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Prolog

Ein Brief an Henry Thoreau

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Lieber Henry,

ich darf Sie doch mit Ihrem Vornamen anreden? Ihre Worte laden zu Vertrautheit ein und ergeben anderweitig wenig Sinn. Wie sonst ließe sich Ihre beharrliche Verwendung des ersten Personalpronomens deuten? Als ich die folgenden Seiten schrieb, so sagen Sie, hier sind meine tiefsten Gedanken. Kein Bericht in der dritten Person könnte je eine solche Nähe erreichen. Obwohl Waiden gelegentlich belehrend klingt, lese ich es nicht wie manche andere als eine Rede an die Menge. Vielmehr ist es ein Kunstwerk: das Zeugnis eines Einwohners von Concord in Neuengland, das an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit und unter ganz persönlichen Umständen entstanden ist, das aber dennoch über fünf Generationen hinweg die allgemeine conditio humana zutreffend zu beschreiben vermag. Kann es eine bessere Definition von Kunst geben?

Sie sind der Grund, weshalb ich hierher gekommen bin. Zwar hätte unsere Begegnung ebenso gut in einem Waldstück in Delaware stattfinden können, doch nun stehe ich hier, am Ort Ihrer einstigen Hütte am Ufer des Walden-Sees. Was mich bewogen hat, hierher zu kommen, ist zum einen die Bedeutung, die Ihnen in der Literatur und in der Naturschutzbewegung zukommt, aber es gibt auch einen weniger edlen Beweggrund, wie ich gestehen muss. Ich wohne nämlich nur zwei Städte weiter, in Lexington. Meine Pilgerfahrt hierher ist also ein angenehmer Nachmittagsausflug in ein Naturschutzgebiet. Hauptsächlich aber bin ich hier, weil Sie unter all Ihren Zeitgenossen derjenige sind, den ich am dringendsten verstehen möchte. Als Biologe mit einer modernen wissenschaftlichen Bibliothek weiß ich mehr, als Darwin wusste. Ich kann mir die gemessenen Antworten dieses Landedelmanns auf die Fragen eines anderthalb Jahrhunderte später lebenden modernen Zeitgenossen gut vorstellen. Doch das stellt mich nicht wirklich zufrieden: Die

Baumstümpfen, nur um rasch von dem Pilz entdeckt und abgetötet zu werden. Mit ihren zarten, gezackten Blättern erinnern die dem Untergang geweihten Schösslinge nur noch schwach an die mächtigen Bäume, die einst ein ganzes Viertel der unberührten Wälder der amerikanischen Ostküste ausmachten. Ansonsten gedeihen hier jedoch noch alle Arten von Bäumen und Sträuchern, die Ihnen so gut bekannt waren. Der rote Ahorn ist heute sogar noch stärker verbreitet als damals. Er ist nicht nur die leuchtend rote Zierde des neuenglischen Herbstes, sondern wird auch mehr denn je bei der Wiederaufforstung der Wälder verwendet.1

Ich kann Sie mir sehr gut vorstellen - auf der leicht erhöhten Türschwelle sitzend, so wie Ihre Schwester Sophia Sie gezeichnet hat. Es ist ein kühler Morgen im Juni, nach meiner Ansicht der beste Monat in Neuengland. In meiner Vorstellung sitze ich neben Ihnen. Ruhig lassen wir unseren Blick über die im Frühjahr angeschwollene, weite Wasserfläche schweifen, die von den Bewohnern Neuenglands merkwürdigerweise als »Teich« (Waiden Pond) bezeichnet wird. Hier und heute sprechen wir eine gemeinsame Sprache, wir atmen dieselbe reine Luft und lauschen dem leisen Rauschen der Kiefern. Mit unseren Schuhen scharren wir im Laub, halten inne, schauen hoch, um einen Rotschwanzbussard zu beobachten, der über uns kreist. Wir lassen uns im Gespräch treiben, doch entfernen wir uns nie so weit von unserem zentralen Thema der Naturgeschichte, dass der Zauber, der uns in Bann hält, gebrochen würde. Auch werden wir nie so vertraulich, dass der kindliche Ursprung unseres gemeinsamen Vergnügens aufgedeckt würde. Selbst in tausend Jahren wird Waiden Woods sich nicht verändern, davon bin ich überzeugt - ein Stück Natur in schwankendem Gleichgewicht, das seine zauberhafte Wirkung auf die menschlichen Gefühle nicht verfehlt.

Wir stehen auf, um einen kleinen Spaziergang zu machen. Der Weg durch den Wald führt uns hinab zum Seeufer, dessen Konturen sich seit Ihrer Zeichnung aus dem Jahre 1846 wenig verändert haben. Wir folgen dem Weg bis zu einer Anhöhe, wo wir zur Lincoln Road hinaufsteigen. Dann biegen wir zur Wyman Meadow ab und beenden unseren Rundweg nach etwa drei Kilometern wieder bei Thoreau's Cove. Auf unserer Wanderung halten wir nach den Waldstücken Ausschau, die am wenigsten von Axt und Säge verwüstet wurden. Um diese Gebiete wollen wir nicht herum wandern, sondern mitten hindurch. Wir entfernen uns nicht weiter als einige hundert Meter vom Seeufer, denn schließlich war fast das gesamte Land außerhalb dieses Umkreises zu Ihren Lebzeiten Nutzfläche.

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Unsere Unterhaltung besteht überwiegend aus abwechselnden Monologen, denn die von uns jeweils bevorzugten Organismen sind so unterschiedlich, dass wir sie einander erklären müssen. Sie stimmen mir sicherlich zu, dass es zwei Arten von Naturforschern gibt, je nach den Leitbildern ihrer Forschung. Die erste Kategorie, zu der auch Sie gehören, hat sich die Erforschung großer Organismen zum Ziel gesetzt: Pflanzen, Vögel, Säugetiere, Reptilien, Amphibien, Schmetterlinge vielleicht noch. Solche Forscher lauschen auf Tierrufe, spähen in die Baumkronen, stochern in Baumhöhlen herum oder suchen im Uferschlamm nach Fährten und Tierexkrementen. Ihre Blickrichtung schwankt um die Horizontale herum, zunächst nach oben, um die Baumkronen zu sondieren, dann nach unten, um den Boden zu sichten. Forscher, die nach großen Organismen suchen, sind oft mit einem einzigen Fund am Tag zufrieden. Wenn ich mich recht entsinne, hat es Ihnen nicht das Geringste ausgemacht, sechs Kilometer oder mehr zu wandern, nur um zu sehen, ob eine bestimmte Pflanze Blüten getrieben hatte.

Ich gehöre zur anderen Kategorie der Naturforscher. Ich liebe kleine Organismen. Zwar bin auch ich ein Jäger, jedoch eher von der Art eines schnüffelnden Opossums als eines reißenden Pan-ters. Ich denke in Millimetern und Minuten und muss auf meinen Streifzügen nie lange auf der Lauer liegen. Der Reichtum der wirbellosen Tiere und die relative Mühelosigkeit der Erfolge haben mich unwiderruflich verwöhnt. Wenn ich ein artenreiches Stück Wald betrete, laufe ich selten mehr als hundert Meter. Vor dem ersten viel versprechenden morschen Baumstamm halte ich an. Kniend drehe ich ihn um, und sofort belohnt mich der darunter zum Vorschein kommende Mikrokosmos. Wurzelfasern und Pilzfäden werden auseinander gerissen, und die daran klebenden Baumrindenstücke fallen zurück auf die Erde. Der feuchte, modrige Geruch gesunden Waldbodens steigt mir wie ein geliebtes Parfüm in die Nase. Die ihrer Deckung beraubten Lebewesen sind wie Rehe, die auf einer Landstraße plötzlich vom Scheinwerferlicht er-tasst werden und für einen Augenblick völlig erstarren. Rasch stieben sie jedoch auseinander, um dem Licht und der austrocknenden Luft zu entfliehen. Jedes Tier bewegt sich dabei auf ganz charakteristische Weise.

Eine weibliche Wolfsspinne stürzt Hals über Kopf

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davon und bleibt, da sie keinen Schutz findet, nach wenigen Körperlängen stocksteif stehen. Ihre fleckige Körperfärbung bietet zwar eine hervorragende Tarnung, doch der weiße Eikokon, den sie zwischen ihren Kiefertastern und den Kieferklauen trägt, verrät sie. Nicht weit von ihr entfernt rollen sich ein paar Tausendfüßer hastig zusammen, die sich zum Zeitpunkt der Katastrophe nichtsahnend an Schimmelpilzen gütlich getan hatten. Am anderen Ende der freigelegten Fläche lugt unter einem vermoderten Stück Baumrinde ein riesiger Skolopender-Hundertfüßer hervor. Sein segmentierter Rumpf gleicht einer schimmernden, braunen Rüstung, seine Kieferfüße ähneln giftgefüllten Spritzen und seine Beine nach unten gebogenen Sicheln. Der Skolopender ist nicht gefährlich, solange man nicht versucht, ihn aufzuheben. Doch wer wollte es wagen, diesen Miniaturdrachen zu berühren. Stattdessen stoße ich ihn mit einem Zweig an. Weg mit dir! Er windet sich, schnellt herum und verschwindet blitzartig. Nun kann ich gefahrlos meine Finger durch den Humusboden gleiten lassen und nach weniger bedrohlichen Arten suchen.

Diese Arthropoden oder Gliederfüßer sind die Riesen des Mikrokosmos (wenn ich mit meinen Erläuterungen, die sich fast schon zu einem kurzen Vortrag auswachsen, fortfahren darf). Lebewesen dieser Größe treten zu Dutzenden - ja sogar zu Hunderten - auf, wenn eine Ameisen- oder Termitenkolonie vorhanden ist. Gleichwohl sind diese Zahlen vergleichsweise trivial. Wenn man sich in der Größe der Tiere um eine Zehnerpotenz nach unten bewegt und die Lebewesen betrachtet, die mit bloßem Auge gerade noch sichtbar sind, so geht ihre Zahl in die Tausende. In der Erde wimmelt es von Fadenwürmern und Enchyträen, Milben, Springschwänzen, Wenigfüßern, Doppelschwänzen, Zwergfüßern und Bärtierchen. Verteilt man sie auf einem weißen Stück Stoff, entpuppt sich jedes noch so winzige krabbelnde Pünktchen als voll entwickeltes Lebewesen. In ihrer Gesamtheit sind sie weit eindrucksvoller und vom Erscheinungsbild vielfältiger als alle in dieser Gegend vorkommenden Schlangen, Mäuse, Singvögel und sonstigen Wirbeltiere zusammen. Ihr Lebensraum ist ein Labyrinth aus winzigen Höhlen und Wällen aus vermodernden Pflanzenabfällen, durchzogen von vielen Metern Pilzfäden. Und diese Organismen bilden nur die Oberfläche der Flora und Fauna zu unseren Füßen.

Wenn wir eine noch stärkere Vergrößerung wählen und uns den mikroskopisch kleinen Wasserfilm auf Sandkörnern an-

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schauen, entdecken wir zehn Milliarden Bakterien in einem Fingerhut voll sandiger Erde und Insektenkot. Sie sind die Energiegrundlage der Welt der Mikrokonsumenten, so wie wir sie 150 Jahre nach Ihrem Aufenthalt in Waiden Woods verstehen.2

In dem Humus und der vermodernden Vegetation unter unseren Schuhen entfaltet sich die ungebändigte Natur. Zwar ist die Wildnis, so wie man sie sich gemeinhin vorstellt, verschwunden; Wölfe, Pumas und Vielfraße kommen in den Forsten von Massachusetts nicht mehr vor. Doch eine andere, urtümlichere Wildnis lebt fort. Das Mikroskop kann sie sichtbar machen. Wir brauchen nur unseren Blickwinkel zu verkleinern, und schon sehen wir einen Teil dieser Wälder so, wie sie vor tausend Jahren ausgesehen haben. Dies ist die Perspektive des Naturforschers, der sich auf die Erforschung kleiner Organismen verlegt hat.

'Thoreau. Ist es richtig, dass Sie Ihren Namen auf der ersten Silbe betonten - wie bei dem englischen Wort thorough für gründlich? Das hat zumindest Ihr enger Freund Ralph Waldo Emerson auf einen Zettel gekritzelt, den man unter seinen Papieren fand. Als gründlichem Naturforscher hätte Ihnen der jüngst zu Ihren Ehren hier abgehaltene Tag der Artenvielfalt sicherlich gefallen. Die Idee dazu stammte von Peter Alden, einem Einwohner Con-cords und international tätigen Naturführer. Am 4. Juli 1998, dem 143. Jahrestag Ihres Einzugs in Ihr Haus am Walden-See, kamen Peter und ich und mehr als hundert weitere Naturschützer aus Neuengland zusammen, um eine Bestandsaufnahme aller wild lebenden Pflanzen-, Tier- und Pilzarten vorzunehmen, die wir an einem Tag ohne Handlupe, mit bloßem Auge, in der Umgebung von Walden zwischen Concord und Lincoln finden konnten. Tausend Arten hatten wir uns zum Ziel gesetzt. Doch als wir am Abend des Aktionstages den zerkratzten und zerstochenen Teilnehmern beim gemeinsamen Abendessen im Freien das Gesamtergebnis verkündeten, waren es 1904 Arten.

Wenn man es genau nimmt, waren es sogar 1905, denn am nächsten Tag tauchte plötzlich wie aus dem Nichts ein Elch (Alces alces) mitten in Concord auf. Da er die Stadt jedoch schon kurze Zeit später wieder verließ, verringerte sich die Artenvielfalt wieder auf das Niveau vom 4. Juli.3

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Wenn Sie sich an diesem Tag der Artenvielfalt zu uns gesellt hätten, wären Sie wahrscheinlich nicht besonders aufgefallen - jeden-alls solange Sie darauf verzichtet hätten, das Gespräch auf Präsident Polk und die mexikanische Frage zu bringen.

Selbst Ihre altmodische Kleidung hätte Sie nicht verraten, wenn man bedenkt, wie zweckmäßig wir selbst für diese Feldexkursion gekleidet waren. Sie hätten auch unser Vorhaben verstanden. Nach Ihren beiden letzten Büchern zu schließen, Faith in a Seed und Wild Fruits (die erst vor wenigen Jahren aus Ihren fast unleserlichen handschriftlichen Notizen veröffentlicht und damit der Vergessenheit entrissen wurden),4 waren Sie auf dem besten Weg zu einer wissenschaftlichen Annäherung an die Naturgeschichte, als Sie viel zu früh aus dem Leben gerissen wurden.

Diese Entwicklung war nur folgerichtig: Jede Wissenschaft beginnt mit der Beschreibung und Benennung der untersuchten Gegenstände. Es scheint ein dem Menschen angeborener Instinkt zu sein, sich seiner Umwelt auf diese Weise zu bemächtigen. Wir können über eine Pflanze oder ein Tier nicht gut nachdenken, bevor wir nicht einen Namen dafür haben. Daher rührt auch das Vergnügen, Vögel mit einem Bestimmungsbuch in der Hand zu beobachten. Aldens Idee fand rasch Anklang. Während ich dies im Jahre 2001 niederschreibe, werden nicht nur woanders in den Vereinigten Staaten, sondern auch in Österreich, Deutschland, Luxemburg und in der Schweiz Tage der Artenvielfalt - so genannte »Bio-Blitze« - durchgeführt. Im Juni 2001 nahmen am dritten Tag der Artenvielfalt in Massachusetts Studenten aus 260 Städten des gesamten Landes teil.

Am Walden-See traf ich an jenem ersten Tag Brad Parker, einen der Charakterdarsteller, die in Ihre Rolle schlüpfen und Führungen durch Ihr rekonstruiertes Holzhaus machen. Durchdrungen von Ihrem Geist und bestens vertraut mit Ihrem Werk, wirkt er auf geheimnisvolle Weise überzeugend. Während unseres Gesprächs weigerte er sich, auch nur für eine Minute von seiner Rolle abzuweichen, und so fühlte ich mich für eine angenehme Stunde in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zurückversetzt. Um mich zu revanchieren, lud ich ihn natürlich ein, mit mir gemeinsam Insekten und andere Wirbellose zu beobachten, die sich unter nahe gelegenen Steinen und herabgefallenen toten Ästen versteckt hielten. Von dort wanderten wir weiter zu einer Ansammlung leuchtend gelber Pilze. Dann machte mich Neo-Thoreau auf den Gesang einer Walddrossel im Dickicht über uns aufmerksam, den ich auf Grund meiner Taubheit für die höheren Tonlagen überhaupt nicht wahrgenommen hatte. So ging es eine Weile hin und her; er machte geistreiche Bemerkungen im Stil des neunzehnten Jahrhunderts,

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und ich bemühte mich, die Rolle des in die Zeit zurückversetzten Besuchers zu spielen. Über den Lärm der beim Anflug auf Hans-com Field über uns hinwegdonnernden Flugzeuge verlor keiner von uns ein Wort. Es kam mir auch nicht befremdlich vor, dass ich mit meinen neunundsechzig Jahren mit einer Verkörperung des dreißigjährigen Henry Thoreau sprach. In einem gewissen Sinne war dies nur folgerichtig, denn die Naturforscher meiner Generation sind schließlich eine ältere Ausgabe Ihrer Person - älter und wissender, vielleicht sogar weiser.

Für den Zuwachs an Wissen möchte ich ein kurzes Beispiel anführen. Neo-Thoreau und ich unterhielten uns über die Ameisenschlacht, die Sie in Waiden beschrieben haben. An einem Sommertag entdeckten Sie rund um Ihre Hütte rote und schwarze Ameisen, die in einen erbitterten Kampf auf Leben und Tod verwickelt waren. Der Boden war übersät von Toten und Sterbenden, und sogar die Verstümmelten kämpften zäh weiter. Es war ein Austerlitz der Ameisenwelt, wie Sie es ausdrückten, eine Schlacht, gegen die das Gefecht auf der Brücke von Concord, mit der die Amerikanische Revolution in Schussweite des Walden-Sees begann, zwergenhaft erschien. Darf ich Ihnen erklären, was Sie sahen? Sie wurden vermutlich Zeuge eines Beutezuges auf Sklaven. Die Sklavenfänger waren die roten Ameisen, höchstwahrscheinlich Formica subin-tegra, die Opfer die schwarzen Ameisen, vermutlich Formica sub-sericea. Die roten Ameisen nehmen den Nachwuchs ihrer Opfer, genauer gesagt deren verpuppte Larven, gefangen. Im Nest der roten Ameisen beenden die entführten Larven ihre Entwicklung und schlüpfen schließlich als erwachsene Arbeiter aus ihren Kokons. Da sie instinktiv die ersten Arbeiter, die ihnen begegnen, als Sippenangehörige betrachten, begeben sie sich freiwillig in den Dienst ihrer Entführer. Stellen Sie sich das nur einmal vor! Beutezüge auf Sklaven praktisch vor der Haustür eines der glühendsten Sklavereigegner in Amerika. Aber diese brutale Darwinsche Strategie hat schon seit Jahrmillionen Bestand und wird sich auch in Zukunft behaupten - ohne Aussicht darauf, dass in der Ameisenwelt je ein Lincoln, ein Thoreau oder eine Untergrundbewegung für den Schutz der Opfer eintreten wird.5

Henry Thoreau, Ihnen gebührt als Prophet der Naturschutzbewegung, Mentor Gandhis und Martin Luther Kings unser Tribut. Bitte akzeptieren Sie ihn, auch wenn er verspätet kommt. Als scharfer Beobachter der conditio humana, als erbarmungsloser

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Kritiker der spießbürgerlichen Gesellschaft, als in der Neuen Welt gestrandeter griechischer Stoiker werden Sie in jeder neuen Generation wiedergeboren, mit neuen Bedeutungen und Nuancen. Der Weise von Concord, so werden Sie manchmal genannt. Sie haben sich Ihren Platz in der Geschichte verdient.

Andererseits waren Sie - bitte verzeihen Sie - nicht gerade ein herausragender Naturforscher. Selbst wenn Sie sich während Ihres kurzen Lebens ausschließlich mit Naturkunde beschäftigt hätten, könnten Sie sich wahrscheinlich nicht mit Naturforschern wie William Bartram und Louis Agassiz oder jenem großartigen Sammler nordamerikanischer Pflanzen, John Torrey, messen. Und wahrscheinlich würde sich heute kaum jemand mehr an Sie erinnern. Wäre Ihnen ein längeres Leben beschieden gewesen, so hätte die Situation sicherlich anders ausgesehen, denn als Sie von uns gingen, gewannen Sie in der Naturforschung zunehmend an Stoßkraft. Zu Ihrer Ehre darf außerdem nicht unerwähnt bleiben, dass Ihre Überlegungen zur Artenfolge und zu anderen Eigenschaften natürlicher Lebensgemeinschaften schon auf die moderne Wissenschaft der Ökologie hinwiesen.6
Doch das alles spielt hier keine Rolle. Ich verstehe, warum Sie an den Walden-See gekommen sind. In diesem Punkt lassen Ihre Worte an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Gewiss, Sie wählten dieses Stück Erde hauptsächlich deshalb aus, weil Sie die Natur erforschen wollten. Doch dies hätten Sie ebenso gut und weitaus bequemer in Tagesausflügen von Concord aus tun können. Schließlich wohnte Ihre Mutter mitten in Concord nur eine halbe Stunde vom Walden-See entfernt, und in der Tat besuchten Sie sie gelegentlich, um sich hin und wieder eine anständige Mahlzeit zu gönnen. Ihre kleine Hütte sollte keineswegs eine Einsiedelei in der Wildnis sein. Eine echte Wildnis lag ohnehin nirgends in erreichbarer Nähe, und selbst die Wälder um den Walden-See waren Anfang der vierziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts bereits auf ihren Restbestand geschrumpft. Sie bezeichneten die Einsamkeit als Ihren liebsten Gesellschafter. Sie fürchteten sich nicht davor, so Ihre Worte, den eigenen Gedanken überlassen zu sein. Dennoch sehnten Sie sich leidenschaftlich nach Menschlichkeit, und Ihre Äußerungen zeugen von einer anthropozentrischen Grundhaltung. Besucher waren in Ihrer Hütte in Waiden stets willkommen. Einmal drängten sich mehr als 25 Menschen in dem einzigen Zimmer Ihres winzigen Hauses, und die Nähe so vieler Menschenleiber hat

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Sie - anders als mich - nicht erschreckt. Sie fühlten sich manchmal einsam. Das Pfeifen eines vorbeifahrenden Zuges auf dem Weg nach Fitchburg, das ferne Rumpeln der Ochsenkarren bei der Überquerung einer Brücke müssen Sie an kalten Regentagen getröstet haben. Manchmal suchten Sie jemanden, mit dem Sie sich unterhalten konnten - trotz Ihrer notorischen Schüchternheit -, und wenn Sie jemanden fanden, konnten Sie sich gleich einem Blutegel eine Zeit lang an ihm festsaugen, wie Sie sich einmal auszudrücken beliebten.
Sie waren also alles andere als der abgehärtete Grenzposten am Rande der Zivilisation, ausgerüstet nur mit Dörrfleisch und Gewehr. Grenzposten gingen nicht spazieren, sammelten keine Pflanzen zu botanischen Zwecken und lasen keine griechischen Klassiker. Wie kam es, dass ein Amateurnaturforscher in einem Spielzeughaus am Saum einer geplünderten Waldlandschaft zum Vater und Schutzheiligen der Naturschutzbewegung aufstieg? Ich glaube, es geschah Folgendes: Ihre Seele sehnte sich nach einem Erwe-ckungserlebnis, einer Epiphanie. Sie strebten nach Erleuchtung und Erfüllung im Sinne des Alten Testaments - durch Zurückschrauben der materiellen Existenz und die Rückbesinnung auf die wahren Grundlagen des Seins. Die Hütte war Ihre Höhle auf dem Berg. Sie benutzten die Armut, um sich ein freies Leben zu erkaufen. Dies schien Ihnen der einzig gangbare Weg zu sein, um der Eile und den Zwängen des Alltags zu entfliehen und nach dem Sinn des Lebens zu suchen. Sie selbst formulierten es so:
»Ich bin in den Wald gezogen, weil mir daran lag, bewußt zu leben, es nur mit den wesentlichen Tatsachen des Daseins zu tun zu haben. Ich wollte sehen, ob ich nicht lernen könne, was es zu lernen gibt, um nicht, wenn es ans Sterben ging, die Entdeckung machen zu müssen, nicht gelebt zu haben ... Ich wollte intensiv leben, dem Leben alles Mark aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles die Flucht ergreifen würde, was nicht Leben war, wollte mit großem Schwung knapp am Boden mähen, um das Leben in die Ecke zu treiben und es auf die einfachste Formel zurückzubringen. Wenn es sich als erbärmlich erwies, dann wollte ich seine ganze Erbärmlichkeit kennenlernen und sie der Welt kundtun. War es aber herrlich, so wollte ich es aus eigener Erfahrung kennen und imstande sein, einen wahrheitsgetreuen Bericht darüber zu geben.«7

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Meines Erachtens irrten Sie mit Ihrer Annahme, dass es so viele verschiedene Lebensweisen gibt wie Kreise, die um einen Mittelpunkt gezogen werden können, und dass Ihre Lebensweise nur eine davon sei. Das Gegenteil ist der Fall. Der menschliche Geist kann sich nur entlang sehr weniger vorstellbarer Bahnen entwickeln. Diese Bahnen sind durch die Befriedigungen vorgegeben, nach denen wir alle instinktiv suchen. Die Härte der menschlichen Natur erklärt, warum Menschen Blumen pflanzen, warum die Götter auf hohen Bergen leben und warum ein See das Auge der Erde ist, durch das wir - um Ihre Metapher zu verwenden - die Tiefe der eigenen Natur ermessen können.
Es ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft, nach ganzheitlichen und erfüllenden Erfahrungen zu streben. Wenn die Ablenkungen und Verpflichtungen des Alltags solche Erfahrungen nicht mehr zulassen, müssen wir woanders nach ihnen suchen. Als Sie sich all Ihrer äußeren Verpflichtungen bis auf das zum Überleben notwendige Minimum entledigten, setzten Sie Ihren gebildeten und rastlosen Geist einem unerträglichen Vakuum aus. Und dies ist der springende Punkt: Um dieses Vakuum zu füllen, entdeckten Sie die menschliche Verbundenheit mit der Natur.
Nach den Erfahrungen Ihrer Kindheit wussten Sie genau, was Sie wollten. Das Kornfeld oder die Kiesgrube in der Nachbarschaft kamen nicht in Frage. Auch die pulsierenden Straßen von Boston, das sich zu einer Drehscheibe der aufstrebenden Nation entwickelte, waren nicht geeignet. Sie konnten einen Nichtstuer leicht die Menschenwürde oder sogar das Leben kosten. Es musste eine Welt sein, die nicht nur Armut tolerierte, sondern die auch genügend Erfüllung und Schönheit verhieß, um den Geist zu befriedigen. Was bot sich hierfür in der Umgebung von Concord Besseres an als ein Waldstück in der Nähe eines Sees?
Sie tauschten die Erfüllungen eines geselligen Lebens gegen die Erfüllungen eines Lebens in der Natur ein. Die Entscheidung war vollkommen folgerichtig, und zwar aus folgendem Grund: Jeder von uns sucht sich eine seinen persönlichen Bedürfnissen entsprechende Haltung zwischen vollständiger Zurückgezogenheit und Selbstbezogenheit auf der einen Seite und vollständigem sozialem Engagement und Miteinander auf der anderen Seite. Die eingenommene Haltung ist aber niemals starr. Die von beiden Enden des Kontinuums auf uns einwirkenden gegenläufigen Instinkte zerren an uns und zwingen uns zu Kurskorrekturen. Die Unsicherheit,

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die wir empfinden, ist jedoch kein Fluch. Sie ist keine Verwirrung, die uns nach der Vertreibung aus dem Garten Eden überfallen hat, sondern sie ist Ausdruck der menschlichen Natur. Wir sind intelligente Säugetiere, die durch die Evolution - oder Gott, wenn Sie dies vorziehen - befähigt wurden, persönliche Ziele in Kooperation mit anderen zu verfolgen. An erster Stelle steht die hoch geschätzte eigene Person einschließlich der Familie, dann erst folgt die Gesellschaft. In dieser Hinsicht verhalten wir uns genau umgekehrt zu den Ameisen vor Ihrer Hütte, die austauschbare Mitglieder eines Superorganismus sind. Das menschliche Leben ist daher ein unlösbares Problem, ein dynamischer Prozess, eine Suche nach einem undefinierbaren Ziel. Es ist weder ein Fest noch ein Schauspiel, sondern eher, wie ein Philosoph im zwanzigsten Jahrhundert meinte, eine Zwangslage.8 Es liegt in der Natur der menschlichen Spezies, dass sie immer wieder genötigt ist, moralische Entscheidungen zu treffen und in einer veränderlichen Welt auf jede nur erdenkliche Weise nach Erfüllung zu streben.
Sie suchten in Waiden nach dem eigentlichen Leben und stießen dabei, ganz gleich, ob Sie selbst Ihre Suche für erfolgreich hielten, auf eine Ethik, die in sich stimmig wirkte: Die Natur steht uns offen, um sie für alle Zeit zu erforschen; sie ist unsere Feuerprobe und unsere Zuflucht zugleich, sie ist unsere natürliche Heimat. Bewahrt sie, so mahnten Sie, denn in der Wildnis liegt die Erhaltung der Welt.

Zum Schluss meines Briefes habe ich leider schlechte Nachrichten für Sie (ich habe sie bis zuletzt aufgeschoben). Überall auf der Welt verschwinden heute vor unseren Augen die natürlichen Lebensräume auf der Erde - sie werden abgeholzt, umgepflügt, abgemäht, überflutet oder durch menschliche Artefakte ersetzt.

Niemand hätte sich in Ihrem Zeitalter eine Katastrophe dieser Größenordnung vorstellen können. Um das Jahr 1840 bevölkerte rund eine Milliarde Menschen die Welt. Sie lebten überwiegend von der Landwirtschaft, und wenige Familien benötigten eine Fläche von mehr als einem Hektar, um zu überleben. Der amerikanische Westen war noch weitgehend menschenleer. Und in fernen südlichen Kontinenten, an den Ufern riesiger Flüsse, jenseits noch unbezwungener Gebirgsketten erstreckten sich unberührte tropische Wälder, in denen eine unvorstellbare Artenvielfalt existierte. Diese natürlichen Lebensräume schienen so unerreichbar und so zeitlos wie die Planeten und die Sterne.

Doch dies konnte in Anbe-

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tracht der Grundhaltung der westlichen Zivilisation nicht so bleiben. Die Forscher und Siedler ließen sich von dem biblischen Wunsch leiten: Möge dieses Land, das Gott in unsere Hand gegeben hat, für alle Zeiten Milch und Honig für uns hervorbringen.9

Heute bevölkern mehr als sechs Milliarden Menschen die Erde. Die große Mehrheit davon lebt in Armut, fast eine Milliarde Menschen fristet ein Leben am Rande des Hungers. Alle kämpfen darum, ihre Lebensqualität auf jede nur erdenkliche Weise zu verbessern. Dazu gehört leider auch die Ausbeutung der letzten natürlichen Lebensräume der Erde. Die Hälfte der riesigen tropischen Wälder ist bereits abgeholzt. Es gibt praktisch keine unerforschten Gebiete mehr auf der Erde. Die Pflanzen- und Tierarten verschwinden um mehr als das Hundertfache schneller als vor der Entstehung des Menschen. Die Hälfte der Arten wird möglicherweise bereits bis zum Ende dieses Jahrhunderts ausgerottet sein. Mit dem Beginn des dritten Jahrtausends zieht ein Armageddon herauf. Doch ist es nicht der in der Bibel vorhergesagte Untergang der Menschheit, sondern die Zerstörung der Erde durch eine im Übermaß verschwenderische und erfindungsreiche Menschheit.

Ein Wettlauf hat begonnen: zwischen den technischen und wissenschaftlichen Kräften, die die lebendige Umwelt vernichten, und jenen, die zu ihrer Rettung mobilisiert werden können. Wir durchlaufen einen ökologischen Engpass, den Übervölkerung und verschwenderischer Umgang mit den natürlichen Ressourcen herbeigeführt haben. Wenn wir den Wettlauf gewinnen, könnte die Menschheit gestärkt und in weit besserer Verfassung aus dieser Krise hervorgehen, als sie es zu dem Zeitpunkt war, da sie in diese Situation hineingeschlittert ist - und ein Großteil der natürlichen Vielfalt könnte noch intakt sein.

Die Lage ist verzweifelt, aber es gibt ermutigende Anzeichen dafür, dass der Wettlauf tatsächlich gewonnen werden kann. Das Bevölkerungswachstum hat sich verlangsamt und wird, wenn die gegenwärtige Wachstumstendenz anhält, gegen Ende des Jahrhunderts bei acht bis zehn Milliarden Menschen seinen Höhepunkt erreichen. Experten sind der Ansicht, dass so viele Menschen gerade noch versorgt werden können, allerdings nur knapp, denn die pro Kopf global zur Verfügung stehende Menge an Ackerland und Trinkwasser sinkt bereits. Eine Lösung des Bevölkerungsproblems sollte es uns auch ermöglichen, so versichern uns andere Experten, die meisten der vom Aussterben bedrohten Tier- und Pflanzenarten zu retten.

Um den gegenwärtigen ökologischen Engpass zu überwinden, bedarf es dringend einer Landethik 10 - und zwar nicht irgendeiner Landethik, die zufällig gerade Zustimmung genießt, sondern einer, die auf dem bestmöglichen Verständnis der komplexen Zusammenhänge zwischen Mensch und Umwelt beruht, das Wissenschaft und Technik zu bieten haben. Denn selbstverständlich ist die Natur wichtig. Und es ist auch klar, dass ihre einzige Chance in unserem verantwortungsbewussten Umgang mit ihr liegt. Wir sind gut beraten, wenn wir auf unser Herz hören und dann vernünftig und zielgerichtet mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln handeln.

Henry, mein Freund, ich danke Ihnen dafür, dass Sie die Grundlagen für eine solche Landethik geschaffen haben. Nun liegt es an uns, sie weise weiterzuentwickeln. Die Natur liegt im Sterben, das natürliche Gleichgewicht zerbröselt unter unseren eiligen Füßen. Wir waren zu sehr mit uns selbst beschäftigt, um die langfristigen Folgen unseres Tuns vorherzusehen. Aber wenn wir uns nicht rasch von unseren trügerischen Illusionen befreien und energisch nach einer Lösung suchen, werden wir einen beispiellosen Verlust erleiden. Wissenschaft und Technik haben uns in diese Krise hineinmanövriert. Nun müssen Wissenschaft und Technik uns dabei helfen, einen Ausweg zu finden.

Sie haben einmal gesagt, altes Tun sei für die Alten, neues für die Jungen. Ich glaube, dass es sich aus historischer Perspektive genau andersherum verhält. Sie gehörten zu den Neuen, und wir sind die Alten. Können wir heute die Weiseren sein? Für Sie hier am Walden-See waren der Klageruf der Carolinataube und das Quaken der grünen Frösche im Morgengrauen der wahre Grund, warum Sie diesen Ort schützen wollten. Für uns ist es ein genaues Verständnis dessen, was hinter diesem Grund steckt, was er bedeutet, und wie dieses Wissen möglichst nutzbringend eingesetzt werden kann. Es gibt also zwei Wahrheiten. Wir wollen nach beiden streben - Sie und ich und alle jene, die heute und in Zukunft bereit S1nd, die Verantwortung für die Natur zu übernehmen.

 

Herzlichst Ihr Edward

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