrachtet werden.

Es gehört, wie Desmond McCarthy bemerkt hat, zur selben Gattung der Romanliteratur wie Gullivers Reisen; jene Bücher, in denen eine imaginäre Zivilisation als Kunstgriff benutzt wird, um unsere eigene zu kritisieren. Ich habe stattdessen Auszüge aus Eugen Richters Sozialdemokratische Zukunftsbilder aufgenommen, einer satirischen Utopie ohne philosophischen Anspruch, die jedoch viele Einwände illustriert, die die Utopien des Staats­sozialismus in einem hervorrufen.

Es gibt wenige Utopien des neunzehnten Jahrhunderts, die auch heute noch ohne ein Gefühl äußerster Langeweile lesbar sind, außer man amüsiert sich über die offensichtliche Eitelkeit der Verfasser, wenn sie sich für die Erlöser der Menschheit halten. Die Utopien der Renaissance enthielten viele reizlose Wesenszüge, doch sie hatten eine visionäre Ausstrahlung, die Respekt forderte; die des siebzehnten Jahrhunderts boten viele ausgefallene Ideen, doch sie offenbarten suchende, unzufriedene Geister, die einem sympathisch sein müssen; doch obwohl wir in vieler Hinsicht mit den utopischen Gedanken des neunzehnten Jahrhunderts vertraut sind, sind sie uns doch fremder als die einer entfernteren Vergangenheit.

Trotz der Tatsache, daß diese utopischen Schreiber zweifellos von den edelsten Motiven beseelt waren, kann man sich eines erbitterten Gefühls gegen das neunzehnte Jahrhundert nicht erwehren wie der alte Mann in Kunde von Nirgendwo, erbittert auch über die Liebe, die diese utopischen Schreiber über die Menschheit ausschütteten, denn sie sind offenbar wie so viele überbesorgte und überängstliche Mütter, die ihre Söhne lieber mit Zuneigung umbringen würden als ihnen auch nur einen Augenblick Freiheit zu gönnen.

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