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Teil 1   Definition und Methodik

 

 

1.  Theoretische Einführung  

 

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Seit die Ich-Psychologie ein Gegenstand der psychoanalytischen Forschung wurde, trat das Objekt der Libido in den Mittelpunkt des Interesses. Freud hatte schon in seinen <Drei Abhandlungen zur Sexual­theorie> (1905) den Begriff der Objektwahl eingeführt. Aber dies ist wahrscheinlich auch der einzige Ort, an dem er eingehend über die Wechselbeziehungen zwischen Mutter und Kind, zwischen Subjekt und Objekt, spricht.  

In späteren Werken kommt er nur noch selten auf dieses Thema zurück (siehe jedoch: Freud, 1931). Zwar behandelt er mehrfach das Objekt der Libido, jedoch vor allem vom Standpunkt des Subjekts her gesehen. Er spricht von Objektbesetzung, von Objektwahl, von Objektfindung und nur ausnahmsweise von Objektbeziehungen.

Im weiteren Verlauf werden wir diese wechselseitigen Beziehungen untersuchen und uns um die Erfassung dessen bemühen, was zwischen Mutter und Kind vor sich geht. Bei der Darstellung unserer Unter­suchungs­ergebnisse und Gedanken über die Objekt­beziehungen — ihre Anfänge, ihre Entwicklung, ihre Stadien und gewisse Anomalien — werden wir von unseren direkten Beobachtungen und von Experimenten ausgehen, die an Säuglingen durchgeführt wurden. Ebenso werden wir versuchen, Klarheit darüber zu schaffen, wie diese Beziehungen der Selbsterhaltung dienen und wie sie zur Entfaltung der seelischen und körperlichen Bereiche der Persönlichkeit beitragen.

Von außen her gesehen, steht der größte Teil des ersten Lebensjahres im Zeichen der Selbsterhaltung, des Am-Leben-Bleibens und der Bildung und Ausformung jener Anpassungsmittel, die diesem Ziel dienen. Freud erinnert uns immer wieder daran, daß der Säugling in diesem Lebensabschnitt hilflos ist und unfähig, aus eigener Kraft weiterzuleben. Das aber, was dem Säugling fehlt, bekommt er im Ausgleich von der Mutter. Die Mutter verschafft ihm alles, was er braucht. Das Ergebnis ist eine Komplementär­beziehung, eine Dyade. 

In dem Maße, wie die eigenen Möglichkeiten des Säuglings während des ersten Lebensjahres entwickelt werden, wird er unabhängig von seiner Umwelt. Dieser Prozeß spielt sich offensichtlich sowohl im somalischen als auch im psychischen Bereich jedes einzelnen Säuglings ab. Wir werden uns in dieser Untersuchung vor allem mit dem letzteren beschäftigen. Wir werden zeigen, daß Reifung und Entwicklung im psychischen Bereich wesentlich von der Herstellung und fortschreitenden Entfaltung immer bedeutungs­erfüllterer Objekt­beziehungen, das heißt sozialer Beziehungen, abhängig sind.

Der Anordnung meiner Untersuchungen und der Deutung ihrer Ergebnisse habe ich eine Reihe psycho­analytischer Begriffe und Thesen zugrunde gelegt. Bevor ich im einzelnen über diese Voraussetzungen spreche, möchte ich erklären, wie ich zu einigen umstrittenen Hypothesen über die psychische Ausstattung des Neugeborenen stehe, die bei gewissen Psychologen und Psychoanalytikern im Umlauf sind. 

Meinem Denken liegt die Auffassung Freuds zugrunde, der das Neugeborene als einen im psychologischen Sinn undifferenzierten Organismus ansieht, der mit einer angeborenen Ausstattung und gewissen Anlagen zur Welt kommt. Dieser Organismus hat noch kein Bewußtsein, keine Wahrnehmung (perception), keine Empfindung1) (Sensation) und keine psychischen Funktionen, seien sie bewußt oder unbewußt. Diese Ansicht wird von den meisten Wissenschaftlern geteilt, die sich mit Hilfe von Beobachtung und Experiment mit Neugeborenen beschäftigt haben.

1)  Ich benütze den Begriff "'Wahrnehmung" (perception) [ebenso "Empfindung" (Sensation)], wie ich ihn in meinem Artikel "Diacritic and Coenesthetic Organizations" (1945 b) definiert habe. In diesem Sinn werden diese Ausdrücke auch im großen und ganzen in der Psychologie gebraucht. Hier wird "Wahrnehmung" als ein "Gewahrsein" (awareness) und "Empfindung" als ein Element des Bewußtseins (element of consciousness, siehe Warren, 1935; English and English, 1958).

  Ich folge Freuds Meinung, daß es zum Zeitpunkt der Geburt kein Bewußtsein gibt; demnach kann es auch kein "Gewahrsein" und keine bewußte Erfahrung geben. Ich bin nicht geneigt, Reaktionen auf Reize an sich schon als "Elemente des Bewußtseins" anzusehen. Da von Geburt an (und schon vorher) Reize beim Säugling Reaktionen hervorrufen, geht in ihm etwas vor sich, das auf äußere Reize mit Reaktionen antwortet. Aber dieser Vorgang ist nicht psychischer Natur; ich sehe daher diese Prozesse als rezeptive Vorgänge (reception) an, wenigstens so lange, bis sich im Lauf der ersten Wochen nach der Geburt ein rudimentäres Bewußtsein entwickelt hat.

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Deshalb habe ich mich hier jeder Hypothese enthalten, die beim Säugling zum Zeitpunkt der Geburt das Wirken intrapsychischer Prozesse postulieren würde. Im Grunde betrachte ich das Neugeborene in vieler Hinsicht als eine undifferenzierte Ganzheit. Nach und nach differenzieren sich aus dieser Ganzheit verschiedene Funktionen, Strukturen, ja, sogar die Triebe heraus. Diese Differenzierung beginnt infolge zweier deutlich unterschiedener Prozesse. Mit Hartmann, Kris und Loewen-Stein (1946) bezeichnen wir einen dieser Prozesse als Reifung, den anderen als Entwicklung, und definieren sie folgendermaßen:

Reifung: Die Entfaltung phylogenetisch entstandener und daher angeborener Verhaltensweisen und Funktionen der Art, die entweder im Verlauf der Embryonalentwicklung in Erscheinung treten oder bis nach der Geburt als Anlage weiterbestehen und erst in späteren Lebensphasen manifest werden.

Entwicklung: Die Entstehung von Funktions- und Verhaltensformen, die das Resultat eines Austauschs zwischen dem Organismus einerseits und der inneren und äußeren Umwelt andererseits sind. Dies wird oft als "Wachstum" bezeichnet; wir werden diesen Ausdruck nicht verwenden, weil er zu Mißverständnissen Anlaß geben kann.

 

Aus unserem Satz über die Undifferenziertheit des Neugeborenen folgt ebenfalls, daß bei der Geburt noch kein Ich existiert, wenigstens nicht im gebräuchlichen Sinn des Wortes. In "Das Ich und das Es" (Freud, 1923) weist Freud ausdrücklich auf diesen Sachverhalt hin. Natürlich kann man noch weniger vom Bestehen eines Ödipuskomplexes oder eines Über-Ichs zum Zeitpunkt der Geburt sprechen. Ebenso gibt es noch keinen Symbolismus und kein Symboldenken, und (psychoanalytische) Symboldeutungen sind noch nicht möglich. Symbole sind mehr oder weniger vom Erwerb der Sprache abhängig. Die Sprache ist jedoch während des ganzen ersten Lebensjahres noch nicht vorhanden. 

Auch die Abwehrmechanismen gibt es noch nicht, zumindest nicht in der Form, wie sie in der psycho­analyt­ischen Literatur beschrieben werden. Wir können nur ihre Vorstufen in einer mehr physiologischen als psychologischen Form angedeutet finden. Solche physiologischen Vorstufen dienen gewissermaßen als ein Fundament, auf dem die Psyche später ein Gebäude ganz anderer Art errichtet (Freud, 1926a; Spitz, 1958, 1959, 1961).

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Psychoanalytische Grundannahmen 

Bei der folgenden Aufzählung der Begriffe, Prinzipien und Theorien erheben wir nicht den Anspruch, ein vollständiges oder auch nur zusammenhängendes System dargestellt zu haben. Ich habe sie deshalb gewählt und definiert, weil sie in diesem Buche verwendet werden. Wo die in der psychoanalytischen Literatur gebräuchlichen Definitionen mehrdeutig sind, habe ich Freud zitiert (in manchen Fällen auch andere psychoanalytisch orientierte Autoren), um den Sinn zu verdeutlichen, in dem ich diese Begriffe verwende. Die Zitate sind dem Originaltext entnommen; bei manchen Sätzen sind um der Kürze willen Satzteile weggelassen worden. Wo die [englische] Standard Edition auf dem irreführenden Gebrauch des Ausdrucks instinct1 besteht, habe ich in Klammern den Ausdruck drives (Trieb) hinzugefügt.

1. Die grundlegenden Steuerungsprinzipien der psychischen Funktionen, aufgestellt von Freud: (a) das Nirwana-Prinzip (Konstanzprinzip), (b) das Lustprinzip (eine Modifikation des vorigen), (c) das Realitätsprinzip.

 

2)  In der gesamten Standard Edition benützt der Herausgeber das anglisierte lateinische Wort instinct, wo Freud im Original das deutsche Wort "Trieb" verwendet hat. Der Herausgeber weist darauf hin {Standard Edition, Bd. 14, S. 111 ff.), daß die Gründe für diese Wortwahl in der "Allgemeinen Einführung" zum demnächst erscheinenden Band Nr. l der Standard Edition auseinandergesetzt werden sollen. Bis wir Gelegenheit haben werden, seine Gründe zu prüfen, werden wir weiterhin den englischen Ausdruck instinctual drive statt des lateinischen instinct benutzen, und zwar aus folgenden Gründen:
    (1) Freud verwendet in seinen Schriften in erster Linie das Wort "Trieb", selten das Wort "Instinkt". 
    (2) Ein weit verbreiteter Gebrauch des Wortes instinct in der Biologie, in einer von der psychoanalytischen Definition abweichenden Bedeutung, ist in der Wissenschaft allgemein akzeptiert. 
   (3) Eia ebenso allgemeiner Gebrauch des Wortes instinct in einer wiederum anderen Bedeutung, die sich grundsätzlich von der psychoanalytischen Definition unterscheidet, ja, praktisch das Gegenteil besagt, ist in der Ethologie allgemein üblich. 
   (4) Infolgedessen, wie auch Waelder (1960) betont hat, "ist das Verstehen der Psychoanalyse in englischsprechenden Ländern durch das Fehlen eines Wortes in der englischen Sprache, das dem deutschen ,Trieb' entspricht, schon immer ernstlich gefährdet worden; das englische Wort instinct, das in den meisten Übersetzungen erscheint, deutet auf Inhalte hin, die der Idee vom ,Trieb' völlig fremd sind".

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2. Die beschreibende Unterteilung des Psychischen in Bewußtes und Unbewußtes als Anschauungsmodell (Freud, 1912).

3. Der topische Gesichtspunkt, das heißt die systematische Unterteilung des psychischen Apparates in die Systeme Ubw., Vbw., Bw. (Unbewußtes, Vorbewußtes, Bewußtes) (Freud, 1915 a).

4. Der dynamische Gesichtspunkt besagt, daß seelische Prozesse im wesentlichen aus dem Wechselspiel von Kräften hervorgehen, die »ursprünglich alle von der Natur der Triebe sind, also organischer Herkunft. Sie finden ... in affektiv besetzten Vorstellungen ihre psychische Vertretung ... Die Analyse der Beobachtung führt zur Aufstellung zweier Triebgruppen" (Freud, 1926 c). In unserer Darstellung soll von zwei Trieben die Rede sein, von Libido und Aggression, und zwar in der Bedeutung, die Freud den Begriffen in seinen späteren Veröffentlichungen verlieben hat (1920, 1923).

5. Der ökonomische Gesichtspunkt: "(strebt) die Schicksale der Erregungsgrößen zu verfolgen und eine wenigstens relative Schätzung derselben zu gewinnen" (Freud, 1915 a). "Die ökonomische Betrachtung nimmt an, daß die psychischen Vertretungen der Triebe mit bestimmten Quantitäten Energie besetzt sind (Cathexis)" (Freud, 1926c). Diese Besetzungen sind verschiebbare Energiemengen.

6. Der metapsychologische Gesichtspunkt wird aus folgender Äußerung Freuds deutlich: "Ich schlage vor, daß es eine metapsychologische Darstellung genannt werden soll, wenn es uns gelingt, einen psychischen Vorgang nach seinen dynamischen, topischen und ökonomischen Beziehungen zu beschreiben" (1915 a). Freud faßt eine solche Darstellung als eine dreidimensionale Sicht eines psychischen Phänomens auf. Er sagt dies an anderer Stelle (1925 b) ausdrücklich, wenn er von den drei Aspekten als den drei Koordinaten des seelischen Prozesses spricht.

7. Der strukturelle Gesichtspunkt: Dieser metapsychologischen Triade fügt Freud über den strukturellen Gesichtspunkt hinzu "auf Grund analytischer Verwertung pathologischer Tatsachen" (1925 b). Der strukturelle Gesichtspunkt besagt, daß der psychische Apparat in Ich, Es und Über-lch unterteilt ist.

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8. Der genetische Gesichtspunkt: Schon in seinen ersten Veröffentlichungen hat Freud postuliert, die psychischen Prozesse seien den Gesetzen des Determinismus unterworfen. Bis zu seinem Tod betrachtete er dieses Postulat als ein wesentliches Element der psychoanalytischen Theorie und erwähnte es in der Schrift "Kurzer Abriß der Psychoanalyse" (1924 b) ausdrücklich als solches. Der genetische Gesichtspunkt besagt, daß jedes psychische Phänomen (über seine gegenwärtigen und erfahrungsmäßigen Aspekte hinaus) über seine Ontogenese bis zu seinem psychischen Ursprung zurückverfolgt werden kann. In bezug auf die Wechselfälle der Entwicklung führt uns dieser Gesichtspunkt zurück bis zur Geburt. In bezug auf die Faktoren der Reifung und die angeborenen Faktoren führt er uns durch die Ontogenese zurück bis in die Bereiche der Embryologie und der Phylogenese.

9. Theorie der Libido und erogene Zonen: Die Anwendung der genetischen Betrachtungsweise auf die Sexualentwicklung führte zur Entdeckung der entscheidenden Rolle der erogenen Zonen. "Befriedigung (wird) durch die adäquate Reizung der ... erogenen Zone hervorgerufen" (Freud, 1905 b). Im Lauf der Reifung werden die orale, die anale und die genitale Zone aktiviert; sie kennzeichnen die aufeinander folgenden Stufen der Libido-Entwicklung.

 

(a) An dieser Stelle scheint eine Definition der Triebe angezeigt. Das ist jedoch keine leichte Aufgabe. Noch 1924 bemerkte Freud: "die Libidotheorie der Psychoanalyse ist noch keineswegs abgeschlossen ... und ihr Verhältnis zu einer allgemeinen Trieblehre ist noch nicht geklärt, die Psychoanalyse ist eben eine junge, durchweg unfertige, in rascher Entwicklung begriffene Wissenschaft ..." (1924 b). Und er fährt fort, indem er Libido folgendermaßen definiert: "Libido bedeu-"tet in der Psychoanalyse zunächst die (als quantitativ veränderlich und meßbar gedachte) Kraft der auf das Objekt gerichteten Sexualtriebe (in dem durch die analytische Theorie erweiterten Sinn)."

(b) Freud betrachtete die Aggression als den zweiten in der Psyche wirksamen Grundtrieb. Er ist weniger qualitativ bestimmt als die Libido und zeigt vor allem einen Druck an, wie auch eine Richtung in bezug auf das Objekt. Die Aggression dient dazu, sich dem Objekt zu nähern, es zu halten, es zu überwältigen oder es zu zerstören — das kann sich auch auf Dinge ausdehnen. Sie wird ausgedrückt oder nach außen getragen "durch Vermittlung eines besonderen Organs. Dies Organ wäre die Muskulatur ..." (Freud, 1923).

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(c) Eriksons Theorie (1950 a) von den zonalen Eigenheiten (zonal modes) erweitert diese Theorie Freuds. Die Eigenart jeder Zone, ihre aufnehmende oder ausstoßende Funktion, gehört zu den Determinanten der spezifischen Qualität des jeweiligen Partialtriebes und der jeweiligen Stufe der Libido-Entwicklung. Diese Qualität wird dann auf andere Zonen, Organe und anderes Verhalten ausgeweitet und übernimmt eine adaptive Funktion. Ich habe auf die spezifische sensorische Qualität der willkürlichen und unwillkürlichen Sphinkter-Muskulatur hingewiesen sowie auf ihre Rolle in der Ökonomie und Dynamik der Triebe als Komponente von großer Bedeutung in jeder erogenen Zone, wie sie nur an wenigen anderen Stellen des menschlichen Körpers zu finden ist (Spitz, 1953 a). '

 

10. Die Ergänzungsreihen: Dies ist eine Hypothese, die Freud zuerst in den "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" (1905 b) entworfen und dann in der Definition der Ätiologie der Neurosen (1916-17) angewandt hat. Sie besagt, daß ein (psychischer) Erfahrungsfaktor mit einem angeborenen Faktor zusammenwirkt und so die Störung hervorruft. Meiner Ansicht nach läßt sich diese Hypothese auf alle Phänomene der Human- (und Tier-) Psychologie anwenden, denn alle psychischen Phänomene sind zweifellos das Ergebnis der wechselseitigen Beeinflussung und der Interaktion von angeborenen Faktoren mit Ereignissen aus dem Bereich des Erlebens.

11. Der Gesichtspunkt der Anpassung: Dieser Gedanke ist vor relativ kurzer Zeit von Hartmann (1939), Erikson (1950 a) und Spitz (1957) untersucht und ausgearbeitet worden. Ohne sich dieses spezifischen Ausdrucks zu bedienen, hat Freud seine diesbezügliche Konzeption in "Triebe und Triebschicksale" (1915 b) formuliert. Die beste Definition geben Rapaport und Gill (1959): "Der Gesichtspunkt der Anpassung macht es notwendig, daß die psychoanalytische Erklärung jedes psychischen Phänomens Aussagen über seinen Zusammenhang mit der Umwelt einbezieht."3) 

 

Ich möchte darauf hinweisen, daß ich Rapaport und Gill (1959) für gewisse Formulierungen zu Dank verpflichtet bin, die in diesem Kapitel enthalten sind, besonders für ihre Betonung der verschiedenen Gesichtspunkte in der Psychoanalyse. Ihre endgültigen Aussagen (siehe auch: Gill, 1963) wurden erst nach der Fertigstellung dieses Manuskripts veröffentlicht und konnten deshalb nicht im einzelnen berücksichtigt werden.

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Es ist hier nicht der Ort, die Annahmen im einzelnen zu diskutieren, die dem Gesichtspunkt der Anpassung zugrundeliegen. Ich werde später diejenigen Annahmen besprechen, die auf die alloplastischen und autoplastischen Prozesse (Freud, 1924 a), auf Eriksons (1950 a) und auf meine eigenen Theorien (Spitz, 1957) über die Rolle und die Funktion der Affekte in der dyadischen Beziehung anzuwenden sind.

 

Angeborene Faktoren

 

Jeder von uns wird als einzigartiges Individuum geboren. Jeder von uns ist verschieden von jedem anderen Individuum, zunächst durch das, was man bei einem jeden als von Geburt an vorhanden beobachten kann; weiterhin kraft der Möglichkeiten, die als Anlagen in der Keimzelle festgelegt sind. Dasjenige, mit dem das neugeborene Kind ausgestattet ist, und wodurch es einzigartig wird, möchte ich als kongenitale Ausrüstung bezeichnen. Es setzt sich aus drei Teilen zusammen:

  1. Ererbte Ausstattung, bestimmt durch Gene, Chromosome, DNS (= Desoxyribonukleinsäure), RNS (= Ribonukleinsäure) usw.

  2. Intrauterine Einflüsse während der Schwangerschaft.

  3. Einflüsse, die während des Geburtsvorgangs wirksam werden. 

Wir wollen für jede dieser drei Komponenten ein einfaches Beispiel nennen. Die ererbte Ausstattung setzt sich aus so selbstverständlichen Elementen zusammen wie etwa der Tatsache, daß wir mit zwei Beinen, zwei Augen, aber nur einem Mund geboren werden. Zugleich gehören auch weniger augenscheinliche Elemente zur Erbausstattung, wie z. B. die Gesetze und die (aufeinanderfolgenden) Sequenzen und Stufen der Reifung. Diese bedeuten nicht nur die fortschreitende Entfaltung von Organen und Funktionen, sondern auch die irreversible Abfolge von Stufen, die die Organe und Funktionen durchlaufen müssen. Das gilt gleichermaßen für die physiologische wie für die psychische Reifung; denn ebenso, wie den bleibenden Zähnen die Milchzähne vorausgehen, geht die orale Phase der analen voran, und diese wiederum der phallischen Phase.

Als Beispiel für die intrauterinen Einflüsse möge hier die relativ neue Entdeckung gelten, daß eine Röteln-Infektion (rubella), die eine schwangere Frau durchmacht, eine schädigende Wirkung auf die Sehorgane des Fötus ausüben kann (Swan, 1949).

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Schließlich, was die möglichen Einflüsse während des Geburtsvorgangs betrifft, sind uns natürlich die schwerwiegenden Körperverletzungen bekannt, die das Kind während der Geburt erleiden kann. Andere, weniger auffällige Schäden sind uns durch eine Reihe von Untersuchungen bekanntgeworden, z. B. durch die von Windle (1950), der den destruktiven Einfluß der zerebralen Anoxämie während des Geburtsvorgangs nachgewiesen hat, oder die Untersuchungen von Brazelton (1962), der die Wirkung einer Prämedikation bei der Mutter auf das Verhalten des Kindes untersucht hat.

 

Reichweite und Komplexität der Umweltfaktoren  

 

Der Gegenstand unserer Untersuchung ist die Entstehung der ersten Objektbeziehungen, das heißt der Beziehungen zwischen Mutter und Kind. Man könnte diese Arbeit auch als eine Untersuchung sozialer Beziehungen bezeichnen, wenn die hier in Frage stehende Beziehung nicht grundsätzlich verschieden von all denen wäre, mit denen sich die Sozialpsychologie gewöhnlich befaßt. Es ist allerdings erstaunlich, daß die Soziologen nicht bemerkt haben, daß sie in der Mutter-Kind-Beziehung eine Möglichkeit hatten, den Beginn und die Entwicklung sozialer Beziehungen gleichsam in statu nascendi zu beobachten.

Es gehört zu den Besonderheiten dieser Beziehung, daß sich direkt vor unseren Augen ein Zustand sozialer Unbezogenheit, eine rein biologische Verbindung, Schritt für Schritt in das verwandelt, was schließlich zur ersten sozialen Beziehung des Individuums wird. Wir werden hier Zeugen eines Übergangs vom Physiologischen zum Psychologischen und Sozialen. Im biologischen Zustand (in utero) sind die Beziehungen des Fötus rein parasitärer Natur. Aber im Lauf des ersten Lebensjahres durchläuft der Säugling ein Stadium der psychischen Symbiose mit der Mutter, aus dem er zum nächsten Stadium fortschreitet, in dem sich soziale, das heißt hierarchische Wechselbeziehungen entwickeln.

Ein ebenso eigenartiger und vielleicht einzigartiger Aspekt der Mutter-Kind-Beziehung liegt darin, daß sich die psychische Struktur der Mutter von der ihres Kindes grundlegend unterscheidet. Die Beziehung zwischen zwei so auffallend ungleichen Partnern muß asymmetrisch sein, demgemäß ist auch der Beitrag ungleich, den jeder von ihnen zu der wechselseitigen Beziehung leistet.

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Abgesehen z.B. von der vergleichbaren Beziehung zwischen einem Menschen und einem domestizierten Tier (z.B. einem Haustier, das man zum Vergnügen hält), kommt ein so hoher Grad von Verschiedenheit bei zwei so eng miteinander verbundenen und voneinander abhängigen Wesen in unserer Gesellschafts­ordnung sonst nicht vor. Ich glaube, Georg Simmel (1908) war der erste Soziologe, der auf die Möglichkeiten einer soziologischen Untersuchung der Mutter-Kind-Gruppe aufmerksam gemacht hat. Er nannte diese Gruppe eine "Dyade". Er betonte, in dieser Beziehung könne man den Keim zu allen späteren Entwicklungen von Sozialbeziehungen höherer Ordnung sehen. Unabhängig von Simmel hatte Freud schon dreizehn Jahre vorher (1895) Forschungen in dieser Richtung angeregt.

In unserer Untersuchung der Objektbeziehungen und ihrer Entstehung habe ich scharf unterschieden zwischen den Methoden der klinischen Untersuchung, die bei Säuglingen, und denen, die bei Erwachsenen anzuwenden sind. Es gibt zweierlei Gründe für diese Unterschiede; einerseits strukturelle, andererseits solche der Umwelt. Es ist leicht zu erkennen, daß die rudimentäre Persönlichkeitsstruktur des Kindes von der reifen seiner Mutter grundsätzlich verschieden ist. Im allgemeinen erkennen wir aber nicht ebenso selbstverständlich, daß auch seine Umwelt ganz anders ist als die des Erwachsenen.

Beginnen wir mit der Persönlichkeitsstruktur: Die Persönlichkeit des Erwachsenen ist eine klar definierte, hierarchisch aufgebaute Organisation; sie manifestiert sich in spezifischen individuellen Verhaltenswelsen, spezifischen Arten der Initiative, die mit der Umwelt in eine Reihe zirkulärer Interaktionen eintreten. Vom Neugeborenen gilt das Gegenteil. Zum Zeitpunkt der Geburt besitzt das Kind, obwohl individuelle Unterschiede deutlich nachweisbar sind, noch keine organisierte Persönlichkeit, die der des Erwachsenen vergleichbar wäre. Es entwickelt keine persönliche Initiative und tritt noch nicht in Wechselbeziehungen mit der Umwelt, außer in physiologischer Hinsicht. Das heißt, wir haben es hier mit einem Organismus ganz anderer Art zu tun, dem infantilen Organismus, von dem wir später im einzelnen sprechen werden.

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Der zweite Unterschied zwischen dem Säugling und dem Erwachsenen, die Verschiedenheit ihrer Umwelten, ist vielleicht noch eindrucksvoller, wenn wir ihn objektiv betrachten. Die Umwelt des Erwachsenen setzt sich aus zahlreichen und höchst verschiedenen Faktoren zusammen, aus einer Vielheit von Einzelwesen, von Gruppen und von leblosen Dingen. Diese und viele andere Faktoren bilden in ihrer Vielfalt, in ihrer wechselnden dynamischen Konstellation, ihrer veränderlichen Wertigkeit, Dauer, Gewichtigkeit, Bedeutung usw. bewegliche Kraftfelder, die auf die organisierte Persönlichkeit des Erwachsenen wirken und sie beeinflussen, während sie mit ihr in Interaktion treten.

Für das Neugeborene besieht die Umwelt gleichsam aus einem einzigen Individuum, der Mutter oder der Ersatzmutter. Sogar dieses einzige Individuum wird von dem Neugeborenen nicht als eine von ihm selbst gesonderte Einheit wahrgenommen. Es ist ganz einfach ein Teil in der Ganzheit seiner Bedürfnisse und ihrer Befriedigung. Offensichtlich ändert sich diese Situation im Lauf des ersten Lebensjahres. Trotzdem bildet der normal aufgezogene Säugling während dieses ganzen Lebensabschnitts mit seiner unmittelbaren Umwelt sozusagen ein "geschlossenes System", das nur aus zwei Komponenten besteht, nämlich aus Mutter und Kind. Eine psychiatrische Untersuchung des Säuglingsalters muß daher die dynamischen Abläufe und das Gefüge dieses geschlossenen Systems erforschen.

Ich möchte schon hier betonen — und werde später darauf zurückkommen —, daß die Welt des Säuglings nichtsdestoweniger in den gesamten Wirklichkeitsbezug eingebettet ist. Sie ist verknüpft mit den wechselseitig aufeinander bezogenen Rollen und Beziehungen der Familienmitglieder oder, falls das Kind in einem Heim aufwächst, der Personen seiner Heimumgebung. Diese Welt und ihre Kräfte werden dem Kind jedoch durch jene Einzelperson vermittelt, die seine Bedürfnisse befriedigt, das heißt durch die Mutter oder die Ersatzmutter. Deshalb werden wir im folgenden einerseits die Persönlichkeit der Mutter, andererseits die Persönlichkeit des Säuglings, ihre Interaktionen und ihre wechselseitige Beeinflussung in allen Einzelheiten untersuchen. 

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Das Objekt der Libido

Da dieses Buch der Entstehung von Objektbeziehungen gewidmet ist, müssen ein paar Worte über den psycho­analytischen Begriff des Objekts der Libido gesagt werden. In seiner Untersuchung der "Triebe und Triebschicksale'' hat Freud (1915b) das Objekt der Libido folgendermaßen definiert:

Das Objekt des Triebes ist dasjenige, von welchem oder durch welches der Trieb sein Ziel erreichen kann. Es ist das Variabelste am Triebe, nicht ursprünglich mit ihm verknüpft, sondern ihm nur infolge seiner Eignung zur Ermöglichung seiner Befriedigung zugeordnet. Es ist nicht notwendig ein fremder Gegenstand, sondern ebensowohl ein Teil des eigenen Körpers. Es kann im Laufe der Lebensschicksale des Triebes beliebig oft gewechselt werden; dieser Verschiebung des Triebes fallen die bedeutsamsten Rollen zu. Es kann der Fall vorkommen, daß dasselbe Objekt gleichzeitig mehreren Trieben zur Befriedigung dient ...

Gemäß dieser Definition kann das Objekt der Libido im Lauf des Lebens wechseln — genauer gesagt: es muß zwangsläufig wechseln, und zwar häufig. Diese Veränderungen sind begründet durch die fortschreitende Reifung und Differenzierung der Triebe, durch das dynamische Wechselspiel zwischen den einzelnen Trieben, durch die Struktur der Partialtriebe und durch andere Faktoren, von denen einige, wie die Abwehrmechanismen des Ichs, schon erforscht, andere bis Jetzt jedoch kaum im einzelnen untersucht worden sind.

Der Umstand, daß das Objekt häufig (und manchmal sehr rasch) wechselt, unterscheidet es grundsätzlich von dem Objektbegriff in der akademischen Psychologie. Das "Objekt" der akademischen Psychologie, das wir ein "Ding" nennen wollen, bleibt konstant, identisch mit sich selbst, und kann durch ein raumzeitliches Koordinatensystem beschrieben werden.

Das Objekt der Libido ist ein Begriff ganz anderer Art. Es kann nicht durch räumliche und zeitliche Koordinaten bestimmt werden, denn es bleibt nicht konstant oder mit sich selbst identisch. Das gilt allerdings nicht während jener Perioden, in denen keine größere Neuverteilung jener Triebmengen erfolgt, mit denen das Objekt der Libido besetzt ist. Deshalb wird das Objekt der Libido vorwiegend in dem Begriffssystem seiner Genese beschrieben, daß heißt seiner Geschichte. 

In bezug auf das Objekt der Libido spielen die raumzeitlichen Koordinaten, die das Objekt der akademischen Psychologie bestimmen, nur eine untergeordnete Rolle. Stattdessen wird das Objekt der Libido durch die Struktur der Triebe und Partialtriebe sowie durch die Triebschicksale charakterisiert, die auf es gerichtet sind, und kann auch so beschrieben werden4).

Objektbeziehungen sind Beziehungen zwischen einem Subjekt und einem Objekt. In unserem Fall ist das Neugeborene das Subjekt. Wie schon erwähnt, befindet sich das Neugeborene in einem Zustand der Undifferenziertheit; bis jetzt ist es noch nicht gelungen, bei Neugeborenen eine Psyche oder psychische Funktionen nachzuweisen. Gemäß unserer Definition gibt es in der Welt des Neugeborenen weder ein Objekt noch Objektbeziehungen. Beide entwickeln sich fortschreitend und allmählich im Lauf des ersten Lebensjahres, in dessen zweiter Hälfte sich das eigentliche libidinöse Objekt konstituiert. In dieser Entwicklung habe ich drei Stufen unterschieden; ich nenne sie;

1. die objektlose oder Vorobjekt-Stufe,
2. die Stufe des Objekt-Vorläufers,
3. die Stufe des eigentlichen libidinösen Objekts. 

Bevor ich diese Entwicklungsstadien im einzelnen bespreche, werde ich im zweiten Kapitel zunächst unsere Methoden der Datengewinnung und Datenverarbeitung beschreiben, wie auch sachdienliche Angaben über unsere Versuchspersonen machen. Der Leser, der nicht an den Einzelheiten der Datengewinnung und Datenverarbeitung interessiert ist, kann dieses Kapitel überschlagen, ohne den Zusammenhang zu verlieren.

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4)  Eine detaillierte Erläuterung findet sich im Anhang 

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