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Vorwort (1934)

 

 

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Dieses Buch enthält eine Reihe von Vorlesungen, die ich am Individualpsychologischen Institut in Berlin zur Einführung in die moderne Psychologie, besonders in die Adlersche Individualpsychologie gehalten habe. Die Hörerschaft setzte sich hauptsächlich aus Ärzten, Lehrern, Heilpädagogen und Sozialfürsorgern zusammen.

Die erste Anregung, diese Vorlesungen einem größeren Kreise in Buchform bekanntzumachen, ging von der Hörerschaft aus. Der Autor zögerte aus mehreren Gründen, ihr zu folgen: Er wollte sich davor bewahren, zur modischen Überschätzung der Psychologie beizutragen; andererseits scheint ihm alles so sehr im Flusse zu sein, daß er meint und zugleich hofft, jegliche Veröffentlichung würde nach verhältnismäßig kurzer Zeit überholt sein müssen.

Zu schweigen davon, daß die Gegenwart einen Anschauungsunterricht darüber gibt, wie weit entfernt wir von der Lösung der psychologischen Fragen sind, wie jeglicher pädagogische Fortschritt immer wieder in Frage gestellt wird, sei es durch politische Veränderungen, sei es durch gesellschaftliche Entwicklungen, die ihnen zugrunde liegen.

Da es scheinen will, als ob der nächste Krieg unvermeidbar sein und daß er die schwerste Gefährdung der Kultur bedeuten könnte, der sie je ausgesetzt gewesen ist — angesichts der ungeheueren Vernichtung des Seins, der wir entgegengehen —, was soll die Bemühung um die psychologische Qualität dieses Seins? Wenn das Was gefährdet ist, was soll die Bemühung um das Wie?

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Unsere Psychologie ist kein Laboratoriumsprodukt, ihr Laboratorium ist unser gesellschaftliches Leben. So kann sie nicht leichtfertig die gesellschaftlichen Fragen vernachlässigen und die ungeheueren Gefahren außer acht lassen, die uns bedrohen. Dieser Sachverhalt widerspiegelt sich deutlich in den Vorlesungen. Ihre Zahl beträgt 28. Würden sie nur der Mitteilung der fundamentalen Feststellungen der deutschen Psychologie gewidmet sein, so würden fünf Vorlesungen vollauf genügen. Die Zahl der gesicherten Feststellungen unserer — sehr jungen — Disziplin ist natürlich sehr gering. Es erweist sich als ungleich schwerer, eine psychologische Denkweise zu vermitteln als die Inhalte der Psychologie, die ihr entsprechen. Jedoch ist die Übermittlung einer bestimmten Denkweise eben das Ziel dieser Vorlesungen. Es geht nicht darum, fertige Gedanken zu formulieren, sondern ihren Gang aufzuzeigen, und nicht darum zu überzeugen, sondern vielmehr dem Hörer die Möglichkeit zu bieten, sich selbst zu überzeugen. An die Stelle der Aufnahme von Denkresultaten soll die Auseinandersetzung und das selbständige, teilweise kontradiktorische Denken treten.

Das System, das wir darstellen, nennen wir die soziale Charakterologie. Im Hinblick auf die Befunde, die in ihm geordnet sind, müßten wir sie als eine Individualpsychologie im Sinne Alfred Adlers bezeichnen. Daß es nicht geschieht, ist nicht nur auf tatsächliche Meinungsverschiedenheiten in der Einschätzung sozialer Sachverhalte zurückzuführen, die uns von Adler trennen, sondern auf seinen Wunsch, daß dieser Abstand auch durch die Nomenklatur deutlich gemacht werde. Was wir Alfred Adler verdanken, wird der Leser immer wieder erfahren; ebenso wird zutage treten, was uns von ihm, dem wir jahrelang treue Gefolgschaft geleistet haben, entfernt hat. Einen schweren Fehler glaube ich in diesen Vorlesungen vermieden zu haben: den des Sektierertums, das heute für alle Schulen der deutenden Psychologie charakteristisch ist. Ihn zu vermeiden, gelingt uns hauptsächlich dank der soziologischen Einsicht, die in diesem Falle der psychologischen übergeordnet ist.

Diese Vorlesungen weisen einen Weg zur psychologischen Erkenntnis, sie lehren aber nicht die Psychologie. Die Unvollkommenheit unserer Wissenschaft und ihrer Mittel tritt so deutlich zutage; Kritik wird nicht nur geübt, sondern auch herausgefordert.

Der Leser dieser Vorlesungen wird mit Recht ihre unzulängliche Systematik kritisieren. Es sind Mängel, die sich in improvisierten Vorlesungen schwer vermeiden lassen, doch mag sie mancher Vorzug, der dem Vorlesungscharakter eignet, einigermaßen kompensieren.

Es obliegt uns noch, unserer Hörerschaft auch in diesem Rahmen zu danken. Im Kontakt und in der Auseinandersetzung mit ihr gewannen wir die Möglichkeit, manches klarer zu formulieren, als wir es ohne ihre Mitarbeit vermocht hätten. Wir empfanden uns immer dann auf dem richtigen Wege, wenn der Hörer sich in einen fordernden und kritischen Mitarbeiter verwandelte. So versprechen wir uns von diesem Buche vor allem, daß es uns viele neue Kritiker verschaffen wird, solche, die ermutigen, auch wo sie fordern und verneinen.

Es ist allmählich ein Wagnis geworden, das menschliche Handeln so zu erforschen, als ob es einer rationalen Praxis gleich oder ähnlich wäre. Der Irrationalismus und alle Art verderblichen Aberglaubens werden an manchen Orten heute in den Rang von Staatsreligionen erhoben. Dieses Buch ist eindeutig kämpferisch, sofern es gilt, gegen den modernen Aberglauben anzukämpfen. Eine wissenschaftliche Psychologie, die diesem Kampfe auswiche, gäbe sich selber auf. 

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Zagreb, im Mai 1934, Manes Sperber

 

 

 

 

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Manes Sperber Individuum und Gemeinschaft Versuch einer sozialen Charakterologie