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4  Eine andere Welt ist nötig - Notwendige, aber ungehaltene Rede zum 8. Mai 2005

 

 

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Mitbürgerinnen und Bürger. 

Etwas Sonderbares ist es um das heutige Datum — etwas beunruhigend Sonderbares. 60 Jahre sind im Allgemeinen kein jubiläumswürdiger Abstand. Aber dennoch will uns allen scheinen, dass uns der 8. Mai 1945 heute so intensiv, ja vielleicht intensiver beschäftigt als vor zehn Jahren. Und die Merksteine, die wir bereits passiert haben (das Gedenken an die Landung in der Normandie, an die Befreiung von Auschwitz) wurden mit größter Aufmerksamkeit wahrgenommen.

Das ist neu, ebenso neu wie die Länge der Friedenszeit, die uns Nachkriegseuropäern seit dem 8. Mai 1945 beschieden war und ist. Sogar die schläfrige Frist zwischen 1815 und 1864, dem Anfangsjahr der Einigungskriege, hat unsere Jubiläumszahl nicht erreicht. Auch der Revolution von 1848/49 entspricht in unserer jüngsten Chronik kein bedeutsames Datum — sicher nicht die doch recht oberflächlichen Wirren nach 1968.

Was ist es also, was Deutschland bewegt, sich gerade im Jahre 60 dieses Friedens so beunruhigt über die befreiende Katastrophe von gestern zu beugen, in ihren Linien und der Fortführung dieser Linien nach einer Diagnose auch für unsere eigene Gegenwart zu suchen? 

Ist es vielleicht nur die runde Tatsache von zwei vollendeten Generationen — zwei mal dreißig? Das genügt bestimmt nicht. Ist es nicht eher das Wissen, dass die Millionen Untoten noch so lebendig sind wie vor sechzig Jahren, dass ihr hartnäckiger Anspruch auf unsere Zuwendung um keinen Deut abgenommen, ja dass er sich aufs Schwierigste differenziert hat? Oder in schwarzem Gegensatz: dass sich die Zahl derer vermehrt hat, die, einem absolut anderen Untod unterliegend, in die dumpfbraunen Nebel der Erkenntnis- und Umkehrverweigerung flüchten?

Sicher, auch dies mag zur Steigerung der Aufmerksamkeit beitragen; aber für eine umfassende Erklärung reicht dies alles nicht hin.

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Vielleicht hilft uns eine schlichte Kalendertatsache weiter: das fünfzigjährige Gedenken fand 1995, also noch im zwanzigsten Jahrhundert statt. Es war, den Thesen der Historiker nach, ein mörderisches, ein totalitäres, aber ein kurzes Jahrhundert — historisch dauernd von 1914 bis 1989, dem Jahr der Implosion des Sowjetblocks. Dieses Ereignis wurde als »Ende der Geschichte« deklariert: eine heile Staatenwelt, den Abgründen des möglichen Nuklearkriegs entronnen, eine Welt der Menschenrechte und der freien Ausdehnung des Wohlstands, würde sich nun in die unabsehbare Zukunft erstrecken können.

Nun, wir wissen, welches Datum diese heitere Utopie zerstört hat: der 11. September 2001. Er öffnete ein Fenster zumindest in die nahe Zukunft, das ein unheimliches Panorama freigab: das Panorama eines nie erklärten und erklärbaren, eines nie formal beendbaren asymmetrischen Weltkrieges, in dem sich uralte und ganz neue Hassfronten gegenseitig auftürmen, einer Zeit und eines Geländes voller Todesgefahren, deren perverseste von einem Heer von Selbstmordattentätern ausgeht.

Aber ist dieser vordergründig sichtbare Terror die zentrale Problematik des 21. Jahrhunderts? Keineswegs. Im Vergleich zur eigentlichen Weltgefahr ist al-Qaeda eine mickrige kleine Räuberbande. Die eigentliche Weltgefahr gewahren wir erst, wenn wir uns die trockenen Daten des Weltzustandes — sagen wirs genauer: des Erd-Zustandes, des Zustandes der Lebenswelt — vor Augen führen.

Der eminente Biologe Edward O. Wilson hat kürzlich ein Buch mit dem provokanten Titel »Die Zukunft des Lebens« vorgelegt. Im Rahmen dieser Zukunft geht es ihm vor allem um unser neues, unser 21. Jahr­hundert. Es genügt, daraus eine einzige Passage zu zitieren: »Das Jahrhundert der Umwelt hat begonnen — ein Jahrhundert, in dem die unmittelbare Zukunft als Engpass aufgefasst werden muss.« Und er fährt fort: »Wissenschaft und Technik, gepaart mit steinzeitlicher Sturheit und Mangel an Einsicht, haben uns in die heutige Situation hineinmanövriert. Wissenschaft und Technik, verbunden mit einer gehörigen Portion Weitblick und moralischem Mut, sind nun erforderlich, um uns zu helfen, den Engpass zu überwinden und einen Weg aus der Krise zu finden.«

(d-2014:)   E.Wilson bei detopia 

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Das ist wissenschaftlich, — und das ist ethisch gesprochen. Aber es ist auch in höchstem Maße realistisch. Und es betrifft eben nicht nur das kleine javanische Wollnashorn oder ein paar hübsche Schmetterlingsarten; es betrifft uns alle, Menschen und alle übrigen Arten im dichten, pulsierenden Gewebe der Biosphäre. Es betrifft uns bereits in der täglich erfahrbaren Qualität unseres Lebens. Es betrifft uns durchaus, dass im Lauf des zwanzigsten Jahrhunderts die Wälder der Welt um 40 Prozent dezimiert wurden. Es betrifft uns durchaus, dass die Bodenerosion weltweit pro Kopf und Jahr 4000 Tonnen beträgt. Es betrifft uns — wir alle wissen es — die Veränderung des Klimas, die Verknappung der Wasservorräte, der Schwund der Tier- und Pflanzenarten, die wachsenden Berge lebensfeindlichen Mülls.

Aber natürlich ebenso betrifft uns der gesellschaftliche Zustand der Menschheit, der in steter ursächlicher Verbindung mit dem ökologischen Raubbau entstanden ist. Zwanzig Prozent dieser Menschheit besitzen fünfundachtzig Prozent der Ressourcen des Planeten, die zwanzig ärmsten Prozent genau zwei. Zwei Milliarden leben in äußerster Armut, und 35 000 verhungern täglich. (Zu ergänzen wäre, dass etwa eine Milliarde an Übergewicht leidet.) Sowohl die Krankheitssymptome der städtischen wie der ländlichen Armut verschärfen sich ständig — ebenso wie die des enormen minoritären Reichtums.

All dies ist hinlänglich bekannt, war und ist Gegenstand von Gipfeltreffen und Symposien mannigfacher Art und Autorität, Treibkraft von Nicht-Regierungsorganisationen und neuen sozialen Bewegungen. Und doch: angesichts der Immensität der Aufgabe erscheint die Öffentlichkeit wie gelähmt, tummelt sich der vordergründige Betrieb der Politik in altbekannten Klischees, ob sie nun von rechts oder von links in die Debatten und Talkshows geworfen werden.

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Der überwältigenden Mehrheit der Intelligentsia, welche die Stichworte für das öffentliche Gespräch liefert, ist die alles andere überbietende Dringlichkeit des Anliegens emotional fremd geblieben, die Intellektuellen behausen im Wesentlichen nur die urbanen Sektoren des Kulturbetriebs, die sich alle, über mehrere Stufen hinweg, unbewusst und selbstverständlich vom Mark der allgerechten Erde nähren.

Die augenfälligste Absurdität ist jedoch der Zustand der so genannten Wirtschaftswissenschaft. Sie predigt, gefördert durch großzügigste Gelder, als Heilung aller Übel die nationale Notwendigkeit stetigen exponentiellen Wirtschaftswachstums, die weltweite Notwendigkeit des schrankenlosen Freihandels, die absolute Notwendigkeit einer angebotsorientierten, stetig neue Bedürfnisse aufspürenden oder auch schaffenden Produktionsweise, also das genaue Gegenteil dessen, was der Weltzustand dringend nahe legt.

Nicht nur die Wirtschaftsteile, sondern auch die politische Ausrichtung der Medien; fast der gesamte Konsens der veröffentlichten Meinung folgt diesen dogmatischen Vorgaben. Werden Reformen erwogen oder durchgeführt, haben sie sich im Rahmen dieser Doktrin zu bewegen — und verschärfen so noch die Übelstände, denen sie steuern sollen. Die so genannte Umweltproblematik, das »Politikfeld Umwelt«, wie ein prominenter Sprecher der Wirtschaft es ahnungslos nannte, wird als Vor-, genauer, als Hinter-Gärtlein gelegentlich zur Besichtigung freigegeben, darf aber die Bedürfnisse der ökonomischen Betriebsamkeit in keiner Weise beeinflussen.

Wie kam und kommt es zu diesem wahrhaft närrischen Zustand? Nun, es gibt viele Gründe dafür. Da ist die Trägheit, die Phantasielosigkeit, die Korruption politischer Systeme und Regierungen; da ist die Schwierigkeit, das herrschende Paradigma hinter sich zu lassen; da ist natürlich die geballte Kraft der Interessen, die vor allem hinter den Manövern der großen Global Players stehen.

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Ihnen wäre nur dann erfolgreich Widerstand zu leisten, wenn genügend fähige Mitglieder der weltweiten politischen Täter begreifen würden, dass es in dieser zentralen Frage keine Trennung von Innen- und Außenpolitik mehr gibt; dass der massive Horror der Umweltverschmutzung in der ersten Amtsperiode von G.W. Bush ein Terror ist, gegen den, wie schon erwähnt, al-Qaeda eine kleine Räuberbande ist. Dass das Abholzen von Urwäldern einen zentralen Angriff auf das gesamte Wohlergehen der Welt darstellt. Dass die Verödung und Verseuchung der Meere ein ebenso weltweites entsetzliches Verbrechen an der Zukunft unserer Kinder und Enkel ist.

Aber davon hört man wenig oder nichts im politischen Diskurs. 

Immer noch kreisen die Argumente um nationale oder regionale Konkurrenzängste; werden der längst jeder staatsbürgerlichen Verantwortung entronnenen Goldenen Horde der transnationalen Konzerne und Banken immer größere und gewichtigere Vollmachten und Privilegien abgetreten.

Und so wundert es nicht, dass die großherzigen Symposien weit hinter den Notwendigkeiten zurückbleiben; dass die edlen Versprechen der Schlussresolutionen nebelhaft wirken, dass die dann folgende Implementierung des wenigen Versprochenen sich meist als Fata Morgana enthüllt. Und der Verkauf des planetarischen Familiensilbers geht weiter. In einem Satz: das Maximum des momentan Durchsetzbaren erreicht noch lange nicht das Minimum des unbedingt Notwendigen.

Vergessen wir aber in diesem Zusammenhang uns selber nicht, unsere Begrenzungen und Bedingtheiten. Der Biologe Wilson spricht von »steinzeitlicher Sturheit«, und das ist ganz wörtlich zu nehmen. Auf seinem bisherigen Wege hat der Homo sapiens noch nicht genügend Gründe gefunden, dem kurzfristigen Opportunismus des paläolithischen Jägers zu widerstehen.

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Die Überlegenheit seiner grauen Zellen über die seiner Mitgeschöpfe hat er immer wieder in bequemen Massenmord übersetzt, die mit der Sesshaftigkeit auftauchenden Vorteile der sozialen Organisation in rücksichtslose Landnahme. Kommerziell-modern kann man sagen: er hat noch jedes Schnäppchen mitgenommen — oder Anderen entrissen.

Nun, heute wissen wir einfach zu viel, und wir sind einfach zu mächtig geworden, um diese Schnäppchenjagd unbekümmert fortzusetzen. Schließlich wissen wir ziemlich genau, was statt dessen zu tun wäre. Es gilt:

Unterbleiben solche Reformen oder bleiben sie unter dem unbedingt Notwendigen, wird aus unserem Jubiläumsdatum 1945 jäh eine finstere Botschaft.

Hitler war der erste mächtige Politiker, der, vom Vulgärmaterialismus bezaubert, eine konsequente Formel für eine konsequente, an der Natur orientierte Herrschaftsmethode gefunden zu haben glaubte. Diese seine Natur verehrte er als »grausame Königin aller Weisheit«, deren Prinzip (Stärkung der Starken, Ausmerzung der Schwachen) aufs Strengste einzuhalten sei.

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 Seine Täterformel lässt sich in drei Sätzen zusammenfassen:

Nun, man weiß, wen er für diese Elite hielt: die arische, genauer gesagt die nordische Rasse. Sein Drittes Reich sollte ihrem Herrschaftsanspruch dienen. Als realistischen Weg sah er nur die Landnahme vor allem im Osten, verbunden mit der Unterwerfung und dem rechtlosen Knecht-Status der dort ansässigen Bevölkerung. (Die Juden waren für ihn ein eigenes Problem — sie waren die frechen Verbreiter einer lügnerischen und tödlichen Weltanschauung, die es besser wissen wollte als die Grausame Königin.)

Die Wahl der nordischen Rasse als Trägerin der Selektionsmacht (denn darum handelte es sich letzten, logischen Endes) war aus verschiedenen Gründen unsinnig. Hitler verstand zu wenig von Biologie, um dies zu begreifen, und damit war er eigentlich schon gerichtet. Aber seine Idee entwickelte in einer ratlosen Nation genug Motorik, um die zivilisierte Welt in Atem zu halten und ihr furchtbare Opfer abzuringen.

Die Zeit nach 1945, die Freiheitszeit, deren Jubiläum wir heute feiern, hat zunächst und vor allem die These verworfen, dass es nicht mehr für alle reicht auf Erden. In einer ungeheuren Explosion wissenschaftlich-technischen Wissens und seiner Anwendung sah man die stichhaltige Widerlegung des naturalistisch-biologistischen Hitler-Ansatzes; Menschenrecht für alle, ja Wohlstand für alle schien zum Greifen nah, es war die Botschaft, die Roosevelt und Churchill bei einem Treffen im Atlantic während des Krieges ausgesandt hatten: Freedom from Fear and Want — Freiheit von Furcht und Not.

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Die unbezweifelbare Gültigkeit des ersten Satzes der Hitlerformel, nämlich die unlösliche Verbindung von Menschen- und Naturgeschichte, schwand aus dem öffentlichen Bewusstsein — grenzenloser Optimismus war angesagt, bei gleichzeitiger Verengung des Gesichtsfeldes. Liest man Dokumente aus jener unmittelbaren Nachkriegszeit, ist diese Verengung mit Händen zu greifen. So wurden etwa Expeditionen in die Antarktis gesandt, um dort nach Uranvorkommen zu bohren; die gewaltige Wirkungskraft des Insektenvertilgers DDT wurde gepriesen und verschwenderisch eingesetzt; und man ging davon aus, dass man weite und höchst fruchtbare Anbauflächen den Urwäldern des Amazonasbeckens entreißen werde. Die auf die Dauer wohl teuerste Altlast, die wir dieser optimistischen Verblendung zu verdanken haben, ist neben der Zerstörung der Bodenfruchtbarkeit ein Gebirgsstock von radioaktivem Müll, den loszuwerden vorläufig alle unsere Fähigkeiten übersteigt.

Hätte, so ist zu fragen, eine besser organisierte Zivilisation das Versprechen weltweiter Freiheit von Furcht und Not verantwortungsvoller eingelöst? Wäre dies möglich gewesen, wenn sich das Schnäppchenverhalten des Homo sapiens gebändigt, wenn die Weisheit seiner Politiker schon damals die Beherrschung der weltwirtschaftlichen Megamaschine als unerlässliche Kondition einer bewohnbaren Zukunft begriffen hätte? Müßige Gedanken, gewiss, und leider ohne jeden Realitätsgehalt. Die sechzig Jahre, die wir seitdem durchmaßen, haben im Gegenteil genau die Drohung heraufgeführt, die seinerzeit Adolf Hitler umgetrieben hat. 

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Wenn wir nicht die Einsichten und Möglichkeiten einer ganzen Welt zusammenraffen; wenn wir sie nicht in eine wahrhafte Welt-Innenpolitik übersetzen, ist durchaus damit zu rechnen, dass auch die beiden weiteren Sätze der Hitlerformel wieder auftauchen: die Einsicht oder Behauptung, dass es nicht für alle reicht — und die mehr oder weniger spontane Übernahme der Selektions-Bürde durch eine wie immer geartete Elite.

Wie diese aussehen wird, ist sicher noch nicht zu sagen. Was sich bereits abzeichnet, ist die Bedeutungslosigkeit, die Überflüssigkeit der Masse Mensch für Viele in den heutigen sogenannten Eliten und für die wirtschaftswissenschaftliche Theorie. Und es gibt immerhin schon ein Indiz dafür, wie die Selektion gehandhabt werden könnte. Es ergibt sich aus der heftig angestrebten Privatisierung der öffentlichen Güter.

Wenn zum Beispiel in einer bitterarmen Gegend die Wasserwirtschaft privatisiert wird, findet eine Selektion der Kundschaft statt; eine Scheidung von solchen, die sich noch das teure Wasser leisten können, und solchen, die es nicht können. Die Kriterien für diese Scheidung lauten in den Köpfen der privaten Lieferanten nicht etwa »reich« und »arm«. Die Scheidung ergibt sich einfach dadurch, dass die einen Kunden werden und die Anderen, die Zahlungsunwilligen, nicht. Woher diese Zahlungsunwilligen ihr Wasser beziehen, ist nicht Sache des Lieferanten. Ebenso wenig sieht er sich dafür verantwortlich, ob sie überhaupt welches finden. Wirtschaftswissenschaftliche Lehrbücher gehen von der Wahlfreiheit des Kunden aus, nicht von seiner Not.

Fast so hat sich das in Bolivien ereignet. Aber wir kennen solche Selektionsprozesse auch hierzulande; noch reichen sie nicht an die Destitution der Altiplano-Indianer heran, noch sind wir eine begünstigte, ja reiche Nation. Dennoch: das Gesetz des Handelns, so wie es noch für unvermeidlich gehalten wird, kann uns auf die Dauer nicht verschonen. Wir haben zu wählen — zwischen einer kurzatmigen Ausschließungspolitik und stückweisem Machtverlust an die Rendite — und einer möglichen anderen Ordnung, über die sich längst viele Menschen in der ganzen Welt Gedanken machen.

Und mehr als Gedanken. Schon oft, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, sind Sie aus dem Munde von hohen Amtsträgern (auch Trägern meines Amtes) aufgefordert worden, sie sollten sich einen Ruck geben; einen Ruck heraus aus trübseligem Pessimismus und selbstgefälliger Trägheit. Die Mahnung hat nicht viel gebracht; und eifrige Zeitgenossen haben herausgefunden, dass man stets nur den anderen, aber nicht der eigenen sozialen oder politischen Gruppe die sträfliche Unbeweglichkeit vorwirft.

Nun, vielleicht gibt es eine stimmigere Erklärung. Vielleicht spürt das Gros der Menschen längst, dass es mit den alten Hauruck-Rezepten der Neuzeit und dem sturen Opportunismus der Steinzeit nicht mehr geht; dass es vielleicht an der Zeit wäre, Neues zu versuchen — nämlich nach den Werten der Moral und der Solidarität, die allgemein anerkannt werden, auch einmal praktisch zu handeln. Nach allem, was wir wissen, ist dies bisher nur selten und nur unter ganz ungewöhnlichen Bedingungen gelungen. Aber wir Menschen sind ja auch eine höchst seltene und ungewöhnliche Spezies — ein Gedanke, an den wir uns gewöhnen müssen.

Dann, und nur dann, ergeben sich realistische Aussichten auf eine bewohnbare Zukunft. Sie kann einerseits nur eine Zukunft der Freiheit und der Menschenrechte, aber auch der gemeinsam übernommenen Verantwortung für die Zukunft des biosphärischen Lebens sein. Was darunterbleibt, trägt schon die Keime künftiger Selektionen oder künftiger Kämpfe aller gegen alle in sich — auf jeden Fall die Keime unendlicher Gewalt, die der heutigen Gestalt des Terrors furchtbare Dimensionen hinzufügen kann.

Eine solche Welt können wir nicht wollen.

Aber eine andere Welt ist möglich. Es wird mehr als einen Ruck brauchen, sie zu finden — aber das 21. Jahrhundert hat ja erst begonnen.

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