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Die Angst vor dem erwachsenen Sohn

 

 

 

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Viele Mütter signalisieren, dass sie ein Besitzrecht an ihren Söhnen haben. Angst ist das Mittel, diesen Besitzanspruch zu untermauern. Fast alle Männer erinnern sich, dass die Mutter ihnen Angst vor dem Kontakt mit Mädchen und anderen Frauen eingeflößt hat. Die eigene Angst vor dem Verlust der Söhne verstecken Mütter hinter abwertenden und drohenden Aussagen wie: »Die will doch nur etwas von dir.« »Pass bloß auf, nur schlechte Frauen sind erotisch und wollen Sexualität.« »Die will doch nur nach oben heiraten.« »Die wird nicht gut für dich sorgen.« Oder »Die ist nicht die Richtige für dich, du hast eine Bessere verdient.«

In diesem Manipulationsprozess durch Angstmache entsteht beim Sohn die Furcht vor der eigenen Sexualität und dem männlichen Geschlecht überhaupt. Denn häufig erzählen die frustrierten und enttäuschten Mütter bereits ihren kleinen Söhnen, wie schlecht die Männer sind: Der Vater, der sie mit allem im Stich lässt. Die Männer im allgemeinen, von denen nie etwas Gutes zu erwarten und zu bekommen ist. Männer, die angeblichen Schlappschwänze, Frauenhelden, Ausbeuter und Missbraucher.

Günter Amendt spricht in seinem Buch <Wie Mütter ihre Söhne sehen> im Zusammenhang von Angst und Gewalt jene mütterlichen Aktivitäten an, die den Sohn klein machen, ihn demütigen und beschämen. Dazu zählen scheinbar gewaltlose Handlungen, Blicke, Töne und Gesten. Auch der mütterliche Appell an die Tapferkeit und zukünftige Männlichkeit der Jungen, wenn diese sich traurig, ängstlich, klein und hilflos fühlen, und die Leugnung ihrer Verletzlichkeit ist destruktiv für Söhne. 

Die Jungen lernen bei derselben Mutter, die sich bei ihnen über die gefühllose Härte erwachsener Männer beklagt, dass sie »tapfer« sein und lernen sollen, ein »richtiger Mann« zu werden, der nicht weint und keine Ängste hat. Dieselbe Mutter, die von ihrem kleinen Sohn Wärme, Trost, Geborgenheit und Zärtlichkeit erwartet, blockt dessen Sehnsucht nach emotionale Fürsorge ab. Dadurch entsteht in der Nähe zur Mutter die männliche Angst vor der Angst, die Angst, die Kontrolle zu verlieren. 

Viele Söhne waren den wechselnden und widersprüchlichen Erwartungen der Mütter hilflos ausgeliefert. Sie werden in jeder Beziehung zu einer Frau darauf achten, diese Konstellation der grauenvollen Ohnmacht nie wieder zuzulassen. Sucht nach Zuwendung und Flucht vor Nähe prägen ihre Bewegungen im Umgang mit Frauen: Zu viel Nähe wird zur gefährlichen Distanzlosigkeit, zu wenig Nähe enthält bloße Sehnsucht.

Diese Erfahrungen stehen unter dem Deckmantel »mütterlicher Liebe«, Besitzansprüche und Gewalterlebnisse werden verschleiert und verschwiegen. Die heranwachsenden Jungen finden keinen Raum, ihre Wut, Ohnmacht und Hilflosigkeit auszudrücken und loszuwerden. Das Gebot, die Mutter zu schonen, verschließt ihnen den Mund und den Zugang zu ihren eigenen Gefühlen. Viele Söhne haben erlebt, dass ihre im Umgang mit anderen Erwachsenen konfliktunfähige Mutter ihnen gegenüber sehr wohl Wut und Zorn unkontrolliert äußert und den Sohn damit in Angst und Schrecken versetzt. Die Mutter darf wütend werden, während die kindlichen Äußerungen von Wut verboten sind und mit aller Härte bestraft werden.

In seinem Buch <Der frühe Abschied> befasst sich Arno Gruen mit der Rolle der Wut zwischen Mutter und Kind. Er meint: Aggressionen gegen das Liebesobjekt (die Mutter) kann das Kind nicht integrieren oder bewältigen, wenn es spürt, dass sein Verlangen nach Liebe die Mutter aggressiv macht. 

Die Folge davon ist eine Lähmung, eine tiefe Furcht vor den eigenen Aggressionen, die, weil sie nicht ausgelebt werden dürfen, monströs gefährlich erscheinen. Die Wut der Mutter äußert sich in mangelnder Zärtlichkeit, unsanftem Umgang, Herumgeschubse und Gezerre, in Veränderungen der Stimmlage, heftigen Körperbewegungen, verbalen Drohungen und in körperlicher Gewalt.

Männer, die zur Unterdrückung ihrer Wutgefühle gezwungen wurden, fallen in unseren Männergruppen dadurch auf, dass sie mit leiser Stimme abstrakte Ausführungen machen, angedeutete Bedürfnisse gleich wieder zurücknehmen und dazu tendieren, wirkliche Probleme zu bemänteln. Das mütterliche Verbot aus der Kindheit lässt sie noch heute unsicher fragen, ob sie über ihre Wut überhaupt sprechen dürfen. Das Zusammenwirken der widersprüchlichen Erfahrungen erklärt, warum aus sensiblen, weichen Jungen gewaltbereite Männer werden, die meist nicht wissen, woher ihre mitunter gigantische Wut und Zerstörungslust kommt.

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»Du hast mir oft damit gedroht, dich mit mir vor die U-Bahn zu werfen«

  Helmut Völker  

1951 wurde ich geboren als viertes Kind meiner Eltern nach drei Töchtern. Von Beruf bin ich Bibliothekar. Mein Vater starb schon 1959 im Alter von 54 Jahren und meine Mutter 1982 mit 73 Jahren.

 

Mutter,

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warum bist du so schlecht mit mir umgegangen? Ich stelle dir diese Frage erst jetzt nach deinem Tode. Wegen meiner Reaktionen darauf, wie du mit mir umgegangen bist, konnte ich es nicht, solange du noch lebtest. Weniger deshalb, weil es mir an Kraft mangelte oder an Mut, sondern wegen der verlogenen Gesellschaftsmoral, nach der man, besonders Mann, die Mutter ehren soll, was immer sie auch tut. Sie tut nur Gutes. Mutterliebe ist unfehlbar, einzigartig und grenzenlos. 

Aber Liebe, auch Mutterliebe, ist dem Menschen nicht angeboren. Sie kann nur erlernt werden. Das hast du versäumt.

Warum bist du so schlecht mit mir umgegangen? Hätte ich dir diese Frage noch stellen können, du wärst empört gewesen. Nachgefragt, was ich damit meine, hättest du nicht. Denn für dich war klar, du hast alles für deine Kinder getan, was eine Mutter nur tun kann. Und ich habe dich immer wieder auch noch darin bestätigt, die beste Mutter der Welt zu sein.

Warum bist du so schlecht mit mir umgegangen? Ich will dir erzählen, welchen Umgang ich damit meine, und beginne mit der Zeit, bevor ich zur Welt kam. Wie konntest du es zulassen, dich von einem blinden, betrunkenen Mann schlagen zu lassen, vier Wochen vor meiner Geburt? Wie konnte er deiner habhaft werden? Warum bist du nicht von ihm gegangen, hast dich selbst, mich, noch in deinem Leib, und deine Tochter geschützt? Es hätte unser Tod sein können, aber du bist geblieben und hast seine Gewalt sanktioniert, wie immer. Weil du auch selbst voller Gewalt warst und Ihr eure Kinder in diesem Klima aufgezogen und mit eurer Gewalt angesteckt habt. 

Es kam dir nie in den Sinn, dich für gewalttätig zu halten, wenn du zum Ausklopfer gegriffen hast oder Katzenköpfe und Maulschellen verteiltest und auf die Lippen schlugst. Du hast die Gewalt getarnt als Mutterliebe, denn wer seine Kinder schlägt, der liebt sie. Darum ist die Gewalt als solche so schwer erkennbar. Weißt du, dass ich Angst bekam, wenn du wütend davon sprachst, irgendwem, über den du dich geärgert hattest, am liebsten Salzsäure ins Gesicht zu schütten? Wann würde mir ein solcher Arger gelten? Wann würdest du die oft erneuerte Drohung wahrmachen, dich mit mir vor die U-Bahn zu werfen? Das Leben hatte für dich keinen Wert. 

Ich war gerade acht Jahre alt geworden, als Vater starb, an einem Asthmaanfall in der Nacht. Meinem Eindruck nach hast du ihm zumindest nicht geholfen, diesen Anfall zu überleben, wahrscheinlich aber sogar die Gelegenheit benutzt, sein Leben zu beenden. Wozu hast du mir sonst eines Tages erzählt, du hättest ihn mal vergiften wollen, doch im letzten Moment daran gehindert, das Glas auszutrinken? Auf meine diesbezügliche Frage meintest du: »Na, weil es doch dein Vater ist und du wissen sollst, dass es mir leid tut und mir vielleicht verzeihen kannst.« Es ging nicht um mich, sondern um deine Absolution. Du wolltest von mir beruhigt werden, weil du niemanden hattest, dem du dich anvertrauen konntest. Deine Scham war zu groß. Aber mir gegenüber warst du schamlos, hast mich schamlos ausgenutzt. 

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Ich hätte ja gar nichts zu verzeihen gehabt, wenn du mir das nicht erzählt hättest, sondern anderen Menschen. Aber dass du mir so etwas erzählt hast, auch das ist Gewalt gewesen. Ebenso wie die jahrelangen Tiraden von dir und meiner Schwester über meinen toten Vater, was er für ein Scheusal, ein Despot, ein Tyrann und sonst noch alles war. Der dir die Kaffeebohnen abzählte, die Haare ausriss, sich seinen Töchtern gegenüber sexuelle Übergriffe erlaubte und ansonsten den ganzen Tag im Sessel rumsaß und sich jeden Abend besoff. Deine Haltung mir gegenüber stand seither unter der Devise: »Werd' bloß nicht wie dein Vater.« 

Und meine Haltung war geprägt von dem Auftrag, jetzt »Muttis kleiner Mann« zu sein. Das bedeutete, dich zu schonen und jeden Ärger von mir, jede Aufregung durch mich zu vermeiden. Gab ich einmal Anlass dazu, hast du mich trotz der Aufregung geschlagen, als beispielsweise der »Blaue Brief« kam, weil meine Versetzung gefährdet war. Ich werde nie vergessen, dass es fünfzig Hiebe waren, du hast sie einzeln abgezählt. 

Obendrein konnte ich noch froh sein, dass du nicht statt dessen deine Absicht wahrmachtest, den Gashahn aufzudrehen. So ist bei mir Wut entstanden, die ich nicht zulassen konnte, sondern verdrängen musste, weil ich doch überleben wollte. Aus dieser Not heraus habe ich dich idealisiert, um meine Aggressionen und die Schuldgefühle dafür nicht spüren zu müssen. Einen Kulminationspunkt fand das anlässlich meines einundzwanzigsten Geburtstages, an dem ich obendrein heiratete und von dir fortzog. Ich schrieb dir: Liebe Mutti, ich will dir danken für mein Leben. Ich habe von dir gelernt, beständig und sinnvoll zu arbeiten. Vor allem aber hast du mich gelehrt, mein Gefühl zu beherrschen (...) in dankbarer Ehrfurcht verneige ich mich vor dir und danke Gott für diese Mutter. Heute weiß ich, es trieb mich mehr von dir fort als zu der anderen Frau hin. Ein paar Jahre davor hatte ich dir von meiner Idee erzählt, mir mit achtzehn Jahren ein Zimmer zur Untermiete zu nehmen. 

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Das war ein Schock für dich, zumal ich auf deinen Redeschwall spontan noch mit der Bemerkung »du hemmst meine Entwicklung« reagieren konnte, um mich dann wieder in meinen Schuldgefühlen zu erschöpfen. Meine Distanzwünsche zu dir äußerten sich einmal in dem Gedanken, es wäre für mich besser, du wärst auch tot. Mich hat das enorm erschreckt. Die Folge waren neue Schuldgefühle, neue Idealisierung und, um mich mit dir ebenbürtig zu fühlen, Größenwahnphantasien, ohne die mir eine Beziehung zu dir schon seit Jahren nicht möglich war.

»So einen Mann wie dich habe ich mir immer gewünscht«, hast du mir oft gesagt. Doch du wolltest mich als »kleinen Mann«, nicht als Erwachsenen. Du hast dir keinen Partner gesucht und fast alles Männliche aus deinem Leben verbannt. Fast. Denn ich war ja da. Wenn sich meine Distanzwünsche so massiv in Todeswünschen äußerten, dann deshalb, weil ich eine Grenze zu dir gebraucht hätte. Als Kind habe ich das nicht gewusst. Ich habe mich nur wahnsinnig geschämt, wenn ich mich zum Schlafengehen ausziehen musste und dies, von deinem Gelächter begleitet, hinter einem Sessel tat und mir anhören musste: »Wegen dem bisschen Pelle brauchst du dich doch nicht so zu haben.« 

Doch war diese brutale Abwertung meines Penis' nicht die einzige Not, die ich empfand. Wir schliefen auch zu dicht auf der schmalen Schnappcouch. Mir schmeckte zwar der Wein zum Fernsehen, und es war ein weiteres Attribut dafür, mich mit elf, zwölf Jahren erwachsen zu fühlen. Doch meinen Schlaf hast du gestört. Es war mir zu eng auf der Couch. Verstehst du? Es war mir zu eng neben deinen Körpermassen. Zu klebrig, wenn ich, umnebelt von Weinrausch und Halbschlaf, mich wie unter Felsen begraben fühlte und in der Wand verschwinden wollte. Ohne Penis wäre mir das erspart geblieben. Und der Missbrauch, den ich durch dich erlitten habe, begann damit, mich keine Grenze zu dir entwickeln zu lassen. 

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Du hast mir meine Entwicklung von Männlichkeit so verekelt, dass ich lieber eine Frau geworden wäre und hast mich so der Verbindung zu Männern entfremdet. Nicht Mann sein zu wollen, nicht Frau werden können, war für mich eine fatale Basis, die bevorstehende Pubertät durchzustehen. Jede Erektion war eine Bedrohung für mich, war sie doch deutliches Merkmal von Männlichkeit. In meiner Not mit diesen Gefühlen wusste ich keinen anderen Ausweg, als Überlegungen anzustellen, mir den Penis abzuschneiden. Aber meine Angst war zu groß, was ich mir damals übel nahm.

Wenn zwischen einem Mann und mir Nähe entstand, glaubte ich, dich verraten zu haben. Lange Zeit eine Behinderung für jede Männerfreundschaft. Aber natürlich auch für die Nähe mit meiner Ehefrau. ... Als du tot warst, fühlte ich mich wie amputiert. Erst im Laufe der folgenden Monate begriff ich, wie sehr ich mein Leben und meine Beziehungen an dir orientiert hatte. Der Verlust eröffnete mir auch die Möglichkeit auf ein anderes Leben. Ich habe mir meine Erleichterung nach deinem Tod lange übel genommen, bis mir klar wurde, dass ich die Erleichterung nur spürte, weil es in unserer Symbiose keine Grenze gab. Hätte ich die Kraft gehabt, die notwendige Menschenkenntnis, die Verbindung zu anderen Männern, dann hätte ich wohl von mir aus zu deinen Lebzeiten Grenzen ziehen können. Dann wäre vielleicht schon damals so ein Brief von mir geschrieben worden und Raum entstanden für eine andere Mutter-Sohn-Beziehung.

Wir hatten vielleicht Nähe haben können statt Distanzlo-sigkeit. Und ich hätte dir meine Wünsche sagen können. Dass du aufhören sollst, mit Selbstmord zu drohen. Dass du meine Angst und mich überhaupt ernst nehmen sollst. Schon die Erfüllung nur dieser beiden Wünsche wäre eine enorme Entlastung gewesen. Über all das haben wir aber nun nicht mehr miteinander sprechen können. Doch bin ich damit nicht einsam geblieben, sondern ich habe nach Menschen und besonders nach Männern gesucht, denen ich von meiner Not mit dir erzählen konnte. Das war ein schweres Stück Arbeit. Manchmal befürchtete ich, es nicht zu schaffen. Denn es schmerzte mich, wenn ich plötzlich spürte, ich werde geliebt, und ich dadurch an deine Lieblosigkeit erinnert wurde. ... Dein Umgang mit mir blieb für mich nicht ein unveränderbares Schicksal. Auf das, was ich habe verändern können, bin ich stolz. Ich bin mir sicher, dass ich längst nicht mehr der Mann bin, den du dir immer gewünscht hattest. Dafür fühle ich mich in meiner Haut, in meiner Männerhaut wohl und lebensfroh. Ich bin nicht dein »kleiner Mann« geblieben, sondern letztlich nur

dein Sohn

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»Ich war der Sinn deines Lebens, darum hast du mich gefügig gemacht«

  Max Reifen  

Ich bin 1957 in Berlin geboren, nicht verheiratet, lebe aber mit meiner Lebenspartnerin seit fünf Jahren zusammen. Ich bin als Einzelkind aufgewachsen, mein Vater verstarb 1991, meine Mutter ist heute 72 Jahre alt und schwer erkrankt. Nach dem Abitur studierte ich Sozialpädagogik und bin seit längerer Zeit leitend im Jugend­hilfe­bereich tätig.

 

Alexandra,

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in meiner Kindheit und Jugend habe ich dich als die Beherrschende, Einschränkende, Kontrollierende, als die Gesetzgeberin erlebt. Du nanntest dich eine »liebe Mutter«, und so musste ich dich auch empfinden, denn du warst die einzige ständig anwesende Bezugsperson meiner frühen Lebensjahre.

... Ich war dein absolutes Wunschkind und sollte »Glück und Sonnenschein« in dein (Ehe-) Leben bringen, und du wolltest mich überwiegend ganz für dich allein haben. Ich war der Sinn deines Lebens, deshalb hast du mich gebraucht und mich in Besitz genommen. Nie wieder wolltest du mich hergeben, ich sollte für immer und ewig bei dir bleiben. Um dieses zu erreichen, hast du mich angekettet und verhängnisvoll von dir abhängig gemacht. Erwachsen, selbständig, expansiv und selbstbewusst durfte ich auf gar keinen Fall werden, denn dann hätte ich mich ja von dir entfernt.

Also musstest du mich kleinhalten. Jeder Ansatz von Eigenständigkeit wurde von dir rigoros unterbunden, deine Macht hast du mitunter vollkommen hemmungslos eingesetzt. Jawohl, du hattest Macht, die größte und allumfassendste, der ich jemals ausgesetzt war. Um deinen dir selber sicher nicht bewussten Plan »Der kleine Max muß immer bei mir bleiben« umsetzen zu können, hattest du ein vielfältiges »Programm« angewandt. ... Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, was fällt mir da als erstes ein? Nun, es ist dein ... ewig und immer erhobener Zeigefinger. Ständig hattest du ihn vor meinem kleinen Gesicht in Positur gebracht und ihn dann mehrmals langsam hin und her bewegt. Die dazugehörenden Worte wurden mir von dir regelrecht eingeimpft. ... »Nein! Nein! Nein! So etwas macht man nicht. Nein! Nein! Nein! Das gehört sich nicht. Das ist ganz, ganz schlecht. So etwas darfst du nie wieder tun, sonst hat dich deine Mami nicht mehr lieb! Deine Mami hat nur den lieben und artigen Max lieb. Nein! Nein! Nein! Das ist ganz unanständig. Deine Mami wird auch sehr traurig, wenn du so schlimm bist, du hast mich doch lieb, nicht wahr? Du willst doch, dass sie dich auch lieb hat? Also sei ein kleiner artiger Max, versprichst du mir das?«

Wann war ich denn deiner Meinung nach unartig? Auf alle Fälle dann, wenn ich ärgerlich, wütend, trotzig oder bockig war, dir etwa widersprochen oder selber einmal Nein gesagt hatte. Außerdem durfte ich nicht laut, noch nicht einmal vorlaut sein, durfte nicht übermütig herumtollen, beim Essen nicht kleckern und schmatzen, mich nicht schmutzig machen und so weiter und so weiter und so weiter. Wenn ich sagte: »Ich will ...« , fandest du dies nicht in Ordnung; du wolltest ein »Darf ich...« oder ein »Bitte...« hören. Das von dir gewünschte »wohlerzogene, gute Betragen« hast du regelrecht erzwungen. Kannst du dir vorstellen, wieviel Angst ich jedesmal ausgestanden habe, wenn du dich von mir abwandtest, mich »nicht mehr lieb« hattest und mir deine Verachtung, Enttäuschung und deinen Ärger zeigtest? Das Schlimme dabei war, dass dein Liebesentzug meiner ganzen Person galt, nicht etwa nur einer meiner »Untaten«. Ich empfand den Entzug deiner Zuneigung als vollständig und mich als tatsächlich schlecht und schuldig.

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Ich glaubte daher sogar, dass deine Ablehnung berechtigt wäre. Ich strengte mich wahnsinnig an, um mir deine Zuwendung wiederzugewinnen. Leicht war es nie, ich musste sie mir förmlich erflehen und erbetteln, »du hast mich wieder mal schön enttäuscht! Du brauchst dich dafür nicht zu entschuldigen! Das machst du ja immer hinterher, doch ändern tust du dich nicht, du nicht. Also lass es bleiben!« Ich wurde immer kleiner und leiser, oft erst bei meinem dritten Anlauf hattest du mich erhört und mir vergeben.

Später, als ich mich in der Pubertät befand, verstärktest du deine Methode des Gefügigmachens noch um etliche Grade. Ich sollte zum Beispiel sofort einen Friseur aufsuchen, weil du dich sonst nicht mehr mit mir gemeinsam auf die Straße getraut hättest, du würdest dich meiner schämen. Ich sagte einfach: »Nein, mache ich nicht.« Du fingst fürchterlich an zu weinen und brülltest mich an: »Du kannst mich glücklich machen, aber auch zerstören! Wenn du mich zerstören willst, na bitte, dann mache es, gehe nicht zum Friseur, laufe herum wie ein Penner und werde wenigstens du glücklich dabei!« Du verschwandest anschließend auf der Toilette, wo du dich übergeben musstest. Zwei Tage lang hattest du dann deine Migräne und warst bettlägerig. Übrigens, es fiel mir auf, dass du immer dann Migräne bekamst, wenn ich nicht nach deiner Pfeife tanzen wollte. Aber du behieltest immer die Oberhand. Ich hielt einfach dieses Gefühl nicht aus, dir Leid zugefügt zu haben und schuldig zu sein. Ich bekam automatisch riesengroße Schuldgefühle, meine anfängliche Wut verwandelte sich in Angst. Schnell war ich wieder der brave, artige Max. Noch am selben Tag ging ich mit Blei in den Beinen zum Friseur. Vorher hatte ich dich, wie immer, mehrmals um Verzeihung gebeten. 

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Dies waren meine »Gänge nach Canossa«, die du mir häufig beschert hast. Wenn du wüsstest, wie sehr und nachhaltig du mich damit gedemütigt hast! Du kamst mir oft wie ein unbezwingbarer Granitfelsen vor.

Das, was du am wenigsten mochtest, waren Widerworte. ... Wenn ich es doch einmal wagte, dir meine eigene Meinung oder Willensäußerung entgegenzuhalten, wurde ich von dir mit den Worten kurz abgekanzelt: »Was bist du nur für ein dummer, frecher Junge!« oder »Na, sage mal! Nun komm' mal ganz schnell wieder auf den Teppich zurück! Du redest ja wieder einen Blödsinn zusammen, da muss ich mich ja richtig schämen für dich!« Manchmal versuchtest du, meinen Standpunkt und auch mich als krankhaft hinzustellen: »Wie kommst du denn bloß auf diesen Gedanken, wie kannst du nur so etwas denken? Ich bekomme ja richtig Angst um dich, wenn du so irres Zeug redest. Bist du etwa krank? So kann doch kein gesunder Mensch reden!«

Diese und ähnliche Sprüche bekam ich auch zu hören, wenn andere Menschen dabei waren, bei Verwandten, auf der Straße, im Kaufhaus. Ich fühlte mich jedesmal bloßgestellt und schämte mich gewaltig. Diese verächtlichen, negativen Zuschreibungen {dumm, nicht richtig im Kopf, Blödsinn reden, irre denken) habe ich Tausende Male und mehr von dir hören müssen. Wundert es dich, wenn mir hierzu der Begriff »Gehirnwäsche« einfällt? Wundert es dich, wenn ich dann später an einer großen Redehemmung gelitten habe, hauptsächlich vor Gruppen wie zum Beispiel in der Schule, während des Studiums, im Beruf, vor Frauen? Ich hatte nämlich die große Angst, dass ich etwas Falsches, Nichtpassendes oder vollkommen Unmögliches sagen könnte und die Gruppe mich dann genauso wie du für verrückt erklären würde. Das war eine große Angst, die die Redehemmung bewirkte. Und sie war auch einer der Gründe, weshalb ich eine Psychotherapie begonnen hatte. Du weißt, dass ich seit längerer Zeit bei Wilfried Wieck an einer Män-

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nergruppe teilnehme. Inzwischen bin ich fähig, Vorträge zu halten, beruflich muss ich viel vor Gruppen reden und stehe dort meinen »Mann«, mit Frauen kann ich zwangloser umgehen und bin auch mit meiner Partnerin glücklich. Reden lernen und damit mich in den Mittelpunkt stellen, war für mich ein Ziel, das ich fürs weitere Überleben unbedingt benötigte. Wilfried und die Männer haben mir in intensiver Arbeit, mit Zuneigung und Freundschaft geholfen, deine Gehirnwäsche zu durchschauen, zurückzudrängen und mich von ihr weitestgehend freizumachen.

Ein weiterer Programmpunkt, vielleicht der wichtigste, um mich an dich zu binden und unselbständig zu machen, ist das Thema Körper und Krankheit. Ich war in meiner Kindheit andauernd krank, bekam Windpocken, Masern, Keuchhusten, Scharlach, Mittelohrentzündung und jedes Jahr mit einer gewissen Regelmäßigkeit mehrere eitrige Halsentzündungen. Ich war ständig erkältet, verschnupft, vergrippt, vereitert, verschleimt, angegriffen, fiebrig, bettlägerig und pflegebedürftig. Ich war eben ein kränkliches Kind und du die »Krankenschwester«. Ich lebte in einer Art Sanatorium. Du tatest oft so, als ob du um mein Leben ringst, wenn ich wieder mal krank war. Auch wenn ich gesund war, hattest du Angst, schreckliche Angst, dass ich schwer erkranken könnte. So durfte ich oft nicht zu anderen Kindern auf die Straße zum Spielen, weil ich dann nämlich beim Herumtollen schwitzen könnte und mir dadurch eine Erkältung einfangen würde. ... Wenn du mich doch rausgelassen hattest, durfte ich die nähere Umgebung beim Spielen nicht verlassen. Du gucktest aus dem Fenster, und dort hatte ich mich alle Stunde einzufinden. Wenn ich verschwitzt war, musste ich sofort in die Wohnung und bekam Vorhaltungen.

Jeder Schnupfen war für dich eine riesengroße Katastrophe, sozusagen ein GAU. Immerzu hattest du Angst, dass mir etwas zustoßen könnte und schirmtest mich total von

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allen Widrigkeiten ab.... Ich war eben das kranke Kind, um das du dich aufopfernd bis zur Erschöpfung und Verzweiflung kümmern konntest. Das kranke Kind, das immer alles auf die leichte Schulter nahm: »Was weißt denn du, wie schwer krank du immer wirst! Ich will das nicht noch einmal durchmachen mit dir, diese letzte Angina! So einfach war das alles nicht, glaube mir das, der Notarzt wollte dich schon ins Krankenhaus stecken, aber ich habe gesagt: ,Mein Junge kommt nicht ins Krankenhaus, auf gar keinen Fall, schlagen Sie sich das aus dem Kopf.' Soooo ernst stand es um dich, so ernst, begreifst du das überhaupt? Und jetzt willst du nicht einmal mithelfen, dass du wieder gesund wirst! ... Und was ich für Sorgen auszustehen hatte. An deine arme Mutter denkst du wohl gar nicht, was? Nein, nein, du musst schon ein bißchen selbst mithelfen, damit wieder alles seine Ordnung hat. Also, zum Spielen kommst du mir heute noch nicht raus, da warten wir erst mal morgen ab!«

Gegen diese deine »Fürsorge« konnte ich mich nicht wehren, sie wurde einfach angeordnet und durchgesetzt. Es erscheint mir auch, als wenn meine Krankheiten regelrecht von dir herbeigeredet wurden und du mich als Kranken gebraucht hättest. Den Weg zur Grundschule durfte ich nach einiger Zeit allein bestreiten. Dafür warst du oft in der Schule und sprachst mit meinen Lehrern, sprachst mit ihnen über deine Ängste, dass ich wieder erkranken könnte. Sie sollten mich beim Sportunterricht nicht so »ran« nehmen, auf mich in der Pause ein besonderes Augenmerk richten, damit ich nicht so »wie ein Wahnsinniger« herumtollte. Oft schriebst du Entschuldigungszettel für die Sportstunde, um einer möglichen Erkältung vorzubeugen. Ich wurde unsportlich und treibe auch heute immer noch keinen Sport. Bei Mannschaftsspielen in der Oberschule wurde ich stets als letzter ausgewählt, was mir immer sehr peinlich war. Ich wurde also vehement an Spiel und Bewegung gehindert.

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Mich und meinen Körper konnte ich nicht mit Kraft und Freude erfahren, fühlen und ausprobieren. Mir wurde von dir das Gefühl eingeimpft, ich hätte von Geburt an einen kränklichen, fehlerhaften und mit Makel versehenen Körper.

Auch in Bezug auf meinen Körper hatte ich die fatalen Selbstzweifel, nicht »richtig« zu sein. Gegen diese »Makel« musste immer und übertrieben etwas getan werden. ... Es gab fast kein Körperteil von mir, das vor deinen Augen als gesund bestehen konnte. So zum Beispiel meine Füße (Schuheinlagen), mein krummer Rücken (orthopädische Gymnastik), die Zahnlücke (Spange tragen) und zuletzt auch noch ein Sprachfehler (Stottern). Du schlepptest mich von Arzt zu Arzt mit der immer wiederkehrenden verhängnisvollen Begründung, sonst bekäme ich später nie eine Frau. ... Wer von uns beiden war eigentlich krank? Ich oder du? Dein »Krankheitswahn« hatte für mich ... Folgen. So überfallen mich manchmal auch heute noch starke Anfälle von hypochondrischen Ängsten. Ich entwickle psychovege-tative Symptome wie Schwindel, Kreislaufschwankungen, Atemnot und Herzjagen, verbunden mit Panikanfällen und Platzangst; es gibt dann Zeitpunkte, an denen ich denke, ich sterbe. Es ist mir unmöglich, die U-Bahn, einen Fahrstuhl oder ein Flugzeug zu benutzen. Du dachtest früher bei jedem kleinen Schnupfen von mir sofort ans Überleben. Ich habe wirklich hart arbeiten müssen, um mit Hilfe von Wilfried Wieck und der Männergruppe diese mutterbedingten hypochondrischen Anfälle abzumildern und mit ihnen leben zu können.

Ein weiterer Programmpunkt von dir war deine Ablehnung meines MÄNNLICHEN Geschlechtes. Eigentlich sollte ich nämlich ein Mädchen werden. Du hattest dir den Namen Rita für mich ausgedacht.... Als ich immerhin schon zwei Jahre alt war, wurde ich nackt in der Badewanne fotografiert, mein kleiner Penis war ganz deutlich sichtbar. Und

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was schriebst du unter dieses Foto? Erinnerst du dich noch? Ich war vollkommen nackt, und du schriebst: »RITA MIT PONYFRISUR«. Auf Anraten von Wilfried habe ich deinen Zusatz rot ausgestrichen und statt dessen ganz groß, größer als deine Schrift unter mein Foto geschrieben: »MAX MIT PIMMEL!« du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, wie gut es mir damit ging!!!

Die Tatsache, dass ich männlich war, erfreute dich überhaupt nicht. So erinnere ich mich an ein Ereignis, ich war sieben Jahre jung, als ich allein badete und eine Erektion bekam. Voller Freude und Erstaunen stürmte ich aus der Badewanne, lief zu dir und rief ganz aufgeregt: »Mutti, Mutti, guck' mal!« Die Reaktion fiel dementsprechend beschämend aus, du blicktest erstaunt, dann irgendwie verunsichert, du hast unwillkürlich gekichert, dann wurdest du ärgerlich, drehtest mich um und schobst mich unwirsch und mit Gewalt wieder ins Badezimmer. Mein Gefühl: Ich hatte etwas Anstößiges, Verbotenes getan. Männer hatten deiner Meinung nach sowieso keinen Wert ... Wie oft hattest du mich abgewertet mit den Worten: »Du bist ja schon ganz wie dein Vater.« Damit meintest du ..., dass ich mich genauso unmöglich wie er verhalten würde ... Als ich etwa zwölf Jahre alt war, fand eine Untersuchung bei der Schulärztin ... statt, du warst auch anwesend. Die Ärztin untersuchte unter anderem auch eingehend meine Hoden, tastete und knetete sie lange ab ... Leider bekam ich dabei wieder eine Erektion. »Na, was soll denn das!«, klagte verärgert diese einfühlsame Arztin. Sie ging zu ihrem Schreibtisch, griff sich einen Bleistift und schlug damit einmal kurz und kräftig auf meinen Penis, der nach dieser Misshandlung natürlich wieder sittsam und schamhaft einschrumpelte. Die Vorgehensweise der Ärztin empfand ich als schlimm, aber noch peinlicher war mir, dass du dich bei ihr wegen meiner Erektion noch extra entschuldigt hattest. Da standet ihr beiden Frauen vor mir und warft mir vorwurfsvolle Blicke zu.

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Ich hätte vor Scham in den Boden sinken können! Der Nachhauseweg mit dir war mir unheimlich peinlich, ich sprach kein Wort und konnte dir nicht in die Augen sehen. Denn ich fühlte mich schuldig und schlecht, weil ich so etwas »Schweinisches« wieder getan hatte. Ich nahm mir vor, nie wieder eine Erektion zu bekommen. Glücklicherweise ist mir dieser Vorsatz jedoch nicht gelungen!

Lange Zeit fühlte ich mich nicht männlich, eher wie ein Neutrum. Ich war schüchtern, verklemmt und bekam jedesmal einen roten Kopf inklusive Schweißausbruch, wenn mich ein Mädchen oder eine Frau ansprach. Erst mit vierundzwanzig Jahren hatte ich den ersten Geschlechtsverkehr, dabei fühlte ich überhaupt nichts. Mit meiner damaligen Freundin kam es selten zu sexuellen Kontakten. Meinen erigierten Penis klemmte ich zwischen meine Schenkel, damit er nicht zu sehen war. Du kannst dir sicher vorstellen, dass diese Beziehung nicht lange Bestand hatte. Noch Jahre später hatte ich mit Lustabwesenheiten zu kämpfen. Die intime Begegnung mit einer Frau, wenn sie denn zustande kam, bereitete mir häufig keinen Spaß und Genuss. Die Sexualfeindlichkeit bei uns zu Hause, das unausgesprochene Lustverbot und die Ablehnung meines männlichen Geschlechtes haben mich jahrzehntelang um die Erfahrung sexuellen und erotischen Glücks gebracht. Mein Körper wurde mir enteignet. Beherrscht durfte ich sein, aber entsexualisiert. Ich habe mich inzwischen schon weit entwickelt, ich werde immer mehr ein »unanständiger« Mann, und ich genieße es!

... 

Ich jedenfalls wünsche mir ernsthaft, dass dir nach dem Lesen meines Briefes zum ersten Mal überhaupt in deinem Leben ein paar Selbstzweifel kommen, Selbstzweifel darüber, ob du mich wirklich so liebst, wie du es automatisch immer wieder behauptet hast. Ich wünsche mir außerdem, dass wir uns endlich einmal offen über unsere Beziehung auseinandersetzen können und dass du mir endlich einmal als erwachsene und selbstverantwortliche Frau begegnest, ohne gleich dein »Programm« als Waffe einzusetzen. Vielleicht besteht dann die Chance, dass wir etwas realistischer miteinander umgehen können. Vielleicht können wir uns auch wirklich näherkommen. Ich muss gestehen, ich kann dir gegenüber keinerlei Wut entwickeln. Ich denke, sie wäre ganz bestimmt angebracht, aber ich kann diese Wut nicht empfinden. Beim Schreiben überfiel mich eine bleierne, schwere und neblige Stimmung, die mich niederdrückte. Ich kenne sie von früher. Es ist haargenau die Stimmung, die ich als kleiner Junge oft empfunden habe. Ich fühlte mich oft verlassen und grenzenlos einsam. Ich mag jetzt den kleinen Max sehr und fühle tief mit ihm. Verstehst du das ?

Sohn Max

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»Du tust mir leid, aber ich kann dir nicht helfen, aus dem Leben zu scheiden«

  Harry Baum  

Ich bin 49 Jahre alt und ledig. Von Beruf bin ich Schriftsetzer. Ich war nie verheiratet und habe auch keine Kinder. Meine Schwester ist zwei Jahre jünger als ich, und wir haben ein gutes Verhältnis zueinander.

 

Liebe Mutter,

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gerade habe ich dich wieder einmal mit dem Auto nach Hause gefahren. Wir hatten uns längere Zeit nicht gesehen und haben uns heute bei Marianne getroffen. Deine Tochter hat dich abgeholt, dein Sohn hat dich zurück nach Hause gefahren. So geht das schon einige Jahre. Genau seit der Zeit vor fünf Jahren. 

Damals hatte ich dich und deinen Mann, meinen Vater, bei mir zu Hause und hatte das erste Mal den Mut und die Kraft, über mich und meine Gefühle zu sprechen. Die traurigen Gefühle von mir als kleinem Jungen in unserem lieblosen Familienleben. Von dir kam damals noch eine Reaktion der Betroffenheit. Nach einer Woche hast du mich angerufen und mir gesagt, dass dir mein Gesagtes leid tut. Viel war es ja nicht an Reaktion, es gab auch keine weiteren und vertiefenden Gespräche.

Überhaupt war es euch unangenehm, dieses Sechs-Augen-Gespräch. ... Mich vernünftig mit euch auseinanderzusetzen, habe ich bei euch nicht und auch nirgends anders gelernt. Seit der Zeit habe ich euch gemeinsam nicht mehr besucht und auch die Treffen mit dir sind seltener geworden. Seltener und auch schwieriger, denn du bist krank. Du kannst geistig nicht mehr richtig folgen, sitzt meist teilnahmslos dabei.

Trotzdem bist du froh, denn bei dir zu Hause spricht kaum jemand mit dir. Du bist seelisch verkümmert an der Seite dieses Mannes und hast dich nie dagegen gewehrt. Du hast kaum Gelegenheit, die Folgen eines leichten, unbemerkten Schlaganfalls zu lindern und dich beim Sprechen zu trainieren. Es tut mir weh, dich so zu sehen. Zum seelisch-geistigen Verfall kommt noch der körperliche hinzu.

Du tust mir leid, und ich möchte etwas für dich tun, weiß aber nicht, was. Solange ich denken kann, tust du mir leid. Ich möchte wissen, warum das so ist. Gleichzeitig hoffe ich auf einen Schritt hin zur Befreiung von meinem unbefriedigenden Verhältnis zu Frauen. Denn das ist nicht in Ordnung, und ich glaube, dass du einen großen Anteil an dieser traurigen Entwicklung von mir hast.... In den letzten Jahren habe ich versucht, etwas an mir zu arbeiten und etwas von meiner Last loszuwerden. ... Offenheit und Vertrauen wurde bei uns nicht praktiziert. Spießiger Mief war bei uns zu Hause angesagt. Fünf Menschen lebten in einer Anderthalb-Zimmer-Wohnung, beengt, und kein frischer Wind wehte da durch. Keine Entwicklung in geistig-seelischen Dimensionen. Dressur und Abhängigkeit, das war meine Perspektive. Eine erbärmliche Möglichkeit, als Mensch und Charakter zu reifen. Als ich von dir erfuhr, wie eure Kindheit und Jugend war, hatte ich viel Mitleid mit euch. Auch ihr hattet eine lieblose Zeit hinter euch. Glatt vergaß ich mich und meine Nöte in meinem Leben.

Genau genommen ist es bis heute so geblieben. Stellvertretende Situationen bringen mich zur Traurigkeit und gelegentlich zu Tränen, Szenen in Filmen, bei denen es um zwischenmenschliche Gefühle geht, wie Freundschaft, Anerkennung, Lob, Aufmunterung, Verständnis, Wärme und Liebe, Zuneigung, aufrichtige Gefühle von intensiver Nähe, wie ich sie bei uns in der gesamten Familie nie erlebt und kennengelernt habe.

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In solchen Situationen, zumal bildlich dargestellt, erlebe ich einen Druck in meiner Brust und bekomme einen Kloß im Hals. Mir laufen dann oft die Tränen. Ganz deutlich spüre ich dann meinen Magen. Irgend etwas hält mich im Griff, in einem starken Griff, und ich möchte mich am liebsten auflösen. Auflösen in ein Nichts und mic ergehen in einem Meer von Tränen. Möchte mich ergehen in all die geweinten und mehr noch in die ungeweinten und abgewürgten Tränen in meinem Leben, zu denen auch du ge hörig beigetragen hast.... Ich kann mich nicht erinnern, mal auf deinem Schoß gesessen zu haben. Hattest du uns lieb? Oder war dein ganzes Tun nur Pflicht und die Angst, etwas mehr Liebe zu zeigen? Du hast mir nie gesagt, dass du mich lieb hast. Ich erinnere mich, dass ich dir einmal gesagt habe, dass ich dich heirate, wenn ich groß bin. Deine Antwort war, ich sei ja dumm. Du hast das Kompliment eines kleinen Jungen nicht angenommen, sondern hast mich kleingemacht. So fühlte ich mich auch. Niemals war von euch irgend etwas zu hören, was mich mit Stolz erfüllt hätte. Es gab keine Aufmunterung und Bestätigung durch euch, die Eltern und die »Oma«.

 

Warst du jemals stolz auf mich? Ihr seid nachkriegsbedingt erst nach Bayern und dann wieder zurück in eure Heimatstadt Berlin gezogen. Du wolltest nicht mit der Großmutter deines Mannes zusammenziehen - hast es aber letztlich doch getan. Dein Mann konnte sich wieder durchsetzen. Immer und immer wieder hat er sich bei dir durchgesetzt. Du kanntest die »Oma« schon und hattest deine guten Gründe, nicht mit ihr ein Dach zu teilen. Wir sollten sie in den folgenden Jahren kennenlernen. Du hattest angefangen zu arbeiten, und zu Hause hat »Oma« gearbeitet und auf uns Kinder aufgepasst. Nicht erzogen hat sie uns, es war mehr eine Dressur. Sie war hart und schroff. Wärme strahlte sie nicht aus und konnte sie nicht geben. Zärtlichkeiten erst recht nicht. 

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Die wenigen lieben Worte, die zu mir über ihre Lippen kamen, habe ich aufgesogen wie ein Schwamm. Es fehlt mir die Erinnerung daran. Kurz vor ihrem Tod hat sie mir mal ein bisschen Geld gegeben und gelächelt und mich »Sohne« genannt. Es war sehr ungewöhnlich, und obwohl ich mich darüber freute, war ich gleichzeitig seltsam peinlich berührt. Kinder haben zu parieren und keine Widerrede. Das wollte sie durchsetzen und hat es auf ihre Art ja auch erreicht. Gelacht wurde nie, und wenn, dann nur aus Schadenfreude. Sie war extrem schadenfroh, konnte sich gut über anderer Leute Schaden lustig machen. Einmal goss sie mir heißes Wasser über den Kopf zum Spülen beim Haarewaschen, sie hatte vergessen, es mit kaltem zu mischen. Es tat mir weh und ich bin in der Küche umhergesprungen, derweil sie bei diesem Anblick vom Lachen Tränen in den Augen hatte. Es gab kein Erschrecken, keinen Trost - nur dieses schallende Lachen. Noch heute könnte ich zuschlagen, wenn mir jemand schadenfroh entgegentritt. Meine Wut wird unterdrückt, genau wie damals. Sie war neidisch, missgünstig und nicht offen. Sie hat dich auch schlecht gemacht bei anderen Leuten, hat wohl nicht gedacht, dass wir als kleine Kinder das mitbekommen. Jedenfalls habe ich mich geschämt, wie sich ein kleiner Junge schämt, wenn er mitbekommt, dass seine Mutter, an die er glaubt, Empfindungen und Hoffnungen hat, schlechtgemacht wird. Dass du uns dieser Frau anvertraut hast, war glatter Verrat. Du wusstest, wer sie war, wir Kinder hatten keine Wahl, und du hättest es niemals zulassen dürfen. Später hast du unsere gesamte Situation mit wirtschaftlichen Gründen zu erklären versucht. Diese Gründe waren wohl gegeben. Aber was hatte das alles mit der nicht vorhandenen Herzlichkeit und Nähe zu tun?

Nur nicht aufmucken und immer schön das machen, was von uns verlangt wurde. Wir haben uns daran gehalten.

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Marianne war etwa vier Jahre alt, da sollte sie stricken lernen. Natürlich hat sie es nicht so schnell kapiert. »Oma« hat geschimpft, weil sie ungeduldig war, und die Kleine hat geweint. Die Tränen waren groß, die Nase verrotzt, »Oma« kannte kein Erbarmen. Sie zwang Marianne immer und immer wieder. Dabei schimpfte sie auf Marianne, der nun alles misslang ... Ich habe auch hier gelitten, konnte nichts tun, fühlte mich hilflos und gelähmt. Das war einmal mehr blanker Sadismus. Ähnlich gelähmt bin ich heute noch, wenn Frauen weinen, und auch, wenn sie mir anklagend entgegentreten. Im zweiten Fall versuche ich mich bestenfalls zu rechtfertigen, egal, ob die Behauptungen der Wahrheit entsprechen oder nicht. Dieses Ohnmachtsgefühl hatte ich auch immer, wenn du dich bei mir über deinen Mann beklagt hast. Hilflos, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Ohnmacht mit wachen Augen. Genau wie damals als kleiner Junge. In meiner Brust vereinten sich ein Zusammenziehen und ein Auseinanderreißen.

Gleichzeitig hatte ich eine undefinierbare Sehnsucht. Vielleicht nach Frieden oder der Möglichkeit, solchen Zwangs Situationen in Zukunft entgehen zu können. Du hast mal gesagt, dass du zwei Kinder haben wolltest, einen Jungen und ein Mädchen. Das ist dann tatsächlich auch passiert. Dein Mann wollte keine Kinder. Er muss vom Gefühl her das Richtige gewollt haben. Leider hat er sich in diesem Punkt bei dir wieder einmal nicht durchgesetzt. Heute weiß ich, dass ihr beide emotional und geistig nicht reif genug wart, Kinder zu erziehen. Ihr seid auch heute mit einundsiebzig Lebensjahren noch nicht erwachsen. Es gab auch Situationen, wo du mich sehr gekränkt hast. Eine ist die: ich war etwa dreizehn Jahre alt, und wir waren zu dritt mit deinem Mann in der Kneipe. Du gabst mir Geld für die Musikbox. Unter anderem habe ich von Heintje das Lied »Mama« gedrückt. Ich hatte gehofft, dass es dich freuen würde, diese »Liebeserklärung« an dich. Statt dessen hast du gesagt: »Was hast du denn da für einen Mist gedrückt?« Ich habe

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mich dann sehr geschämt und hatte das Gefühl, etwas unheimlich Verkehrtes getan zu haben. Alles in allem war es der hilflose Versuch von mir, eine Nähe herzustellen, sonst hatte ich ja kaum Möglichkeiten. Zumal ihr beide mich in die Kneipe mitgenommen habt gegen »Omas« Willen, die dies missbilligte. Ihr hattet euch beide für mich und gegen »Oma« entschieden. Vor meinen Augen war das eine Sensation und absolut einmalig. Wir haben als Familie zusammen kaum etwas unternommen.

Schichtarbeit und familiäres Desinteresse deines Mannes und deine Arbeit als Verkäuferin. Von Montag bis Samstag im Geschäft. Anschließend die Arbeit in der Waschküche und sonntags dann das Bügeln. So hast du geschuftet. Die Arbeit war dein Lebensinhalt und dein Halt. Wie hast du das nur aushalten können? Dein Mann war an seinen freien Tagen in der Kneipe. Von Unterstützung für dich keine Spur. Das war wohl zu unmännlich, und du hast es einfach nicht fertiggebracht, dies einzufordern. Du warst schwach und hast dich von diesem Punkt nie entfernt. Für Marianne und mich blieb keine Zeit. Keine gemeinsamen Ausflüge, keine Spiele, keine Gespräche, keine schönen gemeinsamen Dinge, keine Vertrautheit. Nicht einmal Schulaufgaben haben wir gemeinsam gemacht. Hilfe und Unterstützung blieb uns auch hier versagt. Zu Elternversammlungen ist auch nie einer von euch gegangen. Der Lehrer sprach mich darauf an, und ich musste mir eine Ausrede für euch einfallen lassen und fühlte mich für euch schuldig.

Marianne lernte schwer lesen, »Oma« machte mit ihr die Leseübungen, ich saß dabei. In der Küche am Tisch. Mir selbst fiel das Lesen nie schwer. Bücher haben mich schon früh interessiert. Marianne hatte Schwierigkeiten. Irgendwann verwechselte sie die einfache Silbenübung. Das wäre der Zeitpunkt zum Aufhören gewesen, aber nein »Oma« riss der Geduldsfaden und sie schlug Marianne, zu dem Takt der Silben »lu-lu« und »la-la« bekam sie Ohrfeigen. 

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Über vierzig Jahre später sehe ich die Situation sehr deutlich vor mir. Die rasende Alte und die weinende Schwester und mich mit ohnmächtigem Schweigen. ... Wir beide waren nur Ballast für euch, und zwar für alle drei. Wärme und Geborgenheit gab es insgesamt nicht. Gelegentlich gab es solche Gelegenheiten. Manchmal im Winter wurden die Federbetten am Ofen gewärmt und dann auf uns gelegt. Das war dann wie ein Feiertag. Oder wenn wir krank waren, dann durften wir uns etwas zu essen wünschen. Das war in der Regel Würstchen mit Kartoffelsalat, was auch erfüllt wurde. In solchen Situationen warst du besorgt, und das tat gut. Nur habe ich von diesem Gefühl zu wenig bekommen. Dies war schöne Zuwendung, von der ich nicht genug kriegen konnte und auch nicht bekam.

Das Positive war die Ausnahme. Statt dessen gab es reich lieh Enttäuschungen und Ängste. Wohl das schlimmste Erlebnis hatte ich mit etwa zehn Jahren. Wir Kinder und die »Oma« waren in unserem Zimmer. Wir lagen im Bett. Du und dein Mann, ihr habt euch gestritten. Schreie, Wutausbrüche, Türen knallen. Ich war wahnsinnig aufgeregt und hatte Angst, »Oma« schimpfte auch irgend etwas bei uns im Zimmer, aber sie ließ euch gewähren. In der folgenden Zeit war bleierne Stimmung in der Wohnung, aber kein Wort der Erklärung oder des Bedauerns zu uns Kindern. Schweigen und verschlossene Mienen bei euch Erwachsenen. Ein paar Wochen später ein ähnlicher Vorfall, nur viel heftiger. Lautes Geschrei, ein lautes Türenknallen, und du warst fort. Du bist zu deiner Mutter ins Hinterhaus gelaufen. Du hattest ein blaues Auge. Ich stand im Bett, war wieder voll Angst und verstört. Marianne auch. Von da an hatte ich noch mehr und offene, sichtliche Angst vor diesem Mann, der dich geschlagen hat und mich auch jederzeit hätte schlagen können. Wieder hat niemand darüber ein Wort mit uns gesprochen, und du hast uns mit diesen beiden gewalttätigen Menschen alleingelassen, mit ohnmächtigen Gefühlen. Nichts hast du

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mir gesagt oder erklärt. Kein Wort des Bedauerns, des Trostes, irgendein mütterliches Gefühl der Besorgnis. NICHTS! Du wolltest dich scheiden lassen, und ich war voller Freude darüber. Mir war klar, dass ich bei dir bleibe. Die Hoffnung zerplatzte wie eine Seifenblase, weil dich dein Mann wieder rumgekriegt hatte. Viel später hast du diese Handlung wieder mit wirtschaftlichen Gründen erklärt. Nein, Mutter, das war es nicht. Du hattest keinen Mut, warst schwach, und das dein Leben lang. Dreißig Jahre später. Ihr beide lebtet schon eine Weile getrennt, weil sich dein Mann einem »Kurschatten« zugewandt hatte. Als es ihm dort nicht mehr passte, kam er zu dir zurück, nicht reumütig, nein - völlig selbstverständlich. Du hättest ihm die Tür weisen sollen mit Pauken und Trompeten. Aber nein, du bist weich geworden und hast ihn zu seinen Bedingungen wieder aufgenommen. Sein Versprechen, nicht mehr zu trinken, hat er vier Wochen durchgehalten.

Wieder einmal hast du mich enttäuscht. Es war eine schöne Zeit für mich, in deine Wohnung zu kommen, ohne ihn zu sehen. Mit zweiundvierzig Jahren ist mir erstmals be-wusst geworden, dass ihr mich während meines fünfeinhalbjährigen Aufenthaltes in Afrika nicht einmal besucht habt. Nicht einmal einen Gedanken habt ihr daran »verschwendet«. Jetzt erst wird mir klar - ich auch nicht. Es hat euch nur oberflächlich interessiert. So war unser Verhältnis schon immer Fremdsein in nächster Familienbande, das Unnormale war Normalität und umgekehrt keine emotionale Nähe, keine Freundschaft. Es macht mich heute noch traurig, es hätte schön sein können mit uns als Familie. Die Enttäuschungen in meinem Leben waren so normal, dass sie zu keiner großen Auflehnung geführt haben. Es war einfach so bei uns zu Hause. Punkt. Trotzdem sind sie nicht vergessen und auch noch nicht vergeben. Nur noch eine Begebenheit, die ich dir mitteile. Sie ist typisch für die Feigheit meiner Eltern.

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Ich war ungefähr drei Monate fort von euch, in meiner ersten Wohnung. Du hattest für mich in der Waschmaschine meine Wäsche gewaschen, und ich habe sie mir trocken abgeholt. Eines Tages hast du am Telefon herumgedruckst und gesagt, dass es nicht mehr geht. Vater will es nicht mehr, dieser Arsch, der sich von vorne bis hinten bedienen ließ das ganze Leben lang, der überhaupt nie mit uns oder für uns etwas gemacht hat, er hat befohlen, und du bist gefolgt.

Das kann ich nie vergessen, das war die größte Enttäuschung durch dich in meinem bewussten Leben. Damals hätte ich mit euch beiden total brechen sollen.

Aber zweiundzwanzig Jahre gemeinsam mit euch haben mich in dieser Richtung geprägt wie ich nun einmal war. Schuldbewusst dir gegenüber, die mich so oft verraten hat. Mir ist jetzt klar, dass ich mich von meinem Schuldbewusstsein dir gegenüber befreien muß. Wenn sich jemand Schuld vorzuwerfen hat, dann gehörst du bestimmt dazu. Als weibliche Bezugsperson hast du versagt und der »Oma« das Feld überlassen. Es hat sich bei mir ein Frauenbild gebildet, das von meiner Seite keine richtige Nähe zulässt. Schwache (oder liebe) Frauen sind nicht verlässlich und »Beißzangen«, die mich magisch anziehen, lassen mich dann alle Möglichkeiten versuchen, ihre Liebe zu bekommen.

Da läuft dann der kleine Junge in mir in einem Hamsterrad, um Liebe und Zuneigung zu bekommen. Mir ist klar, dass ich damit aufhören muss, um eine zufriedene Lebenseinstellung zu bekommen. Ich muss aufhören, die Mutter zu suchen, die sich mir früh entzog, die ich verloren habe. Mein Leben lang hatte ich selbstzerstörerische Gefühle und immer jemanden gesucht, der mich leitet, führt, dem ich vertrauen kann. Ein Leben mit seelischem Schleppanker und vielen Ersatzmüttern und gelegentlichen Vätern. Heute, wo du in jeder Hinsicht ein »Wrack« bist, möchtest du aus dem Leben scheiden und besitzt immer wieder die Ungeheuerlichkeit, deine Kinder zu fragen, ob sie dir nicht dabei helfen können. Zuerst war ich total erschrocken, später unheimlich sauer und nun bin ich einigermaßen kräftig, die Dinge und dich realistisch zu sehen und deinen Wunsch als Hilferuf zu sehen.

Aber, Mutter, wie du spätestens jetzt weißt, wir hatten denkbar schlechte Möglichkeiten zu lernen, wie man sich in der Familie gegenseitig hilft und unterstützt. Somit verlangst du von mir Unmögliches. Mein Leben war ja beherrscht von der Sorge, etwas Verkehrtes zu tun, worunter du dann leiden musst. Immer hatte ich irgendwie das Gefühl, schuld zu sein an deinem Unglück. Dabei war es umgekehrt. Es ist immer noch eine äußerst schmerzhafte Erkenntnis für mich. Mir ist auch klar, dass es so für mich unmöglich war, Frauen normal und ebenbürtig gegenüberzutreten. Machen sie einen hilflosen Eindruck, stehe ich als »Beschützer« parat. Sind sie freche oder kühle, strenge, nicht einnehmbare, abweisende Personen, setze ich dann alles daran, sie für mich zu gewinnen. Von allen möchte ich wenigstens gemocht und anerkannt werden. Keine möchte ich verlieren, leide unter Bindungs- und Verlustangst gleichermaßen.

So oder so, ich habe das Gefühl, ich bin in der Zwickmühle. Es muss einen Weg hinaus geben aus diesem Dilemma, und ich werde ihn finden. So wie ihr beide möchte ich nicht mein Leben einmal beschließen müssen. Gerade schaue ich auf ein Babyfoto von mir und sehe ein niedliches kleines Kerlchen. Er lächelt mich an, genau wie euch damals. Ich mag ihn, möchte ihn streicheln und an mich drücken, in seinen kleinen Po beißen. Warum hast du, Mutter, es zugelassen und mitgeholfen, ihn seelisch zu verstümmeln? Er hat dich gebraucht und er wurde missbraucht. Das wiegt schwer in meinem Leben. Die zentnerschwere Last des Mangels und die ungestillte Sehnsucht nach Liebe und auch fähig zu sein zur Liebe.

Dein Sohn Harry

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