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1.  Eine lebendige Maschine 

 

Wir dürfen niemals aufhören zu forschen.
Am Ende unserer Bemühungen werden wir am Anfang stehen 
und wieder von vorne beginnen.
(T.S. Eliot: Quartette)

Bild: Ein brodelnder Lavasee im Krater des Vulkans Nyiragongo in Zaire.

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Auf diesem Planeten gibt es Gebiete voller Krach und Rauch, in denen untere Erdschichten die oberen zerstören. Auf Island und Hawaii, in Zaire und Neuseeland schießt die Lava aus Felsen hoch wie die Fontäne eines Wals. Der Boden bebt, als ob Riesen darunter miteinander kämpften oder sich unruhig im Schlaf wälzten. Unsere Vorfahren, die in solchen Gegenden lebten, mußten mit einer unsicheren Landschaft fertig werden und hatten böse und düstere Träume von der Erde.  

Es war furchterregend, wenn das geschmolzene Feuer von den Bergen kam und die Felder der Bauern verbrannte oder wenn an einem sonnigen Frühlingsmorgen ein Erdbeben das nächste Dorf dem Erdboden gleichmachte. Derartige Katastrophen verlangten nach Erklärung und Opfern. Im Hochland von Mexiko haben die Azteken Gefangene auf der Spitze eines erloschenen Vulkans geopfert: Sie verbrannten Menschen herzen, um die Sonne am Leben zu halten und Erdbeben abzuwenden.

In Westafrika glaubte ein Stamm von Eingeborenen, der Dschungel sei das Haar eines Riesen, und alles, was in diesen Haaren kroch, lief und flog, seien Läuse. Wenn er den Kopf schüttelte, bebte die Erde. In Neuseeland erzählte man sich, die zerklüfteten Berge seien durch einen zappelnden Riesenfisch entstanden, der von gierigen Brüdern geangelt wurde. In Polynesien sprachen die Inselbewohner von der Göttin Pele und ihrer älteren Schwester Namakaokahai, die in weiten Teilen des Pazifik miteinander stritten. Ihr Kampf hinterließ im Meer seine Spuren - die Kette der Hawaii-Inseln. Pele hauste (mehr oder weniger) im unteren Teil des Vulkans Kilauea, und bei Temperamentsausbrüchen - wenn sie, was oft der Fall war, von einem gutaussehenden Hawaii-Häuptling verschmäht wurde - »explodierte« sie. 

Die alten Nordländer auf Island gaben ihren streitenden Göttern die Schuld an den Erdbeben. Vor langer Zeit verursachte Loki, der Gauner, aus reiner Bosheit den Tod von Baidur, Odins heiligem Sohn. Zur Strafe wurde Loki in einer unterirdischen Höhle auf drei Steinplatten gebunden. Eine Schlange kroch über sein Gesicht, und ihr Gift tropfte in seine Augen. Lokis Frau stand neben ihm und hielt einen Becher, um das Gift Tropfen für Tropfen aufzufangen. Wenn sie sich jedoch hin und wieder abwandte, um den Becher zu leeren, wurde ihr Mann von einem Tropfen getroffen, und sein Aufbäumen ließ die Erde erbeben. »So muß Loki bis zur Götterdämmerung leiden«, erzählten sich die Nordländer, wenn sie am Feuer saßen.

Später, als die Nordländer zum christlichen Glauben übergetreten waren, wollten sie von diesen Geschichten nichts mehr wissen und kamen zu dem Schluß, daß Erdbeben und Vulkane aus der Hölle kommen. Im Mittelalter glaubte man in ganz Europa, daß Islands gefährlichster Vulkan Hekla das Tor zur Hölle sei. Die zischenden Lavabomben, die aus dem Krater schossen, waren die Seelen der Verdammten.


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Noch vor 20 Jahren gab es keine zufriedenstellende Erklärung, wenn die Erde bebte und brannte. 

Am Spätnachmittag des Karfreitag 1964 fing das Land in Anchorage, Alaska, ohne Vorwarnung an zu flattern und zu knallen wie eine Fahne in einem plötzlichen Windstoß. Sie bebte zwischen vier und sieben Minuten lang. Rund 200.000 Megatonnen Energie wurden freigesetzt, 400 mal mehr als die Energie aller Atombomben, die in Kriegs- und Friedenszeiten je explodierten. Es war das stärkste Erdbeben in der Geschichte Nordamerikas: 8,5 auf der Richter-Skala.

In der Innenstadt sanken Läden und Gehsteige sechs Meter in die Erde, Teile der Fourth Avenue und der L Street rutschten ab und stießen an der Ecke zusammen, 530.000 m2 der Vorstadt Turnagain Heights rutschten ins Meer. Die Stadt Valdez in Alaska wurde völlig zerstört: erst durch Erdrutsche, dann durch Überflutung und schließlich durch riesige Flutwellen, Tsunami genannt. Die Tsunamis rissen noch in einer Höhe von 24 Metern Bäume von Klippen und Felsufern. Die Ausläufer des Bebens waren noch 1500 km weiter nördlich bei Point Hope und Point Barrow zu spüren.

Verglichen mit dem Ausmaß der Zerstörung, war die Anzahl der Opfer relativ niedrig. Es gab keine hohen Gebäude in Anchorage, und in ganz Alaska kam auf 2,5 km2 ein Einwohner. Rund hundert Menschen starben. Wenn solch eine Erschütterung jemals Kalifornien erfassen sollte, wo mehrere hundert Menschen auf 2,5 km2 leben, würde die Anzahl der Opfer entsetzliche Ausmaße annehmen. Die riesigen Wolkenkratzer in San Francisco sind Konstruktions­experimente, die noch nie auf die Probe gestellt wurden.

Zur Zeit des Karfreitagbebens wußten die Geologen, daß Erdbeben an fehlerhaften Stellen entstehen - an Rissen in der Erdkruste. Aber sie wußten nicht, warum es zu diesen Rissen kam. Die Geologie hatte zu dieser Zeit einen schlechten Ruf. Der englische Physiker Lord Kelvin sagte einmal in einer heftigen Diskussion über das Alter der Erde, daß die Geologie das gleiche intellektuelle Niveau hätte wie das Sammeln von Briefmarken. Mit der Zeit zeigt sich, daß der Physiker beide Male Unrecht hatte - sowohl in bezug auf das Alter der Erde als auch in bezug auf die Geowissenschaften. 

Aber es war richtig, daß viele Geologen ihre berufliche Laufbahn damit zubrachten, Steine zu sammeln und den madagassischen Sandstein mit dem indischen zu vergleichen. Sie waren nicht fähig, die endlosen Vergleiche und Unterschiede, die sie verzeichneten, zu erklären. Sie konnten nicht sagen, warum die Sandsteine, nur durch den Indischen Ozean getrennt, einander so ähnlich waren. Keine einzige Hypothese erklärte die schwachen Erschütterungen in Westafrika und die plötzlichen, tödlichen Beben in Alaska. Es gab den Globus, aber keine globale Theorie. Schon der frühe Geowissenschaftler Alexander von Humboldt hatte geklagt: »Wir untersuchen die Steine, aber nicht die Berge, wir haben das Material, beachten aber nicht, wie es zusammengehört.«


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Beim großen Beben 1964 verwüsteten riesige Wellen die Südküste Alaskas. In Seward wurde das Fischerboot <Taku Maid> aus dem Hafen in einen Rangierbahnhof geschleudert.

Welche Kräfte formen die Erde? Welche Gründe gibt es für die Katastrophen in Mexiko, Zaire, Neuseeland, auf Island und Hawaii? Warum besteht der Gipfel des Mouht Everest - heute paradoxerweise »Dach der Welt« genannt - aus Felsen und Fossilien, die einst auf dem Meeresgrund lagen? Woher kommen die Überreste riesiger Gletscher in der Sahara und tropischer Urwälder in Alaska? Sind ganze Landpakete an neue Adressen geschickt worden?

Vor 20 Jahren begannen die Geologen mit atemberaubenden geistigen Sprüngen, ihre Wissenschaft zu verändern. In den Jahren nach dem großen Erdbeben in Alaska vollzog sich bei der Erforschung der Erde eine Revolution. Wie andere Revolutionen in der Geschichte der Wissenschaft, brauchte diese Entwicklung viel Zeit. Einige scharfsinnige Wissenschaftler vermuteten ähnliches schon Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte, bevor sie die Werkzeuge hatten, um ihre Ahnungen zu bestätigen. Nun kamen in unserer Zeit schließlich die richtigen Werkzeuge, hochentwickelte Methoden und entscheidende Beweise alle zum gleichen Zeitpunkt.

Diese Revolution brachte Hunderttausende von Beobachtungen zusammen - viele von ihnen wurden unter großen Gefahren gemacht. Wissenschaftler kletterten Eisklippen in der Antarktis hinunter, tauchten mit winzigen Tauchbooten in Risse im Mee-

 

 

 

 

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