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13  Joachim Gauck:  Von der Würde der Unterdrückten

 

 

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Im Frühjahr 1992 will ich selbst fragen, was andere mich fragen: ob das noch angeht, was wir - nun «aktenkundig» - tun. Ob, wenn mich schon Unlust wegen meiner Arbeit ankommt, ich wenigstens sagen kann, daß noch zusammen ist, was einmal zusammenkam, als ich die Aufgabe übernahm, das Erbe der Stasi-Akten zu verwalten. Und zusammengekommen war in der Geschichte meiner persönlichen Entwicklung viel: 

Erstens die frühe und nie zur Ruhe gekommene Sehnsucht nach Freiheit. Sie entstand, als ich ein Kind war, Ältester unter vier Geschwistern, zeitweilig zur Halbwaise gemacht, weil Stalins Leute den Vater eines Sommers von der Geburtstagsfeier in den Gulag brachten — für fünf Jahre (geplant waren 2 mal 25).

Sie wuchs 1953 und 1956, sie war lebendig wie nie im August 1961; sie war 1968 - Prag - noch stärker, in der Ahnung, daß irgendwann das Argument der Panzer nicht mehr wirksam sein würde. Und als meine Sehnsucht sich in konkrete politische Hoffnung wandelte, geschah dies, weil in Polen Freiheitswille zur politischen Macht wurde — Solidarnosc.

Rebelliert hatte ich in all den Jahren weder als Student noch als Pfarrer. Zum Märtyrer war ich nicht berufen. Ich hatte Glück, denn ich fand einen Beruf, der mich gleichzeitig ganz «hier» und doch deutlich «anders» leben ließ. In meiner Kirche waren mir früh Menschen begegnet, von denen ich dies lernen wollte. Es gab da Leute, die trotz aller lauten Tagesparolen eine Wahrheit suchten, die die ihre sein konnte, die auch schon wußten, was ich noch erst hoffte: daß Sinn in einem Menschenleben sein könne ganz unabhängig davon, wie die Verhältnisse und Lebensumstände sind. 

Da war noch mehr zu erfahren: 

Nähe zu und Vertrauen zwischen Menschen, die sich sonst in diesen Jahren eher vorsichtig beäugten und die Technik der dosierten und kalkulierten Zuwendung trainierten (zu Menschen wie zu Themen).

Zweitens mein Beruf also, der mich das realistische Menschenbild der Bibel lehrte und vertreten ließ, der meinen Hoffnungen Tiefe aus dem Glauben gab, der mich lehrte, Zeugnis abzulegen von Befreiung, Aufbrüchen und Auferstehung, der mich erleben ließ, was in der Schrift schon stand («denn seine Kraft ist in den Schwachen mächtig»), der mir ein altes Wissen über das «Aufstehen» anbot, bis ich endlich ein wenig davon verstehen lernte — und der mich vor allem mit einem segnete: mit der Nähe zu lebendigen, suchenden Menschen. Da wuchs etwas — und ich merkte es noch nicht.

Ein Drittes: 1989, noch bevor der SED die lange geplanten Jubelfeiern des 40. Jahrestages zur Farce gerannen, waren es einige im Osten endgültig satt, nur der öffentlichen oder der privaten Depression zu huldigen: Wo international (Helsinki trug endlich Früchte) Entspannung und etwas Vernunft, bei der Hegemonialmacht gar Glasnost und Perestroika, um sich griffen, sollte in der DDR auch ein Wandel möglich werden. Einige altgediente Liebhaber der Zivilcourage verbündeten sich mit jugendlich-alternativem und christlichem Protestpotential: Menschen- und Freiheitsrechte sollten nicht nur, wenn es um die Dritte Welt ging, sondern ganz speziell für unsere Verhältnisse thematisiert werden.

Die erstarrte SED-Führung wollte noch gern die alten Mittel anwenden, da waren aus den Bürgerbewegungen schon Volksbewegungen geworden; da wurde noch gelernt zu protestieren, und schon war die Götterdämmerung der Macht angebrochen, die uns doch gelehrt hatte, daß wir durch sie in letzter oder zumindest in vorletzter Epoche der Geschichte seien. Die SED-Führung trug im Herbst/Winter 89 noch die Gebärden der Macht zur Schau, aber jeden Tag wurden es mehr, die wußten: Es geht zu Ende.

Da wollten wir mittun, in den Kirchen und auf den Straßen. Partei und Stasi mitten unter uns — aber irgendwie ging dann alles: das Ablegen der Ängste, eher noch das Losgehen, Sprechen, Handeln trotz aller Ängste, die Freude, die uns erfaßte, als wir die Straße in Besitz nahmen, die Runden Tische in die Rathäuser und die Stasi-Offiziere auf die Straße stellten.

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Meine Kolleginnen und Kollegen der evangelischen Kirche stellten mich damals für die Gestaltung der großen wöchentlichen Gottesdienste frei (in Rostock immer donnerstags), aus denen die Demonstrationen erwuchsen. Aus dieser Zeit stammt der Wunsch meiner politischen Freunde aus dem mecklenburgischen Neuen Forum, daß ich für die Wahl zur freien Volkskammer kandidieren solle; und ich fand, daß das richtig sei. Ich wollte nicht 50 Jahre in Unfreiheit gelebt haben und bei der ersten Gelegenheit, Freiheit politisch mitzugestalten, passiv bleiben.

Ich wurde gewählt, was damals für Kandidaten aus der Bürgerbewegung recht schwierig war. Als Abgeordneter habe ich im Bereich Innenpolitik gearbeitet, und als es zur Gründung eines Sonderausschusses zur Kontrolle der Stasiauflösung kam, haben mich die Abgeordneten dieses Ausschusses zum Vorsitzenden gewählt. Die Abgeordneten der Volkskammer mißtrauten der Stasiauflösung nach Art des Innenministers Peter-Michael Diestel, so gab es viel zu tun. Eine Hauptaufgabe sollte über die Existenz der Volkskammer hinausweisen: Die Abgeordneten erarbeiteten alternativ zu einem Regierungsentwurf ein Gesetz, das den Umgang mit Stasiunterlagen regelte. Es enthielt Grundsätze, die später im Stasiunterlagengesetz des Deutschen Bundestages beachtet wurden.

Lebenswirklichkeit, Sehnsucht und Hoffnungen eines «DDR-Bürgers», Glaubenshintergrund und Berufsalltag eines mecklenburgischen Pastors, die politischen Aktivitäten der revolutionären Wende und die neuen Möglichkeiten als Mitglied einer obersten Volksvertretung — ich mußte all das noch einmal aufrufen. Eins hing unlösbar mit dem anderen zusammen: So war auch der nächste Schritt konsequent: mein Ja, als ich durch die Volkskammer zum Sonderbeauftragten gewählt und anschließend durch den Bundespräsidenten, Bundeskanzler und Bundesinnenminister berufen wurde.

Seit Anfang 1992 gilt in Deutschland das Stasiunterlagengesetz. 1)

Der neugewählte Bundestag hat viele Monate daran gearbeitet — eingeflossen sind Vorstellungen unserer Behörde sowie engagierter Demokraten aller politischen Lager, besonders, aber nicht ausschließlich, aus dem Osten.

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Wie schon im Volkskammer-Gesetz vom August 1990 sind drei konstitutive Elemente enthalten:

Diese Grundinhalte nehmen Forderungen der Demokratiebewegung des Ostens auf, sie gehen deutlich über Vorstellungen hinaus, die in der alten Bundesrepublik noch in der Entstehungszeit des Einigungsvertrages dominant waren (im wesentlichen: Sicherung und weitgehender Verschluß der Akten, um Gefahren für den inneren Frieden auszuschließen).

Es war früh vorauszusehen, daß die offene Beschäftigung mit belasteter Vergangenheit eine konfliktreiche öffentliche Debatte auslösen würde. Gegenwärtig, im Frühsommer 1992, steht weder das Thema «SED und Stasi» noch das Thema «Stasieinfluß im Kulturbereich» im Mittelpunkt öffentlichen Interesses, sondern das Thema «Stasi und Kirche». In diesem Zusammenhang wird neben der engeren Stasiproblematik auch die Grundentscheidung evangelischer Kirchen, sich als «Kirche im Sozialismus» zu definieren, thematisiert.

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Mit dem Begriff «Kirche im Sozialismus» verbinde ich, wie die meisten meiner Kollegen, durchaus Zwiespältiges. Wir haben diese Begrifflichkeit oftmals diskutiert, es ist im Grunde nie zu einer kirchenamtlichen Festlegung gekommen, was das denn nun sei; und man darf davon ausgehen, daß die Pfarrer, je enger sie sich an der Basis orientierten, desto kritischer den Implikationen im Sinne des Staates gegenüberstanden. In meiner Landeskirche ist diese Diskussion durch das Wirken des damaligen Bischofs Dr. Heinrich Rathke geprägt worden, einem überaus engagierten, für viele junge Theologen vorbildhafter Pastor, der im Rostocker Neubaugebiet früh eine Beziehung zur Gemeinde gestaltet hat, die in einer lutherischen Kirche durchaus nicht selbstverständlich war: Verzicht auf liturgische Formen, unbedingte Nähe zu den Sorgen und Problemen der Menschen, deren Nöte und deren Lebenswelt neben der Bibel für kirchliches Handeln konstitutiv wurden. Eine Nähe zur Botschaft Dietrich Bonhoeffers zeichnete diesen verehrungswürdigen Mann aus. Er hatte in den siebziger Jahren durch wichtige Referate und Diskussionsbeiträge maßgeblich in die Debatte eingegriffen. Unter dem Stichwort «Kirche für andere» wollte er zeigen, daß wir nicht im Warteraum der Zeit lebten, sondern daß wir auch in der sozialistischen Gesellschaft hoffen und uns engagieren sollten. Es galt eine Kirchlichkeit abzulegen, die sich am bürgerlichen Weltbild und an den Bedingungen der parlamentarischen Demokratie orientierte, ohne daß darüber ein Unwerturteil gesprochen wurde. Damals wollte die Kirche ganz bei den Menschen stehen. Und deshalb haben auch kritische Pfarrer, zu denen ich mich immer zählte, einen Zugang zu der Formulierung «Kirche im Sozialismus» gefunden. Sie haben es als schlichte Ortsbeschreibung betrachtet und nicht als Parteinahme. Heinrich Rathke hat uns damals gelehrt, dies nicht etwa als Kirche für den Sozialismus zu verstehen.

Das ist wichtig; mit dieser Grundhaltung kann man auch gut^zu Kompromissen stehen. Pfarrer an der Basis, insbesondere Kirchenleitungen, mußten natürlich den Weg des Kompromisses suchen, und in den Synoden wurde oftmals heftig darum gerungen, ob die jeweiligen Kompromisse auch verantwortbar waren. Hier gabelte sich ein Weg: Es gab Leute, denen der Friede mit der Macht wichtiger war als die Authentizität des christlichen Zeugnisses. Und wir erleben heute, auch wenn uns diese Weggabelung damals nicht so bewußt war, daß das für manche Entscheidung eine sehr wichtige Frage ist.

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Es gab in der DDR deutliche Unterschiede der einzelnen Landeskirchen. Es gab ja nicht die evangelische Kirche, sondern verschiedene eigenständige Landeskirchen — das ist auch heute noch so —, und so wurde zum Beispiel in Thüringen früh ein Weg der Staatsnähe beschritten, so daß Pfarrer meiner Couleur in Thüringen deutlich in eine Minderheitsposition gerieten, während sie in Mecklenburg in einer Mehrheitsposition waren. In Vorpommern war das zunächst ähnlich; aber von einer gewissen Zeit an suchte dort das Kirchenregiment eine deutliche Staatsnähe. 

In der bedeutenden sächsischen Kirche, die überaus große Verdienste hat — auch um die Herstellung der Demokratie, um das Bewahren einer menschlichen wie politischen Gegenkultur —, hat sich immer ein maßgebliches Protestpotential gegenüber den Allmachtsgebärden des Sozialismus behauptet. 

Auch in Berlin-Brandenburg hat trotz mancher Nähe, die zu den Erwartungen des Staates in den letzten Jahren der DDR entstanden ist (insbesondere im Berliner Raum und in manchem Bereich auch in der Landeskirche), an der Basis ein Protestpotential existiert, das in anderen Bereichen der Gesellschaft undenkbar war. Die kleinen Zirkel der Künstler nahmen sich neben den vielen Jugend- und Gemeindegruppen oder neben Aktivitäten wie Kirchentagsunternehmungen eher gering aus, ohne daß man ihre Bedeutung unterschätzen sollte. Aber auch in solchen Landeskirchen, in denen die Führung das Wort «Kirche im Sozialismus» stärker als Kirche für den Sozialismus thematisierte, sah die Gemeindewirklichkeit oft anders aus. Auch hier gab es eine lebendige Gegenkultur, besonders ausgeprägt in jenen Gemeinden, in denen man schon Sorge hatte, daß ganz eindeutig politisch ausgerichtete Gruppen den Freiraum der Kirche auch einengten. Nicht jede dieser Gemeinden, von denen man mit etwas Fairneß sagen muß, es habe eine Eigenständigkeit gegeben, war auch bereit, politischen Pressuregroups um Freya Klier oder Stephan Krawczyk, Bärbel Bohley oder Ulrike und Gerd Poppe Raum zu gewähren. Aber wo, wenn nicht in der Kirche, konnten diese Gruppen Treffen abhalten?

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Das Spektrum dieser Gegenkultur war breit. Zum Beispiel war es zuerst in den Kirchen möglich, daß sich Menschen, die gleichgeschlechtlich orientiert sind, zu Versammlungen trafen und ihre Gruppen bildeten. Auch die Ökologiebewegung fand zuerst unter dem Dach der Kirche Raum. All das existierte auch in solchen Kirchen, in denen die Leitungen in einem Maße kooperierten, das von heute aus kritikwürdig ist. Die evangelische Kirche ist in ihrem Erscheinungsbild durchaus uneinheitlich gewesen; ich selbst hatte Anteil an einer kirchlichen Tradition, die sich der Parteinahme für den Sozialismus verschloß, die sich bestenfalls zu einer kritischen Solidarität durchrang, der die Nähe zu den normalen Menschen, also nicht zu den herrschenden, wichtiger war. Heute erfahren wir, daß kirchenleitendes Handeln oftmals wohl Grenzen überschritten hat. Einzelne Personen stellen heute Kontakte mit der Staatssicherheit als etwas Gebotenes dar; in meinem Verständnis von Kirche und in dem meiner Landeskirche war diese Auffassung nicht enthalten.

Kürzlich hat Friedrich Schorlemmer überraschenderweise ein umfangreiches Plädoyer für die Stasi-Kontakte des Konsistorialpräsidenten und heutigen brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe vorgetragen.* Schorlemmers Plädoyer gipfelt in der Aussage, Stolpe sei «der verlängerte Arm des Widerstandes gewesen».

Die These, daß die Kirche bzw. die Opposition nur wirksam werden konnte, weil derart gute <Diplomaten> am Werk waren, übersieht die Gefahr, die dadurch entstand, daß die <Diplomaten> die Aktivitäten innerhalb der Kirche normierten und der Staat dann leichtes Spiel hatte, Ausgrenzungen vorzunehmen; sie übersieht auch, daß die <Diplomaten> oftmals in der kircheninternen Personal- und Sachdebatte stark oder zumindest stärker als angemessen die Gedanken und Haltungen der SED-Genossen verinnerlichten.

So wurde, was durch schlichte Unterdrückung nicht mehr durchsetzbar war bzw. was als ultima ratio, als Eingreifvariante drohte, oft nicht mehr in die eigenen Überlegungen einbezogen, weil einige Kirchenführer den kommunistischen Funktionär quasi internalisiert hatten — freilich eine höchst angenehme Art zu regieren. Es sollte nicht vergessen werden, daß die Erzeugung derartiger Funktionsabläufe Teil der Strategie der antidemokratischen Macht war. Wer Bürger zu Untertanen degradiert, handelt ungleich effektiver, wenn ein

 

* «Tagesspiegel» vom 10.5.1992

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Teil der Untertanen quasi <aus eigenem Willen und nach eigenem Ermessen> den Willen der Macht ausführt. Die Macht braucht dann das <Zeigen der Instrumente) als zweiten Schritt sowie die Anwendung der Instrumente (nackte Repression) als dritten Schritt nicht einzusetzen.

Wer die Verhältnisse ändern will, muß aber bereit sein, die Macht zu delegitimieren, indem er sie immer wieder zwingt, < nackt), ohne Argumente, lediglich mit dem Machtanspruch, dazustehen. So geriet kommunistische Macht in Legitimations- und Veränderungszwänge. Denn in einem durch Helsinki veränderten Europa war die ultima ratio der repressiven Machtmittel etwas, dessen Einsatz sich die Herrscher ersparen wollten. Wem diese Haltung zu radikal erschien, hatte sich immerhin davor zu hüten, durch allzu enge Kontakte zum Beispiel mit der Staatssicherheit die Macht über Gebühr zu legitimieren und damit den Spielraum der Radikalreformer gefährlich einzuengen.

Wer in dieser Zeit Verantwortung zu tragen hatte — Kirchenleitungen zum Beispiel —, hatte selbstverständlich die Pflicht, den Kompromiß zu akzeptieren, um das Unheil der Gewalt abzuwenden. Das ist mit Grund wenig zu kritisieren. Diese Kompromisse waren aber jeweils zu verantworten, waren zu erarbeiten und — wie geschehen — zu erkämpfen. Manche Äußerungen und Entscheidungen auf unterer kirchlicher Ebene entstanden auf diese Weise nach anfänglichen Diskussionen als dann gemeinsam zu verantwortende Kompromißformel oder -lösung. Das war geradezu ein Lebenselement der «Kirche im Sozialismus». Schon diese Wortschöpfung ist übrigens ein Produkt solcher Kompromißdebatten, vermied sie doch die Parteinahme für den Sozialismus, ermöglichte dem Staat jedoch zu erkennen, daß die evangelische Kirche <diesseitig), also nicht einseitig westlich orientiert war.

Ich will mir aber heute nicht von der Minderheit der IM in der Kirche bzw. denen, die auf andere Weise zu verständnisvoll und hilfsbereit waren, erklären und noch nachträglich bestimmen lassen, welche Regeln des Handelns damals geboten waren. Und wenn zudem auch die Gräfin Dönhoff in Hamburg der Meinung ist, daß in der Diktatur der Erfolg die Mittel heiligt, so muß der Pfarrer Schorlemmer aus Wittenberg dennoch nicht nachträglich für gut verkaufen, was er nie praktiziert hat. Hat man die Debatte erst auf dieser Ebene angesiedelt, greift jeder in West und Ost gern zur Feder und verteidigt lautstark die Realpolitik.

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Die derzeitige Debatte versucht ständig, eine Art von Glaubenskrieg mit dem Effekt zu erzeugen, daß man dann nicht mehr so genau hinsieht. Man stellt sich dann nicht mehr den konkreten Fragen und Vorwürfen, sondern hebt ab ins allgemeine der Staat-Kirche- bzw. der West-Ost-Problematik.

Ich bin sehr dafür, solche Diskussionen zu führen. Sie sind offenbar wichtig. Aber in bezug auf die IM in Kirche und Gesellschaft stellen sich die Fragen nun doch zugespitzter. In der Konsequenz geht es hier darum, Personen, die sich mit dem MfS zusammengetan haben, zu veranlassen, aus bestimmten Positionen für eine geraume Zeit herauszutreten, damit der Bürger in die Lage versetzt wird, Vertrauen in die Behörden und Körperschaften zu entwickeln.

Die Debatte über das Verhältnis der Kirche zum Staat wirft ein weiteres Problem auf: Es gilt einer Argumentation zu wehren, derzufolge ein realitätsbezogener Ansatz dem politisch und moralisch rigorosen gegenüberstand. Diese Argumentation wird von der Vorstellung beherrscht, die bestimmenden Größen innerhalb der Kirche seien zwei äußerst gegensätzliche Gruppen gewesen: einerseits die der Bohley, Schorlemmer, Schulz, Poppe, Templin, Klier und anderer, andererseits eine Führung, die von Personen wie Manfred Stolpe und jenen acht Mitgliedern aus kirchenleitenden Kreisen geprägt wurde, die Stolpe kürzlich öffentlich entlasten wollten.

Die Wirklichkeit in der evangelischen Kirche war freilich anders: Nicht die verdienstvollen, damals oft für politisch unrealistisch gehaltenen Basisgruppen waren die bestimmenden Größen, auch nicht die <Diplomaten>, sondern die übergroße Zahl von Gemeinden, Gemeindekreisen, kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit ihren eigenen Bekenntnis- und Kompromißsituationen. Sie waren es, die im Spannungsfeld zwischen Bekenntnis und Kompromiß die Grundhaltung des Lebens in den Kirchen der DDR prägten. Es ist insofern schlicht falsch, daß zu einem derartigen Leben auch ständige Kontakte zum MfS gehörten. Es gab aktuelle und konkrete Anlässe, mit dem MfS über eine Inhaftierung oder andere Repressionen zu sprechen. Derartiges mußte aus kirchlicher Sicht jedoch keinesfalls konspirativ geschehen.

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Auch im Lager der politischen Realisten gab es ein klares Wissen über den Auftrag der Stasi und deshalb ein vielfach ausgesprochenes Distanzgebot. So hat erst vor kurzem die Kirchenleitung der evangelisch-lutherischen Landeskirche Mecklenburg in einer Erklärung (vom 20.5.1992) eindeutig festgehalten, daß auch bei noch so schwierigen Verhandlungssituationen kein kirchlicher Mitarbeiter berechtigt war, mit der Stasi zu verhandeln. Es ist eine Beleidigung der politischen Vernunft der <Realisten) der evangelischen Kirche, wenn man heute so tut, als habe es für sie diese Distanz zum MfS nicht gegeben.

Auf allen Ebenen des kirchlichen Handelns konnte man allerdings der Versuchung erliegen, diese Distanz nicht einzuhalten.

Nun mag es nicht so tragisch sein, wenn die politische Vernunft beleidigt wird, es gibt Schlimmeres. Ich meine aber: Es gibt eine Würde der Unterdrückten und Rechtlosen, es gibt die Würde der Machtlosen. Sie besteht unter anderem darin, daß man den Unterwerfungsgestus verweigert (wozu man als ersten Schritt lernen mußte, die (Begeisterung) zu verweigern, die die Oberen als Opfer bei ihren Ritualen abforderten). Das Aufrechterhalten einer Individualität gehört dazu, die die authentischen Gefühle nicht vorschnell domestiziert und die Wahrnehmungsfähigkeit nicht storniert. Bei denkenden Menschen gehört dazu: Wahrnehmung eigenständiger Analysefähigkeit und der Mut, Kritik und Analyse zuzulassen. (So war der alte Satz der Aufklärung <habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen) zwar als historischer Text vielen bekannt, seine aktuelle Anwendung jedoch äußerst unbeliebt.)

Und es gehört zu jener Würde der Verzicht auf Teilhabe an antidemokratischer Macht.

Sie konnte zwar Lebensräume erweitern, hatte aber einen entscheidenden Verlust an Glaubwürdigkeit zur Folge. Die große Mehrheit der Pfarrerschaft und aller Mitarbeiter der Kirche, hoffentlich auch der Kirchenleitungen, hat dies gewußt.

Und so konnten substantielle Erfahrungen durch diese Minderheitenexistenz gewonnen werden: Es wuchs Vertrauen nicht nur innerhalb der Gemeinden, sondern, 88/89 erlebbar, darüber hinaus. Aus der Glaubwürdigkeit und Authentizität von Menschen, die ihrem Glauben und ihrer Hoffnung verpflichtet blieben, erwuchs

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dann die enge und breite Zusammenarbeit zwischen Kirche und Bevölkerung 1989/90. So lernten wir gerade in diesem Teil Deutschlands, daß Ausschluß von Macht gleichzeitig Gewichts- und Bedeutungszuwachs mit sich brachte.

Und die Kirche hat gelernt: Es lohnt, dem eigenen Glauben und der eigenen Hoffnung treu zu bleiben. So hat die gesamte Kirche, indem sie Gegenstrukturen menschlichen Vertrauens lebte und sich intern demokratische Grundsätze zu eigen machte, einen wichtigen Anteil daran, daß sich der Sozialismus erledigt hat. Gott sei Dank.

Wenn heute aus politischem Kalkül so getan wird, als habe es eine <Verantwortungsethik> gegeben, aus der heraus alles zu tolerieren war außer nacktem Verrat, dann besteht die Gefahr, sowohl die Würde der Unterdrückten als auch die Kämpfe, Opfer und Einsichten der glaubwürdigen Mehrheiten in der Kirche zu verraten.

Mich soll Tagespolitik dahin nicht bringen.

Meine Beschäftigung mit den Stasi-Akten hat mich mancherlei gelehrt. Erstens erfahren wir heute voller Staunen, daß weit weniger Menschen Akten haben, als sie es vermuten. Grob geschätzt erfahren gegenwärtig 50 Prozent der Antragsteller auf Akteneinsicht bei uns, daß keine Akte über sie vorliegt. Oftmals erzeugt das Protest und Verdächtigungen: Dann ist die Akte wohl weggebracht, heißt es, oder gar: Ihr habt sie weggebracht. Meine Mitarbeiter in den Außenstellen werden gelegentlich beschimpft. Wir konstatieren also, daß die Staatssicherheit, die ziemlich effektiv war, dennoch in ihrer Effektivität drastisch überschätzt wurde. Dies lehrt ein Doppeltes: wie schnell Unterdrückte dazu neigen, das Maß ihrer Unterdrückung zu überschätzen, und wie tüchtig dieser Teil der Staatsmacht gewirkt hat, wenn er durch das Vorzeigen der Instrumente so viele Menschen in die Angst versetzt hat, täglich und konkret überwacht zu werden. Das ist ein Effekt, mit dem die Machthaber trefflich arbeiten konnten. Aus der konkreten Arbeit mit Stasi-Unterlagen haben wir weiter lernen können, daß teuflische Akten gleichwohl aussagefähige Akten sein können. Das heißt, daß zum Beispiel die Kooperation von Personen mit dem MfS durch Ergebnis- und auch Observierungsberichte mit einem zureichenden Maß an Genauigkeit dokumentiert worden ist. Es gibt auch andere Sorten von Stasi-Akten, in denen nicht eine

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derartige Genauigkeit walten mußte, vielleicht auch nicht walten konnte. Das sind zum Beispiel Planungsdokumente, Einschätzungen in Plänen oder Berichte über eigene Erfolge, Einschätzungen von Personen, in denen das neurotisch oder ideologisch bedingte Wahrnehmungsdefizit der Staatssicherheit Unscharfen und Verzeichnungen verursachte. Die Erwartungen, die man etwa in einen Professor oder einen kirchlichen Mitarbeiter setzte, wurden in einer Sprache niedergeschrieben, die die eigenen Möglichkeiten rundum als wirksam darstellt. Wenn man zum Beispiel schrieb, man wolle einen Menschen steuern, dann geschah dies ohne jeden Vorbehalt, daß dieser Mensch möglicherweise ein ganz eigenes Konzept der Kontakte mit der Staatssicherheit hatte oder daß sogenannte Erfolge bei der Disziplinierung eines Menschen unter Umständen einfach den vernünftigen Überlegungen des Betroffenen entsprangen und nicht den Druckmaßnahmen. Kurz, die Beschreibung der Möglichkeiten, die die Stasi bei Menschen zu haben glaubte, die Pläne der Staatssicherheit generell, die Menschenbilder, die sie entwickelt hat, bedürfen einer nachhaltigen Kritik; insofern ist ein Unterschied zwischen den Arten von Stasi-Akten zu machen.

Ein Teil der Presse hat sich darauf verlegt, mich persönlich oder die Behörde der Aktengläubigkeit zu zeihen. Wer so spricht, hat nicht richtig recherchiert; gelegentlich soll wohl auch gezielt Mißtrauen gesät werden. Mancher Kritiker hat keinerlei Aktenkenntnis. Grundsätzlich fällt auf, daß das Urteil darüber, wie mit den Stasi-Akten umgegangen werden soll, desto sicherer ausfällt, je weiter man von den Akten und von den Gefilden der Unterdrückung und des Leides entfernt ist.

Die Akten enthalten aber neben den genannten Plänen auch Ansammlungen von Fakten, die schlicht ernstgenommen werden wollen, weil in diesen Teilen Arbeitsergebnisse dargestellt wurden, auf denen weiteres Handeln der Stasi aufgebaut wurde. Deshalb durfte die Phantasie der Stasimitarbeiter sich hier schwerlich entfalten.

Derartige Unterlagen bewahren im übrigen auch ein Wissen um Widerstand und Zivilcourage — manchmal bis zum Heldentum. Es ist ja nicht nur so, daß die Akten ein Zeugnis des Versagens und der Schuld sind; sie sind Zeugnisse der Manipulierung von Menschen durch eine Macht, die sich absolut setzte und die sich mit Menschen

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alles erlaubte. Sie sind zudem natürlich Zeugnisse des Scheiterns, Zeugnisse des Kampfes gegen das Scheitern und des schließlichen Unterliegens. Auch im Unterliegen gibt es noch unterschiedliche Arten der Kooperation — eine hinhaltende, eine taktierende, eine bereitwillige und eine übererfüllende Kooperation. Daneben gibt es die Zeugnisse des Widerstandes. Zeugnisse dafür, daß es eine Widerstandsbereitschaft gegeben hat: daß auch Sozialisten, die mit der SED gingen, sich geweigert haben, mit der Staatssicherheit zusammenzuarbeiten, daß gegen einzelne Menschen, weil sie anders nicht gefügig zu machen waren, regelrechte Strategien entwickelt wurden, um sie beruflich und menschlich zu isolieren, zu zersetzen und zu ruinieren. Hier hat sich im Ganzen ein überaus wichtiges Quellengut erhalten. Und wir wären gut beraten, es zu würdigen. Es gibt eine Vielzahl von Zeitzeugen (einige davon haben sich in diesem Buch zu Wort gemeldet), die darüber eigene Urteile abgeben können. Und es ist interessant zu sehen, wie sich die Urteile dieser, eng mit dem Material vertrauten, Zeitzeugen von Aussagen publizistischer oder politischer Einflußnehmer unterscheiden, die dieses Material nicht kennen.

 

Ich beobachte an mir seit meiner Arbeit in dieser Behörde, überhaupt seit ich wieder in Deutschland lebe, etwas Merkwürdiges. Ich habe mich zwar zeitlebens als Mecklenburger fühlen wollen, ohne daß ich es durfte, denn Mecklenburg hatten die Kommunisten wie alle anderen Länder abgeschafft und statt dessen Bezirke errichtet. Aber ich habe mich nie bewußt als DDR-Bürger fühlen wollen. Das ließ mein Stolz, das ließen mein Demokratieverständnis und mein Freiheitsbewußtsein nicht zu. So kam es, daß ich, während es die Spaltung gab, mich deutlich als Deutscher fühlte. Seit es aber die Spaltung nicht mehr gibt, fühle ich mich deutlich als Ostdeutscher, obwohl mein politisches Bewußtsein schon zur Zeit der Wende und bis heute die Einheit bejahte.

Das widerspenstige Gefühl hat seine Gründe, die ich respektieren lernen mußte. Letztlich bestehen sie darin, daß man über die Erkenntnis der Fakten allein Vergangenheit nicht zureichend vergegenwärtigen und sie schon gar nicht bearbeiten kann. Ich denke, daß zum Ernstnehmen dieser Vergangenheit der kommunistischen Diktatur (wie der Vergangenheit der faschistischen Diktatur) die Dimension

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des gelebten Lebens gehört. Wer meint, Vergangenheit bearbeiten zu können, indem er allein eine intellektuelle Debatte führt, wird zumindest die Ostdeutschen im Kern nicht erreichen. Der Vergangenheit relevant zu begegnen meint doch für den Zeitgenossen auch dies: die Erinnerung an erlebte Leiden, gehegte Hoffnungen, geführte Kämpfe und das Bewußtsein, in alledem ein besonderes Leben geführt zu haben — ein anderes eben als diejenigen, die vergleichbare Leiden und Entfremdungsprozesse nicht durchgemacht haben.

Das Problem der Debatte zwischen Ost und West besteht also nicht so sehr darin, daß sich die Sachverständigen mit den weniger Sachverständigen zu unterhalten hätten; es gibt ja bei unzähligen Westdeutschen einen hinreichenden Sachverstand, um in die aktuelle politische Debatte einzugreifen. Das Problem besteht darin, eine Tiefendimension der Begegnung mit Vergangenheit zuzulassen, in der Schmerz, Leiden oder aber Schuld, Versagen und Gewissensnot an die Oberfläche geholt, quasi aus dem Gefängnis der Verdrängung befreit werden. Und aus diesem Grunde ist es jetzt so schwer, Vergangenheit, die nur die Vergangenheit eines Teiles Deutschlands ist, gemeinsam aufzuarbeiten.

Was folgt daraus ? Wir sollten versuchen, bei unseren westdeutschen Gesprächspartnern eine gewisse Zurückhaltung gegenüber unserer Bemühung um die Vergangenheit zu erreichen. Wir wollen nicht, daß sie schweigen; sie sollen uns Fragen stellen; aber sie sollen nicht diejenigen sein, die fern vom Leid und im Grunde fern von den Prägungen speziell östlicher Entfremdung den mainstream der Entscheidung bestimmen, wie der Osten die Vergangenheit aufzuarbeiten hat. Sie sollen also respektieren, daß es eine Würde der Unterdrückten gibt, die an dieser Stelle eine Zurückhaltung des Urteils gebietet. Die Bearbeitung der Vergangenheit sollte insofern auch als schmerzhafte Begegnungskrise verstanden werden, die intellektuelle Bewältigung kann bestensfalls Teil der Bemühungen sein.

Ich erwarte also insbesondere von der politischen Klasse und von den Gesprächspartnern des kulturellen Westens die Bereitschaft zu akzeptieren, daß es bei ihr ein strukturell bedingtes Defizit an Wahrnehmungsfähigkeit gibt, das nicht schuldhaft ist, sondern das sich aus der Faktizität des unterschiedlich gelebten Lebens herleitet. Wir Bewohner des ehemaligen Ostens haben im übrigen ein vergleichbares

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Unvermögen, Entfremdungserfahrungen, die der westliche way of life bewirkt hat, anders als intellektuell aufzufassen. Daraus ergibt sich eben, daß wir noch nicht eins sind, seit wir eins wurden. Und wie sich bei Menschen, die sich lieben, aus der Liebe allein nicht eine gleichberechtigte Partnerschaft ergibt, so wird sich aus der Euphorie und Geneigtheit der Deutschen zueinander, die sich im November und Winter 1989/90 zeigte, noch nicht das Funktionieren einer wirklich achtungsvollen Gleichberechtigung ergeben. Wir müssen ganz offensichtlich respektieren, daß es Lebensbereiche gibt, in denen der andere nicht die gleiche authentische Erfahrung besitzt.

Das wird wachsen, wir werden sicher erst nach einer Generation jenes Maß an innerer Einheit haben, das ein unkompliziertes gegenseitiges Verstehen ermöglicht.

Daß ich stolz darauf wäre, ein DDR-Bürger zu sein, so etwas kam mir nie über die Lippen. Aber ich entdecke heute in mir so etwas wie ein gelassenes Selbstbewußtsein. Ich möchte zu dem Leben, das ich gelebt habe, stehen. Ich freue mich, daß ich das kann. Wolf Biermann hat in einem spöttischen Lied gesungen: «Die Stasi ist mein Eckermann». So weit wird man in der Regel nicht gehen können. Aber daß auch in einer perfiden Buchführung etwas aufgehoben ist von einem ernsten Willen großer Bevölkerungsgruppen, Anstand zu bewahren, Widerstandsgesinnung und Zivilcourage zu leben, das ist deutlich.

Freilich ist in den Stasi-Unterlagen auch evident, wie in diesem deutschen Volk der vorauseilende Gehorsam funktioniert. Und sicher ist es in Deutschland leichter gewesen, einen Stasi-Mitarbeiter zu rekrutieren, als in unserem polnischen Nachbarland, wo der Geist der Auflehnung allemal früher weht als in Deutschland. Man kann sehen, daß auch der Westdeutsche, politisch sozialisiert in 40 Jahren Demokratiegestaltung, den deutschen Gehorsam noch nicht völlig verlernt hat. Oftmals erstaunlich schnell gelang es Stasi-Agenten, Alt-Bundesbürger anzuwerben, zur Mitarbeit zu verpflichten, nicht nur durch die Hergabe von Geld, was im Westen häufiger passierte als im Osten: Bundesbürger waren gelegentlich sehr einfühlsam, manchmal gar devot. Offensichtlich ist ein starkes demokratisches Selbstbewußtsein auch nach Jahrzehnten in einem Land nicht selbstverständlich, in dem der Untertanengeist Tradition hatte. Vielleicht sind die Holländer, die Amerikaner oder die Briten resistenter gegen den vorauseilenden Gehorsam, den sich ein Geheimdienst immer zunutze macht.

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Heute begegnen uns gelegentlich Journalisten, manchmal auch Literaten, die in bezug auf die Arbeit der Behörde, der ich vorstehe, von einer neuen Inquisition sprechen. Ich lasse diejenigen aus, die in der Nähe der SED ihre ehemalig vorzügliche Alimentierung als etwas Normales hinstellen möchten und keine Lust haben, im nachhinein die Wirklichkeit kennenzulernen. Aber es gibt eine Gruppe von Menschen, die sich dafür rächen will, daß ihre Ideale oder Träume, die sie vermeintlich in der DDR verwirklicht sahen, ruiniert worden sind. Sie halten diejenigen, die heute die Topographie des alltäglichen Stalinismus nachzeichnen, für die eigentlichen Sünder, und nicht diejenigen, die die dargestellten Verhältnisse geschaffen haben. Hier gibt es so etwas wie eine groteske Bundesgenossenschaft bestimmter Journalisten, die den Zeitgeist befriedigen wollen, mit PDS-nahen Teilen der Bevölkerung, natürlich massiv unterstützt von den zahlreichen Mitgliedern der früheren Machtapparate. In den alten Bundesländern gibt es daneben eine Debatte darüber, ob Teile der früheren Ostpolitik nicht neu bewertet werden müßten. Einige Politiker und Publizisten verweigern jede Selbstkritik, kritisieren aber statt dessen unsere Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit und rücken sie in die Nähe einer Inquisition. Es ist hanebüchen, was da zum Teil an Verdrehung passiert.

Wer heute so vor einer neuen Inquisition warnt, teilt oftmals nicht mit, daß die Behörde, die ich leite, überhaupt keine Entscheidungen zu fällen hat, sondern daß sie nur zwischen dem Aktengut und den Antragstellern vermittelt. In der Behörde wird also der Daumen weder gehoben noch gesenkt. Die sogenannten Vorverurteilungen dieser Behörde erweisen sich beim näheren Hinsehen als Sachaussagen und keineswegs als Urteile, schon gar nicht als Vorurteile. Was die Presse daraus macht, ist teilweise ein völlig anderes Thema.

Ferner möchten einige Leute, die in der Regel im Westen wohnen und sich mit den ehemaligen Verantwortungsträgern im Osten verbünden, gern den Eindruck erwecken, daß es eine kollektive Bereitschaft zu jeder Art von Kollaboration, selbst mit der Stasi, gegeben habe und daß das überdies normal sei. Das Gegenteil ist der Fall:

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Unter mehr als 16 Millionen Einwohnern gab es weniger als 200000 inoffizielle und weniger als 100000 hauptamtliche Mitarbeiter der Staatssicherheit. Es gilt, die Relationen im Auge zu behalten, statt übertriebene Vorstellungen von kooperationsbereiten Bürgern zu verbreiten. Wir waren kein Volk von Spitzeln, und die wohlwollende Entschuldigung ist genauso wenig angebracht wie die diffamierende Verurteilung.

Beendeten wir die Beschäftigung mit der Vergangenheit, würde uns dies in eine zweite Schuld stürzen, ohne daß dafür nachvollziehbare Gründe vorliegen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Maß an Schuld, das Unmaß von Verbrechen so groß, daß es vielleicht eine psychische Überforderung bedeutet hätte, wenn die breite Masse des Volkes unmittelbar nach dieser Riesenschuld schon hätte bereit sein sollen, sich auch der jeweils eigenen Schuld zu stellen und sie zu akzeptieren. Zwar hat auch der Kommunismus insgesamt große Schuld auf sich geladen. Wir Deutschen aber haben hauptsächlich das dürre Gerippe mangelnder Zivilcourage in unserem Schrank, und wir müssen nicht gebannt und ängstlich die Begegnung mit der Vergangenheit der nachfolgenden Generation überlassen. Wer meint, sich vor der Vergangenheit drücken zu sollen, entweder weil es aktuell politisch wichtigere Themen gibt oder weil es bestimmten Sympathiepersonen der Öffentlichkeit im Moment schlecht geht, der wäre wirklich falsch beraten.

Die Absicht einiger Meinungsmacher, der Bevölkerung die Vergangenheitsbearbeitung als Luxus darzustellen, bedeutet, sehenden Auges die zweite Schuld einer Vergangenheitsverdrängung zu akzeptieren. Unter den politischen Verantwortungsträgern finden sich auch diejenigen, die die Vergangenheit ernst nehmen. Es gibt keinen Widerspruch zwischen der Gestaltung von Gegenwart und Zukunft und der Begegnung mit der Vergangenheit.

Wenn ich Auseinandersetzungen wie diese führe, begegnet mir häufig Kritik. Vorurteile von Menschen zu hören, die man für urteilsfähig hält, ist natürlich schwieriger zu ertragen als Vorurteile von unwissenden Personen. Es gibt auch bewußte Kränkungen und Diffamierungen, und ich bin kein Klotz, sondern ein Mensch, der Gefühle hat, und da enttäuscht so etwas. Einstweilen bin ich noch mit genügend inneren Kräften und äußerem Beistand ausgestattet, die derartige Kränkungen erträglich sein lassen.

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Sich selber treu zu bleiben, auch wenn man zwischen den Stühlen sitzt, ist ein Vermögen, das gelernt sein will. Ich bin sowohl von meiner Erziehung als auch von meinem früheren Beruf her auf Harmonie angelegt. Ich bin ein Mensch, der auch im privaten Bereich die Konflikte nicht gerade sucht, sondern häufig danach trachtet, sie zu vermeiden. Sie in der öffentlichen Auseinandersetzung für normal zu halten fällt mir nicht leicht; gleichwohl weiß ich, daß es zum Leben dazugehört. Mir geht es wie meinen ostdeutschen Landsleuten, die nur schwer akzeptieren, daß vor dem Konsens die Dissenserfahrung ihren Platz haben muß. Die oppositionelle Bewegung mußte früh lernen, eine einmal gefundene Konsensbasis zu verlassen, sich in unterschiedliche Parteien und Strömungen zu differenzieren, und auch das war mit Ängsten verbunden. Wir haben es, das gilt fast generell für den Osten, oftmals einfacher gefunden, gegen die anderen in einer großen inneren Einheit zu opponieren .

Die Bereitschaft, Dissens zu akzeptieren, wo nötig zu erzeugen, schließt für mich auch persönliche Meinungsäußerungen ein; sie sind nicht parteipolitisch orientiert. So, wie der Gesundheitsminister darüber spricht, daß Rauchen schädlich ist, und der Justizminister die Verbrechensbekämpfung für eine gute Sache hält und damit Partei ergreift, so werde ich selbstverständlich Partei ergreifen, wenn die Grundrichtung des Stasi-Unterlagengesetzes hinterfragt wird, wenn relevante Vergangenheitsaufarbeitung auch in Form des Kampfes gegen antidemokratische Kräfte zur Debatte steht. Hier eine Unparteilichkeit von mir zu erwarten wäre überzogen. Ich bin Partei und bleibe Partei, und meine Parteinahme orientiert sich am Grundgesetz und an der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Wir können mit guten demokratischen Gründen zu der Richtung stehen, die wir gefunden haben; wir können es insbesondere deshalb, weil die revolutionäre Bewegung auf den Straßen, weil die Demokratiegestaltung in der Volkskammer und weil die Gesetzgebung im Deutschen Bundestag in einem klar erkennbaren Zusammenhang stehen.

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Es ist erstaunlich, was diejenigen, die aus dem Osten mit ihrer Sehnsucht nach Freiheit aufgebrochen sind, im Westen oft vorgefunden haben: eine Reflexion des Freiheitsbegriffes nur aus Defiziten heraus. Freilich muß einer, der 40 Jahre lang in einem demokratischen Staatswesen wie diesem gelebt hat, bereit sein, auch negative Erfahrungen zu reflektieren. Aber diejenigen, die mit einer Freude an der neuen Freiheit in der Freiheit angekommen sind, haben sich doch einigermaßen verwundert die Augen gerieben, wie wenig Zeitgenossen im Westen eine elementare Beziehung dazu hatten, in einem freien Land zu leben.

Erfahrbare Freiheitselemente wie eine funktionierende Gewaltenteilung, eine freie Presse, wenn auch nicht eine ideale, die Freiheit gewerkschaftlicher Aktivität, ein mit unterschiedlichen pädagogischen Ansätzen ausgestattetes Bildungswesen und vieles mehr wäre zu nennen. Das sind Elemente, die die Suchenden aus dem Osten hier im Westen vorgefunden haben, die real-existierenden Bestandteile eines Entwicklungsprozesses, dessen emanzipatorische Wurzeln im vorigen Jahrhundert und früher liegen. Es gibt eine bestimmte Richtung der kritischen Intelligenz, insbesondere in der alten Bundesrepublik, die die eigene Wirklichkeit nur noch über die Entfremdungsvorgänge reflektierte und von daher der Idealisierung anderer Gesellschaftskonzepte zuneigte. Wer im Osten, getrieben von der Sehnsucht nach Freiheit, aufgebrochen war, kam in einem Westen an, dessen Bewohner oftmals nicht erkannten, daß Freiheit tatsächlich existierte.

Natürlich waren wir weder beim Aufbruch noch bei der Ankunft so naiv zu glauben, wir seien in einen paradiesischen Endzustand gelangt. Wir sind auch durchaus gewillt, die Freiheit nach der Freiheit zu suchen. Wir verstehen uns aber heute mit denjenigen Gesprächspartnern besser, die uns zubilligen, daß ein Teil unserer Sehnsüchte in der parlamentarischen Demokratie verwirklichtest.

Wenn ich die gegenwärtige geistige und politische Situation reflektiere, so gibt es natürlich Gründe, mit der Entwicklung unzufrieden zu sein, aber ich gehöre zu denen, die zunächst die positiven Möglichkeiten einer Situation reflektieren. Ich habe das schon zu Zeiten der Diktatur getan und bin dabei nicht untergegangen. Ich denke, gerade jetzt soll man Möglichkeiten, die wir haben — durch die neue Offenheit, Themen zu debattieren, auch diese Archive zu nutzen —, nicht frühzeitig aus dem Leben reden. Wir arbeiten in einer historisch außerordentlich komplizierten Situation äußerlicher Einheit und innerer Distanzen. Bürger haben mit dem Gesetz über die Stasi-Unterlagen eine ganz neue Möglichkeit, früher streng geschütztes Material eigenständig und subjektorientiert zu nutzen. Wir erfahren, daß das Recht, mit vormals geschütztem Material umzugehen, ein Element von Freiheit enthält, und wir erleben, daß — wie in anderen Bereichen des Lebens — Freiheit auch Ängste freisetzt. Die Freiheit ruft im Menschen zuerst Freude hervor und führt als Schatten immer Angst mit sich. Die alten Ängste legen wir mühsam ab, und schon sind neue Ängste da.

Schlimm wäre es, wenn wir den Einflüsterern folgten, die, in merkwürdigen Koalitionen auftretend, den Bürgern sagen, daß der Befreiungsprozeß zu gefährlich sei. Und heilsam wäre es, den Einladungen der Freiheit zu folgen, der eigenen Vergangenheit, dem Schatten eigener Schuld zu begegnen und der eigenen Courage bei der Gestaltung von Gegenwart und Zukunft zu trauen. 

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