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ERSTER TEIL

Rückschritte. Grabungen

 

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Die folgende Untersuchung geht vom Paradigma des Falls aus. Das bedeutet die theologische Wahl, sich in die biblische Perspektive auf Geschichte einzustellen und zu experimentieren, wieweit wir mit ihr in der Beantwortung unserer Ausgangsfrage kommen.

Es bedeutet jedoch weder, dass diese Perspektive des Falls damit geschichtsphilosophisch schon fertig und ausgefüllt wäre, noch, sich Einsichten aus der Denkweise des Schicksals grundsätzlich zu verschließen. Aber unser hermeneutischer Ausgangspunkt ist nicht die Suche nach Linien von Kreislauf, Niedergang oder Fortschritt, sondern die Frage nach unserem gegenwärtigen gebrochenen Status quo, nach den Brüchen, die in ihn eingeschrieben sind, und nach den ungehobenen Elementen der Hoffnung gerade in unserer gebrochenen geschichtlichen Existenz.

"Vielleicht war noch keine Zeit so versessen auf die eigene Vergangenheit und so unfähig, einen Bezug zu ihr herzustellen“, schreibt Giorgio Agamben.(1) Am Schluss des Einführungskapitels habe ich mit ihm eine geschichts­philosophische Archäologie gefordert, die sich bis an die Grenze des von uns zugleich erinnerten und vergessenen Falls aus unserer ursprünglichen Schöpfungswirklichkeit zurücktastet.

Solch eine Grabung ist natürlich keine im üblichen Sinn historische. Als philosophische und theologische Reflexion des Historischen kann sie sich mit dem methodischen Positivismus moderner Geschichtswissenschaft nicht begnügen. Wonach wir fragen, wenn wir unter dem Paradigma des Falls reflektieren, wie wir geworden sind, was wir sind, ist wohl geschichtliche Wirklichkeit, aber keine, "die sich als Ereignis innerhalb einer Chronologie hypostasieren ließe“, sondern etwas, was Agamben als "arche" (Ur-Sprung) der Geschichte oder als "Ultrageschichte" bezeichnet.(2) Wonach wir graben, sind Züge der Geschichte, die uns selbst ins Gesicht geschrieben sind, sind geschichtliche Vor-Gänge, in denen der Mensch seine eigene Menschwerdung betrieben und zugleich immer wieder gebrochen und vernarbt hat.

Aber ist Geschichte nicht stets die Erinnerung an etwas, das nicht mehr lebendig und deshalb als es selbst eigentlich schon vergessen ist? Wenn wir nach den Spuren einer verlorenen Zukunft, einer von der Wirklichkeit verleugneten Möglichkeit fragen, verfallen wir dann nicht in eine romantische Illusion?

Karl Jaspers hat es ungefähr so gesehen. Jedes "Damals war die Wahrheit“ rührt aus unserer Suchperspektive: "Alle Geschichte erscheint von da her wie das Verlieren eines ursprünglichen Kapitals“ – einfach weil alles, das einmal lebendig war, für uns doch tot ist.(3) Entspringt unsere Perspektive also einer grundsätzlich nicht stillbaren Nostalgie, bedient sie "das grenzenlose Heimweh nach der <guten alten> Weltzeit"?(4)

Ich behaupte dagegen, dass meine Rückfrage solche „alte Weltzeit“ mindestens ebenso sucht wie kritisiert. Geschichtsphilosophie in der Perspektive des Falls ist notwendig eine Kritik oder Dialektik der Geschichte – und dabei Adornos „negativer“ näher als der Geistlogik Hegels. Deshalb wähle ich in diesem ersten Teil des Buches auch den Weg zurück: Die Kapitel schreiten nicht von der Hominisation voran durch die Epochen der Menschheit bis zu unserer Gegenwart, so als ließe sich, wie kurvig auch immer, unser Weg zu uns selbst erzählen. Vielmehr tasten wir uns Schritt für Schritt in tieferes Dunkel zurück, fragend, was uns mit uns selbst geschehen ist und inwiefern wir uns auf der Treppe hinab noch selbst begegnen.

Solche Dialektik der Geschichte trennt sich von einer romantischen Nostalgie auch dadurch, dass sie keineswegs die Leiter in die Tiefe hinabsteigt, weil sie auf einer ganz bestimmten Sohle das definitive Jenseits unserer Brüche zu finden hoffte. „Für einige Menschen war der Garten Eden das Zeitalter der Jäger und Sammler, die Welt vor Einführung des Ackerbaus; für andere war es die präkolumbianische Welt: Amerika vor der Ankunft des weißes Mannes, die lange Stille vor dem Lärm der Maschinen.“(5)

Vor der Erwartung einer solch einfachen Identifikation warnt uns schon die am Schluss der Einführung zitierte Einschätzung Agambens, dass eine jede solche Frage nach einem definitiven Vorab unserer Spaltungen oder Brüche selbst noch der Logik der Spaltung gehorcht. Den Garten Eden zu historisieren hieße, uns so von ihm abzuspalten, dass wir mit ihm tatsächlich so wenig zu tun hätten wie mit den Steinzeitjägern, dass wir also Geschichte abtun würden als einen tragischen Vorgang, als das berüchtigte nicht mehr zurückdrehbare Rad. „Die Wahrheit ist jedoch, dass sich die Menschen selbst aus dem Garten Eden vertrieben haben, und zwar wieder und wieder“(6) – denn nur dann ist jede dieser Bruchlinien auch eine Linie in uns, nur dann enthält der Bruch einen messianischen Schmerz, den Schmerz einer Vergangenheit, die Zukunft sein möchte – und nicht den Schmerz einer Erinnerung an eine unwiederbringliche Kindheit oder Jugend, in dem sich nur Menschen ergehen, die ihre Reife verweigern.

Die hier in Angriff genommene Dialektik der Geschichte in ihrem kritischen Krebsgang ist auch nicht zu verwechseln mit einer Suche nach dem „Sinn“ der Geschichte, mit jenem „Pathos“ der Geschichtsphilosophie, die hinter „dem aktuellen Bewusstsein des Nicht-Versöhntseins, einer von Leiden und Ohnmacht gekennzeichneten Welt“ die Tiefe eines „sinnvollen Gesamtverlaufs“ sucht.(7)

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Mit der Frage nach den Bruchlinien bekenne ich mich im Gegenteil zu der These von Karl Löwith: "Das wichtigste Element, aus dem überhaupt die Geschichtsdeutung hervorgehen konnte, ist die Erfahrung von Übel und Leid, das durch geschichtliches Handeln hervorgebracht wird.“(8) Das bedeutet kein Vergafftsein ins Schreckliche, als fände sich die Wahrheit der Geschichte am sichersten in Schwarzmalerei. Die Erfahrung von Übel und Leid ist jedoch gerade die Erfahrung, die gewissermaßen als transzendentale Bedingung ihrer Möglichkeit die messianische Hoffnung auf ihre Überwindung, jedenfalls den Protest gegen ein Nicht-sein-Sollendes voraussetzt. Nur wo der Bruch als Bruch erfahren wird, ist er eine Spur.

Aber in welcher Geschichte will ich zurückfragen?

Es ist nicht nur praktisch unmöglich, unsere Archäologie der Bruchlinien sozusagen flächendeckend universalgeschichtlich anzulegen, es wäre das auch eine nicht funktionierende Hermeneutik. Die Rückfrage, wie wir geworden sind, wie wir sind, setzt ein „Wir“ als Ausgangspunkt und Standpunkt voraus. In einer theologischen Dialektik der Geschichte ist dies ein christlicher Standpunkt in Westeuropa – und die Rückfrage deshalb zuerst eine Anfrage an unsere Gegenwart, an Moderne und Neuzeit, und dann an „die ganze jüdische und christliche Vergangenheit“9.

Damit sind die ersten Kapitel der Rückfrage benannt: Neuzeit – Christentum – Abendland. Die „anderen Völker und Religionen“(10) werden deshalb nicht ignoriert, aber sie kommen von diesem Standpunkt aus als die Anderen in den Blick. Und in der Freilegung der Bruchlinien dieses „Wir“ angesichts der „Anderen“ geht es dann auch hinab zu Linien, die uns und jene miteinander verbinden – deshalb ist dann von Indoeuropäern, vom Neolithikum und von der Hominisation die Rede. Die Bewegung in die Tiefe ist zugleich also eine in die Breite.

Die Epochenschritte, in denen sich die Kapitel bewegen, sind natürlich sehr grob. Und die Identifikation von Bruchlinien anhand solcher Epochenschritte und Kollektive mag fragwürdig erscheinen. Ihr relativer, methodischer Wert wird sich erst auf dem Weg zeigen lassen. Dass ich mich überhaupt auf solche Epochenschritte einlasse, bedeutet keinen naiven Epochenrealismus, als gäbe es in der Geschichte klar erkennbare Räume und sie trennende Türen. Allerdings bekenne ich mich mit dieser Gliederung zu der These, dass die hier genannten Bruchlinien nicht ganz willkürlich gewählt wurden, sondern „dass da etwas ist, was nicht wieder aus der Welt geschafft werden kann, dass eine Unumkehrbarkeit hergestellt ist.“ Darin besteht die zu beweisende „Realität der Epochenwende“.(11)

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Mit dem Beginn in der „Neuzeit“ spiele ich dann auch noch auf ein Schema an, das schon Oswald Spengler „unglaubwürdig dürftig und sinnlos“ genannt hat, weil es nur für eine kleine Teilwelt der Menschheit eine Bedeutung habe: "Altertum–Mittelalter–Neuzeit"(12). Tatsächlich ist dieses Schema schon für die muslimische Welt nicht nachvollziehbar, für alle von Westeuropa aus noch Ferneren erst recht nicht.

Ich beginne deshalb auch nur mit der Neuzeit als „unserer“ Epoche, die jedoch durch die Globalisierung eine Wirkungsgeschichte für die gesamte Menschheit gezeugt hat. Dem weiteren Schema folge ich nicht – und sprenge, wie zu zeigen sein wird, mit dem Schritt vom Christentum zum Abendland zurück auch gerade die Kulturkreis-Definition, die Spengler diesem Begriff gegeben hat.

Meine Gliederung ist also insofern bewusst „eurozentrisch“, als sie ihren, weil meinen, Ausgangspunkt von dem nimmt, was wir hier geworden sind – und womit wir allerdings auch alle anderen bis zur Stunde in einer weltgeschichtlich einmaligen Weise dominieren. Mein eurozentrischer Ausgangspunkt bedeutet dann auch eine standortbezogene und darin m.E. hermeneutisch redliche Frage nach der Andersheit der Anderen. Sind unsere Bruchlinien Brüche zwischen uns und ihnen – oder auch gemeinsame Brüche? Es wird uns da tatsächlich gehen wie den westlichen Ethnographen, von denen Claude Lévi-Strauss vermutete, dass ihr Interesse an "fremden Gesellschaften … in der Hoffnung“ gründe, dass die Beschäftigung mit ihnen "erklären helfe, wie diese Mängel in seinem eigenen Schoß gedeihen konnten."(13)

Nur über diese Selbstbespiegelung lässt sich dann auch nach den Mängeln oder Brüchen der Anderen, nach ihrer Geschichtserfahrung fragen. Darin wird sich dann die Welt "noch einmal als radikal heterogen vorstellen" und im Fremden "von erträumten Vergangenheiten und Zukunftsentwürfen" erzählen(14), die von der Globalisierung des europäischen Epochenschemas niedergewalzt wurden, aber dennoch geschichtlich genauso "unmittelbar zu Gott“ sind, also genauso Spuren messianischer Hoffnung enthalten.

An welchem Material wird sich diese Rückfrage abarbeiten? Was bekommt die dialektische Archäologie auf die Schaufel?

Es ist jeweils schon historisch oder gar geschichtsphilosophisch geformtes Material. Denn der Geschichtstheologe kann nicht zugleich ein universaler Historiker seinden es sowieso nicht mehr gibt. Meine Analyse hat es also nie mit "der Geschichte" zu tun, sondern immer schon mit Geschichtsbildern, mit „großen Erzählungen“, mit Thesen zu den Epochenkennzeichen und -wenden. Dennoch wird sie diese Texte über Geschichte stets im Hinblick auf den gemeinten „Text“ der Geschichte selbst lesen.

Inwiefern dies geschichtsphilosophisch legitim und möglich ist, werde ich erst am Ende des induktiven Rückgangs im zweiten Teil, insbesondere im achten Kapitel, erörtern können. Hier muss die Feststellung genügen, dass ich mich damit in einem wohl jeder „Geisteswissenschaft“ eigenen Zirkel bewegen werde, der die verhandelte Wirklichkeit nur zu umkreisen vermag, indem er mit anderen verhandelt, die sie ebenfalls umkreisen. Dennoch möchte ich gerade in der Bewusstheit dieses Zirkels vermeiden, dass Geschichte unterwegs im Grunde zu "Geistesgeschichte" sublimiert wird.

Die im Folgenden umkreiste Wirklichkeit ist tatsächlich die ökonomische, politische, kulturelle, ja schließlich die noch unsichtbarere "alltägliche" Geschichte der Menschen, auch wenn sie uns immer nur im Denken von Geschichte erreichbar sein wird.

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