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7   Sigmaringen   

Rolf Schneider 1992

 

209-233

Das Land wurde geteilt, als Folge einer katastrophalen militärischen Niederlage im Zweiten Weltkrieg. Die Menschen stöhnten unter den Umständen. Trotz strenger Überwachungs­maßnahmen wurde die innere Grenze, die das Land jetzt durchlief, immer wieder von Flüchtlingen überquert. Die Teilstaat-Regierung war unbeliebt. Sie wurde weithin verachtet. Gleichwohl beanspruchte sie, im Namen und zum Nutzen der gesamten Nation zu handeln. Unfähig, zu erkennen, wie ihnen die Macht immer mehr abhanden kam, berauschten sich die Herrschenden an großen Worten, hehren Zielen und leeren Ritualen. Nach getaner Tages­arbeit flohen sie in die Villen eines kleinen erholsamen Ortes, um den herum es Ruhe, Wald und Wasser gab.

An ihrer Spitze stand ein alter Mann. Er war krank und nicht mehr fähig, die politische Situation, in der er sich befand, ganz zu begreifen. Einst vom Volk noch respektiert oder geduldet, half ihm jetzt nur mehr der Schutz der fremden Besatzungsmacht, die, in der Folge des notwendig gewordenen Rückzugs aus dem einstmals von ihr geschlagenen Lande, ihn dann auch mit sich nahm und ihrem Schutz unterstellte, wiewohl sie ihrerseits sich bereits im Zustand einer fortschreitenden Auflösung befand.

Die Rede ist von der französischen Kollaborationsregierung des Marschall Petain in Vichy, nach dem Jahre 1940. Ihre Umstände waren sonderbar und unver­gleichlich, wie es alle geschichtlichen Ereignisse sind. Dennoch drängen sich Analogien auf, bedingt, daß einander ähnelnde historische Anordnungen zu ähnlichen Konsequenzen führen können.

Ich komme nach Sigmaringen. Der Ort ist klein: 15.000 Einwohner, zahlreiche Ausbildungsstätten, Kreisbehörden. Der Bahnhof, ein auffällig langgestrecktes Gebäude, verfügt über einen Wartesaal, der an eine American Bar erinnert, mit nachgeahmten Art-deco-Möbeln, mit Vitrinen, in denen belegte Baguettes lagern. Auf ihren Hockern kauern zwei Trinker. In einem Nebenraum steht ein Billardtisch. Die jungen Männer, die an ihm spielen, tragen die olivgrünen Uniformen der Bundeswehr.

Andere deutsche Soldaten, getan in andere Uniformen, begleiten am 8. September 1944, einem Freitag, Henri Philippe Petain, Madame Petain und zehn ihrer Begleiter nach Sigmaringen. Marschall Petain ist Staatschef von Frankreich. Sein Ministerpräsident, Pierre Laval, wird anderntags in Sigmaringen eintreffen. Um diese Zeit ist der weitaus größte Teil des französischen Territoriums von alliierten Truppen besetzt. Die Frontlinie der ständig zurückweichenden deutschen Truppen verläuft von Arnheim im Norden über Nancy bis nach Besancon und Lyon.

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Sigmaringen liegt am südlichen Rande der Schwäbischen Alb und am rechten Ufer der oberen Donau. Es ist der Sitz eines schwäbischen Hochadels­geschlechtes, Hohenzollern-Sigmaringen, das, im Unterschied zu seinen preußischen Vettern, katholisch geblieben ist und es im Range nie weiter als bis zum Fürsten gebracht hat. Bei den schwäbischen Hohenzollern haben einst noch zwei weitere Linien existiert, Haigerloch und Hechingen. Sie sind beide erloschen. Dies geschah im Fall Hohenzollern-Haigerlochs im 17., bei Hohenzollern-Hechingen im vorigen Jahrhundert. Heute ist der preußische Thronprätendent Chef aller Hohenzollern, Burg Hechingen fungiert als Stammsitz. Auch die Gebeine des zweiten Friedrich von Preußen wurden 1952 hier beigesetzt, nachdem sie, 1945, vor der anrückenden Roten Armee aus Potsdam fortgeschafft und zunächst nach Marburg verbracht worden waren.

Hechingen, die Stadt, ist etwas größer als Sigmaringen und liegt am Nordrand der Schwäbischen Alb, südlich von Tübingen. In Hechingen lebt vor siebzig Jahren der Armenarzt und Naturheilfanatiker Wolf, der durch einen seiner Patienten eingeführt wird in die sehr alten Praktiken der alemannischen Faßnacht und des schwäbischen Narrengerichts. Er sieht darin Überlieferungen, die zurückreichen in die Zeit der Reformation und des Bauernkriegs. Da er nebenher Literat ist, verfaßt er zum Thema ein Theater­stück, »Der arme Konrad«, das ziemlich erfolgreich wird. In Hechingen kommen seine beiden Söhne zur Welt, von denen der ältere, Markus, später Flugzeugbauer, Journalist und Spionagechef werden wird.

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Ich verlasse den Bahnhof. Draußen sind Regen und Wind, die Automobile ziehen zischende Fontänen hinter sich. Es ist der letzte Tag des Frühjahrs 1991, das insgesamt als verregnet und zu kühl gelten wird. Seit dem Morgen diskutiert in Bonn der Deutsche Bundestag, ob man den Regierungssitz des wiedervereinigten Deutschland in die Hauptstadt Berlin verlegen soll oder nicht.

Seit dem Datum der deutschen Wiedervereinigung lebt Markus Wolf im Ausland. »Das ganze System hat nicht funktioniert«, sagt er in einem seiner letzten Interviews. »So habe ich das früher nie gesehen, und ich frage mich, warum eigentlich nicht.« Der Mann, der lange Jahre die Hauptverwaltung Aufklärung im Ministerium für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik geleitet hat, flieht im Sommer 1991 vorübergehend nach Moskau, wo inzwischen auch der ostdeutsche Staatschef Erich Honecker und seine Frau Margot unterkamen. Mitverantwortlich für die strafrechtliche Verfolgung dieser sämtlichen Personen ist der deutsche Justizminister Klaus Kinkel, der früher einmal der geheimdienstliche Gegenspieler von Markus Wolf war und wie dieser aus Hechingen kommt.

Der französische Staatschef Philippe Petain ist bei seinem Eintreffen in Sigmaringen ein Greis von 89 Jahren. Seiner Herkunft nach stammt er aus ärmlichen Verhältnissen. Er hat als junger Mann ein Internat durchlaufen und die Offiziersakademie von St. Cyr, bis zu seinem 58. Lebensjahr bringt er es eben zum Rang eines Obristen. Er steht kurz vor der Pensionierung, als der Erste Weltkrieg beginnt. Man schickt ihn nach Verdun.

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Dort kämpft er so erfolgreich gegen die deutschen Angreifer, daß man ihn an die Spitze aller französischen Armeen beruft und zum Marschall befördert. Er ist der »Held von Verdun«, der eigentliche Architekt der französischen Siege.

Nach dem Krieg schlägt er Aufstände in Nordafrika nieder, wird Verteidigungsminister und französischer Botschafter beim faschistischen General Franco. 1940 sitzt er wieder einmal im Kabinett seines Landes. Er muß, jetzt ist er Premier, den französischen Waffenstillstand mit Adolf Hitler abschließen. Frankreich wird zweigeteilt. Der Norden bleibt von den Deutschen besetzt, der Süden behält eine formelle Autonomie. Regierungssitz wird Vichy in der Auvergne, ein freundlicher Badeort, wo am 11. Juli 1940 die französische Nationalversammlung Marschall Petain zum Staatschef wählt.

In der Debatte des Deutschen Bundestags über den künftigen Regierungssitz wird der Abgeordnete Willy Brandt Bonn mit Vichy vergleichen. Es ist ein unangemessener Einfall. Adenauer war kein Petain. Die deutsche Parallele zu Vichy hieße viel eher Wandlitz.

Ich gehe die Bahnhofstraße hinab. Ich biege ein in die Fürst-Wilhelm-Straße. Ich gehe vorüber am Gebäude der fürstlichen Reithalle, die heute als Elektrozentrale dient und in dieser Funktion weiterhin dem Fürsten von Hohenzollern-Sigmaringen gehört. Diese Stadt, entdecke ich, verfügt über eine auffällige Massierung von Denkmälern.

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Das läßt mich sofort an die untergegangene DDR denken, die zwar alles verkommen ließ, Wirtschaft, Moral, politische Stabilität, die aber so viele Denkmäler aufgestellt hat, zumeist scheußliche, wie sonst nur noch die Hohenzollern. Jene von Sigmaringen, die man als Standbilder besichtigen kann, heißen zum Beispiel Karl Anton, Karl, Wilhelm, Leopold. Der Bildhauer des Letztgenannten trägt den Namen Henselmann. Ebenso heißt der Schöpfer zahlreicher stalinistischer Prunkbauten in Berlin, Hauptstadt der DDR.

Der Chef des Hauses Hohenzollern-Sigmaringen im Jahre 1944 heißt Friedrich. Im August erscheint bei ihm ein Kommando der damaligen Politischen Polizei, Gestapo, um ihm mitzuteilen, er habe sofort seine Gemächer zu räumen, sie seien beschlagnahmt. Wieso man auf den Einfall kam, Marschall Petain ausgerechnet in Sigmaringen einzuquartieren, läßt sich nur noch vermuten.

Daß man diese Regierung auch weiterhin halten möchte, geschieht aus den gleichen Motiven, die 1940 zu ihrer Bildung und, später, zu ihrer Stützung führten. Man sucht französische Hilfe gegen den Feind. Der Feind heißt zum Beispiel England. Die Feindschaft zwischen Großbritannien und Frankreich ist viel älter als jene zwischen Frankreich und den Deutschen. Sie geht bis tief ins Mittelalter zurück und läßt sich, nach Bedarf, derart mobilisieren, daß es die eben erst hundertjährige Abneigung gegen Deutschland beschwichtigt, wie sich an der Handlungsweise des Helden von Verdun, Philippe Petain, beispielhaft ablesen läßt.

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Ich gehe vorüber am Haus Fidelisstraße 1. Dies ist ein schönes altes Gebäude, mit Erker, mit kleinem Glockenturm, und es hat eine bunte Geschichte. Nach 1578 war es ein Gasthof, »Krone«, und der Legende zufolge das Geburtshaus von Markus Roy, dem späteren Kapuzinermönch Fidelis und Märtyrer der Gegenreformation, den der Papst 1746 heiligsprach. Er ist der Stadtpatron von Sigmaringen.. Sein vermeintliches Geburtshaus wurde später Postamt, Gymnasium und kirchliches Altersheim. 1944 nehmen es Angehörige der Vichy-Regierung in Besitz.

Zur etwa gleichen Zeit wird in den beiden anderen schwäbischen Hohenzollernstädten, Hechingen und Haigerloch, an einer Atombombe für Adolf Hitler gebaut. Die deutschen Angehörigen des Uranvereins, an ihrer Spitze Werner Heisenberg, sind mitsamt ihren Forschungsgegenständen hierher evakuiert worden, um in der Ruhe der Schwäbischen Alb zu betreiben, was sie in ihren von Luftangriffen bedrohten Labors in Berlin nicht mehr betreiben können. Die Frage, ob ihre Bombe nicht fertig wurde, weil sie die Arbeit daran absichtlich verzögerten, wird seither unentwegt debattiert und ist bloß spekulativ zu beantworten.

In zwei Tagen wird man der fünfzigsten Wiederkehr jenes Datums gedenken, da Hitler die Sowjetunion überfiel. Das unerbittliche Ende des kriegführenden Deutschland war spätestens seit dem 22. Juni 1941 vorgegeben. Der Einzug Heisenbergs in Hechingen, der Einzug Petains in Sigmaringen haben auch mit dem Fall »Barbarossa« zu tun. Die Stimme von Joseph Goebbels, die den deutschen Vormarsch im Osten pathetisch kommentiert, klingt, unterlegt von historischem Rauschen, morgens aus meinem Hotelradio.

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Der Virtuose der nationalsozialistischen Agitation wirkt heute sehr fremd, wie ein expressionistisches Dokument, man kann die einstige Massensuggestion nicht mehr begreifen. Aber es war und ist nicht der Zweck von effizienter politischer Propaganda, auf die Nachwelt zu wirken. Über »diese schreckliche Medienpolitik und das, was der Apparat so veranstaltete«, räsoniert Markus Wolf, der einstige Journalist, im Hinblick auf die politische Propaganda der DDR. Von »Barbarossa« ist er damals unmittelbar bedroht gewesen. Er lebte mit Eltern und Geschwistern im sowjetischen Exil.

Eine Propagandamaschinerie betreibt auch die Petain-Administration zu Sigmaringen. Ihr Chef heißt Jean Luchaire. Er ist Informationsminister im Kabinett Laval, ein französischer Goebbels, und unter seiner Anleitung sendet täglich auf Langwelle 278,6 Meter Radio Sigmaringen »Ici la France« und beginnt damit um 19.50 Uhr. Zunächst gibt es ein kleines Musikprogramm. Der populäre Charles Trenet singt. 19.45 Uhr folgen Nachrichten, 20 Uhr ein weiteres Musikprogramm. 20.50 Uhr sind Informationen zu hören, mit anschließendem Kommentar, den Jean Luchaire manchmal selber spricht, indem er flammende Worte zur Befreiung Frankreichs von den Amerikanern findet. Danach Musik von Bach, Mozart und Wagner. Das Programm endet um 21 Uhr. Es ist bis weit hinein nach Frankreich zu empfangen.

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Daneben läßt Jean Luchaire eine Reihe von Zeitungen und Zeitschriften publizieren, von denen die wichtigste »La France« heißt. Sie erscheint täglich und hat eine Redaktion von 220 Mitarbeitern. Gedruckt wird sie im Keller eines Gebäudes an der Karlstraße, dessen obere Räume das Ministerium von Jean Luchaire beherbergen. Die Karlstraße ist Sigmaringens Verwaltungsmeile. Heute befinden sich dort die Gerichte, das Gewerbeaufsichtsamt, die Finanzbehörde, der Zoll.

 

Die beiden historischen Gasthöfe der Stadt heißen »Zum Bären« und »Zur Traube«. Beides sind Fachwerkhäuser, jenes der »Traube« stammt vom Jahr 1722 und steht längst unter Denkmalschutz. Sigmaringen ist heute eine kleine behäbige Bürgerstadt, siebenhundert Jahre alt, schwabenfleißig, ehrbar und mit kleinem Kunstsinn. Die historischen Gebäude befinden sich durchweg in gutem Zustand. Dunkel stehen Fachwerkbalken in blütenweiß gekalkten Wänden, und vor den Fenstern wachsen karmesinrot die Geranien. Eben unterbricht der Regen. Betagte Touristen stürzen auf die krummen Gassen und werden sich die Fuße wund gehen, bis sie, beim Wiedereinsetzen des Regens, sich aufatmend in die Hofkonditorei setzen oder in das Cafe Maucher an der Antonstraße.

Das Kaffeehaus der Petain-Leute in Sigmaringen ist »la Confiserie Schön«. Sie sitzen auch im »Bären« und in der »Traube«. Sie sitzen überall. Es sollen sich zuletzt 25.000 Franzosen in Sigmaringen befinden, einer Stadt, die 1944 wenig mehr als 8000 Einwohner hat, ich kann alle diese Zahlen nicht glauben.

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Jetzt, sechsundvierzig Jahre danach, erinnert an jenen Zustand überhaupt nichts mehr. Die französische Episode der Stadt wird durchaus nicht vergessen, wieso sollte man, aber sie ist herabgestuft zu einem geschichtlichen Zwischenspiel, das nur noch Nebensätze lohnt.

Das Gewicht geschichtlicher Erinnerungen wird durch die sonderbarsten Umstände bedingt, um vielleicht seinerseits Geschichte zu produzieren, die sich erinnern läßt oder nicht. Die Petain-Administration zu Sigmaringen begreift sich als rechtmäßige Regierung der Französischen Republik, ausweislich auch mancher ihrer Mitglieder, die bereits 1940 dem Kabinett angehörten. 

Marschall Petain ist der festen Überzeugung, kein Verräter zu sein, sondern ein französischer Patriot. 

Auch Erich Honecker meint heute von sich, daß er weder ein Verräter noch ein Versager sei, sondern ein sozialistischer deutscher Patriot.

Er ist im Saarland geboren. 1935, als entsprechend dem Versailler Vertrag eine saarländische Volksabstimmung stattfindet, wirbt Honecker namens seiner Partei, der KPD, für den Verbleib des Territoriums bei Frankreich. Es ist eine Zeit, da die europäischen Kommunisten sich zum glühenden Antifaschismus bekennen. Sie endet zunächst 1939, mit dem Hitler-Stalin-Pakt, und selbst Frankreichs Kommunisten sehen sich in der Folgezeit genötigt, den englischen Imperialismus zum Hauptfeind zu erklären.

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So geschieht, daß die Anfänge der Resistance vornehmlich von Anhängern des Generals de Gaulle betrieben werden. Erich Honecker ist für die unglaublichen Schwankungen der kommunistischen Bewegung zwischen 1935 und 1941 nicht in persönliche Verantwortung zu nehmen. Er sitzt zu jener Zeit als politischer Häftling im Zuchthaus Brandenburg, welchem Umstand er den Respekt verdankt, von dem er später als Politiker zehren wird.

Der Respekt, den Philippe Petain genießt, resultiert aus seinen militärischen Leistungen gegen Deutschland im Ersten Weltkrieg. Während ein Teil der Generalität, voran Charles de Gaulle, 1940 für eine Weiterführung des Kampfes an der Seite Englands plädiert, meinen Petain und seine Anhänger, durch einen Waffenstillstand mit Hitler ihr Land vor dem Schlimmsten bewahren zu können. Die Illusion währt zwei Jahre. Dann brechen Hitlers Truppen die bestehenden Vereinbarungen und marschieren in den bis dahin unbesetzten französischen Süden. Petain bleibt auch weiterhin der Auffassung, er sei Herr seiner Entschlüsse. Er begreift sich keinesfalls als deutsche Marionette. Noch in Sigmaringen protestiert er unentwegt gegen das, was er als deutsche Übergriffe auf seine Person ansieht.

Sein Ministerpräsident Pierre Laval hingegen vertritt das Prinzip der unbedingten Kollaboration. Er hat den Begriff auch erfunden. Pierre Laval ist ein alter politischer Routinier der Dritten Republik, mehrfach Minister und Ministerpräsident, dies erstmals schon im Jahr 1931. Seine Politik gegenüber Deutschland kommt aus ursprünglich ehrenwerten Motiven.

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Er bekennt sich, zunächst, zur deutsch-französischen Annäherung aus dem Geist und der Tradition von Aristide Briand. Er ist brillant, gerissen, ehrgeizig und skrupellos. Petain verabscheut ihn. Er unterstellt, vermutlich zu Recht, Laval habe sein beträchtliches Vermögen auf überwiegend unredlichem Wege erworben. Petain ekelt sich vor den schwarzen Zähnen und der ungewaschenen Aura seines Premier, von dem er gleichwohl politisch abhängig ist. Hier wie überhaupt bleibt Kollaboration und das moralische Urteil dazu eine Sache der Perspektive und des endlichen Erfolgs. De Gaulle kollaboriert mit England, dem Gegner Frankreichs, regiert von Marschall Petain. Markus Wolf kollaboriert mit der Sowjetunion, das seit 1941 militärischer Gegner Deutschlands ist, des Territoriums seiner Geburt.

 

Ich stehe vor dem Haus Schwabstraße 1. Es handelt sich um ein überaus prächtiges Fachwerkgebäude, sehr alt, stammend vom Jahr 1567. Es war einmal ein Gasthof, »Zum Ochsen«, und im 18. Jahrhundert gehörte es der Malerfamilie von Ow. Es stellt damit eines von zwei Zentren künstlerischer Praxis in Sigmaringen. Das andere ist das Hoftheater an der Fürst-Wilhelm-Straße, das ursprünglich ein Gesellschaftshaus war, eine »Traiterie«, und danach verschiedentlich als teatro stabile diente, ehe es Kino wurde, was es auch heute wieder ist, an diesem Tage gibt man dort die amerikanische Hurenballade »Pretty Woman«.

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Mit Kunst befassen sich ausführlich die Sigmaringer Franzosen nach dem September 1944. Man geht zu Vorträgen, Rezitationen, Klavierabenden. Es leben einige bemerkenswerte Schöngeister am Ort. Überhaupt erweist sich die französische Rechte zu jener Zeit, wie auch davor, wie auch danach, mit außerordentlichen Talenten bestückt, vor deren Moral man sich ekeln mag, deren ästhetische Leistung man gleichwohl respektieren muß. Die Überzeugung, daß der Hauptstrom von Frankreichs Literatur sich aus voltairianischen Traditionen speise, entspringt ohnehin einem perspektivischen Fehler, denn daneben existiert eine nicht minder mächtige konservativ-reaktionäre Überlieferung. In unserem Jahrhundert reicht sie von den Dreyfus-Gegnern Maurras und Barres bis zu Autoren wie Brassilach und Drieu la Rochelle, und selbst so respektable Autoren wie Valery, Montherland und Giraudoux sind politisch ins rechte Lager zu tun.

Der prominenteste Schriftsteller im Sigmaringen des Marschall Petain heißt Louis-Ferdinand Celine. Er erscheint erst im November, in der Begleitung von zwanzig Koffern, seinem Freund Robert le Vigan und Madame Lucette Celine. Die zwanzig Koffer enthalten Waren für den Schwarzen Markt, dem sich der Autor bald mit großer Intensität widmen wird. Celine heißt mit bürgerlichem Namen Destouches und ist im bürgerlichen Beruf Mediziner. Er wird der französische Regierungsarzt von Sigmaringen. Er nimmt seinen Wohnsitz im Zimmer Nummer 11 des Gasthofs zum Löwen, wo er auch ordiniert. Er kümmert sich um die Magengeschwüre Lavais und die senilen Absencen Petains.

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Der Arzt, Dichter und politische Aktivist Friedrich Wolf, Markus Wolfs Vater, hat als Emigrant sowohl in Frankreich als auch in der Sowjetunion gelebt. Nach dem Krieg ist er einer jener Autoren, die dem eher kümmerlichen ostdeutschen Staat mit ihrer Rückkehr zu Ansehen verhelfen. Die anderen heißen Anna Seghers, Bertolt Brecht, Arnold Zweig. In Sachen ästhetischer Ausstrahlung ist die DDR der Bundesrepublik zunächst deutlich überlegen, und ein wenig von jenem frühen Glanz bleibt dem Staate Erich Honeckers bis zuletzt. Die in ihm lebenden Künstler sind überzeugt, sie hätten sich dem besseren politischen Modell verpflichtet. Als sie innewerden, daß sie geirrt haben, betäuben sie sich mit Selbstbetrug und Zynismus. Sie können den Untergang ihres maroden Landes nicht aufhalten, aber sie beschädigen infolge ihrer Hartnäckigkeit ihre Biographien und ihre Glaubwürdigkeit und ihre Zukunft.

Ist der Vergleich zwischen ihnen und Celine unzulässig? 

Dessen Ruhm stammt von einem Roman des Titels <Reise ans Ende der Nacht>. Es handelt sich um ein Kriegsbuch, eines der bedeutendsten der Weltliteratur, von dem sein Verfasser später behaupten wird, es sei kommunistisch. Tatsächlich kommt Celine von der politischen Linken und sieht sich lange als Sympathisant der Sowjetunion. Erst während der dreißiger Jahre entschließt er sich zum Bruch mit dem Lande Stalins und verfaßt antisemitische Schmähschriften, die das Entzücken von Frankreichs Faschisten sind. 

* (d-2015:)   wikipedia  Reise_ans_Ende_der_Nacht  1932 in Paris erschienen

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Er ist keinesfalls der einzige Ex-Kommunist unter den französischen Rechten. Den gleichen Weg nahm ein anderer Kollaborateur namens Jacques Doriot. Er ist Führer des Parti populaire, einer französischen Faschistenorganisation, und bewegt sich gleichfalls in Sigmaringen. Der Wechsel zwischen Rechts- und Linksextremismus ist in Frankreich häufig, noch heute, wie man bei den Neuen Philosophen um Andre Glucksmann verfolgen kann. Er macht zugleich darauf aufmerksam, daß es sich in beiden Fällen um Manifestationen des nämlichen radikal-populistischen Zeitgeistes handelt.

 

Ich warte vor dem Rathaus von Sigmaringen. Es ist ein angenehmer Bau, der sich historisch gibt, aber erst von 1927 stammt, unter Verwendung von architektonischen Resten aus früheren Jahrhunderten. Vorm Rathaus steht ein Brunnen. Auf hohem Sockel posiert ein Fürst aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Ein weiteres Denkmal, daneben, erinnert an Tote des Ersten Weltkriegs, von dem die »Reise ans Ende der Nacht« erzählt, Celines Roman.

Man müsse es nicht noch eigens berühmen, gleichwohl, es sei schon ein sehr malerischer Aufenthalt, spottet über Sigmaringen Celine sehr viel später, im Rückblick auf seine Tage an diesem Ort. Er vergleicht die Ereignisse einer Operette. Tatsächlich hat die Anwesenheit der Regierung Petain in der Kleinstadt am Rande der Schwäbischen Alb etwas vom bösen Geist der musikalischen Komödien Jacques Offenbachs. Indessen gibt es triftige Gründe für die fortdauernde Existenz dieser Staatsspitze ohne Staat, sie haben mit der augenblicklichen Situation an den militärischen Fronten zu tun.

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Die Truppen der Alliierten sind noch nicht auf deutsches Territorium vorgedrungen, und noch gibt es bescheidene Hoffnungen, das Kriegsglück könne sich wenden, vielleicht durch eine von Hitlers Geheimwaffen oder durch einen Separatfrieden bei halbwegs erträglichen Bedingungen. In den Ardennen wird eine große Gegenoffensive vorbereitet. Bei den zu erwartenden Kämpfen ist jegliche Verstärkung hochwillkommen. Die Administration des Marschalls Petain mag mehr und mehr eine Regierung ohne Land geworden sein, eine Regierung ohne Untertanen ist sie deswegen nicht. Noch gibt es genügend waffenfähige Franzosen, die ihr direkt erreichbar sind, denn in Deutschland leben derzeit Tausende von französischen Kriegsgefangenen und Fremdarbeitern. Man muß sie nur mobilisieren, daß sie gemeinsam mit der deutschen Armee das französische Staatsgebiet zurückerobern.

Hauptsächlich für diese Menschen werden die Tageszeitung »La France« und die Sendungen von Radio Sigmaringen gemacht. In der Tat gibt es auch ein französisches Militärkontingent auf deutscher Seite, die Division Charlemagne. Sie kämpft an der Ostfront. Nun will Jacques Doriot eine Art westliches Gegenstück zur Division Charlemagne ins Leben rufen. Er will französische Fallschirmjäger hinter den alliierten Linien absetzen. Dann kommt er im Februar 1945 auf mysteriöse Weise ums Leben, und zusammen mit ihm werden die politischen Hoffnungen der Franzosen von Sigmaringen endgültig begraben. Da ist auch schon die Ardennenoffensive vorüber. Sie ist gescheitert. Die alliierten Armeen stehen am Rhein, in Ostpreußen und in Schlesien. 

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Wie damals bei den Petainisten im Schloß von Sigmaringen muß das seelische Klima in den Villen von Wandlitz gewesen sein, Spätherbst 1989.

Das Schloß. Es ist der Mittelpunkt von Sigmaringen. Es überragt die kleine Stadt, die, wenn man so will, nichts als eine Zutat, eine bürgerliche Ergänzung des Schlosses ist. Situiert auf einem Felsen über einem Bogen der Donau, hat es eine vielhundertjährige Geschichte, aber seine gegenwärtige Gestalt hat es gerade erst seit 85 Jahren, nachdem ein großer Brand 1895 die meisten Gebäude verwüstete. Der Neubau wird das Werk der Architektenbrüder Seidl, von denen zum Beispiel die Villa Lenbach und das Deutsche Museum in München stammen. Sie bringen die architektonischen Erfahrungen aus dem Bayern des zweiten Ludwig nach Sigmaringen, ihr Neubau atmet spürbar den Geist von Neuschwanstein und Richard Wagner.

Daß Schlösser als habitueller Sitz von Regierungen und Regierungsmitgliedern dienen, ist ein feudalistisches Erbteil, von dem sich auch bürgerliche Republiken nicht befreien mögen. Die französischen Präsidenten sitzen im Elysee-Palast. 

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Der oberste Repräsentant des vorgeblichen Arbeiter-und-Bauern-Staates DDR amtierte zunächst im Schloß Niederschönhausen, einer ehemaligen Hohenzollernbleibe, dann in einem Neubau, dem ein Portal des einstigen Berliner Stadtschlosses vorgeblendet ist. Erich Honecker empfing gerne in Hubertusstock, einem kaiserlichen Jagdschloß. Andere Mitglieder seines Politbüros requirierten Herrensitze in Mecklenburg und der Mark.

Schloß Sigmaringen ist heute wieder privater Besitz der fürstlichen Familie. Von mehreren hundert Räumlichkeiten sind etwa zwei Dutzend den Besuchern zugänglich. Das Treppenhaus wirkt sehr hell. Auf einem Fenstersims steht die verkleinerte Nachbildung des Fridericus-Denkmals von Rauch, vergoldet, und an einer Wand hängt ein Porträtbild des Großen Kurfürsten.

Die Führerin ist ein mageres junges Mädchen mit rotblonden Haaren. Sie spricht schwäbischen Akzent. Ihr Vortrag verzichtet nicht auf jene neckischen Zutaten, die von Museumsbesuchern gern belacht werden. Eine Gruppe amerikanischer Hochschüler beugt sich angestrengt über einen hektographierten Text. Sie wiederholen halblaut, in breiter texanischer Artikulation, die Namen, Hohenzollern, Eitelfriedrich, die für sie erkennbar geschichtslose Wörter sind.

Im Ahnensaal tritt mir Josef Stalin entgegen. Beim Näherkommen entdecke ich, daß es sich um ein Porträt des Fürsten Karl Anton handelt, der von 1811 bis 1855 lebte. Es folgen Räume, in denen Verbindungen der fürstlichen Sippe nach Westeuropa ausgewiesen werden. Eine Prinzessin, Stephanie, war die Frau eines portugiesischen Königs.

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Fürstin Amalie Zephryne hat Kinder der Josephine Beauharnais behütet, der später ersten Frau Napoleons. Es gibt einen Speisesaal, der 1872 von Lambal, einein französischen Architekten, ausgestattet worden ist. Wenn man danach suchen würde, fänden sich hier mögliche Begründungen für die Anwesenheit des Marschall Petain in Sigmaringen.

Das Kollaborationsregime von Vichy ist die Erfindung eines deutschen Diplomaten gewesen, Otto Abetz. Er war verheiratet mit einer Französin, er war hemmungslos frankophil und plante so etwas wie die deutsch-französische Annäherung unterm Zeichen des Hakenkreuzes. Er amtierte als Hitlers Botschafter in Paris nach dem Waffenstillstand, er benahm sich vergleichsweise maßvoll, zu seiner Entourage gehörte ein Mann wie Friedrich Sieburg, und derart, wie Laval eine verhunzte Beziehung zu Briand besaß, mochte sich Otto Abetz in der Nachfolge Gustav Stresemanns sehen, irgendwie. Er brachte Laval mit Ribbentrop und Hitler zusammen. Er sorgte dafür, daß die Regierung von Vichy in Sigmaringen Unterschlupf fand. Die formelle Autonomie des Regimes blieb selbst da noch erhalten. Es gab weiterhin einen bei ihr akkreditierten reichsdeutschen Botschafter mit Sitz in Sigmaringen, wie es daneben einen akkreditierten japanischen Botschafter gab.

Ich werde in die Räume geführt, wo Petain und seine Frau gelebt haben. Die rotblonde Führerin hat Mühe mit den französischen Nasalen. Ich sehe Petains Schlafzimmer. Das Doppelbett hat geschnitzte Pfosten mit Blattgoldauflage.

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Im Speisesaal, wo es dämmerig ist, nahmen Petain und seine Mitarbeiter damals ihre Mahlzeiten ein. Die amerikanischen Hochschüler haben Mühe, Sigmaringen, Hitler, Petain und Frankreich in einen für sie vernünftigen Zusammenhang zu bringen.

Das Essen wird für die verwöhnten Exilfranzosen damals zum quälenden Problem. Trotz Sonderzuteilungen durch die Deutschen empfinden viele von ihnen ihre Versorgung als unzumutbar. Celine erwähnt die 5 000 Stammessen des Löwenwirts, die in der Regel aus Rotkohl bestanden. Madame Laval stöhnt über den ständigen Verzehr von Kartoffeln.

Laval wohnt genau ein Stockwerk tiefer als Petain, in der sechsten Etage. Die Animositäten zwischen den beiden bestehen fort. Der gelernte Rechtsanwalt Laval präpariert sich auf die juristische Verteidigung seiner politischen Handlungen vor einem französischen Gericht, für den, was er wohl spürt, kaum noch abwendbaren Fall einer deutschen Niederlage. Er fühlt sich nicht nur formal im Recht, auch moralisch. Ist denn nicht die Mehrzahl seiner Landsleute 1940 zu einem Ausgleich mit Deutschland bereit gewesen? 

Sie liebten die Deutschen nicht, sie liebten ihre Bequemlichkeit. Haben sie aber nicht alle ihren Frieden mit den gestiefelten Besatzern gemacht: Bühnenkünstler wie Maurice Chevalier und Zizi Jeanmaire, Modeleute wie Coco Chanel, Verleger wie Gaston Gallimard, Autoren wie Sascha Guitry, Jean Giono und Marcel Jouhandeau?

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Dazu noch die vielen Namenlosen, die erst 1944, im Augenblick der Befreiung durch die Alliierten, plötzlich entdecken, daß sie allesamt Verfolgte oder Widerstandskämpfer gewesen sind? Die Haltungen erinnern verblüffend an den Herbst 1989 in der DDR.

Damals gab es zwischen Elbe und Oder ein paar Selbstmorde. Drieu la Rochelle, der Kollaborationsautor, hat sich 1944 geweigert, dem Zug der Exilanten nach Sigmaringen zu folgen, er bleibt in Frankreich, er bringt sich um beim Nahen der Front. Robert Brasillach wird unmittelbar nach der Befreiung vor ein französisches Gericht gestellt und erschossen. Die Nachricht davon gelangt nach Sigmaringen. Täglich kommen solche Meldungen, über die Verhaftung, Aburteilung und Exekution von Kollaborateuren. Die Front rückt näher. Der fast 89jährige Marschall Petain lebt seine Zeit mit der starren, unerschütterlichen Disziplin des gelernten Militärs.

Henry Rousso, ein junger französischer Historiker, hat den Tagesablauf auf Schloß Sigmaringen rekonstruiert. 

8 Uhr. Ministerpräsident Laval arbeitet in einem mit blauer Seide ausgeschlagenen Zimmer an seiner potentiellen Verteidigung. 9 Uhr. Laval liest die eingegangenen Zeitungen. 10 Uhr. Laval empfängt politische Mitarbeiter und führt Arbeitsgespräche. 15 Uhr. Auf riesigen Silbertellern werden zum Mittagessen Salzkartoffeln serviert. 15 Uhr. Laval nimmt deutschen Sprachunterricht bei einer jungen Rheinländerin, Ehefrau eines französischen Offiziers, seine Lernergebnisse sind kläglich. 16 Uhr.

*(d-2015:)  wikipedia  Philippe_Petain  1856-1951 

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Laval unternimmt seinen üblichen Spaziergang und muß der Vergünstigungen entraten, die Petain zu diesem Anlaß genießt: Der Marschall kann seine Ausflüge im Wagen unternehmen und unter dem Begleitschutz eines Kommandos der Gestapo. 20 Uhr. Im Anschluß an das magere Abendessen empfängt Laval den Besuch von Celine, der in den Augen des Premiers zwei Vorzüge hat: Er raucht nicht, und er ist von unermüdlicher Geduld beim Zuhören. 22 Uhr. Laval arbeitet wieder an seiner Verteidigung. Mitternacht. »Das Schloß liegt im Schlummer«, so Rousso. »Petain schnarcht. Die Frau des Marschalls liegt schlaflos. Im sechsten Stock brennt noch eine Lampe. Der abgekämpfte Pierre Laval liest und arbeitet immer fort. Im Geist kreuzt er die Klinge mit Mornet, seinem mutmaßlichen Hauptankläger vor dem Obersten Gericht.«

 

Eine Atmosphäre aus Stumpfsinn, Angst und Untergangsahnungen wie in Wagners <Götterdämmerung>. »Das System konnte und wollte seine Schwächen und Widersprüche nicht eingestehen«, sagt Günter Schabowski. »Die Uhr lief ab. Als wir uns noch Chancen ausrechneten, hatte der Kollaps schon sein Datum.« Schabowski ist letzter Hauptverantwortlicher für Agitation und Propaganda in der alten SED gewesen, und natürlich gelten seine Worte dem Untergang der DDR. Im Dezember 1989 verliert er sein Parteiamt. Im März 1945 überquert die 9. US-amerikanische Armee bei Remagen den Rhein.

* (d-2015:)   wikipedia  Pierre_Laval   1883-1945

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Der vorletzte der bei den öffentlichen Führungen durch Schloß Sigmaringen gezeigten Räume ist ein Jagdzimmer. In einer Vitrine steht die Fotografie des Fürsten Friedrich, eines besonders hingebungsvollen Nimrods, und an den Wänden hängen Trophäen, darunter, die Führerin erwähnt es nicht ohne Stolz, sechshundertundvierzig Geweihe allein von Rehböcken. In der DDR gibt es zuletzt 18 Staatsjagdgebiete mit 108.000 Hektar Fläche. Zu ihrer Unterhaltung bedarf es zweistelliger Millionenbeträge im Jahr. Der pathologische Jäger Erich Honecker pflegt, da er aus Altersgründen die Waffe nicht mehr sicher halten kann, seinen Gewehrlauf auf die Schulter des vor ihm stehenden Aufpassers zu legen. Der Mann trägt infolge der nahen Detonationen einen Gehörschaden davon, was ihm durch höhere Bezüge entgolten wird.

Im April bricht dann unter den Franzosen zu Sigmaringen die Panik aus. Als erster entfernt sich Laval. Mit einem Flugzeug der deutschen Luftwaffe flieht er nach Spanien, aber General Franco, eben noch Hitlers Verbündeter, reicht ihn alsbald an das befreite Frankreich des Generals de Gaulle weiter. Man wird Laval den Prozeß machen. Seine in Sigmaringen probierten Rechtfertigungen werden ihm nichts nutzen. Man wird ihn verurteilen und exekutieren.

Marschall Petain erfährt am 5. April, daß man ihm in Abwesenheit den Prozeß machen will. Daraufhin möchte er sich dem Gericht stellen und bittet Hitler um eine entsprechende Möglichkeit. Der deutsche Diktator antwortet nicht. Am 21. April erscheint ein SS-Kommando auf Schloß Sigmaringen, um den Marschall abzuholen. Petain sieht darin eine Entführung und protestiert. Das SS-Kommando bringt Petain bis zur Schweizer Grenze. Der Marschall durchquert die Eidgenossenschaft und reist am 25. April, einen Tag nach seinem 89. Geburtstag, in Frankreich ein.

 »Verbohrter menschlicher Ewigkeitswahn hatte sich als jäh begrenzbar erwiesen«, schreibt Günter Schabowski zum Sturz Erich Honeckers. Philippe Petain wird vor Gericht gestellt und zur Höchststrafe verurteilt. Wegen seiner einstigen Verdienste im Ersten Weltkrieg gegen Deutschland setzte Staatspräsident Auriol das Todesurteil aus. Philippe Petain verbringt den Rest seines Lebens auf der Ile d'Yeu und stirbt dort am 25. Juli 1951, im Alter von 95 Jahren.

»Offen gesagt und unter uns: Mein Ende ist noch viel mieser als mein Anfang«, sagt Celine am Eingang seiner Erinnerungen an das Schloß von Sigmaringen, das er übrigens beharrlich Siegmaringen schreibt, vielleicht in Erinnerung an Opernhelden von Richard Wagner. Er selbst hat die erste Nachkriegszeit in Dänemark überstanden. Sein französischer Verleger ist erschossen worden, gleichsam stellvertretend für ihn. Er selbst darf 1952 nach Frankreich zurückkehren, er lebt dann in Meudon bei Paris, wo er als Armenarzt arbeitet, vereinsamt und verbittert, sein Ende ist viel mieser als sein Anfang.

 

Ich gehe von Schloß Sigmaringen fort. Das Wasser der Donau leckt an den Ufern. »Das Ende der alten SED war besiegelt«, notiert Schabowski, und Markus Wolf sagt: »Was die Geschichte angeht, so meine ich, muß man Lehren ziehen, unbedingt

Ich werde mir bald eine Zeitung kaufen, in der ich lesen kann, wie im nahen Hechingen, Wolfs Geburtsort, die Vorbereitungen laufen zur Heimkehr der ausgelagerten Gebeine des Alten Fritz nach Potsdam. Am Abend werde ich im Radio meines Hotelzimmers hören, daß der Bundestag Berlin zum endgültigen deutschen Regierungssitz bestimmt. Jetzt kommen mir ein paar alte Leute entgegen durch den Langen Garten, mit aufgespannten Schirmen. 

Es regnet immer noch.

231-233

 

E n d e

 

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