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1  Warum alles begann: 

Student im Adenauerstaat

 

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Betrachtet man das Bild, das die Massenmedien in unregelmäßigen Abständen über die 68er verbreiten, so gewinnt man den Eindruck, dort habe eine junge Generation von privilegierten Bürgersöhnchen Randale gemacht, die gesellschaftlichen Spielregeln mißachtet und das Ganze auch noch als fröhliches Happening inszeniert.

Alles in allem: eine lustige Revolte. Erst als die Gesellschaft sich dieses Treiben am Rande der Legalität nicht mehr gefallen ließ — so die Geschichtsschreibung unserer Medien — und zurückschlug, wurde daraus auf einmal bitterer Ernst. Es kam zur Konfrontation der Studenten mit dem Staat und in der Folge zu Gewalt und Gegengewalt. Erst setzten die Studenten Spruchbänder, dann Steine und Molotowcocktails, dann Kalaschnikows und Sprengsätze ein. Die Polizei benutzte "zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung" erst Worte, dann Schlagstöcke, dann Wasserwerfer und Tränengas, dann Pistolen, dann ...

An dieser Darstellung stimmen zum Teil nicht einmal die Fakten. Doch vor allem gehen sowohl die Beschreibung des Ursache-Wirkungs-Verhältnisses als auch die Schlußfolgerungen an der Realität jener Zeit vorbei. Auch nach über 30 Jahren haben die bundesdeutschen Massenmedien mit dem Phänomen der Studentenrevolte ihre offensichtlichen Schwierigkeiten.

Aber das Verhältnis ist auf beiden Seiten gestört. Der Konflikt mit der öffentlichen Meinung, die die Medien zum Ausdruck brachten, mitformten und auch manipulierten, ist ein konstitutiver Bestandteil der Rebellion der 68er. Wie ein roter Faden zieht sich die Auseinandersetzung mit der Presse, im besonderen der "Springer-Presse", durch die Annalen der Studentenbewegung. Auf die besorgten Fragen der Honoratioren der 60er Jahre, warum die heutige Jugend so rebellisch sei, wußten die Redakteure in den Chefetagen der Pressehäuser eine einfache Antwort: Die FAZ schrieb: 

"Die Studenten haben keine Achtung mehr. Sie sind im Wohlstand aufgewachsen, aber erkennen die Leistungen derjenigen, die ihn geschaffen haben, nicht mehr an. Sie haben es zu gut gehabt und kennen keine Pflichten mehr und opponieren deshalb gegen jegliche Autorität." 

Mit einer etwas anderen Stoßrichtung stellte die FAZ zehn Jahre später diese Frage erneut:  

"Kaum ein Ereignis hat die westliche Welt und insbesondere die Bundesrepublik so bewegt wie die Protestbewegung der 60er Jahre. Seitdem schwelt die Frage, woher diese plötzliche Entladung gekommen ist, woher denn in den parlamentarisch verfaßten westlichen Staaten die Bereitschaft rühre, mit radikalen Parolen, geballten Fäusten und schließlich sogar mit terroristischen Aktionen gegen Staat und Gesellschaft zu demonstrieren, und wie sicher überhaupt der Boden sei, auf dem diese Staaten und Gesellschaften stehen."  

Ein ausgeprägter Hang der 68er zum Dolce vita kann es nicht gewesen sein.

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Denn wie soziologische Untersuchungen jener Zeit — so zum Beispiel eine vom Berliner Senat in Auftrag gegebene Studie — belegen, waren es gerade die fleißigsten, die pflichtbewußtesten und zum Teil auch die intelligentesten Studenten, die die herrschenden Zustände am heftigsten kritisierten. Intellektuell hochgradig motiviert, hatten sie sich nicht den Schlendrian auf ihre Fahnen geschrieben, sondern sie beanstandeten im Gegenteil die ineffiziente Arbeit des Universitätsbetriebs. Sie kritisierten gerade das geringe Leistungs­niveau im Lehrbetrieb der Hochschulen. Die Avantgarde der linken Studenten zeichnete sich eher durch ihren übertriebenen Ehrgeiz aus als durch eine besonders lockere Lebensart.

Der Großteil von ihnen hatte eine strenge, fast asketische Erziehung genossen, die sich an den Begriffen Zucht und Ordnung orientiert hatte. Die meisten mußten einen langen Weg zurücklegen, bis sie die Wurzeln ihrer teilweise offen zu Tage tretenden Verklemmung erkennen und in flotten Sprüchen karikieren konnten.

Aber man lastete den aufbegehrenden Studenten nicht nur Pflichtvergessenheit an. Damals wie heute ist zum Beispiel Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt der Meinung, "die Maßstäbe" hätten sich "im ätzenden Säurebad studentischer Kritik aufgelöst" (in: DIE ZEIT). Und damals wie heute kann man in der Wochenzeitung DIE ZEIT nachlesen, daß die "68er-Rebellen die Gemeinschaft auf dem Altar der Gesellschaft geopfert" und "das Fehlen einer moralischen Substanz in der deutschen Gesellschaft zu verantworten" hätten.

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Aber auch die FAZ, DIE WELT und andere Medien verbreiten gerne, daß die 68er den moralischen Grund­konsens, auf dem die Entwicklung der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik beruhte, zerstört hätten. Doch was die Gemüter der Vätergeneration am empfindlichsten traf, war der angeblich mangelnde Respekt vor den Autoritäten.

Antiautoritäre Bewegung war denn auch bald das Etikett, das die Medien den Studenten anhängten. Dabei entlehnten sie auch diesen Ausdruck dem studentischen Vokabular. Doch die Presse stellte ihn natürlich in einen anderen Zusammenhang als die Hochschulschriften des SDS. Der Begriff antiautoritär wurde zum Schlagruf der 68er, weil er auf einem theoretischen Gegenkonzept beruhte. Er bezog sich nicht (direkt) auf die konkret herrschenden Autoritäten, auf die lebenden Personen in ihren verschiedenen Funktionen, sondern auf die Theorien der sogenannten Frankfurter Schule um die Soziologen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer.

Diese waren nach ihrer Zwangsemigration in den 30er Jahren in die USA im Auftrag der amerikanischen Regierung der Frage nachgegangen, wie es dazu kommen konnte, daß das deutsche Volk massenhaft dem Nationalsozialismus anhing: Wieso hatte es nicht gegen den Faschismus im eigenen Land aufbegehrt, sondern statt dessen pflichtbewußt, gehorsam und ergeben unvorstellbare Greueltaten wie die Ermordung von sechs Millionen Juden in Konzentrationslagern und Gaskammern verübt? In der "autoritätsfixierten Persönlichkeit", im "autoritären Charakter der Deutschen" hatten Adorno und Horkheimer die Ursachen und Motive festgemacht, die das deutsche Volk zu diesem Grauen getrieben hatten.

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In der Konsequenz gaben die Amerikaner auch ihre Devise für das Nachkriegsdeutschland aus: Entnazifizierung und Umerziehung. Doch die Entnazifizierung ging durch den bald nach 1945 entstandenen Ost-West-Gegensatz schnell unter. Auch aus der Umerziehung wurde nichts, weil die Mehrheit der Deutschen davon nichts wissen wollte. Das Volk tauchte in den Alltag ab und widmete sich dem Wiederaufbau. Der feste Glaube an die Obrigkeit und an die obrigkeitsstaatliche Ordnung dauerte in beiden deutschen Staaten ungebrochen fort. Noch Mitte der 60er Jahre konnten die Meinungsforscher, unter anderem das Wickert-Institut, berichten, daß auf die Frage, ob die Regierung notwendig in Krisenzeiten mit besonderen Vollmachten ausgestattet werden sollte, 78 Prozent der Beamten mit einem eindeutigen Ja votierten und selbst die Arbeiter mit 71 Prozent nur unwesentlich darunter lagen.

Aus dieser unkritischen und obrigkeitsfreundlichen Bevölkerung drängte über die Universitäten ein bemerkens­werter Nachwuchs in die Chefetagen gesellschaftlicher Machtzentren, in die Justiz und Staatsbürokratie, in das Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen, in das Militär, die Finanz- und Wirtschaftswelt. Doch die Studenten repräsentierten keineswegs einen Querschnitt durch die Schichten der bundesdeutschen Bevölkerung. Sie waren vielmehr das Ergebnis der Ausleseprozesse und der mangelnden Chancengleichheit in den Schulen. Die zum Abitur führenden Bildungseinrichtungen beziehungsweise Erziehungsinstitute bevölkerten fast ausschließlich die Kinder der Macht- und Funktionseliten.

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Noch 1964 besuchten von 100 Kindern höherer Beamten 90 die Gymnasien, von 100 Arbeiterkindern bekamen diese Chance nur fünf.

Zu Beginn ihres Studiums trafen die 68er in ihren älteren Kommilitonen, den Hilfskräften und Assistenten auf Leute aus der Generation Helmut Kohls, Theo Waigels und Eberhard Diepgens. Aus einer soziologischen Untersuchung Frankfurter Wissenschaftler — zu denen auch Jürgen Habermas und Ludwig von Friedeburg gehörten — unter den damaligen Studenten der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität geht hervor, daß sich weniger als zehn Prozent der Befragten für die Erhaltung der Demokratie einsetzen würden, und 16 Prozent deklarierten sich sogar als erwiesene Gegner der Demokratie.

Jürgen Habermas und seine Kollegen wiesen in ihrer Studie "Student und Politik — Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewußtsein Frankfurter Studenten" nach, daß die Befragten mit "autoritärem Potential" eher aus Elternhäusern mit akademischer Tradition, die Studenten, die sich als erklärte Demokraten verstanden, überwiegend aus solchen ohne akademische Tradition stammten. Aber auch die restlichen 75 Prozent gaben wenig Anlaß zu der Hoffnung, wie die bittere Schlußfolgerungen der Frankfurter Studie vermerkt, daß "die Demokratie im Krisenfall mit den angemessenen der objektiv möglichen Mittel gegen ein Abgleiten in Formen des Obrigkeitsstaates zu sichern" ist.

Denn das Gesellschaftsbild jener 75 Prozent war so geformt, daß sie sich an jede Art staatlicher Gewalt ohne große Mühe und ohne bemerkenswerte Widerstandspotentiale anpaßten.

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 Falls ihnen überhaupt bekannt war, mit welchen Normen politisches Handeln möglich oder praktizierbar war, so standen sie der Wahrnehmung ihrer politischen Rechte als Staatsbürger indifferent gegenüber. Was ihre Pflichten anbetraf, so erlebten sie diese als zwangsläufig übernommen und verinnerlicht, vermittelt durch Elternhaus und Schule, durch gesellschaftliche und staatliche Institutionen. Anstelle aktiver Akzeptanz und echter Identifikation mit gesellschaftspolitischen Normen existierte nur blinde Unterworfenheit. Die in immer neuen Konfliktsituationen (Prüfungen, Examina) aktivierten Strafängste aus der Kindheit und Jugend dieser Studenten verfestigten ihre unterbewußte, fast starre Bindung an die im Laufe ihres Reifungsprozesses immer abstrakter gewordenen Autoritäten.

Es war also nicht verwunderlich, daß diese 75 Prozent — und die Prozentverteilung traf mehr oder weniger auf die gesamte deutsche Studentenschaft zu — sich zu willigen Jasagern und Mitläufern entwickelten. Später zogen sie sich nach der täglichen peniblen Pflichterfüllung im Beruf als Jurist oder Staatsbeamter ins Privatleben zurück. Hier, so waren sie erzogen worden, in der typischen deutschen Innerlichkeit, im Schoße der Familie fanden sie ihre Erfüllung. Das vom Grundgesetz verbriefte Recht und auch die Pflicht zum Widerstand kannten sie nicht, oder ihre ängstliche Scheu und die Furcht vor der potentiellen Gewalt der Institutionen hinderte sie daran, sich organisiert zur Wehr zu setzen.

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Eine repräsentative Untersuchung des Allensbacher Instituts für Demoskopie stellte damals fest, daß 45 Prozent aller Bundesbürger — unter der akademischen Beamtenschaft las der Anteil ungleich höher — die Meinung vertraten, daß der einzelne für die Erhaltung der Freiheit in der Welt gar nichts tun kann. 38 Prozent waren davon überzeugt, daß "die Freiheit in der Welt nur dadurch gerettet werden kann, daß die Menschen sich innerlich ändern".

Und auf diese politisch indifferenten Akademiker und auf Autoritäten fixierten Jasager trafen die jungen 68er nun in den Universitäten, den Horten wissenschaftlicher Freiheit. Doch auch ihnen waren die Verformungen des Charakters und schwaches politisches Bewußtsein nicht gänzlich fremd.

Trotzdem begannen die 68er mit ihren Mitteln des wissenschaftlichen Arbeitens nach den Ursachen zu forschen. Sie suchten nach Veröffentlichungen und Untersuchungen, die zu diesem Themenkreis überzeugende Aussagen machten oder theoretische Ansätze lieferten. So stießen sie auf die Psychoanalyse, auf marxistisch inspirierte Soziologen wie die Frankfurter Professoren Horkheimer und Adorno oder den in den USA verbliebenen Emigranten Herbert Marcuse. Sie entdeckten das Konzept des "autoritären Charakters" und die Existenz einer kleinen studentischen Hochschulgruppe, des SDS, die sich mit diesen Dingen beschäftigte.

Doch zwischen dem Auffinden vermeintlicher oder tatsächlicher Ursachen des "autoritären Charakters" und dem Entschluß, sich zur Wehr zu setzen, lag noch ein langer Weg. Und diesen legten die Studenten keineswegs gradlinig zurück. Häufig halfen nur radikale Brüche mit der persönlichen Umgebung und Vergangenheit, um die eingeschlagene Route beibehalten zu können.

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Denn zu jener Zeit war Kritik — selbst in der harmlosesten Form — an sich schon ein Sakrileg. Dies galt in besonderem Maße für die Berliner Studenten. Wolfgang Lefevre, einer ihrer "Führer", beschrieb diesen Umstand 1967 folgendermaßen: "Das Ritual der tapferen, einheitlichen Berliner Bevölkerung machte jede Kritik zum Frevel, den die seit Urzeiten für Sakrilege vorgesehene Sanktion zu treffen hatte: Eliminierung. Dies zeigt die vox populi deutlich, die heute den Studenten Arbeitslager, Verbannung <nach drüben>, Vergasen, Erschlagen etc. zudenkt. Die Ziele, die die politischen Institutionen mit und in diesem Ritual verfolgen, mögen heute differenzierter sein als in den 50er Jahren; zweifellos gehört jedoch zur <Substanz> der Politik des etablierten Apparats, die Inhalte dieses Rituals monopolistisch zu steuern und jede Kritik, um so mehr jede Politik, die sich außerhalb des von den Bürokraten manipulierten Rituals stellt, zu unterdrücken."

Das Vorhaben der Studenten, die Negierung des "autoritären Charakters", war weder in der persönlichen Praxis leicht einzulösen — schließlich stammten auch die jungen 68er überwiegend aus akademischen Familien — noch auf gesellschaftlicher Ebene einfach zu realisieren. Jedem Mitglied der damaligen Gesellschaft war wohl bewußt, daß höhere Bildung nicht nur ein Privileg darstellte, sondern daß der Besuch von Gymnasien und Hochschulen auch automatisch ein angenehmeres Leben garantierte. Auch die Eltern der aufbegehrenden Studenten kannten diesen Zusammenhang, und sie versuchten mit allen erdenklichen Mitteln und Sanktionen — bis hin zur Entziehung des monatlichen Wechsels —, ihre Kinder an diese Tatsache zu erinnern. Und dieses Bemühen hatte häufig Erfolg.

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Dazu kam noch eine zweite unleugbare Tatsache: In der Bundesrepublik der 60er Jahre hatten unpolitische und anpassungsfähige Jugendliche mit autoritärer Einstellung objektiv die besseren Berufschancen. In die Führungsstellen von Staat und Wirtschaft zogen jene ein, die im obrigkeits­staatlichen Denken geübt waren. Eine Grundhaltung, die das Bewußtsein für bürgerliche Rechte und Pflichten sowie eine demokratische Gesinnung einschloß, stieß also auf den doppelten Widerstand von Elternhaus und Gesellschaft.

Die Bruchlinien begannen schon sehr bald sichtbar zu werden. Der Schritt der jungen 68er vom Privaten zum Politischen sowie die Verknüpfung dieser beiden Begriffe hatte für sie vorhersehbar negative Konsequenzen. Die eigene autoritäre Haltung abzulegen bedeutete in der Folge schlechtere Aufstiegschancen im Beruf und ein unbequemeres Dasein. Das obrigkeitsstaatliche Denken bewußt zu verlernen und substantiell demokratische Verhaltensweisen und Denkformen einzuüben hieß für die Studenten, daß sich die Führungsstellen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft immer weiter von ihnen entfernten. Die besten Chancen hatten diejenigen, die sich in die vorgegebenen Strukturen stromlinienförmig und ohne persönliche Widerstände einpaßten.

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(Im übrigen — und dies sei vorweggenommen — haben die meisten der 68er, die sich stark engagierten oder in vorderster Front standen, diesen Preis tatsächlich bezahlen müssen, obwohl sie, wie selbst ihre damaligen Professoren bestätigten, zu den Intelligentesten und Begabtesten gehörten. Es ist also kein Wunder, daß diese Elite heute in den bundesrepublikanischen Chefetagen fehlt. Ihren Platz haben vorwiegend die damaligen Jasager und Opportunisten eingenommen — mit all den bekannten und jetzt erst richtig sichtbaren Folgen für die Gesellschaft.)

Während ihres Studiums traten entsprechend noch Anfang/Mitte der 60er Jahre 40 Prozent aller bundesdeutschen Studenten in Verbindungen, Burschenschaften oder Korporationen ein. Hier fanden sie Zuflucht vor der Vereinzelung und entkamen der Einsamkeit des selbständigen Denkens; hier begegnete ihnen schließlich die gefürchtete, aber auch gesuchte personifizierte Autorität.

Die hierarchisch geordneten Blut- und Lebensbünde der Verbindungen stellten keineswegs die lästigen Begleit­erscheinungen des damaligen Universitätslebens dar, sondern — wie man schon damals in den Frankfurter Beiträgen zur Soziologie nachlesen konnte — sie waren das "legitime Widerspiel einer anachronistisch gewordenen akademischen Lehr- und Arbeitsordnung, die sich auf die patriarchalische Geben-und-Nehmen-Methodik stützte". Das Ergebnis einer solchen Ordnung besteht darin, daß sie masochistische Charaktere hervorbringt, die, um seelisch weiterleben zu können, ihrerseits wiederholen müssen, was ihnen widerfahren ist. Charaktere also, die unfähig zur Selbstreflexion sind und nicht angstfrei an die Verneinung des Gegebenen oder auch nur an das Infragestellen der herrschenden Strukturen und Ordnungen denken können.

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Einsichten in die tatsächlich herrschenden Verhältnisse von Staat und Gesellschaft waren als Fähigkeiten nicht gefragt: Verlangt wurde die Übernahme von Modellen, die auf den Idealen des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums beruhten und sich dabei systematisch den realen Bedingungen entzogen. Die zukünftigen Eliten sollten die bundesdeutsche Gesellschaft als harmonisch geordnet begreifen. Darin bestand das ganze Angebot der Schulen und Hochschulen. Laut allgemeinem Konsens gründete diese Gesellschaft zudem auf gegenseitige Rücksichtnahme und dem Fehlen unversöhnlicher Gegensätze. Diese verschleiernde Weltanschauung setzte das bürgerliche Wohl mit dem Wohl der Gesamtgesellschaft gleich; sie propagierte, daß wahre Politik sich nicht mit den Interessen einzelner Gruppen, sondern unmittelbar mit denen des Staates und des Vaterlandes befasse und ausschließlich oder zuallererst am Gemeinwohl, am Wohl der Volksgemeinschaft orientiert sein müsse.

Ein wesentlicher Punkt dieser Weltanschauung bestand in der Ansicht, daß die deutsche Wirtschaft wie eine große Betriebs­gemeinschaft funktioniere, in der Arbeiter und Unternehmer Hand in Hand am großen Werk seien. Weiter glaubte man, daß zu dieser Wirtschaftsordnung das Recht auf Streik gehöre, aber Streik und Aussperrung auf jeden Fall der Wirtschaft schadeten und den Feinden der Demokratie helfen würden, denen an einer Störung des Betriebsfriedens gelegen sei, und daß zu viel Freiheit die Einheit und Ordnung des Staates zerstöre. 

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Der Soziologe Sebastian Herkomer kam aufgrund seiner wissenschaftlichen Untersuchungen schon 1965 zu folgendem Schluß: 

"Die größte Anfälligkeit für die partikulare Interessen verschleiernde Ideologie der <Gemeinsamkeit>, des <Gemeinwohls> und der <Ordnung> macht die Identifizierung der Menschen aus den bürgerlichen Schichten unserer Gesellschaft mit der Demokratie deshalb fragwürdig, weil sie einer Entwicklung zum starken Staat, der solche Programmpunkte vertrete und dabei — unter dem Schleier der Legalität — demokratische Grundrechte einschränken würde, schwerlich Widerstand entgegenbringen würden."1)   

 

Ausgestattet mit diesen weltanschaulichen Grundmustern, die angeblich aufzeigten, wie widerspruchsfreie wissenschaftliche Modelle funktionierten, und die die Illusion nährten, daß die vorfindbaren Realitäten in diesen Modellen unterzubringen und einzuordnen seien, waren die Absolventen akademischer Bildung geeignet, ihren Platz in der herrschenden Gesellschaftsordnung einzunehmen. So ausgerüstet boten sie die Gewähr, auch als kleines Rädchen in der großen Maschinerie zu funktionieren. Die Tatsache, daß auch diese Ordnung nicht vom Himmel gefallen war, sondern sich aus bestimmten Einzel- und Machtinteressen entwickelt hatte — einschließlich des geltenden Rechts —, sollte ihnen nicht in den Sinn kommen. Und vor allen Dingen sollte ihnen nicht auffallen, daß die geltende Gesellschaftsstruktur lediglich ein veränderbares Produkt in einem historischen Prozeß darstellte.

 

1)  Sebastian Herkomer: Zum politischen Interesse und Bewußtsein der Arbeiter. In: neue kritik Nr. 28, 1965.

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Doch als die jungen 68er begannen, diese Zusammenhänge zu durchschauen, fühlten sich die Herrschenden und mit ihnen ihre Eliten bedroht. Es war nicht allein die Kritik, die an und für sich schon ein sicheres Indiz für unbotmäßiges Verhalten darstellte, die die Bundesrepublik bedrohte. Der Zündstoff lag vielmehr in der Art der Kritik: Sie hinterfragte das Bestehende nicht nur, sondern stellte es in seinen historischen Zusammenhang und untersuchte es kritisch auf das Mögliche hin. Die Funktionsträger witterten darin — aus ihrer Sicht möglicherweise nicht ganz zu Unrecht — einen Angriff auf die von ihnen repräsentierte herrschende Ordnung. Schon sehr frühzeitig mobilisierten sie deshalb ihre Ideologie-Organe und ließen von den Chefetagen der Massenmedien zum Angriff gegen diejenigen blasen, die es wagten, die bestehende Ordnung zu hinterfragen. Der Konflikt der 68er mit den Medien kam also nicht zufällig, sondern war in der Sache selbst angelegt.

 

Im Zeichen der Tradition  

 

Was die 68er zu Beginn ihres Studiums an den bundesdeutschen Universitäten vorfanden — die Masse der Jasager und Opportunisten — war keine zeitbedingte Ausnahme, sondern folgte kontinuierlich aus der politischen Geschichte der deutschen Studentenschaft in den letzten 100 Jahren. Nur vor 1848 hatte es eine fortschrittliche, bürgerlich-republikanische Periode gegeben, die jedoch von den Obrigkeiten in Blut ertränkt worden war.

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Seite an Seite mit Bürgern und Handwerksburschen hatten die Studenten auf den Barrikaden in Sachsen und Schlesien, in Berlin/Brandenburg und Hessen, im Rheinland und in Baden gekämpft. Doch die bürgerliche Revolution von 1848/49 scheiterte. Danach orientierte sich die politisch geschlagene und zunehmend verängstigte Studentenschaft um: Der korporierte Reserve­leutnant wurde zum Vorbild, preußischer Gehorsam zur Tugend erhoben. Man zog sich auf sich selbst zurück, verabschiedete sich von der großen Politik und glitt zunehmend ins Nationalistische, Chauvinistische, Konservative und später ins Völkische, Reaktionäre, aggressiv Antisemitische ab.

Vorbei waren die Zeiten, in denen studentische Freiwillige gegen die Armeen Napoleons in den Freiheitskriegen (1813-1815) gekämpft hatten und dort auch politisch sozialisiert wurden. Doch gegen die Gefahr, daß sich die Französische Revolution von 1789 als bürgerliche Revolution über ganz Europa ausbreiten könnte, hatten sich die Monarchen dieses Kontinents zur Heiligen Allianz zusammengeschlossen. Der Wiener Kongreß sanktionierte 1815 die Marschroute der Restauration. Der Koblenzer Fürst Metternich, leitender Minister in Österreich, das als Präsidialmacht im Deutschen Bund führend war, gab die Befehle für die einzuschlagende Taktik. Mit dem Wartburgfest am 18. Oktober 1817 demonstrierten die deutschen Studenten, die sich kurz zuvor in Burschenschaften organisiert hatten, ihre Opposition.

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Als 1819 in Mannheim der konservative Schriftsteller August von Kotzebue, der auch als Konsul für den verhaßten russischen Zaren arbeitete, von dem revolutionär gesinnten Studenten Karl Ludwig Sand ermordet wurde, setzte Metternich die Karlsbader Beschlüsse durch: Verbot der Burschenschaften, Vorzensur für Zeitungen und alle Schriften unter 20 Druckbogen, Entlassung revolutionär eingestellter Lehrkräfte an den Hochschulen und Überwachung der Universitäten. Ernst Moritz Arndt wurde als Professor in Bonn suspendiert, im gesamten Gebiet des Deutschen Bundes wurden alle "auf Erhaltung der Ruhe und überlieferten Ordnung gerichteten Bestrebungen" verstärkt.

Diese Demagogenverfolgungen hatten massenhafte Berufsverbote zur Folge, konnten jedoch nur für kurze Zeit die republikanisch gesinnten, von den Idealen der Bürgerlichen Freiheiten beseelten Akademiker zum Schweigen bringen. Die Pariser Juli-Revolution von 1830 ließ auch das politische Selbstbewußtsein der deutschen Studenten erneut erstarken. Demonstrativ traten die verbotenen Burschenschaften bei einem traditionellen Volksfest, dem Hambacher Fest, am 27. Mai 1832 in ihren schwarz-rot-goldenen Farben öffentlich auf und boten damit der Obrigkeit klar die Stirn. Erneute Verfolgungen waren die Folge: Schwarz-Rot-Gold durfte nicht mehr getragen werden; wer einen republikanischen Freiheitsbaum aufstellte, wurde mit Kerker bestraft; das Spitzelsystem wurde enorm ausgeweitet, die Zensur noch verschärft.

Den effizienter gestalteten Geheimdienstaktivitäten war es wahrscheinlich zuzuschreiben, daß die Frankfurter Studenten, die am 3. April 1833 die dortige Hauptwache — gekleidet in schwarz-rot-goldene Schärpen — stürmten, damit scheiterten, diese Aktion zum Auslöser einer bürgerlichen Revolution in Deutschland umzugestalten.

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Weitere Repressionen waren überall die Folge, 39mal wurde die Todesstrafe verhängt (und später in lange Haft umgewandelt); Aberhunderte von Studenten wurden bespitzelt, angeklagt, verurteilt - allein das Berliner Kammergericht fällte bis 1836 204mal gegen Studenten das Urteil "schuldig"; sieben Professoren der Universität Göttingen (Göttinger Sieben), darunter die Sprachforscher und Sammler von Volksmärchen, die Gebrüder Grimm, wurden abgesetzt und drei von ihnen sogar unmittelbar des Landes verwiesen. Dennoch kämpften die Studenten und viele ihrer Professoren weiter, setzten sich für die Ideale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, für Meinungs- und Pressefreiheit und gegen Kleinstaaterei und Fürstenwillkür ein.

1848 kam dann die endgültige Zäsur. "Innerhalb von 35 Jahren", so faßt es Tilman Fichter zusammen, "war die akademische Jugend trotz der langen Zwischenphasen von Illegalität, Berufsverboten und Bespitzelungen dreimal zum Kampf für die bürgerlichen Freiheiten und die Einheit Deutschlands angetreten und hatte dreimal eine entscheidende Niederlage erlitten". Danach, ab Mitte des vorigen Jahrhunderts, siedelte sich die deutsche Studentenschaft zunehmend im traditionell rechten Lager an.

Im Bismarck-Reich interessierte die einst revolutionären Burschenschaften nur noch die Satisfaktion, der Grundsatz der unbedingten Genugtuung mit der Waffe, der preußisch geprägte und maßgeblich von Heinrich von Treitschke beeinflußte "heldische Nationalismus" und Turnvater Jahn, der mit seinem unverhohlenen Antisemitismus rasch zum neuen Idol der jungen Akademiker avancierte.

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An diesem Zustand änderte sich fast ein halbes Jahrhundert lang nichts, außer daß die vaterländisch-nationalistischen Töne immer stärker wurden. Deutschtümelei, Germanisierungsdünkel, Haß auf Frankreich, England und immer wieder auf die Juden wurden in dieser Zeit zu einer brisanten Mischung, die sich in den Köpfen festsetzte. Die Expansionsbestrebungen des Wilhelminischen Obrigkeitsstaates trafen nicht nur auf die volle Unterstützung der Studenten. Auch nahezu alle amtierenden deutschen Professoren standen hinter den kriegerischen Plänen des Kaisers und demonstrierten diese Haltung auch in ihren "wissenschaftlichen" Schriften.

 

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, warfen sich die akademischen Jugendlichen begeistert in die Massen­schlachten und starben zumeist elendig. (Allein am 10. November 1914 begingen Tausende von ihnen "kollektiven Selbstmord", als sie sich bei Langemarck in die Maschinengewehrsalven der englischen Armee warfen.) Diejenigen von ihnen, die den Ersten Weltkrieg überlebten, zahlten den Preis nach der vernichtenden Niederlage mit zumeist unvorstellbarem Elend: Als Kanonenfutter mißbraucht, viele mit Kriegsschäden heimgekehrt, ohne substantielle Mittel, unbrauchbar geworden, drohte ihnen der soziale Abstieg ins Bodenlose. Die horrende Nachkriegsinflation machte es für die meisten unmöglich, die Mittel für ein Studium aufzubringen; der Staat, der die harten Auflagen des Versailler Vertrages als Kriegsverschulder zu tragen hatte, war kaum in der Lage einzuspringen.

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Über Hunderttausend waren aus den Schützengräben in die Universitäten zurückgekehrt, und mehr als die Hälfte von ihnen vegetierte unter dem Existenzminimum dahin. Sie fühlten sich verraten, im Stich gelassen, ohne wirkliche Zukunft: eine "lost generation", wie William Faulkner sie jenseits des Atlantiks in seinen Romanen nannte. Doch in Deutschland orteten sie und ihre Professoren die Schuldigen für ihren Zustand nicht in den Kriegstreibern, sondern in der neuen Republik von Weimar.

Ein reaktionärer Aufstand gegen die "Schmach von Versailles" wurde losgetreten. Zwar waren anfangs, gleich nach 1919, die meisten Burschenschaften und Korps noch bereit, als vom Staat anerkannte Organisationen der Deutschen Studentenschaft mit der neuen Republik zusammenzuarbeiten, doch das änderte nichts an ihrem konservativen Bewußtsein und ihren zum Teil reaktionären Verhaltensweisen. Die Verbände der linken oder republikanisch gesinnten Studenten fristeten bis 1933 und erst recht danach nur ein Schattendasein. Selbst die oft monatelangen gemeinsamen Erfahrungen in den Schützengräben hatten die tiefe Kluft nicht überbrücken können. In die Heimat zurückgekehrt, standen sie wieder auf unterschiedlichen Seiten der Barrikaden.

Der Standesdünkel und das Elitedenken hinderte die übergroße Mehrheit der Studenten, die zu über 90 Prozent aus dem Besitz- und Bildungsbürgertum stammte, daran, rational und ohne Scheuklappen über die Ursachen ihrer Misere nachzudenken und zu logischen Erklärungen und Schlußfolgerungen zu gelangen.

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Durch den Krieg dem wissenschaftlichen Arbeiten entfremdet, ohne Privilegien orientierungslos in der Nachkriegsgesellschaft herumirrend, flohen die Studenten vor sich selbst und der Realität in die Freikorps, in die "Schwarze Reichswehr", in die Verbände der "Zeitfreiwilligen" und in die "Feme-Organisationen". Ihrem Selbsthaß machten sie in diesen Verbänden Luft, indem sie Terror gegen Andersdenkende organisierten und durchführten, Einschüchterungen vornahmen und physische Gewalt bis hin zum Mord anwendeten.

Schon bald waren sie von politisch und gewerkschaftlich engagierten Arbeitern gefürchtet, die daraufhin ihre Gegenwehr organisierten. Mordend und brandstiftend zogen diese "Schwarzen Terroristen" durch Deutschland, vor allem durch preußisches "Junkerland". In weniger als drei Jahren, bis 1922, wurden mehr als 350 politische Morde von ihnen verübt. Doch die Taten der "Schwarzen Desperados" fanden selten ein polizeiliches Nachspiel und führten nie zu einer justitiell endgültigen Verurteilung. Die Weimarer Republik war auf dem rechten Auge blind — bestrafte dafür auf der linken Seite um so härter — und trat erst auf den Plan, als ihr Außenminister Walter Rathenau von diesen rechten Terrororganisationen ermordet worden war: Einen der Täter erschoß die Polizei, der andere beging in ihrem Angesicht Selbstmord.

Schon 1923 kündigte die deutsche Studentenschaft den Burgfrieden mit dem Staat von Weimar auf. Bewußt und öffentlich lehnte die Mehrheit der akademischen Jugend die Republik und die Demokratie ab. Die wenigen sozialistischen, liberalen, kommunistischen und sozialdemokratischen Studenten fanden kein Gehör.

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Frauen waren zu jener Zeit an den Universitäten noch eine verschwindend geringe Minderheit und hatten vor allem darum zu kämpfen, in dieser rein männlichen Domäne überhaupt einigermaßen anerkannt zu werden. Sie wurden systematisch diskriminiert und hatten den ihnen zugewiesenen Platz hinter dem Mann zu akzeptieren. Insgesamt konnten diese Minderheiten nicht verhindern, daß sich unter den Akademikern das "Ruhe-und-Ordnung-Denken", der Wunsch nach dem autoritären Obrigkeitsstaat, ein aggressiver Antisemitismus und militante Ausländerfeindlichkeit immer mehr verbreiteten.

Ab 1925 praktizierten die studentischen Verbindungen strikt den Grundsatz, nichtarischen Kommilitonen die Aufnahme in ihre Organisationen zu verweigern. Das Land Preußen zog immerhin insofern gewisse Konsequenzen aus der Weigerung der Studenten, geltendes Recht und Verfassungsgebote wie den Gleichheitsgrundsatz anzuerkennen, als sie der Studentenschaft die rechtliche Anerkennung als Vertretungsorgan und auch die Fördermittel entzog. Doch auch dies geschah erst, als drei Viertel der Studenten an preußischen Hochschulen sich in einer Urabstimmung dafür ausgesprochen hatten, nur Arier als Mitglieder in der Studentenschaft zuzulassen, und sich damit offen gegen ein Gesetz des Preußischen Landtags von 1925 aussprachen.

Und der Vormarsch der rechten Verbände wie der rechtsradikalen Korporationen an den deutschen Universitäten hielt an. Bis 1930 hatten sie die absolute Vormachtstellung errungen. 

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Nach der amtlichen Statistik waren im Sommersemester jenen Jahres über 60 Prozent der deutschen Studenten in den stramm reaktionär-nationalistischen Verbänden organisiert, und von diesen gehörten sogar zwei Drittel den waffentragenden Verbindungen an, die im Allgemeinen Deutschen Waffenring, ihrem Dachverband, zusammengeschlossen waren. Nationalistisches, antisemitisches und immer offener faschistisches Gedankengut gehörte — nicht ohne Unterstützung vieler Professoren — zur Basis ihrer geistigen Ausstattung.

Schon im Sommer 1932 hatte der studentische Ableger der NSDAP, der Nationalsozialistische Deutsche Studentenverband, es geschafft, die Führung in der verfaßten Studentenschaft zu übernehmen. Unter seiner Abkürzung NSDStB übernahm er in diesem Jahr Organisation und Regie des 15. Deutschen Studententags, der im Ostpreußischen Königsberg abgehalten wurde. Dort beschlossen die Delegierten, geraume Zeit vor der Machtergreifung Hitlers, mit 155 gegen drei Stimmen bei 24 Enthaltungen, das demokratische Prinzip der studentischen Selbstverwaltung abzuschaffen und es in einer neuen Verfassung durch das "Führerprinzip" zu ersetzen.

Die Mehrheit der deutschen Studenten befand sich ideologisch — und nun auch organisatorisch — schon lange vor 1933 auf dem Weg ins Dritte Reich. Daß sie dazu keinen langen Marsch durch die Institutionen durchzustehen hatte, dafür sorgte das familiäre, politische und universitäre Umfeld.

Es gehört in das Reich der vielen Legenden, die nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg genauso Hochkonjunktur hatten wie nach 1919, daß die Akademiker, unter anderem Studenten und Professoren, in die Hitlerdiktatur hineingeschlittert seien, daß man sie gezwungen habe, mitzumachen oder andernfalls in die innere Emigration zu gehen.

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Die kleine Gruppe derjenigen, die sich nicht diesem allgemeinen Trend anschloß, bezahlte ihre antifaschistische Haltung mit Diskriminierung, Entfernung aus den Universitäten und in vielen Fällen sogar mit Gefängnisstrafen und Tod. Nur sie dürfen als Opfer der faschistischen Diktatur gelten. Ein Teil der schweigenden Mehrheit wurde zu Mitläufern, aber der größte Teil von ihnen war oder entwickelte sich zu begeisterten Anhängern — unter anderen auch so professorale Geistesgrößen wie der Existenzphilosoph Martin Heidegger — und fungierten als direkte Wegbereiter des Dritten Reiches.

Das akademische Schrifttum, das in den zwölf Jahren des "Tausendjährigen Reiches" verfaßt wurde, straft all die Darstellungen nach 1945 in der Bundesrepublik Lügen, die zu beweisen versuchten, daß hier nur unter der drohenden Fuchtel der Gestapo oder Reichsschrifttumskammer Regimefreundliches zu Papier gebracht worden sei.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verhielten sich die deutschen Professoren ähnlich wie nach 1919: Sie zogen sich in ihren Elfenbeinturm zurück, wuschen ihre Hände in Unschuld und beteuerten, selbst unpolitisch zu sein.

Doch wie verhielt sich die deutsche Studentenschaft? Vollzog sie dieses Mal den Bruch mit der Vergangenheit? 

Zog sie dieses Mal die Lehren aus ihrer Politik, die in die Katastrophe geführt hatte? 

Setzte sie sich dieses Mal für eine Reform der Universitäten ein?

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Kämpfte sie für eine Zerschlagung der alten Strukturen, für eine Neubestimmung der Inhalte, für die Entnazifizierung des Lehrkörpers? 

Für die meisten antifaschistischen Intellektuellen ebenso wie für viele Angehörige der Arbeiter­organisationen konnte die Antwort darauf am Umgang mit den schlagenden Verbindungen abgelesen werden. Würden sie erneut in den Reihen der Studentenschaft geduldet werden?

Diese Frage wurde zugunsten der Tradition entschieden. Die chauvinistische Clique der Alten Herren, die trotz Entnazifizierung erneut in die Macht- und Funktionseliten aufgestiegen oder in ihnen verankert waren, konnte sich durchsetzen. Unterstützt wurde sie dabei von den Studenten, die aus dem Krieg heimgekehrt waren und den Studienbetrieb nicht gefährdet sehen wollten: Sie forderten zügiges Weitermachen. Schon fünf Jahre nach Kriegsende und ein Jahr nach Gründung der Bundesrepublik riefen am 17. Juni 1950 Vertreter von 89 studentischen Verbindungen erneut die Deutsche Burschenschaft ins Leben mit dem Wahlspruch: "Ehre, Freiheit, Vaterland".

Zwar wurden auch andere studentische Gruppen gegründet — unter anderem rief die SPD den SDS ins Leben, die Christ­demokraten den RCDS, die Liberalen den LSD, gesellschaftliche Organisationen die ESG, die Evangelische Studenten­gemeinde, den GASt, den Gewerkschaftlichen Arbeitskreis der Studenten, den BDIS, Bund deutsch-israelischer Studien­gruppen, oder die HSU, Humanistische Studentenunion — doch diese hatten bis in die 60er Jahre einen ähnlich geringen Einfluß wie ihre Vorgänger in der Weimarer Republik. 

Den Ton an den deutschen Universitäten gaben für fast zwei Jahrzehnte erneut diejenigen an, die in der national-konservativen rechten Tradition standen, die mit der Restauration von 1848 begonnen hatte.

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