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28  Gegenseitige Hilfe - Peter Kropotkin

und der kommunistische Anarchismus

  P.Kropotkin bei detopia

Eine zukünftige Gesellschaft muß die Idee des Entlohnens der Arbeit aufgeben.
Es bleibt nur eins: Die Bedürfnisse über die Leistungen zu stellen.
- Peter Kropotkin -

 

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"Wir hatten einen kleinen Garten, in dem wir uns mit Kegelschieben unterhalten konnten. Überdies bestellten wir ein schmales Stückchen Land und erzielten fast unglaubliche Mengen an Salatköpfen und Rettichen, wie auch einige Blumen."

Über den Mann, der so von seinem Gärtlein schwärmte, schrieb George Bernhard Shaw: "Er war so liebenswert, daß es ans Heilige grenzte; mit seinem roten Vollbart und dem gütigen Gesicht hätte man ihn für einen Hirten aus den lieblichen Bergen halten können."

Der vermeintliche Landfreak aber war kein Hirte, und sein Gärtlein lag im Zentralgefängnis von Clairvaux. In den Mauern des alten Klosters, in dem einst der Heilige Bernhard wirkte, saß Peter Alexandrowitsch Kropotkin eine fünfjährige Haftstrafe ab und litt trotz der Salatköpfe an Skorbut. 

Der sanfte Gefangene war ein leibhaftiger russischer Fürst und prominenter Naturwissenschaftler, der in seiner Zelle Artikel für die Encyclopedia Britannica verfaßte. Vor allem aber war er der derzeit populärste und deshalb, wie die Behörden meinten, gefährlichste Anarchist. Prominente Zeitgenossen wie Swinbourne, Herbert Spencer, Victor Hugo und Clemenceau hatten sich für die Lockerung seiner Haftbedingungen eingesetzt, und die Académie des Sciences in Paris stellte ihm ihre Bibliothek zur Verfügung.

1886 wurde er begnadigt und ging nach London, um sich sogleich wieder seiner Lebensaufgabe zu widmen: der Erneuerung der anarchistischen Bewegung.

Peter Kopotkin war zur zentralen Figur unter denjenigen geworden, die die Krise des Anarchismus überwinden wollten, und er hatte das Zeug dazu. Seine Ideen sollten die libertäre Bewegung ins zwanzigste Jahrhundert führen. Von ihm gingen erneuernde Impulse aus, die den rustikalen Anarchismus Bakunins weiterentwickelten und verfeinerten, und deren zentrale Gedanken bis heute Bestand haben.

 

    Vom Fürsten zum Rebellen  

Dabei hätte aus dem 1842 in Moskau geborenen Peter Alexandrowitsch eigentlich etwas ganz anderes werden sollen. 1857 kam der Sproß eines alten russischen Hochadelsgeschlechtes auf speziellen Wunsch des Zaren in dessen persönliche Pagencorps an den Hof zu St. Petersburg. Der Fünfzehnjährige aber fühlte sich alles andere als geehrt. Er empfand die despotische Atmosphäre im Zentrum der Macht als unerträglich, versuchte sich sogar mit der Herausgabe eines handgeschriebenen revolutionären Blättchens. Schon als Knabe hatte er Mitleid mit dem bedrückenden Schicksal der landlosen Bauern empfunden, von denen sein Vater immerhin 12.000 ›sein Eigen‹ nannte.

Zum Offizier avanciert, meldet er sich zum Entsetzen seiner adligen Freunde freiwillig zu einem der verrufensten Regimenter im fernen Sibirien, den Amur-Kosaken. Er wollte fort von den Verlogenheiten des Hofes, hin zum harten, einfachen Leben in den endlosen Weiten Sibiriens, zu den Bauern, Verbrechern und verkrachten Existenzen, die er in gewisser Weise idealisierte.

In Sibirien trifft er aber auch auf Spuren der Anarchie. In Irkutsk lernt er, kurz nach Bakunins Flucht, dessen Frau Antonia kennen und den mit Bakunin befreundeten Gouverneur Kukel. In der Bibliothek des verbannten Schriftstellers M. L. Michailow findet er die Werke Proudhons, die er mit Gewinn liest. Prägender aber sollten sich seine eigenen Erfahrungen erweisen, die der aufmerksame Beobachter mit den Menschen, dem Land und der Natur macht.

Mit seiner Truppe aus verurteilten Mördern und Dieben unternimmt er ausgedehnte Forschungsreisen, deren Ergebnisse weit über die verkehrsstrategischen Ziele hinausgehen, die der Generalstab ihm gesetzt hatte. Über 8000 Meilen legt er zu Pferde, im Wagen, im Dampfboot oder im Kahn zurück und dringt als Händler verkleidet in Gebiete vor, die noch von keinem Europäer besucht worden waren. Hier legt Kropotkin den Grundstock für seine naturwissenschaftliche Karriere als Geograph und Geologe, aber auch als universeller Beobachter der Natur, die ihn zum Wegbereiter einer Disziplin machen, die später "Verhaltensforschung" genannt werden wird.

"Die Jahre, die ich in Sibirien verbrachte", schreibt er in seinen Memoiren, "lehrten mich vieles, das ich schwerlich woanders hätte lernen können. Es wurde mir bald klar, daß es völlig unmöglich sei, für die große Masse des Volkes auf dem gewöhnlichen Weg der Verwaltung etwas wirklich Heilsames zu schaffen. (...) Die konstruktive Arbeit, die von der namenlosen Menge getan wird, und die große Bedeutung dieser konstruktiven Arbeit für die Entwicklung sozialer Formen trat mir überzeugend vor Augen. (...) So wurde ich dazu vorbereitet, ein Anarchist zu werden."

1868, nach der blutigen Niederschlagung eines Aufstandes polnischer Deportierter, zieht er unter Protest die Uniform aus und widmet sich an der Universität von St. Petersburg dem Studium der Naturwissenschaften. Er wird ein vielbeachtetes Mitglied der Russischen Geographischen Gesellschaft und schon bald zu ihrem Generalsekretär berufen. Seine wissenschaftlichen Ambitionen hatten sich rasch erfüllt, aber in ihm gärte bereits ein stärkerer Wunsch. Ein Forschungsauftrag, der ihn nach Skandinavien führt, bringt ihn erneut in Kontakt mit dem kärglichen Leben der Bauern, und als er zurückkehrt, steht sein Entschluß fest: Fortan will er sein Leben "in den Dienst der sozialen Frage" stellen.

1872 bekommt er die Gelegenheit, nach Zürich zu gehen, wo bereits sein Bruder Alexander lebt. Durch ihn findet er Zugang zu sozialistischen Kreisen und wird Mitglied der Internationale. Er liest mit Eifer, schaut sich aufmerksam um und erlebt das abstoßende Verhalten karrierebesessener Arbeiterfunktionäre: "Diese Drahtzieherei seitens der Führer konnte ich mit den flammenden Reden, die ich sie hatte halten hören, nicht zusammenreimen. Ich fühlte mich abgestoßen."

In Genf lernt er die bakunistische Sektion kennen und wendet sich von dort nach Neuchâtel, ins Herz der "Jura-Föderation". In wenigen Wochen machte er sich so ein Bild vom Zustand des Sozialismus — nicht, indem er sich auf theoretische Spitzfindigkeiten einließ, sondern dadurch, daß er genau hinschaute.

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Am meisten imponierte ihm das offene, freie Klima bei den Libertären, ihr optimistischer und konstruktiver Geist. Die Uhrmacher hatten sich in kleinen Kollektiven zusammen­geschlossen, die jeweils eine Manufaktur betrieben und die Gewinne untereinander aufteilten. Hier gab es kaum hierarchische Strukturen - weder bei der Arbeit, noch in der Politik. "Die Trennung zwischen Führern und Arbeitern", schreibt Kropotkin, "existierte dort nicht. Es fand sich auch dort eine Anzahl von Männern, die scharfsinniger und vor allem tätiger waren als die anderen, aber das war alles." Von diesen "scharfsinnigen Männern" lernte er den Graveur Adhémar Schwitzguebel und den Lehrer James Guillaume näher kennen, der ihm übrigens von einem Besuch beim "alt und müde gewordenen" Bakunin im nahen Locarno abriet. Aber auch ohne die Visite bei seinem berühmten Landsmann, den er nie persönlich kennenlernen sollte, stand Kropotkins Bilanz nach zwölf Tagen fest: "Ich war ein Anarchist."

 

    Jahre der Aktion   

Als solcher war er fest entschlossen, nach Rußland zurückzukehren. Ein Dasein als Fremder in der Emigration empfand er als steril. Noch im Sommer des gleichen Jahres reist Kropotkin zurück in die Heimat — im Gepäck mehrere Bündel illegaler Literatur. In St. Petersburg nimmt er Verbindung zu Oppositionsgruppen auf: dem seit 1869 bestehenden Sozialistischen Bildungsverein und dem konstitutionellen Tschaikowski-Kreis, der sich um den Bruder des Komponisten geschart hatte. Es gelingt ihm, viele der jungen Leute für seine Ideen zu interessieren. Neben seinen wissenschaftlichen Arbeiten entfaltet er im Geheimen eine rege agitatorische Tätigkeit. Auch die Polizei wird auf diesen ominösen* Mann aufmerksam, der sich Borodin nennt und als Bauer verkleidet an illegalen Versammlungen in den Vorstädten teilnimmt oder Vorträge in Webereien und Baumwollfabriken hält.

Wie üblich herrscht auch in der Gruppe keine Einigkeit über den richtigen Weg. Vom Sozialdemokraten bis zum strammen Narodnik sind alle Richtungen vertreten, nicht wenige hängen den Ideen Netschajews an. Agitation halten sie für Zeitver­schwendung: Verschwörung und Attentate lautet ihr Rezept, wobei sich einige sogar auf Bakunin berufen. Kropotkin tritt diesem "Nihilismus" entgegen und entwickelt seine eigene Auffassung von Revolution:

"Zur Verwirklichung der Gleichheit gehören viele Jahre, viele partielle Ausbrüche, die man beschleunigen muß. Der Aufstand kann nicht von den Revolutionären gemacht werden, sondern sie müssen den sich vorbereitenden Aufstand fördern, die unzufriedenen Elemente untereinander verbinden, kurz, auf jede Weise helfen."

Nicht unbedingt nur friedlich, aber so friedlich wie irgend möglich: "Ich begriff allmählich, daß Revolutionen, d.h. Perioden beschleunigter Entwicklung und reißend schneller Fortschritte, der Natur der menschlichen Gesellschaften nicht minder eigen sind als die langsame Fortentwicklung." Es handele sich also nicht um die Frage, wie man Revolutionen vermeide, sondern wie "die größten Ergebnisse bei möglichster Beschränkung der Opfer und einem Minimum gegenseitiger Erbitterung" zu erzielen seien. Kropotkin plädiert zunächst für die Verbreitung der Ideen unter den Bauern und Arbeitern: durch leicht verständliche Broschüren und eine kleine volkstümliche Zeitschrift.

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 Vor allem aber durch eine Art von Propaganda, "die wir die tägliche nennen": das direkte, nachvollziehbare Vorleben freiheitlicher und befreiender Lebensformen. Er dachte hierbei an lokale Bewegungen mit weitreichenden sozialen Zielen, vor allem an Produktions- und Verbrauchsgenossenschaften. Aber damit war er seiner Zeit weit voraus.

Schon bald wird die Gruppe systematisch verfolgt, immer mehr Mitglieder werden verhaftet. Kropotkin trägt sich mit dem Gedanken, nach Südrußland zu gehen, um auf dem Lande weiter zu wirken. Im März 1874 wird er jedoch entlarvt und verhaftet. Er landet in der Peter-und-Pauls-Festung, wo schon Bakunin dreiundzwanzig Jahre zuvor gelitten hatte. 193 Gesinnungsgenossen sitzen wegen Agitation in strengster Haft: Isolierung, feuchte Zellen, schlechtes Essen, keine Heizung, absolutes Sprechverbot. Die Untersuchung sollte sich vier Jahre hinschleppen, während der einundzwanzig Häftlinge Selbstmord begehen oder dem Wahnsinn verfallen. "Bakunin hat es ausgehalten", sagte sich Kropotkin, "und das muß auch ich; ich will nicht erliegen." Von Skorbut befallen und völlig entkräftet wird er ins Militärhospital eingeliefert. Von hier gelingt ihm mit Hilfe von außen die Flucht. Während die ganze Stadt nach dem prominenten Flüchtling durchkämmt wird, sitzt dieser, den Bart gestutzt, dort, wo man ihn am wenigstens vermutet: beim Diner im besten Restaurant am Platze.

Über Schweden und Schottland gelangt Kropotkin nach London, immer noch entschlossen, nach ein paar Monaten Erholung in seine Heimat zurückzukehren. Es sollte aber noch einundvierzig Jahre dauern, bis er Rußland 1917 wiedersieht. In London verdient er sich seinen Lebensunterhalt mit journalistischen Arbeiten in der Times und dem Magazin Nature, aber es hält ihn nicht in England. Er will wieder an die Brennpunkte der Bewegung. Nach einigen Reisen kehrt er 1877 zurück in den Schweizer Jura.

 

     Reorganisation  

Die Jura-Föderation fand er in einem bedenklichen Zustand vor. Die zahlreichen Flüchtlinge aus der Pariser Commune hatten einen Hauch von Resignation mitgebracht, und auch in der liberalen Schweiz wurden nun die Anarchisten von Behörden und Unternehmern schikaniert und bedroht. Immer weniger Arbeiter trauten sich, offen zu ihrer Überzeugung zu stehen. Vor allem aber fehlte es an Elan, neuen Ideen und einem Organisationstalent. Es schien, als wartete hier eine Aufgabe auf den tatendurstigen Russen.

In diesen Jahren entsteht von der Schweiz aus die längst überfällige geistige und personelle Erneuerung des Anarchismus. Um Kropotkin und Guillaume schart sich eine neue Generation von aktiven Gesinnungsgenossen, die in den folgenden Jahrzehnten den Motor der Bewegung abgeben werden: Elisee Reclus, ein Flüchtling der Commune, vormals Direktor der Pariser National­bibliothek und Geograph wie Kropotkin. Errico Malatesta, ein junger Italiener, ehemals Medizinstudent, der 1877 mit einer Gruppe anarchistischer Guerillas in italienischen Bergdörfern den Aufstand geprobt hatte. Der puritanische Marchese Carlo Cafiero, ebenfalls Teilnehmer des Aufstandes und finanzieller Förderer des greisen Bakunin. 

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Der Südfranzose Paul Brousse, ein ruheloser Wirbelwind, Herausgeber eines französischen sowie eines deutschen Blattes und Erfinder des so sehr mißbrauchten Ausdruckes propagande par le fait*. Dieser harte Kern hochmotivierter Leute dachte das, was bei Bakunin als negative Kritik begonnen war, zu Ende. Heraus kam eine positive Utopie, die später als "Anarchistischer Kommunismus" bezeichnet wurde. Schon die anarchistischen Kongresse von Florenz 1876 und La-Chaux-de-Fonds 1880 brachten der neuen Idee den Durchbruch. Kropotkin wurde für mehr als dreißig Jahre ihr prominentester Autor. "Unsere Haupttätigkeit", schrieb er, "bestand in der Ausgestaltung des anarchistischen Sozialismus nach der praktischen und theoretischen Seite hin".

Nachdem das Bulletin der Jura-Föderation verboten wurde, gründeten Kropotkin, Dumatheray und Herzig 1879 in Genf Le Revolte*. Das war nun endlich ein Blatt, das ein breites Publikum ansprach. In ihr veröffentlichte Kropotkin eine Unzahl seiner volkstümlich geschriebenen Artikel, hier fand die publizistische Umsetzung der neuen Ideen statt, die in jenen Jahren im Jura ausgebrütet wurden. Viele Texte, die später in Buchform zu libertären Klassikern wurden, hatten zuerst im Revolte gestanden.

Das Blatt erschien zunächst vierzehntägig, dann wöchentlich, und die Auflage stieg so rasch, daß die Behörden begannen, die Druckerei zu schikanieren. Kropotkin & Co. entschlossen sich kurzerhand, ›Unternehmer‹ zu werden: Sie gründeten die Imprimerie Jurassienne, in der auf Jahre die subversive Gebrauchsprosa vieler Länder gedruckt wurde. Le Revolte, diese vielleicht erste anarchistische ›Publikumszeitschrift‹ wurde zum Vorbild vieler anderer libertärer Blätter, die jetzt überall offensiv begannen, anarchistische Ideen auch unter dem Etikett ›Anarchis-mus‹ zu verbreiten. In Frankreich, wohin die Redaktion später umzog, trug der Revolte nicht unwesentlich zur Erstarkung des Anarchismus bei. Elisee Reclus wurde zeitweise ihr Herausgeber, gefolgt von dem energischen Arbeiter Jean Grave, der wegen Verbots zweimal den Namen des Blattes ändern mußte: zunächst in La Revolte* und später in Les Temps Nouveaux*.

Zeit für die Naturwissenschaften fand Kropotkin nun kaum noch. Er bereiste halb Europa: Frankreich, Belgien, England und Spanien. Der Besuch auf der iberischen Halbinsel wurde zum beeindruckenden Erlebnis: Hier kam er erstmals in Kontakt mit gut organisierten anarchistischen Arbeiterorganisationen. Aus dem belächelten Netz der Bakuninschen Alliance waren regelrechte Massengewerkschaften entstanden.

1878 hatte Kropotkin in Genf die Bekanntschaft einer russischen Studentin gemacht, die in den "nihilistischen Kreisen der russischen Jugend" aktiv gewesen war, und die er offenbar sehr sympathisch fand. Dort, so schreibt Kropotkin mit kaum verhohlener Bewunderung, sah man in einer Frau "einen Kameraden, ein menschliches Wesen, aber keine Puppe und keinen Kleiderstock". Die selbstbewußte und emanzipierte Sofia Ananeva schien derartiges von dem anarchisierenden Fürsten auch nicht erwartet zu haben. Bald darauf wird sie Frau Kropotkina.

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Als Kropotkin 1881 vom Londoner Anarchistenkongreß zurückkehrt, wird er aus der Schweiz ausgewiesen. Dabei hat vermutlich die Wortradikalität eine Rolle gespielt, mit der er verschiedene Artikel im Revolte gewürzt hatte, nachdem in Rußland einige seiner besten Freunde hingerichtet worden waren.

Trotz seiner eigenen Einschätzung, die Zeitung "im Tonfall maßvoll, aber dem Wesen nach revolutionär" zu gestalten, fanden sich Sätze wie diese: "Unsere Aktion muß die permanente Revolution sein, mit Wort, Schrift, Dolch, Gewehr, Dynamit" — das liest sich nicht gerade "maßvoll", besonders, wenn dabei überlesen wird, daß der Autor damit ausdrücklich keinen individuellen Terror, sondern das Recht auf kollektive Revolte begründet.

Die Schweizer Behörden haben sich offenbar für solche Feinheiten nicht interessiert, ebensowenig wie die fanatisierten Jünger, die zu Kropotkins Entsetzen diese Worte als Blankovollmacht für politische Attentate auffaßten. Andererseits war Kropotkin inzwischen selbst ins Zielkreuz terroristischer Aktivitäten geraten: Die in Rußland agierende ultrakonservative "Heilige Liga", deren Ziel "die Ausrottung des Nihilismus" war, hatte den Exilfürsten auf ihre Todesliste gesetzt.

Die junge Familie weicht aus und zieht nach Thonon, auf die französische Seite des Genfer Sees, verbringt ein Jahr in London, wo Artikel für die Encyclopedia Britannien und Nineteenth Century entstehen, um Ende 1882 nach Thonon zurückzukehren. Dort wird Kropotkin im Dezember verhaftet und im Januar zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Als Grund mußte die Mitgliedschaft in der Internationale herhalten, die in Frankreich nach wie vor verboten war. Tatsächlich wollte man ihm und sechzig anderen mitangeklagten Anarchisten, die er nie zuvor gesehen hatte, die Verwicklung in einen Anschlag auf ein Cafe in Lyon und die Ausschreitungen bei einem Bergarbeiterstreik in Montceau-les-mines nachweisen. Dort hatten die Arbeiter versucht, nach Bakuninscher Lehre die Akten zu verbrennen. Gegen keinen der Angeklagten konnte der Beweis einer Beteiligung erbracht werden. Da "geistige Urheberschaft" noch nicht, wie später in Deutschland, ein Tatbestand war, genügte die Mitgliedschaft in der mittlerweile übrigens aufgelösten Internationale, um den lästigen Aufwiegler für einige Jahre aus dem Verkehr zu ziehen.

So kam der Fürst zu dem zweifelhaften Vergnügen, sich mit aller Muße in der Aufzucht von Rettichen zu versuchen.

 

Nach der Haftentlassung 1886 wohnen die völlig mittellosen Kropotkins eine Weile bei Reclus' Bruder Elie in Paris, um dann einer Einladung nach London zu folgen, wo ein anarchistischer Kreis die Herausgabe einer Zeitschrift plant, für die man sich die Mitarbeit des prominenten Anarchisten sichern wollte. Im Oktober desselben Jahres wird die erste Nummer der Freedom gedruckt, die übrigens bis heute erscheint. Sie wird bis zum Jahre 1914, als es wegen unterschiedlicher Standpunkte zum beginnenden Weltkrieg zu einem Zerwürfnis kommt, Kropotkins politisches Sprachrohr. Neben dem Revolte, für den er weiterhin schreibt, publiziert er wieder verstärkt in wissenschaftlichen Zeitschriften, hält Vorträge und wird Mitglied der Königlichen Geographischen Gesellschaft, in der er einen zwiespältigen Ruf genießt: Als Naturwissenschaftler und Sozialtheoretiker hoch geachtet, gilt er doch als etwas verschroben, da er es ablehnt, sich beim üblichen Toast auf den König zu erheben.

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Privat beginnt diese Londoner Phase, die über dreißig Jahre dauern sollte, düster. Im Sommer erkrankt seine Frau an Typhus, und aus Sibirien erreicht ihn die Nachricht vom Selbstmord seines in Verbannung lebenden Bruders Alexander, der sich stets für ihn eingesetzt hatte. Seine eigene Gesundheit ist schwer angeschlagen, er fühlt sich physisch und psychisch erschöpft. "Ich habe die Kraft verloren, die ich zehn Jahre zuvor hatte", antwortet er einem Freund, der ihn zur Mitarbeit in einer deutschen Anarchistengruppe bewegen will. Einziger Lichtblick ist die Geburt einer Tochter, die im Andenken an den Bruder den Namen Alexandra erhält.

Die wilden Jahre, in denen der feurige Revolutionär ohne Rücksicht auf seine eigene Substanz ruhelos herumreiste und sich aufrieb, sind vorbei. Zwar stellt er sich auch weiterhin in den Dienst der anarchistischen Bewegung, schreibt, kommentiert, besucht Kongresse. Vorträge führen ihn 1901 sogar in die USA, die Schweiz, nach Italien und auch wieder ins geliebte Frankreich.

Seine ganze Kraft aber widmet er fortan der Ausarbeitung seiner Theorien, die er in mehreren Büchern veröffentlicht. Sie werden allesamt zu Klassikern der sozialen Literatur, deren Wirkung weit über die engen Grenzen der anarchistischen Kreise hinausgeht.

 

    Die Theorie der Solidarität   

Kropotkin gilt seither als der große Modernisierer des Anarchismus, dessen Anregungen seiner Zeit so weit voraus waren, daß sie erst heute, im Zeitalter des wirtschaftlichen und ökologischen Schachmatt, langsam ins Bewußtsein der Menschen rücken. "Fast ein halbes Jahrhundert vor dem technischen Denken unserer Zeit", schrieb Lewis Mumford 1961, "hatte er erfaßt, daß die Anpassungsfähigkeit und Anwendbarkeit der Kommunikationsmittel und der elektrischen Energie in Verbindung mit den Möglichkeiten einer intensiven, biodynamischen Landwirtschaft die Grundlagen für eine dezentralisierte Entwicklung der Städte in Form von kleinen Gemeinschaften geschaffen hatten, die auf direktem menschlichen Kontakt beruhen und die Vorteile des Landes mit denen der Stadt verbinden". Dem ungestümen Impuls einer alles neuschöpfenden Empörung, die Bakunins Denken beherrschte, fügt Kropotkin in geradezu sachlicher Verfeinerung ein philosophisches Weltbild mit einer soliden wissenschaftlichen Grundlage hinzu.

Sein Thema ist die Natur des Menschen, die Frage, ob er zu einer an-archischen Lebensform überhaupt taugt.

Sein Ziel ist die Struktur einer libertären Gesellschaft, die nicht auf Spekulation und Wunschdenken, sondern auf nüchternen Tatsachen beruht. Technik, Soziologie, Statistik, Verhaltensforschung, Ethik, Biologie und Geschichte, all das sind Elemente, die Kropotkin als erster systematisch in den anarchistischen Diskurs einbringt. Schon zuvor hatte er eine Reihe von Büchern veröffentlicht, von denen "Worte eines Rebellen' (1885) und "Die Eroberung des Brotes" (1892) die populärsten wurden. In diesen Aufbereitungen seiner wichtigsten Artikel aus dem Revolte entwickelte Kropotkin seine bereits bekannte Vision des "kommunistischen Anarchismus" weiter.

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Zunächst greift er die übliche anarchistische Polemik gegen Staat, Kirche, Gesetz und die ökonomische Herrschaft des Bürgertums auf. Ganz im Sinne Bakunins wettert er gegen den autoritären Sozialismus als eine neue Tyrannei und unterstreicht das Recht auf Rebellion gegen das gesamte System kapitalistischer Unfreiheit. Aber schon bei der Betrachtung des Wesens der Gesetze zeigt sich, daß der Autor bedeutend subtiler vorgeht als der polternde Bakunin.

Als Naturwissenschaftler differenziert Kropotkin akkurat zwischen sozialen Verhaltensweisen, Gebräuchen, Sitten, Konventionen und Gesetz. Dabei kommt er zu dem Schluß, daß freiwillige Übereinkünfte in der Regel sozial, solidarisch und vernünftig waren und es zum Teil bis heute geblieben sind. Das "Gesetz" interpretiert er als ein "verhältnismäßig modernes Produkt", entstanden aus dem Interesse einer Minderheit, andere zu beherrschen und sich fremde Arbeit anzueignen.

Im Verein mit religiöser Verklärung hätten es die Herrschenden verstanden, die hergebrachten "notwendigen Gebräuche" geschickt mit den Erfordernissen ihrer eigenen Interessen zu vermischen und in Gesetzesform zu bringen, für die von allen Menschen der gleiche Respekt eingefordert werde. Übergeordneter Sachwalter dieser Minderheitsinteressen sei in modernen Gesellschaften der Staat. Ganz Massenpsychologe, untersucht Kropotkin sodann die Verinnerlichung dieser Gesetze, die von Kindesbeinen an durch Erziehung, Moral und Konvention unser Verhalten bestimmten und dazu führten, daß der Mensch in allen Lebensbereichen kontrolliert werde oder sich selbst kontrolliere. Es entstehe ein Art ›Staat im Kopfes der den Impuls zu autonomem Handeln hemme. Das Ziel könne daher nicht sein, ein Gesetz durch ein besseres zu ersetzen, sondern das geschriebene Gesetz abzuschaffen und einen Lernprozeß in Gang zu setzen mit dem Ziel, das Soildaritäts- und Gerechtigkeitsempfinden der Menschen zu entwickeln.

Für Kropotkin war es nur eine Frage der Zeit, bis eine soziale Revolution mit dem Unfug der herrschenden Gesellschaftsordnung Schluß machen würde. In Italien, Spanien oder Rußland erwartete er ihren Ausbruch, wobei die Ausgestaltung in jedem Falle Sache des Volkswillens bleiben müsse. Revolutionäre seien in diesem Prozeß lediglich Geburtshelfer. Ziel einer solchen Umwälzung müsse die Enteignung und die Umverteilung des Eigentums sein, allerdings in der gesamten Gesellschaft. Eine Enteignung im Kleinen, wie sie die expropriateurs jener Tage pflegten, war in Kropotkins Augen nichts weiter als eine gewöhnliche Plünderung.

 

Bislang hatten die Anarchisten gefordert, ›nach der Revolution‹ weitgehend autonome Kollektive zu schaffen, die zu Besitzern des Produktivvermögens werden sollten. Die Mitglieder der Kollektive sollten entsprechend ihrer Leistung in Form von Gutscheinen bezahlt werden, für die sie in eigenen Läden die Produkte des täglichen Bedarfs zum Selbstkostenpreis erstehen könnten. Rasch erkannte Kropotkin die Beschränktheit dieses Ansatzes. Zum einen verkenne ein solches Modell den komplizierten Zusammenhang, der in einer modernen Gesellschaft zwischen Industrie, Landwirtschaft, Infrastruktur und sozialem Leben bestehe, in der "jede Arbeit des Individuums das Resultat früherer und gegenwärtiger Arbeiten der gesamten Gesellschaft" sei.

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Da die Wertschöpfung in der arbeitsteiligen Gesellschaft ein komplexer und vor allem kollektiver Akt sei, müßten die Werte auch allen Mitgliedern der Gesellschaft gehören. Zum anderen sei es unmöglich, Arbeitsleistung exakt oder auch nur einigermaßen gerecht zu bemessen - schon gar nicht durch die Arbeitszeit. Vor allem aber folge dieses System, so Kropotkin, im Grunde lediglich der Grundphilosophie des Kapitalismus, derzufolge der Einzelne kein Recht auf die notwendigen Dinge des Lebens habe, sofern er sich nicht ausbeuten lasse. Was wäre mit Kranken, Ungeschickten, Talentlosen, ja, mit Faulen? Auch sie müßten leben. Deshalb bliebe nur eines: "Die Bedürfnisse über die Leistungen zu stellen und zuerst das Recht auf das Leben anzuerkennen."

Jeder sollte also bekommen, was er brauchte und geben, was er könnte. Diese Forderung wurde zum Grundproblem des "anarchistischen Kommunismus", denn wo kein Zwang zur Arbeit besteht, müßte eine innere Einsicht vorhanden sein - ein starkes Solidaritätsgefühl, was eine große moralische Entwicklung der Menschheit voraussetze. Auf die eine oder andere Weise sollte das gesamte weitere Schaffen Kropotkins eine Suche nach den Bedingungen dieser Entwicklung werden. Er spekulierte über den Segen des technischen Fortschritts, beschäftigte sich mit Arbeitsethik, dem Abbau von Entfremdung, dem Problem unangenehmer Tätigkeiten, vor allem aber mit dem Wesen des Menschen, in dem er den Schlüssel zu dieser Frage vermutete.

Natürlich wurde so ein Thema auch in der anarchistischen Bewegung kontrovers diskutiert, es kam zu Reibereien und Disputen, bis am Ende die Frage immer spitzfindiger erörtert wurde. Es gehe nicht an, schrieb Malatesta 1889, die Bewegung "wegen reiner Hypothesen zu spalten". Schließlich einigte man sich darauf, den kommunistischen Anarchismus als Ziel zu erklären, während der kollektivistische Anarchismus, der weniger Anforderungen an das Bewußtsein der Kollektivmitglieder stellt, als Übergangsfonn angesehen wurde. Im übrigen sollten Kommunen aufgebaut werden, um als Modellversuche Aufschluß darüber zu geben, welche Schwierigkeiten sich bei der praktischen Umsetzung ergäben. So entstanden frühe anarchistische Experimente, die zu Vorläufern des modernen ›Projektanarchismus‹ wurden, deren begrenzte Erfahrungen aber nicht zu eindeutigen Rückschlüssen taugten. Ohne ein soziales Experiment im großen Stil blieb es bei einer eher akademischen Streitfrage.

1899 erscheint Kropotkins Buch "Landwirtschaft, Industrie und Handwerk", in dem er die Frage aufwirft, ob das gegenwärtige System von Gewinnstreben und Arbeitsteilung wirklich ökonomisch, das heißt arbeitserleichternd und arbeitssparend funktioniere. Mit einer Fülle von Zahlen und Beispielen kommt er zu einem vernichtenden Urteil: Gerade die großen Industrie­zentren führten zur einer verhängnisvollen Abhängigkeit, zu einer Trennung von Mensch und Natur, zu einer Ausplünderung der Umwelt. Gewinnmaximierung und Arbeitsteilung hätten zur Folge, daß unsinnige Produkte an unsinnigen Orten hergestellt würden, und der Mensch einer stumpfsinnigen Entfremdung zum Opfer fiele. Sein Gegenmodell, das er mit akribischer Plausibilitat entwickelt, setzt auf eine völlig andere Struktur: Da die Zergliederung der Arbeit und die Zentralisierung der Produktion keinem

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sinnvollen Bedürfnis entspräche außer dem des Unternehmers, möglichst viel Geld zu verdienen, sollten in der Solidarökonomie einer freien Gesellschaft die verschiedenen Arbeitsbereiche stattdessen wieder zu geschlossenen Kreisläufen zusammengefügt und in dezentralen, regionalen Netzen angesiedelt werden. In solchen Gemeinden wären industrielle Produktion, Landwirtschaft und Handwerk wieder miteinander verbunden. Die Menschen müßten nicht lebenslang die gleiche stumpfsinnige Arbeit verrichten, es entstünde eine Synthese aus Arbeit und sozialem Leben. Das meiste für den regionalen Bedarf könne ohnehin regional produziert und verteilt werden, nur für den verbleibenden Rest wäre noch ein überregionaler Austausch von Überschüssen und Fehlendem nötig.

Dieses Modell einer teilweisen Autarkie hätte zudem einige angenehme Nebeneffekte: Der Außenhandel als Quelle der Bereicherung würde verschwinden, die absurden Transportwege wären reduziert, Monokulturen könnten größtenteils durch Mischkulturen ersetzt werden und die regionalen Gemeinden wären in vieler Hinsicht unabhängiger und weniger erpreßbar. Das wiederum ist für Kropotkin eine Voraussetzung, um den Staat als zentrales Verwaltungs- und Herrschaftsgebilde zu überwinden. Den Bewohnern böte es überdies alle Voraussetzungen zu einer umfassenden Bildung und einem vielseitigen, erfüllten Leben unter menschlichen Arbeitsbedingungen.

Der Frage, ob denn der Mensch zu hierarchiefreiem Leben und solidarischem Wirtschaften fähig sei, geht Kropotkin in seinem wohl berühmtesten Buch nach, der "Gegenseitigen Hilfe", das 1902 erscheint. Das Werk, dessen vollständiger Titel "Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt - Ein Faktor der Evolution" lautet, war ursprünglich als eine Antwort auf den Darwinismus gedacht, wie ihn Thomas Huxley vertrat, ein Schüler des britischen Forschungsreisenden Charles Darwin. Dieser hatte 1859 in seinem aufsehenerregenden Buch "Von der Entstehung der Arten" die These aufgestellt, daß sich die Entwicklung aller Lebewesen von niederen zu höheren Formen durch Mutation* und Auslese im Rahmen eines beständigen Konkurrenzkampfes vollziehe. In der Natur würden nur die Fähigsten überleben, diejenigen, die sich an veränderte Bedingungen anpassen und sich in der immerwährenden Auseinandersetzung als die Stärkeren erwiesen.

Diese "Evolutionstheorie", als biologische Lehre zur genetischen Erklärung der Abstammungsgeschichte gedacht, wurde im Bürgertum des 19. Jahrhunderts begeistert aufgegriffen. Man reduzierte ihre Botschaft auf die Aussage, Motor des Fortschritts sei der "Kampf ums Überleben" - eine Formulierung, die Darwin bildlich, nicht wörtlich verstanden wissen wollte, und schon gar nicht als Rechtfertigung sozialer Zustände. Genau das aber hatten die "Sozialdarwinisten" im Sinn, die eine treffliche wissenschaftliche Rechtfertigung für all das gefunden zu haben glaubten, was ihnen wichtig war: die Herrschaft des Mächtigen über die sozial Schwachen, den alltäglichen Konkurrenzkampf aller gegen alle, die wirtschaftliche Ausbeutung des Arbeiters, den Kolonialismus, ja selbst den Krieg.

Kropotkin bezweifelte die Stichhaltigkeit der These, der Kampf jeder gegen jeden sei ein allgemeingültiges ›Naturgesetz‹. Sie war nicht nur unbewiesen, sie widersprach seinen Beobachtungen in der Natur ebenso wie der menschlichen Sozialgeschichte.

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Schon während seiner sibirischen Forschungsreisen hatte er festgestellt, daß die natürliche Auslese der Arten weniger auf gegenseitigen Kampf als auf widrige Lebensumstände zurückzuführen war, und daß sich alle möglichen Tierarten im Kampf gegen diese äußeren Bedrohungen zu Solidar­gemeinschaften zusammenschlössen. Innerhalb der Gattungen war gegenseitige Hilfe mindestens ebensooft zu finden wie Konkurrenz, und für das Überleben der Gruppe wahrscheinlich von größerer Bedeutung. Seine Beobachtungen fand er in den Untersuchungen zahlreicher Biologen bestätigt. Kropotkin bestritt nicht, daß das Leben Kampf sei, und daß in diesem Kampf die Geeignetsten überlebten. Seine Frage war vielmehr: Wie wird dieser Kampf in der Natur geführt, und wer hätte in ihm die besseren Chancen - der starke Einzelne oder die eher schwächeren Vielen, die sich zusammenschließen?

Soweit war das noch nichts Originelles. Viele Tierforscher, selbst Darwin, hatten vor Kropotkin den sozialen Charakter tierischer Populationen* beobachtet. Neu war aber, daß er diese Beobachtungen zu einer biologischen und anthropologischen* These zusammenfaßte, die Darwins an sich richtige Aussage durch eine ebenso wichtige Tatsache ergänzte.

"Glücklicherweise ist Konkurrenz weder im Tierreich noch in der Menschheit die Regel. Sie beschränkt sich unter Tieren auf Ausnahmezeiten, und die natürliche Auslese findet bessere Gelegenheiten zu ihrer Wirksamkeit. Bessere Zustände werden geschaffen durch die Überwindung der Konkurrenz durch gegenseitige Hilfe. In dem großen Kampf ums Dasein — für die möglichst große Fülle und Intensität des Lebens mit dem geringsten Aufwand an Kraft — sucht die natürliche Auslese fortwährend ausdrücklich die Wege aus, auf denen sich die Konkurrenz möglichst vermeiden läßt."

Erst aus dieser Wechselwirkung zwischen Konkurrenz und gegenseitiger Hilfe, zwischen ›Egoismus‹ und ›Altruismus‹, ergab sich ein realistisches Bild dessen, was sich in der Natur unter Lebewesen abspielte.

Spannend für den Anarchismus waren hierbei natürlich die Rückschlüsse, die daraus für das soziale Lebewesen ›Mensch‹ gezogen werden konnten. Aus der Natur jedenfalls war eine Rechtfertigung der Herrschaft des Menschen über den Menschen als zwingendes Ordnungsprinzip nicht abzuleiten. Allerdings auch keine Notwendigkeit der Herrschaftsfreiheit. Klar war nur, daß Solidarität und gegenseitige Hilfe, die Voraussetzungen für eine libertäre Gesellschaft, offenbar weder unnatürlich noch unvorteilhaft waren. Beide Optionen — Kampf und Solidarität — scheinen auch beim Menschen angelegt, sind aber kulturhistorisch unterschiedlich stark ausgeprägt. In vielen tausend Jahren staatlicher Konkurrenzethik mußten die Tugenden der gegenseitigen Hilfe verkümmern. Mit Fleiß und viel Detailwissen deckt Kropotkin diese verschütteten Tugenden in der Geschichte der Menschheit auf und zeigt, daß sie sich neben der offiziellen hierarchischen Welt bis in die Gegenwart behaupten konnten.

 

Die Grenzen der Wissenschaftlichkeit

Kropotkin hat tatsächlich versucht, eine umfassende Philosophie der Solidarität aus einem Guß zu schaffen und ihr eine solide wissenschaftliche Grundlage zu geben. Darin liegt sein Verdienst, aber gleichzeitig auch eine Schwäche, die allen Theorien eigen ist, die Globalität anstreben und zur Allgemeingültigkeit tendieren.

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Die Aussagekraft sogenannter ›wissenschaftlicher Tatsachen‹ ist immer begrenzt in ihrer Zeit, ihrem Horizont und ihrem unsichtbar vorgegebenen Ziel. Die marxistische Scholastik ist hierfür ein abschreckend krasses Beispiel. Man kann Kropotkin nicht einmal vorhalten, daß er ein Dogmatiker gewesen wäre, denn er läßt bei jeder ›Erkenntnis‹ zugunsten seiner Thesen auch immer die ›Gegenkraft‹ zu. Insofern geht er dialektisch vor. Dennoch wird sein Theoriegebäude für ihn und seine Anhänger in gewisser Weise zu einem Gefängnis. Die Realität wird am Modell gemessen, das Modell schafft a priori ein Denkmuster, das nur schwer zu korrigieren ist. 

So stellt ihm sein Ideal so manche Falle. Recht schwärmerisch erscheint uns heute die Interpretation etlicher Details, die Kropotkin kurzentschlossen zu Kronzeugen seiner Thesen macht. An der fast kindlichen Freude, mit der er die technischen Erfindungen seiner Zeit bejubelte, beeindruckt uns als skeptische Kinder des Technologie­zeitalters noch am ehesten der erfrischende Optimismus, den der würdige Wissenschaftler an den Tag zu legen vermochte. Der alte Herr, so wird berichtet, war ganz aus dem Häuschen, als eine Mrs. Cochrane in Illinois eine Waschmaschine erfand, erhoffte er sich doch von einer flächendeckenden Technisierung die Überwindung unangenehmer Arbeit.

In allem und jedem schien er Vorboten der nahenden Revolution zu erkennen, und arg verklärt nimmt sich im Licht der modernen Geschichtsforschung auch so manches mittelalterliche Beispiel aus, das für gegenseitige Hilfe, Solidarität und Selbstorganisation herhalten mußte. Auch ist die Art, mit der er die Überlegenheit der dezentralen Kleingemeinde verficht und sie zum exemplarischen Modell erhebt, nicht ohne Dogma. Vor allem aber bleibt die Annahme, daß der Mensch zur Solidarität fähig sei, und daß Einsicht hierbei eine entscheidende Rolle spiele, trotz der Fülle von Beispielen wissenschaftlich letztlich nicht beweisbar. Es ist im Grunde eine Glaubensfrage, auf die der kritische Anarchismus unserer Tage sich daher auch nicht mehr verläßt: Anarchistische Strukturen müßten auch mit unvollkommenen Menschen funktionieren, oder sie seien untauglich.

Kropotkin hat zwar nie behauptet, daß der Mensch gut sei, aber dennoch ständig versucht, es zu belegen. Und dabei war er nicht gerade wählerisch.

All das hat ihm gelegentlich den Vorwurf wissenschaftlicher Flachheit eingebracht. Diese Kritik übersieht jedoch, daß uns in Kropotkins Schriften ein rechtes Durcheinander von ernsthafter Forschung und populärer Tagespropaganda begegnet. Vielleicht war es unklug, daß Kropotkin, der in der Agitationsliteratur ein Freund der plausiblen Analogieschlüsse war, nicht stärker auf die Trennung zwischen Journalismus und Wissenschaft geachtet hat. Andererseits aber hat ihn das davor bewahrt, ein steriler Theoretiker zu bleiben, dessen Ergüsse von der Fachwelt anerkannt in der British Library verstaubten. Gerade das aber kann man ihm nicht nachsagen: daß der "anarchist prince" unpopulär gewesen wäre. Allein als Wissenschaftler wäre er heute als interessante Randerscheinung verbucht und in Würde vergessen.

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Seine große Popularität beruhte neben dem Talent, sich einfach ausdrücken zu können, vor allem auf seiner Persönlichkeit. Die scheint so bizarr, als wäre sie für die Medien erfunden: Ein hochwohlgeborener Fürst, der in fast puritanischer Askese lebt, sich als honoriger Wissenschaftler in den Dienst einer nach Pulverdampf riechenden Bewegung stellt, indem er ihr die Güte predigt, die er dann auch noch selbst vorzuleben versteht — das war etwas nach dem Geschmack vieler Menschen: ein milder Anarchist, der einen milden Anarchismus vertrat!

Nach Bakunin, dessen spröder Charme sich nur wenigen erschloß, endlich ein Anarchist zum Knuddeln ... Die Schwärmerei für Kropotkin liest sich bei den Vorwortschreibern der bürgerlichen Memoirenliteratur ebenso heraus wie aus der Wortwahl mancher anarchistischer Zeitgenossen, die ihn tatsächlich als "Apostel der Anarchie" bezeichnet haben. Es fällt noch heute schwer, sich der Ausstrahlung dieses Mannes zu entziehen, die ihn in seiner Zeit so beliebt machte, und es dürfte schwerfallen, ihm die Schuld dafür zu geben, daß man ihn auf einen Sockel stellte, auf dem er sich gar nicht gerne sah.

Letztendlich wichtig bleibt allein die große Frage, die Kropotkin sich und dem Anarchismus stellte, und diese Frage blieb bei aller Wissenschaftlichkeit spekulativ: Könnte es dem Menschen als vernunftbegabtem und aktiv handelndem Wesen gelingen, soziale Zustände zu schaffen, die eine Entfaltung seiner latent vorhandenen solidarischen Fähigkeiten gegenüber dem Konkurrenz­verhalten begünstigen?

 

     Rückkehr in die Heimat   

 

Während sich Kropotkin mit solch zeitlosen Themen beschäftigte, blieb die Zeit um ihn herum nicht stehen. Ein neues Jahrhundert war angebrochen, mit dem sich große Hoffnungen verbanden. Der Anarchismus war inzwischen in vielen Ländern verbreitet und hatte in den sozialen Bewegungen mancher Regionen dauerhaft Fuß fassen können. Die Phase des blinden Aktionismus war auf dem Misthaufen der Geschichte gelandet, und die erste russische Revolution von 1905 hatte unter den Libertären erneut die Diskussion um die Organisation der Industriearbeiter entfacht. Die Zeit war reif für eine konstruktive Strategie, die sich schon 1907 auf dem Amsterdamer Anarchistenkongreß durchsetzte: der Anarchosyndikalismus. 1910 schlossen sich die anarchistischen Arbeitersyndikate Spaniens in dem mächtigen Gewerkschaftsbund CNT zusammen.

1914 brach der Erste Weltkrieg aus. Die Anarchisten verstanden sich als Internationalisten und Antimilitaristen. Sie riefen die Arbeiter aller Nationen zur Kriegsdienstverweigerung, zu Sabotage und Boykott der Rüstungsindustrie auf. Im Gefolge des Krieges hofften sie auf soziale Unruhen, die zum Fall des Kapitalismus und zur endgültigen Abschaffung aller Kriege hätten führen sollen. Kropotkin teilte diese Sichtweise nicht. Im Gegensatz zu früheren Äußerungen und der Meinung fast all seiner Gesinnungsfreunde nahm er für die Länder der Entente* Partei. Er fürchtete, daß ein Sieg des deutschen Militarismus fatale Folgen für die Entwicklung aller sozialistischen Bewegungen hätte. Daß er damit ins Fahrwasser der übelsten Kriegshetzer geriet, schien ihn nicht zu stören. Er blieb bis Kriegsende bei seiner Meinung und überwarf sich mit fast allen seinen Freunden.

Noch während der Krieg tobt, bricht im Februar 1917 in Rußland die Revolution aus.

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Der Zar ist entmachtet, Kropotkin kann nach einundvierzig Jahren Exil in seine Heimat zurückkehren. Ende Mai treffen seine Frau und er in Petrograd ein und werden von sechzigtausend Menschen begeistert empfangen. Selbst der Chef der provisorischen Regierung, Kerenskij, kommt zur Begrüßung, während die antimilitaristischen Anarchisten sich demonstrativ fernhalten.

Die Pläne des heimgekehrten Revolutionärs zielten darauf ab, den politischen Umsturz in eine soziale Revolution zu verwandeln. Zu diesem Zweck versuchte er, die unentschlossenen neuen Machthaber zu bewegen, Rußland unverzüglich zu einer föderalen Republik mit starker lokaler Autonomie zu erklären. Alles was dabei herauskam war, daß Kerenskij ihm einen Posten als Minister anbot, was der alte Anarchist empört ablehnte.

Mit der Oktoberrevolution übernehmen die Bolschewiki die Macht, schlagartig ändert sich die Situation. Zunächst scheint es so, daß Lenins Partei einen sozialrevolutionären Kurs einschlägt und eine Art Rätedemokratie zulassen würde. Schon bald aber wird hinter der taktischen Losung "Alle Macht den Räten" die Absicht klar: die Diktatur der Partei über das Volk. Eine neue Hierarchie von selbstherrlichen Apparatschiks*, brutalen Revolutionskadern und tumben Parteifunktionären erstickt jede Eigeninitiative der Menschen schon im Ansatz. Selbst die Arbeiter, zu deren Befreiung die "Partei des Proletariats" angetreten war, haben nichts zu melden. Sobald sie von der "Parteilinie" abweichen, werden auch sie zum Opfer einer rücksichtslosen Repression.

Kropotkin ist einer der ersten, der diese Entwicklung erkennt. In seiner altersbedingten Abgeklärtheit läßt er sich nicht von revolutionärem Pathos und kämpferischen Phrasen blenden. 1918 versucht er, mit der Föderalistischen Liga, einem Kreis namhafter Wissenschaftler, die seine Auffassung von Dezentralisierung und Föderalismus teilen, Einfluß auf das Geschehen zu nehmen. Aber es ist bereits zu spät. Die Regierung verweigert nicht nur die Kenntnisnahme des ersten Bandes der Memoranden*, die die Liga erarbeitet hat, sondern verbietet sogar ihren Druck. Die befürchtete Parteidiktatur ist bereits da. 

Alle Linken außer den Bolschewiki werden verfolgt, die Anarchisten gehören zu den ersten Opfern. Mehrmals wird Kropotkins Wohnung von der politischen Polizei durchsucht. Ihm wird klar, daß sich der neue Staat mit Riesenschritten auf einen verhängnisvollen Zentralismus zubewegt und daß sich seine Hoffnungen auf eine Gesellschaft frei föderierter Gemeinden mit einem blühenden Genossenschaftswesen nicht erfüllen werden.

Im Sommer 1918 zieht Kropotkin mit seiner Familie voller Resignation in das abgelegene Dorf Dimitrov, sechzig Werst von Moskau entfernt. "Ich muß euch offen gestehen", schreibt er später in seiner Botschaft "An die Arbeiter der westlichen Welt", "daß meiner Meinung nach der Versuch, eine kommunistische Republik gemäß den Richtlinien eines streng zentralisierten Staatskommunismus unter der eisernen Herrschaft der Diktatur einer Partei aufzubauen, dabei ist, in einem Fiasko zu enden. Aus den russischen Verhältnissen lernen wir, wie der Kommunismus nicht eingeführt werden sollte." Zu diesem bitteren Urteil hatte nicht zuletzt eine Unterredung beigetragen, die er 1919 in Moskau mit Lenin hatte. Es gab keine Möglichkeit, die unterschiedlichen Standpunkte dieser beiden Männer in Einklang zu bringen.

In Dimitrov lebten die Kropotkins unter denselben bedrückenden Verhältnissen, wie sie in ganz Rußland zu spüren waren. Schlimmer noch als an den materiellen Entbehrungen litt der alte Rebell an der geistigen Isolation: Die Post wurde zensiert, ausländische Zeitungen erreichten ihn nicht mehr und die nationale Presse war verstaatlicht. Die Lektüre der Pravda, dem Propaganda­blatt der Bolschewiki, war für jeden kritischen Geist eine Zumutung.

Die letzten zwei Jahre widmete sich Kropotkin der Niederschrift seiner "Ethik", die eine Synthese seines gesamten Gedanken­gebäudes werden sollte und zu der er 1890 bereits die Vorstudie "Anarchistische Moral* veröffentlicht hatte. Er brachte jedoch nur noch den ersten Band über "Ursprung und Entwicklung der Sitten" zu Papier. In ihr stellt er Sittlichkeit als ein komplexes System von Instinkt, Gefühl und Erkenntnis dar, dessen Erreichen auf einem natürlichen Verhalten basieren müsse und nicht auf Zwang. Ein solidarisches Verhalten aus Angst vor Strafe sei reine Heuchelei:

"Das Ziel der Moral darf nicht etwas ›Transzendentales‹, d.h. Übernatürliches sein, wie es einige Idealisten haben möchten: es muß real sein. Die sittliche Befriedigung müssen wir im Leben, nicht aber in irgendeinem Zustand außerhalb des Lebens finden."

Am 8. Februar 1921 stirbt der große alte Mann des Anarchismus. Die kommunistische Partei begeht die Geschmacklosigkeit, ein Staatsbegräbnis anzubieten, was seine Freunde und Verwandten indigniert* ablehnen. Als er am 13. Februar zu Grabe getragen wird, folgen Tausende von Anarchisten schweigend seinem Sarg. Einige von ihnen sind für einen Tag aus dem Gefängnis freigekommen und werden selbst schon bald nicht mehr am Leben sein. Vom Gewerkschaftshaus, wo der Tote unter großer Anteilnahme der Bevölkerung aufgebahrt worden war, geht der Trauerzug durch die Straßen Moskaus und schwillt auf fast 100.000 Menschen an.

Es war die letzte große anarchistische Demonstration in Rußland, das letzte Mal, daß anarchistische Transparente in Moskau gezeigt wurden – bis siebzig Jahre später das Imperium der Bolschewiki zusammenbrechen sollte.

Es war in jeder Hinsicht ein Trauermarsch. Peter Alexandrowitsch Kropotkin wurde zu Grabe getragen und mit ihm eine Hoffnung, für die sein Name stand.

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Literatur:

Peter Kropotkin:

 

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