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Zu Leo Trotzki 

Nachwort 1990 von Peter Bachmann

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Lew Dawidowitsch Trotzki (eigentlich Leib Bronstein) wurde als Sohn eines Gutsbesitzers auf Gut Janowka im Gouvernement Cherson in Südrußland am 7.11.1879 (25.10.) geboren. Nach dem Besuch der Höheren Schule in Odessa und in Nikolajew (1888 bis 1897) schloß er sich 1897 einem geheimen revolutionären Kreis von Narodniki an. Bald bekannte er sich zum Marxismus und war einer der Gründer des Südrussischen Arbeiterbundes. 1898 verhaftet, erfolgte 1899 seine Verbannung für vier Jahre nach Sibirien, aus der Trotzki im Sommer 1902 nach England floh.

Im Oktober 1902 traf er in London mit W.I.Lenin zusammen. Auf dem II. Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands im August 1903 besaß er das Mandat des Sibirischen Bundes.

Im Streit um den Parteiaufbau war Trotzki einer der Sprecher der Menschewiki. Zum Programmentwurf der »Iskra« meinte er, die Diktatur des Proletariats werde erst dann möglich, wenn die sozialdemokratische Partei und die Arbeiterklasse so gut wie identisch sein würden und die Arbeiterklasse die Mehrheit der Nation ausmachen würde. Die Leninsche Sicht von der Diktatur des Proletariats, nach der das Proletariat mit Unterstützung der Millionen der werktätigen Bauernmassen die Macht erobern werde und die Diktatur des Proletariats dann tatsächlich die Mehrheit der Nation repräsentieren würde, teilte er nicht. 

Während der russischen Revolution von 1905 nach Petersburg zurückgekehrt, wurde er im Oktober 1905 zum Stellvertreter des Vorsitzenden des Petersburger Sowjets gewählt. Trotzkis starke Seiten als Politiker, Organisator, Publizist und Redner kamen zur Geltung in den rund 50 Tagen, die der Sowjet an der Spitze der Volksmassen Petersburgs stand. In dieser Zeit formulierte Trotzki seine Theorie der »permanenten Revolution«, wonach »die russische Revolution weder durch die Zusammenarbeit des Proletariats mit der liberalen Bourgeoisie noch durch ein Bündnis mit der revolutionären Bauernschaft bis zu Ende geführt werden kann, daß sie lediglich als Bestandteil der Revolution des europäischen Proletariats siegen kann.«

Am 3. Dezember 1905 wurde Trotzki zusammen mit anderen Mitgliedern des Petersburger Sowjets von der zaristischen Polizei verhaftet. Vor Gericht verstand es Trotzki, die Anklagen der zaristischen Justiz zu parieren und die volksfeindliche Politik des Zarismus anzuprangern. Erneut zur Verbannung auf Lebenszeit nach Sibirien verurteilt, konnte er auf dem Weg dahin entkommen.

Auf dem V. Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands im Mai 1907 in London lernte er den gleichaltrigen Stalin kennen. 

Mit neuer Schärfe prallten auf dem Parteikongreß die zwei entgegengesetzten Linien, die der Bolschewiki und die der Menschewiki, aufeinander. Galt Trotzki bis dahin als Parteigänger der Menschewiki, so zeigte sich jetzt, daß er zwischen den Parteigruppierungen stand und als Wortführer eines »Zentrums« zu vermitteln suchte, was mitunter in einen regelrechten »Krieg« gegen Lenin ausartete. Von Wien aus, wo er von 1907 bis 1914 journalistisch tätig war, suchte er unter der Losung »Aussöhnung der Verfeindeten« alle Richtungen der russischen Sozialdemokratie zusammenzuführen. Während dieser Jahre schrieb er als Korrespondent des <Kiewskaja Mysl> (Kiewer Gedanke), einer einflußreichen Tageszeitung der Liberalen, und daneben für andere russische, belgische und deutsche Zeitungen. 

Ab Oktober 1908 begann er die Wiener »Prawda« zu redigieren. Es handelte sich um eine bislang von einer kleinen ukrainischen menschewistischen Gruppe herausgegebenen Zeitung. Nach der Prager Parteikonferenz, auf der die Bolschewiki sich als Partei konstituierten und von den Menschewiki abgrenzten, bemühte sich Trotzki um die Zusammenfassung aller Richtungen der russischen Sozialdemokratie. Auf einer Konferenz im August 1912 in Wien bildeten Menschewiki, ultralinke Bolschewiki, Boykottanhänger, der Jüdische Block und Trotzkis Anhänger den sogenannten Augustblock. Der Hauptwortführer war Trotzki, der Lenin »Spaltungsarbeit« vorwarf. 

Nach Ausbruch des ersten Weltkrieges übersiedelte Trotzki wegen der drohenden Internierung durch die österreichische Regierung nach Zürich. Während seines zweimonatigen Aufenthalts in der Schweiz verfaßte er die Arbeit »Der Krieg und die Internationale«, in der er den Führern der deutschen Sozialdemokratie ihre kriegsbejahende Haltung vorhielt. Er betonte, daß die russischen Sozialdemokraten in ihrem Kampf gegen den Zarismus keine Unterstützung durch den Militarismus der Hohenzollern und der Habsburger erwartet haben und auch in der Zukunft nicht erwarten. Er unterstrich, es sei die Pflicht der Sozialdemokraten, gegen den Krieg und für einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen zu kämpfen. »Er brachte den Glauben zurück«, so erinnerte sich ein Schweizer Schriftsteller, »daß aus diesem Krieg die Revolution entstehen würde.«

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Ende November 1914 reiste Trotzki nach Paris. Zusammen mit W. Martow, dem Leiter des linken Flügels der Menschewiki, begann er in Paris die Zeitung »Nasche Slowo« (Unser Wort) herauszugeben. Neben dem Kampf gegen den Krieg und gegen die »chauvinistischen Falschmünzer des Marxismus« verlangte Trotzki, die »Kräfte der Dritten Internationale zu sammeln«. Er war einer der Hauptinitiatoren der internationalen Konferenz von Sozialisten am 5. September 1915 in Zimmerwald bei Bern. Auf Anregung des italienischen Sozialisten Ordino Morgari hatten Martow, Trotzki und einige Schweizer Sozialisten diese Zusammenkunft von 38 Vertretern aus 11 Ländern organisiert. 

Im Auftrage der Konferenz verfaßte Trotzki das Manifest der Zimmerwalder Konferenz. Er appellierte an die Arbeiterschaft der kriegführenden Länder, den chauvinistischen Rausch abzuschütteln und dem Morden auf den Schlachtfeldern ein Ende zu setzen. Einstimmig nahm die Konferenz diesen Text an. Die Minderheitsgruppe um Lenin gab ihre Vorbehalte zu Protokoll. Mit und seit Zimmerwald näherte sich Trotzki den Positionen der Bolschewiki. An der zweiten Konferenz der Zimmerwalder Bewegung Ende April 1916 in Kienthal in der Schweiz konnte er nicht teilnehmen, weil ihm die französischen Behörden die Ausreise verweigerten. Im »Nasche Slowo« erklärte sich Trotzki mit den Resolutionen der Konferenz solidarisch, die ganz wesentlich von den Bolschewiki um Lenin bestimmt waren. 

Sowohl Lenin als auch Trotzki forderten die Sozialisten auf, den Krieg in eine Revolution zu verwandeln. Die Niederlage der jeweiligen kriegführenden Länder wäre nur ein Zwischenspiel, denn die Revolution würde bald auch die anderen erreichen. »Daß kein Land mit seinem Kampf müßig auf das Beginnen anderer Länder warten soll, ist ein Grundgedanke, der es wert ist, immer wieder vorgebracht zu werden«, schrieb Trotzki am 12. April 1916 im »Nasche Slowo«. Er fuhr dann fort: »Ohne auf die anderen zu warten, müssen wir den Kampf im eigenen Land beginnen voller Überzeugung, daß unsere Initiative ... anderen Ländern einen Anstoß gibt.«

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Die Propagierung der grandiosen Vision eines geeinten sozialistischen Europas nach der revolutionären Überwindung des Krieges war für die verbündeten Regierungen in Paris und Petersburg Anlaß zum Handeln. Am 15. September 1916 wurde »Nasche Slowo« verboten. Trotzki selbst wurde am 30. Oktober nach Spanien ausgewiesen. Am 13. Januar 1917 in New York angelangt, arbeitete er in der Redaktion der »Nowy Mir« (Neue Zeit) mit Bucharin, Alexandra Kollontai und Wolodarski und anderen Bolschewiki zusammen. 

Nach der Februarrevolution 1917, die den Zarismus in Rußland gestürzt hatte, kehrte Trotzki nach Petrograd zurück. Am 4. Mai 1917 traf Trotzki in Petrograd ein. Er wurde sofort in das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets kooptiert. Da Trotzki aufgrund seiner Erfahrungen mit den russischen Menschewiki und den rechten sozialdemokratischen Vaterlandsverteidigern in Westeuropa zur Überzeugung gelangt war, daß der Bruch in der internationalen Arbeiterbewegung nicht zu heilen war, hatten sich nun auch die Differenzen zwischen Trotzki und Lenin verflüchtigt. 

Bereits einige Wochen nach seiner Rückkehr gehörte Trotzki zu den Rednern der Sowjetlinken, die eine gewaltige Autorität erreichten. Besonders die Matrosen der Marinekasernen von Kronstadt folgten Trotzki. In der Zeit des gegenrevolutionären Vorstoßes im Juli 1917, als Lenin zusammen mit Sinowjew in die Illegalität gehen mußte, wurden Trotzki und Lunatscharski am 33. Juli 1917 von der Kerenski-Regierung verhaftet. Doch nach dem Kornilow-Putsch vom 24. August wurde Trotzki am 4. September 1917 aus dem Gefängnis entlassen. Nach der Niederlage Kornilows forderten Trotzki und Kamenjew im Petrograder Sowjet eine Untersuchung der Vorgänge, die zum Putschversuch geführt hatten, sowie der Rolle, die Kerenski mit insgeheimen Kontakten zu Kornilow gespielt hatte. Trotzki verlangte von den Menschewiki und Sozialrevolutionären, für eine sozialistische Koalition mit den Bolschewiki einzutreten.

Am 33. September wählte der Petrograder Sowjet Trotzki zu seinem Vorsitzenden. Als er die Tribüne betrat, »brach ein Orkan des Beifalls los«. Im Auftrag des Sowjets forderte er den Rücktritt Kerenskis und die Übertragung der Regierungsgewalt an den Kongreß der Sowjets. In der Zeit, als Trotzki verhaftet war, war die Vereinigte Zwischengruppliche Organisation der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, 1913 in Petersburg gebildet und eine zentristische Position zwischen Bolschewiki und Menschewiki einnehmend, auf dem VI. Parteitag der SDAPR im August 1917 aufgenommen worden. 

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Als Vertreter der etwa 4000 Mitglieder der Zwischengruppe wurde Trotzki auf dem Parteitag mit 131 Stimmen - nur drei Stimmen weniger als Lenin - in das Zentralkomitee gewählt. Am 10. Oktober wurde er neben Lenin, Sinowjew, Kamenjew, Stalin, Sokolnikow und Bubnow in das Politbüro der SDAPR berufen. Als Vorsitzender des Petrograder Sowjets tat er nicht wenig, um die Sowjets der Hauptstadt für die Politik der Bolschewiki zu gewinnen.

 

In der Auseinandersetzung über den von Lenin befürworteten Aufstand stand Trotzki an der Seite Lenins. Er teilte Lenins Meinung in bezug auf die Aussichten und die Dringlichkeit des Aufstandes. Auf der Sitzung des Zentralkomitees am 15. September 1917, auf der Lenins Ansichten zum ersten Male erörtert wurden, sprach sich Kamenjew gegen den Aufstand aus und ersuchte das Zentralkomitee, alle Arbeiterorganisationen vor Lenins Plan zu warnen. Das Zentralkomitee schloß sich Kamenjew und auch Lenin nicht an. Sinowjew stellte sich an die Seite von Kamenjew. Beide sahen nur die Niederlage der Bolschewiki als Ergebnis. Trotzki war wie Lenin der Überzeugung, daß der siegreiche Aufstand in Petrograd die sozialistische Weltrevolution in ganz Europa auslösen werde. 

Als Vorsitzender des Petrograder Sowjets mobilisierte Trotzki die Soldatensektion des Sowjets und die Soldatenräte der Regimenter der Hauptstadt. Er verhinderte von der Kerenski-Regierung angeordnete Truppenverschiebungen, warnte den Sowjet vor dem möglichen Vordringen der deutschen Armee und vor allem der deutschen Flotte im Finnischen Meerbusen. Der Sowjet übernahm die Verantwortung für die Verteidigung von Petrograd. Am 9. Oktober wurde beim Exekutivkomitee des Sowjets ein Militärisches Revolutionskomitee gegründet. Einen Tag nach der Bildung des Militärischen Revolutionskomitees fand eine Sitzung des Zentralkomitees statt, auf der in Anwesenheit von Lenin die Entscheidung für den Aufstand mit zehn Stimmen gegen zwei getroffen wurde. Doch am nächsten Tag appellierten Kamenjew und Sinowjew an die Parteibasis gegen die Entscheidung des Zentralkomitees. Lenin mußte vorsichtshalber in sein Versteck nach Finnland zurück.

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Trotzki lief in diesen Tagen von einer Fabrik zur anderen und in die Kasernen. »Jeder Arbeiter und Soldat von Petrograd kannte ihn und hörte ihm zu. Er besaß auf die Massen und die Führer einen gleichermaßen überwältigenden Einfluß. Er war die zentrale Figur jener Tage und der Hauptheld dieses bemerkenswerten Kapitels der Geschichte«, berichtete ein Zeitgenosse. Am 16. Oktober erklärten die Regimenter der Garnison, daß sie nur noch Befehlen des Sowjets folgen würden. Auf einer erneuten Sitzung des Zentralkomitees wurde als Termin für den Aufstand der 20. Oktober festgesetzt. Dieses Datum war gewählt worden, weil am folgenden Tag der Allrussische Sowjetkongreß eröffnet werden sollte. Nach der Sitzung veröffentlichten Sinowjew und Kamenjew in Gorkis Zeitung »Nowaja Shisn« (Neues Leben) den Aufstandsplan. 

Im Sowjet der Hauptstadt stellte man Trotzki zur Rede wegen der Gerüchte über Vorbereitungen zum Aufstand. Seine Antwort war ein Meisterstück der Diplomatie. »Ich erkläre im Namen des Sowjets: Wir haben keinen Beschluß über irgendeine bewaffnete Aktion gefaßt«, verkündete er dem Buchstaben nach wahrheitsgetreu. Er gab zu, daß er für die Arbeitergarde Waffen und Munition zur Abwehr eines konterrevolutionären Angriffs angefordert hatte. Er beteuerte, alle Maßnahmen hätten nur defensiven Charakter. Kamenjew und Sinowjew stellten sich hinter ihn. Sie hofften, auf dem Umweg über Trotzki die Partei zum Widerruf des Aufstandes veranlassen zu können. Als die antibolschewistischen Kreise erlebten, daß die erklärten Gegner des Aufstandes hinter Trotzki standen, beruhigten sie sich. Am 21. Oktober versicherte eine Generalversammlung von Regimentsausschüssen nochmals, die Garnison stünde ausschließlich hinter dem Sowjet.

Zur gleichen Zeit wurden die Rote Garde und andere Arbeiterorganisationen mobilisiert. Bis zum 23. Oktober lag dem Militärischen Revolutionskomitee ein Aufstandsplan vor. Als Kerenski am 23. Oktober Redaktion und Druckerei des »Rabotschi Put« (Weg des Arbeiters), unter diesem Namen erschien die »Prawda« seit den Juli-Tagen, schließen ließ, hatte er einen Vorwand geliefert. Am nächsten Morgen, am 24. Oktober, waren die Zeitungen voll von Meldungen über Kerenskis Plan, Sowjet und Bolschewistische Partei zu unterdrücken. Der Smolny wurde jetzt die Kommandozentrale des Aufstands. Kamenjew, der aus dem Revolutionskomitee ausgeschieden war, stellte sich, nachdem der Aufstand unausweichlich geworden war, zur Verfügung. Kerenski wiederum drohte nun mit militärischen Maßnahmen gegen die Kronstädter Matrosen, mit der Verhaftung Trotzkis und anderer Bolschewiki. 

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Spät am Abend erließ Trotzki seinen Befehl Nr. 1: »Der Petrograder Sowjet ist in Gefahr.« In der Frühe des 25. Oktober hatte der Aufstand gesiegt. Trotzki hatte mehr als ein anderer die Arbeiter- und Soldatenmassen gewonnen. Aber die Aktivisten des Aufstandes waren die bolschewistischen Kader, die unter den Hunderttausenden Arbeitern in Petrograd sowie unter den 35.000 bis 30.000 Bewaffneten wirkten. Und auf sie hatte entscheidend Lenin als unbestrittener Führer der Partei selbst von seinem finnischen Versteck aus den bei weitem größeren Einfluß ausgeübt.

Während um das Winterpalais der Kampf noch tobte, wurde der II. Allrussische Sowjetkongreß eröffnet. Die Bolschewiki besaßen allein nahezu eine Zweidrittelmehrheit. Mit den linken Sozialrevolutionären hatten sie etwa drei Viertel aller Stimmen. Vierzehn Bolschewiki, sieben Sozialrevolutionäre, drei Menschewiki und ein Vertreter der Gruppe Gorkis nahmen im Präsidium Platz. Die geschlagenen Parteien protestierten gegen den Aufstand und gegen die Erstürmung des Winterpalais. Die rechten Menschewiki verließen den Saal. Die verbliebenen Menschewiki verlangten die Bildung einer Koalitionsregierung von Bolschewiki, Menschewiki und Sozialrevolutionären. Als die Bolschewiki auch diesen Vorschlag ablehnten, verließen auch diese den Saal. »Ihr habt eure Rolle ausgespielt«, rief ihnen Trotzki nach. »Geht, wohin ihr gehört: auf den Kehrichthaufen der Geschichte!«

In dem nach dem Sieg der Oktoberrevolution in Petrograd am 26. Oktober 1917 gebildeten Rat der Volkskommissare unter Vorsitz Lenins übernahm er die Leitung des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten. Dem geflohenen Chef der Provisorischen Regierung, Kerenski, war es gelungen, den General Krasnow für einen Vorstoß gegen Petrograd zu gewinnen. Am 27. Oktober besetzten Krasnows Truppen Gatschina und am 28. Oktober Zarskoje Selo. 8.000 Rotgardisten und Soldaten und Kriegsschiffe der Baltischen Flotte auf der Newa warfen sich auf den Höhen von Pulkowo den Konterrevolutionären entgegen. Am 30. Oktober wurde Krasnow besiegt. Nach dem unter Anstrengungen zurückgeschlagenen militärischen Angriff des Generals Krasnow auf den Pulkowo-Höhen vor Petrograd stand der Rat der Volkskommissare vor schier unüberwindlichen Schwierigkeiten. Die Eisenbahnen fuhren nicht, Petrograd war ohne Lebensmittel. 

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Unter diesen Bedingungen trat eine Gruppe von Bolschewiki unter Führung Kamenjews für die Bildung einer Koalition mit allen dem Namen nach sozialistischen Parteien ein. Zu diesen »Versöhnlern« gehörten von der Regierung Rykow (Innenkommissar), Miljutin (Landwirtschaftskommissar), Nogin (Kommissar für Industrie und Handel), Lunatscharski (Kulturkommissar) und Teodorowitsch (Kommissar für Versorgung). Außerhalb der Regierung waren das Rjasanow, Losowski, Jurenjew und Sinowjew. Am 3. November 1917 stellten Lenin und Trotzki und mit ihnen eine Mehrheit im Zentralkomitee den »Versöhnlern« ein Ultimatum. Diese traten daraufhin kollektiv vom Zentralkomitee und von der Regierung zurück. 

Eine rein bolschewistische Regierung, meinte warnend Nogin, »kann sich nur mit Hilfe des politischen Terrors an der Macht halten«, sie würde zu einem »verantwortungslosen Regime« verkommen und würde die »Massenorganisation des Proletariats von der Führung im politischen Leben ausschließen«. Lenin und Trotzki konnten begründen, daß über Koalitionsverhandlungen die Menschewiki und die rechten Sozialrevolutionäre den Bolschewiki nachträglich die Macht entwinden wollten. »Wir hätten nicht den Aufstand gebraucht«, bemerkte Trotzki gegen die »Versöhnler«, »wenn wir nicht die Mehrheit in der Regierung haben sollen.« Die »Versöhnler« unterwarfen sich schließlich. Das einzige positive Ergebnis der Auseinandersetzung war der Eintritt der linken Sozialrevolutionäre in die Regierung.

Eine der ersten Entscheidungen Trotzkis als Außenkommissar war die Veröffentlichung der Geheimverträge und anderer diplomatischer Schriftstücke aus dem zaristischen Außenministerium, die bewiesen, daß der Zarismus den Krieg führte für die Eroberung Galiziens und Konstantinopels.

In den ab Dezember 1917 in Brest-Litowsk beginnenden Friedensverhandlungen mit Deutschland und Österreich-Ungarn glaubte Trotzki, den harten Bedingungen auf Abtretung von Land und auf Zahlung von Kontributionen begegnen zu können, indem er die Verhandlungen in die Länge zog. Die überraschten und verärgerten deutschen und österreichischen Diplomaten und Militärs attackierte er mit moralischen Appellen, in der Hoffnung, das Gewissen des deutschen Proletariats aufzurütteln und so das Kräfteverhältnis an den Fronten zu verändern. Am 8. Januar 1918 beriet das Zentralkomitee über die Brester Verhandlungen. Trotzki erstattete Bericht.

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Er schlug vor zu verkünden: Weder Krieg noch Frieden. Lenin drängte auf Annahme der deutschen Bedingungen. Bucharin sprach sich für einen »revolutionären Krieg« aus. Die Mehrheit stellte sich hinter Bucharin. Für seinen Vorschlag stimmten 32, für Trotzki 16 und für Lenin nur 15. Die bolschewistische Partei war bald in zwei große Lager in dieser Frage geteilt. Auch die Sozialrevolutionäre sprachen sich gegen die Annahme des Friedens aus. Auf der Sitzung des Zentralkomitees am 11. Januar stand wiederum die Frage des Friedens auf der Tagesordnung. Lenin wurde von Dzerzihski angeklagt, ebenso wie Kamenjew und Sinowjew, im Oktober 1917 zu kapitulieren. Bucharin behauptete, mit der Annahme der Friedensbedingungen würde man dem deutschen und österreichischen Proletariat in den Rücken fallen. Die entschiedensten Fürsprecher für den Friedensabschluß waren neben Lenin Sinowjew, Sokolnikow und Stalin. Sinowjew sah die Revolution in Westeuropa erst in weiterer Ferne. Er warnte, man werde nur Zeit verlieren und dann später noch drückendere Bedingungen unterzeichnen müssen. Stalin schloß sich dem an. Sokolnikow gab zu bedenken, daß die Rettung der Revolution wichtiger sei als alle anderen Gesichtspunkte.

Auf Vorschlag Lenins und allein gegen ein Votum Sinowjews ermächtigte das Zentralkomitee Trotzki, die Unterzeichnung des Friedens zeitlich hinauszuzögern. Trotzki unterbreitete dann die Formel: »Wir stellen den Krieg ein und lassen den Frieden ununterzeichnet - wir demobilisieren die Armee.« Für diese Formel sprachen sich neun, dagegen sieben aus. Damit hatte Trotzki für Brest die Deckung des Zentralkomitees.

Am 28. Januar/10. Februar 1918 endeten die Verhandlungen in Brest-Litowsk ergebnislos. Das kaiserliche Deutschland nahm die Feindseligkeiten wieder auf. Als der Vormarsch der Deutschen in Petrograd bekannt war, kam das Zentralkomitee auch nach acht Abstimmungen zu keiner Entscheidung. Erst als auch Petrograd bedroht war, kam es zu stürmischen Auseinandersetzungen im Zentralkomitee, und in der Partei stellte sich eine Mehrheit auf die Seite derer, die von Anfang an für die Unterzeichnung der schweren Friedensbedingungen eingetreten waren, um für die Revolution eine Atempause zu gewinnen.

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Als am 23. Februar 1918 innerhalb von 48 Stunden über die schweren deutschen Bedingungen beraten und entschieden werden mußte, ging Lenin so weit, daß er ankündigte, aus dem Zentralkomitee und der Regierung auszutreten und die Parteimitglieder zur Entscheidung anzurufen, wenn eine Mehrheit für den Krieg plädiere. Nur weil Trotzki sich jetzt auf die Seite Lenins stellte, ergab sich eine knappe Mehrheit für die Unterzeichnung des Friedens. Aus Protest dagegen traten Bucharin, Uritzki, Lomow, Bubnow und andere von allen Ämtern in Partei und Regierung zurück. Der Friedensvertrag wurde am 3. März 1918 unterzeichnet, allerdings zu schwereren Bedingungen als zuvor.

Auf dem VII. Parteitag vom März 1918 wurde auch Trotzki wiederum in das Zentralkomitee gewählt. Am 14. März wurde er zum Volkskommissar für Heeresangelegenheiten und kurz darauf auch zum Volkskommissar für Marineangelegenheiten berufen. Als am 2. September 1918 der Revolutionäre Militärrat der Sowjetunion gebildet wurde, übernahm er den Vorsitz. Unter Leitung Trotzkis war seit dem April 1918 begonnen worden, die Rote Armee aufzubauen. Sein Verdienst war es auch, daß frühere zaristische Offiziere, kontrolliert von bolschewistischen Kommissaren, die neue Armee aufbauen halfen. Die Einberufung von 10.000 Arbeitern aus Petrograd und Moskau bildete den Grundstock einer Kaderarmee. Erst als ein fester proletarischer Kern existierte, begann Trotzki mit der Einziehung zuerst der Söhne armer und dann auch der mittlerer Bauern. 

Gegen die Verwendung ehemaliger zaristischer Offiziere erhob sich nicht nur bei den Bolschewiki, sondern auch bei den Sozialrevolutionären und bei den Menschewiki ein gewaltiger Protest. Insgesamt bewährte sich Trotzki in den Jahren des Bürgerkrieges und der Intervention als energischer, zielstrebiger Leiter, fähig, die Menschen für die Erfüllung schwerster Aufgaben zusammenzuschließen. Er tat nicht wenig, um anarchische Erscheinungen auszumerzen und militärische Disziplin und Subordination durchzusetzen. Zugleich war seine Tätigkeit jedoch von einem Übermaß an Administrieren, vom Verlaß allein auf die Autorität der Macht, von Repressalien gegen Soldaten und Kommandeure gekennzeichnet. Auf geringste Verfehlungen hin befahl Trotzki die Erschießung.

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Anfang März 1920 überfiel das Polen Pilsudskis Sowjetrußland. Polnische Armeen stießen bis weit nach Belorußland und in die Ukraine vor. Doch bald gelang es der Roten Armee, die polnischen Truppen zurückzuwerfen, die Ukraine und Belorußland zu befreien. Als die Linie erreicht wurde, die der britische Außenminister Lord Curzon 1920 als Grenze vorgeschlagen hatte, wollte Trotzki die Rote Armee zum Halten bringen und ein öffentliches Friedensangebot an Polen richten. Lenin und die Mehrheit des Politbüros waren jedoch dagegen, sie verlangten, weiter nach Polen und bis an die Grenze Deutschlands vorzustoßen, um so die Brücke zum deutschen Volk herzustellen und das Signal zur Erhebung des polnischen und des deutschen Proletariats zu geben. Trotzki unterwarf sich dem Beschluß der Mehrheit. Die Rote Armee drang bis Warschau vor. Doch in der Schlacht an der Weichsel erlitt die Rote Armee eine Niederlage. Und am 12. Oktober 1920 mußte Sowjetrußland einen provisorischen Frieden mit Polen abschließen. In Moskau war eine Mehrheit der Parteiführung nach wie vor für eine Wiederaufnahme der Feindseligkeiten. 

Tuchatschewski, der Befehlshaber der Westfront, glaubte, nach einem zweiten Vorstoß seine Siegesparade in Warschau abhalten zu können. In einem späteren Vortrag vor der Militärakademie verteidigte Tuchatschewski seine Position so: »Es kann keinen Zweifel darüber geben: Siegten wir an der Weichsel, hätten die revolutionären Feuer den ganzen Kontinent erreicht. Das Hineintragen der Revolution ins Ausland war möglich! Das kapitalistische Europa war bis auf den Grund erschüttert; ohne unsere strategischen Fehler, ohne die Niederlage auf dem Schlachtfeld wäre der polnische Krieg vielleicht das Glied in der Kette gewesen, das die Oktoberrevolution von 1917 mit der Revolution in Westeuropa verbunden hätte.« Lenin neigte zuerst auch zur Kriegspartei. Doch Trotzki verkündete, daß er sich diesmal nicht der Mehrheit beugen, daß er vielmehr, falls er überstimmt werde, sich an die Partei gegen die Führung wenden werde. Lenin hatte ähnlich in der Auseinandersetzung um den Brester Frieden einen solchen Schritt angedroht. Jetzt verließ Lenin die Kriegsfraktion und stellte sich an die Seite Trotzkis. Damit war die Versuchung, die Revolution auf der Spitze der Bajonette ins Ausland zu tragen, bezwungen.

 

Nach Beendigung des Bürgerkrieges stand die Aufgabe, die Wirtschaft aufzubauen und das Land mit Lebensmitteln, Schuhwerk, Textilien, landwirtschaftlichen Geräten und Maschinen, Petroleum usw. zu versorgen. Am 17. Dezember 1919 hatte Trotzki in der »Prawda« Thesen zur Wirtschaftspolitik veröffentlicht. 

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Er schlug vor, die Arbeit in den Fabriken nach militärischen Gesichtspunkten zu organisieren. Da die Revolution die Arbeitspflicht eines jeden Bürgers proklamiert und verkündet hatte, »wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen«, meinte Trotzki, solle man nun die Erfüllung dieser Pflicht erzwingen. Hatte die Revolution Hunderttausende auf die Schlachtfelder und in den Tod getrieben, so hatte sie jetzt das moralische Recht, die Menschen in die Fabriken und Schächte zur Arbeit zu treiben. 

Das Kriegskommissariat sollte die Funktion des Arbeitskommissariats für Zwangsarbeit übernehmen. Lenin unterstützte Trotzki. Kaum waren diese Pläne bekannt, wurde Trotzki auf Konferenzen der Partei und der Gewerkschaften als neuer »Araktschejew«, als Imitator des berüchtigten zaristischen Kriegsministers unter Alexander I. und Nikolaus I., niedergebrüllt. Alte Bolschewiki ließen sich vernehmen, daß sie genug vom Zwang der Armee hätten und daß sie Trotzkis Pläne nicht dulden würden. Der Höhepunkt der Auseinandersetzung war erreicht, als Lenin und Trotzki gemeinsam am 12. Januar 1920 vor den Führern der Gewerkschaft auftraten und sie zur Annahme der Pläne zur Militarisierung der Wirtschaft zu bewegen suchten. 

Beide argumentierten, nur mit Zwangsmaßnahmen kämen das Land und seine Wirtschaft aus dem Chaos. Doch die Konferenz verwarf fast einmütig die Resolution, die Lenin und Trotzki unterbreiteten. Von über 60 Funktionären der Gewerkschaft stimmten auf der Konferenz nur zwei dafür. Dennoch hielt Trotzki an seinem Projekt fest. Er wandelte die Armee in eine Arbeitsarmee um. Die Truppen wurden im Kaukasus und in der Ukraine in Bergwerken, in Wäldern und auf Feldern eingesetzt.  

Mit seinem Sonderzug fuhr Trotzki von einer Armee zur anderen durch das weite Land. Als er im Februar 1920 in den Ural gefahren war, entgleiste der Zug in einer Schneewehe in Sichtweite eines verlassenen kleinen Bahnhofs. Eine Nacht und einen Tag mußte der allmächtige Präsident des Obersten Kriegsrates erleben, daß niemand sich beeilte, die Schneemassen von den Schienen zu räumen und den Zug auf die Schienen zu setzen. Nach anfänglichem ergebnislosem Toben begriff Trotzki die Apathie und die stumpfe Unempfindlichkeit der Menschen nach den Jahren von Krieg und Bürgerkrieg. Sein Aufenthalt im Uralgebiet ließ ihn erkennen, daß die Energie und Vitalität des Volkes an ihren Quellen im Bauernhof zu ersticken drohte. 

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Nach Moskau zurückgekehrt, fing Trotzki an, gegen das System des Kriegskommunismus zu argumentieren. Er verwies darauf, daß die letzte Zwangseintreibung zwar mehr Lebensmittel brachte als alle bisherigen, daß aber das darauf zurückzuführen sei, daß nach dem Sieg über die Weißen die Requisitionen in einem viel ausgedehnteren Gebiet als vorher erfolgten. Die nächsten Requisitionen, so Trotzki, würden immer weniger einbringen, eine Lebensmittelkrise werde die Folge sein. Das Zentralkomitee wollte das nicht wahrhaben. Lenin und das Zentralkomitee wollten immer noch am Kriegskommunismus festhalten. Trotzki ging noch weiter. Er schlug vor, die Wirtschaft auf die Bedürfnisse des Marktes umzustellen. Doch das Zentralkomitee verwarf seine Vorschläge. Auch die Menschewiki warfen ihm vor, Freihändler und Liberaler geworden zu sein. 

Trotzki fügte sich der Mehrheit. Und auf dem IX. Parteitag, der im März 1920 tagte, vertrat er vehement die Wirtschaftspolitik der Regierung, den Kriegskommunismus. Trotzki verfocht es, die Bürde der neuen Aufgaben zu übernehmen. Er versprach, das zerstörte Transportwesen in Ordnung zu bringen. Als Bedingung dafür verlangte er vom Parteikongreß außerordentliche Vollmachten für disziplinarische Maßnahmen. »Arbeitsdeserteure« sollten in Strafbataillone oder in Arbeitslager gesteckt werden. Er schlug einen »Sozialistischen Wettbewerb« und Lohnanreize für tüchtige Arbeiter vor. Eine Minderheit war gegen diese Vorschläge.

Kurze Zeit danach trug Trotzki dem Gewerkschaftskongreß seine Pläne vor. Eine Gruppierung der Gewerkschafter unterstützte ihn, eine andere lehnte im Namen der »Verbraucheransprüche« der Arbeiter Trotzkis Plan ab. Trotzki hielt entgegen, daß die Arbeiter erst Güter produzieren müßten, bevor sie ihre Bedürfnisse befriedigen könnten. Die Menschewiki griffen die Arbeitsarmeen an. »Sie können doch nicht eine Planwirtschaft aufbauen«, bemerkte der Menschewist Abramowitsch, »wie die Pharaonen ihre Pyramiden errichteten.«

Der polnische Krieg nahm der Auseinandersetzung zeitweilig die Schärfe. Nach dem Höhepunkt des Krieges ging Trotzki mit dem Militärapparat daran, den Engpaß bei Lokomotiven und Eisenbahnwagen zu beheben. Er erzielte über alle Erwartungen hinaus Ergebnisse. Nach Beendigung des Krieges mit Polen stemmten sich die Gewerkschaften erneut gegen Trotzkis Herumkommandieren. Er drohte den Gewerkschaften mit einer »Durchrüttelung«. 

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Doch jetzt distanzierte sich Lenin vom Kriegskommunismus und überredete das Zentralkomitee, gegen den »degenerierten Zentralismus« zu kämpfen. Das Zentralkomitee ermahnte die Partei, in den Gewerkschaften die proletarische Demokratie wiederherzustellen. Trotzki wollte sich nicht fügen. »Was Sie Herumkommandieren und den Einsatz ernannter Leute nennen, steht in umgekehrter Proportion zur Aufgeklärtheit der Massen, zu ihrem kulturellen Niveau, ihrem politischen Bewußtsein und zur Stärke unseres Verwaltungsapparats.« Wiederum stand eine Mehrheit gegen ihn. Trotzki erinnerte ärgerlich Lenin und die anderen Mitglieder des Zentralkomitees daran, wie oft sie ihn als »Retter in der Not« darin bestärkt hätten, scharf und ohne Rücksicht durchzugreifen. Auf dem X. Parteikongreß im März 1921 erreichten die Auseinandersetzungen ihren Höhepunkt.

Die Revolte in der Seefestung von Kronstadt im März 1921 unterstrich die Notwendigkeit, den Kriegskommunismus aufzugeben, um der Unzufriedenheit der Massen Herr zu werden. Trotzki und Tuchatschewski übernahmen den Oberbefehl zur Niederschlagung. Der Aufstand war von der »Partei des Henkers Trotzki« noch nicht bezwungen, als Lenin am 15. März auf dem X. Parteitag die Neue ökonomische Politik (NEP) unterbreitete. Es waren das Trotzkis Überlegungen von Ende 1919. Fast ohne Debatte nahm der Parteitag Lenins Vorschläge an.

 

1921 und 1922 wurde die Rote Armee auf ein Drittel ihrer Stärke demobilisiert. Trotzki stürzte sich mit Eifer auf die Probleme der Industrie und der Landwirtschaft. Besonders der Kommunistischen Internationale widmete er seine Beredsamkeit. Auf dem III. und IV. Kongreß 1921 und 1922 trat er als Verfechter der NEP auf. In dem Exekutivkomitee bildete er ein Gegengewicht zu Bucharin und Sinowjew, die dazu neigten, verfrühte und abenteuerliche Erhebungen im Ausland zu ermutigen, wie die Märzaktion 1921 in Deutschland. Er sprach häufig vor Wissenschaftlern und Künstlern. Er setzte dabei immer wieder auseinander, daß das Schicksal der Revolution nicht on schwankenden Stimmungen einer dezimierten und demoralisierten Arbeiterklasse abhängig gemacht werden dürfe und daß es die Bolschewiki dem Sozialismus schuldeten, eine »eiserne Diktatur« mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten. Auf die Frage, ob nicht die Zeit gekommen sei, das Monopol der Partei der Bolschewiki aufzugeben und das Verbot der Menschewiki aufzugeben, antwortete er mit einem Nein.

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In der belagerten Festung Sowjetrußland, entgegnete er, dürfe man keine Opposition dulden. Der X. Parteitag hätte die Arbeiteroppositionen verurteilt. Auf dem XI. Parteitag Ende März/Anfang April 1922 klagte Trotzki die Opposition an, ihr Wirken unterstütze nur die Revolutionsfeinde. Unter dem Beifall Lenins forderte er Disziplin und nochmals Disziplin. Er predigte die Schaffung einer starken Bürokratie, setzte sich über die proletarische Demokratie hinweg und half mit bei der Eindämmung der innerparteilichen Opposition.

Seit 1921 attackierte Trotzki die Unzulänglichkeiten der Planung der Produktionskapazitäten, Arbeitskräfte und Rohmaterialien durch die seit dem 22. Februar des Jahres beschlossene Staatliche Planungskommission. Er wiederholte immer wieder, daß gerade die NEP mit ihrer Marktwirtschaft erst recht es erfordere, daß alle Mittel konzentriert würden auf die Errichtung einer Schwerindustrie. Da sich Lenin dagegen wandte und den »allumfassenden Plan« als »müßiges Gerede« abtat, hielt Trotzki ihm entgegen, daß gerade das Projekt der Elektrifizierung der staatlichen Planung bedürfe. Diese Überlegungen koppelte er mit der These von der sozialistischen Akkumulation, wonach das ruinierte Land nur unter größten Opfern der Arbeiterklasse aufgebaut werden könne. Seine Forderungen erregten sofort Widerstand. In der Arbeiteropposition verbreitete man das Schlagwort, daß die Abkürzung NEP nur eine Abkürzung sei für Neue Exploitation des Proletariats. Eine weitere Kontroverse war die über die Arbeiter- und Bauerninspektion, deren Leiter von 1919 bis 1922 Stalin war. Seit 1920 kritisierte Trotzki diese Institution als einen »Faktor des Chaos und der Willkür«, der personifizierten Untauglichkeit.

Die Unfähigkeit des Apparates lasse sich nicht durch Inspektionen und Einschüchterungen bessern, mit denen Stalin die Verwaltung traktiere. In einem rückständigen Land wie Rußland, mit seinen schlimmen Traditionen einer unzivilisierten und korrupten Verwaltung, könne man nur durch Erziehung und Einführung moderner Arbeitsmethoden vorankommen.

Lenin verteidigte die Inspektion, da auch er über Unfähigkeit und Korruption in der Verwaltung empört war. Er unterstellte Trotzki, daß er sich von persönlichen Rachegefühlen gegen Stalin leiten lasse. Trotzkis Beziehungen zu Lenin trübten sich weiter, als Lenin am 11. April 1922 auf einer Politbürositzung die Ernennung Trotzkis zum stellvertretenden Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare vorschlug.

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Trotzki lehnte die Übernahme dieses Postens hochmütig und kategorisch ab. Lenin hatte diesen Vorschlag gemacht, nachdem eine Woche vorher Stalin Generalsekretär geworden war. Mit der Ernennung Stalins war eine Disziplinierung der Partei beabsichtigt. Lenin hatte den Ausschluß der Führer der Arbeiteropposition gefordert. Im Zentralkomitee hatte er nur eine Stimme zu wenig erhalten, um mit seinem Antrag, der eine Zweidrittelmehrheit erforderte, durchzukommen. Er erwartete, daß Stalin das durchsetzen werde, was der X. Parteitag auf geheimer Sitzung gegen die organisierte innere Parteiopposition beschlossen hatte. Und diese Aufgabe sollte Stalin, übernehmen. 

Lenin hatte seine Befürchtungen gegen Stalins Ernennung gehabt. Mit der Berufung Trotzkis wollte Lenin offenbar ein Gegengewicht installieren. Trotzki sollte jedoch nach dem Plan Lenins nicht der einzige Vizepremier sein. Aber obgleich Trotzki nominell nur einer von drei oder vier Vizepremiers geworden wäre, war nicht daran zu zweifeln, daß er der eigentliche Stellvertreter Lenins sein sollte. Aber das war Trotzki aufgrund seiner Leistungen und seiner Autorität auch ohne formelle Funktionen. Welche Bedeutung Lenin dem beimaß, ergibt die Tatsache, daß Lenin in neun Monaten den Vorschlag immer wieder machte. Nachdem Trotzki Lenins Vorschläge abgelehnt hatte, vertrat er weiterhin seinen Plan der Verbesserung der Arbeit der Behörden. Dabei verfocht er immer wieder den Gedanken, daß die Machtbefugnisse des Generalsekretariats der Partei einzuschränken seien.

In dieser Zeit gelangte Trotzki offenkundig zu der Erkenntnis, daß die mangelnde innerparteiliche Demokratie sowie die fehlende proletarische Demokratie eine »wahrhafte Gefahr für die Sache der kommunistischen Revolution« werden könne. Mit dem Apparat der Partei stieß er immer öfter zusammen, als sich dieser von der Partei unabhängig machte und sich Partei und Staat unterordnete. Und da der Parteiapparat vom Generalsekretär Stalin dirigiert wurde, geriet Trotzki immer häufiger mit Stalin aneinander.

Trotzki machte darauf aufmerksam, daß die schlimmsten Mißbräuche von der obersten Parteispitze ausgingen, daß sich Politbüro und Orgbüro in unerträglicher Weise in die Angelegenheiten der Regierung einmischten. Lenin folgte 1922 Trotzkis Hinweisen noch nicht. Er verließ sich noch auf Stalin. Da die Auseinandersetzungen aus dem Politbüro nicht hinausgingen, hatten Partei und Öffentlichkeit keine Ahnung von diesen Differenzen.

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Ein anderer Punkt der Kontroversen war seit 1921 die georgische Frage. Stalin, Dzerzinski und Ordschonikidse hatten Anfang 1921 Georgien von der Roten Armee besetzen und die menschewistische Regierung absetzen lassen. Trotzki protestierte, Lenin und die Mehrheit im Politbüro vertrauten Stalin als dem Fachmann für nationale Fragen. Wiederum hatte es den Anschein, als ob Trotzki aus persönlichen Gründen Stalin bekämpfte.

Im Oktober 1922 jedoch änderten sich die Beziehungen zwischen Trotzki und Lenin. Anfang des Monats hatte das Zentralkomitee in Abwesenheit Lenins und Trotzkis das Außenhandelsmonopol sehr stark gelockert. Lenin erklärte sich sofort dagegen. Trotzki ebenfalls. Im Auftrage Lenins trat Trotzki auf der Tagung des Zentralkomitees in der zweiten Dezemberhälfte 1922 auf und erwirkte mit der Drohung, er und Lenin würden andernfalls beide an die Parteibasis appellieren, daß der Beschluß vom Oktober zurückgenommen wurde. In seinem Brief vom 27. Dezember 1922 an das Politbüro setzte sich Lenin nun auch dafür ein, Trotzkis Überlegungen zum Staatsplan zu überdenken. 

 

Anfang Dezember 1922 hatte Lenin in einer privaten Unterhaltung Trotzki nochmals gebeten, den Posten seines Stellvertreters zu übernehmen. Er hatte sich über die Meinungsverschiedenheiten mit Trotzki in den zurückliegenden Monaten nochmals Gedanken gemacht und dabei die georgische Frage nochmals geprüft. Er hatte sich Berichte und Fakten kommen lassen. Er hatte sich von der Brutalität Dzerzinskis, Ordschonikidses und Stalins überzeugen müssen. Er zürnte sich selbst, daß er Stalin erlaubt hatte, sein Vertrauen zu mißbrauchen. 

In dieser Stimmung diktierte Lenin am 23. und 25. Dezember 1922 seinen Brief an den Parteitag. Der charakterisierte kurz die Personen der Führung. Die Partei, schrieb er, solle sich vor der Spaltung hüten. Stalin und Trotzki seien Führer der Partei mit bestimmten charakterlichen Eigenschaften. Diese Charaktere »zweier hervorragender Führer des gegenwärtigen ZK können unbeabsichtigt zu einer Spaltung führen, wenn unsere Partei nicht Maßnahmen ergreift, um das zu verhindern, so kann die Spaltung überraschend kommen«. 

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Über Stalin formulierte er: »Gen. Stalin hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine unermeßliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, daß er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen.« Am 4. Januar 1923 diktierte er einen Nachtrag: »Stalin ist zu grob, und dieser Mangel, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten durchaus erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden.« 

Er schlug vor, Stalin aus der Position des Generalsekretärs zu entfernen. Es lag auf der Hand, daß Lenin sich zugunsten der Führerschaft Trotzkis ausgesprochen hatte. Auf dem für den April 1933 einberufenen Parteitag sollte Trotzki im Auftrage Lenins dessen politisches Vermächtnis verlesen und die Absetzung Stalins fordern. Lenins Sekretärinnen erinnerten sich, daß Lenin, um seinen Ausdruck zu gebrauchen, für Stalin eine »Bombe« vorbereitet hatte. Lenin hatte beschlossen, wie die Krupskaja Kamenjew eröffnete, »Stalin politisch zu erledigen«.

Inzwischen hatten Trotzkis Gegner, das Triumvirat Kamenjew, Sinowjew und Stalin von dem Vorhaben Lenins erfahren. Am 6. März 1923 suchte Kamenjew als Abgesandter des Triumvirats Trotzki auf. Er war darauf aus, bei Trotzki zu sondieren. Trotzki war großmütig. Entgegen Lenins Warnung ließ er sich auf einen Kompromiß ein. Er beruhigte Kamenjew. »Ich bin«, versicherte er Kamenjew, »gegen die Absetzung Stalins, gegen den Ausschluß Ordschonikidses, gegen die Entfernung Dzerzinskis ... Aber ich stimme Lenin im wesentlichen zu.« Alles, was er von Stalin verlange, sei, daß er sich ändere. Er solle sich bei der Krupskaja entschuldigen. Und überhaupt solle er sich rücksichtsvoller und loyaler verhalten. In der georgischen Frage verlangte Trotzki, daß Stalin seine Resolution neu formuliere, den großrussischen Chauvinismus verurteile und den Ukrainern und Georgiern ihre nationalen Rechte garantiere.

Stalin war dazu sofort bereit. Einige Tage nachdem er sich demütig vor Trotzki gebeugt hatte, kam die Nachricht von Lenins erneutem Schlaganfall. Der Rückfall Lenins ließ das Triumvirat aufatmen. Trotzki aber fühlte sich immer noch obenauf. Er hatte Lenins Papiere in den Händen. Stalin ging es nun darum, daß Trotzki nicht so handele, wie er es Lenin versprochen hatte. Und Trotzki willigte tatsächlich ein. Er übergab dem Politbüro Lenins Papiere, und er überließ es dem Politbüro, ob und in welcher Form sie dem Parteitag zur Kenntnis gegeben werden sollten.

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Das Politbüro beschloß, Lenins Aufzeichnungen nicht zu veröffentlichen und nur ausgewählten Delegierten vertraulich zur Kenntnis zu geben. Lenin hatte sich nicht vorstellen können, daß Trotzki so handeln würde. Später bemerkte Trotzki, wäre er auf dem XII. Parteitag im Sinne des Bündnisses Trotzki-Lenin gegen den Stalinschen Bürokratismus aufgetreten, so hätte er wahrscheinlich den Sieg errungen.

Als der XII. Parteitag Mitte April 1923 zusammentrat, wurde Trotzki nach Lenin in fast jeder Adresse gehuldigt. Mehrere Sitzungen lang mußten das Kamenjew, Sinowjew und Stalin über sich ergehen lassen. Die Triumvirn waren verunsichert. Doch sie hofften, daß sich Trotzki an die Abmachungen hielt. Und der hielt sich an die Übereinkunft. Als er schließlich vor dem Kongreß sprach, äußerte er sich nur zur Wirtschaftspolitik. Er forderte, die Industrie zu rationalisieren, zu modernisieren und zu konzentrieren. Er verlangte, vom Rückzug mit der NEP alsbald zur Offensive überzugehen und mit der geplanten Wirtschaft dem sozialistischen Sektor ein wachsendes Übergewicht zu verschaffen. Er wandte sich gegen die Abschaffung der NEP, gegen ein Verbot des Privathandels und gegen die gewaltsame Vernichtung der privaten Landwirtschaft. Aber schließlich entwickelte er wiederum seine These von der sozialistischen Akkumulation. Und er versicherte schließlich, daß er hinter dem Politbüro stehe. Damit hatte er seine eigenen Positionen untergraben.

Die Entwicklung in den nächsten Monaten und Jahren nach Lenins Tod 1924 verlief folgerichtig. Nachdem Trotzki der Koalition von Kamenjew, Sinowjew und Stalin unterlegen war, trat er 1925 von der Leitung des Kriegs­kommissariats zurück. Während einer Pause des Machtkampfes schrieb er »Literatur und Revolution«, »Über Lenin«, »Wohin geht England?«, »Europa und Amerika«, »Probleme des Alltagslebens« u. ä. 

1936 tat sich Trotzki mit Sinowjew und Kamenjew gegen Stalin zusammen. Diese Vereinigte Linksopposition wurde nach heftigen Machtkämpfen in allen Bereichen der Gesellschaft gegen Ende 1927 aus der Partei ausge­schlossen.

1928 wurde Trotzki aus Moskau verbannt und nach Alma Ata deportiert. Von hier aus dirigierte er weiter die Linke Opposition, kritisierte Stalins Konzept vom Sozialismus in einem Lande sowie Stalins Politik in der chinesischen Revolution von 1925 bis 1927.

1929 wurde er in die Türkei ausgewiesen, wo er bis zum Sommer 1933 auf einer der Prinkipo-Inseln lebte. Hier begann er eine Kampagne gegen die Gefahren des aufstrebenden Nazismus. 1933 bis 1935 lebte er in Frankreich. Von hier aus rief er auf zur Gründung einer Vierten Internationale. 1935 aus Frankreich ausgewiesen, fand er in Norwegen Zuflucht und schrieb dort das Buch »Verratene Revolution«. 

Nach dem Schauprozeß gegen Sinowjew, Kamenjew und andere und ihrer Hinrichtung im August 1936 verfaßte Trotzki sein Buch »Stalins Verbrechen«, das 1937 in Zürich erschien. 

1937 ging er schließlich nach Mexiko ins Exil, wo er in einem Gegenprozeß unter Vorsitz des amerikanischen Philosophen John Dewey auftrat. 1938 proklamierte er die Gründung der Vierten Internationale.

Trotzkis Kinder kamen unter ungeklärten Umständen ums Leben. Im Mai 1940 wurde er selbst von einer stalinistischen Bande angegriffen, deren Anführer der mexikanische Maler David Alfaro Siqueiros war. Trotzki selbst wurde am 20. August 1940 von einem Ramon Mercader (»Jacson«), einem stalinistischen Werkzeug, in seinem Haus in Coyoacan, einem Stadtteil von Mexiko-Stadt, ermordet.

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Peter Bachmann

 

 

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