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9. Andreas Schmidt: Auskunftspersonen

 

 

   1  Rückschau   

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In meiner Erinnerung messe ich dem Zeitraum von Frühjahr 1983 bis Herbst 1985 eine besondere Bedeutung in meinem bisherigen Leben zu. Es ist jener biografische Zeitabschnitt, der mich mit Menschen in Berührung brachte, die durch couragierte Auflehnung, Protest und mit mutigen Antworten aus der dogmatischen Selbst­verständlichkeit einer Geistes- und Verstandeskultur heraustraten, die in rigider Weise das Gefühl vermittelte, zur völligen Wirkungslosigkeit verdammt zu sein. 

Es waren die engagierten Menschen in Friedenskreisen, Ökologiegruppen, in alternativen und nichtöffent­lichen Diskussionskreisen, deren Widerstand nie ermüdete, auch wenn ihnen eine immer stärkere Marginalisierung am Rande der Gesellschaft drohte. Sie haben immer wieder an humanistische Werte und globale ethisch-moralische und ökologische Zielstellungen erinnert sowie ihrer natürlichen Sehnsucht nach dem Selbst einen Sinn verliehen!

Ich weiß heute, daß der politische und auf eine humane Orientierung zielende Wagemut für viele von ihnen im Gefängnis und/oder im Exil endete: Das staatliche Spektrum der Verfolgung jener, die der Fäulnis der DDR-Gesellschaft in die Tiefe leuchteten, war groß: Bespitzelung, Vernehmung, Festnahme, Berufsverbot, Publikations­verbot, Auftrittsverbot, Bedrohung, Prügel, Gefängnis..... 

Andererseits wunderte mich — in meinem Umfeld als Student in Rostock — die moralische Ermüdbarkeit gegenüber den herzlosen, granitenen Gewißheiten, die uns das Leben bescherte; dieses amoralische und kompromißvolle Einverständnis, das zu einer absurden Duldung jener moralischen Lehrstücke und Dramen führte, die tagein, tagaus reumütige und um Nachsicht bittende Menschen erzeugten. Der Diskurs eines elitären Machtfilzes kolonisierte die Erfahrungswelt des einzelnen bis in seine geheimsten und intimsten Regungen hinein. Das innere Leben erstarb mehr und mehr.

 

Ich bin der Auffassung, daß die Mehrheit der ehemaligen DDR-Bevölkerung ein Produkt aus jahrzehnte­langer menschlicher Demoralisierung und dem Narkotikum Ideologie darstellt, die uns innerlich darauf vorbereiteten, zu kollaborieren; die Indoktrination hat uns geschult, über andere zu urteilen und zu werten und sie, wenn es sein mußte, auch ans Messer von Normen, Disziplin, Gehorsam zu liefern: Von Feinden umgeben, bedroht von der Unterwanderung durch «feindlich-negative Elemente», galt es, aufzuspüren, anzuklagen, zu verurteilen, auszustoßen.

Bei vielen Studenten dominierte der Wunsch nach einer geruhsamen Identifizierung mit den DDR-Verhältnissen, deren Agitatoren eine Kontinuität von Erfolgen servierten, Vorzüge und positive Werte herleiteten, während der Rest der Welt — der Kapitalismus — auf seine negativen Seiten reduziert wurde. Eigene Frustrationen und Verstimmungen verschwanden hinter dieser dogmatischen Wirklichkeitsvermittlung und paarten sich mit Erlebnisarmut und weltanschaulicher Hilflosigkeit.

Ich möchte erinnern: an die unzähligen verpaßten Möglichkeiten, aus dem Schatten von Symbolen und Ikonen der Angst herauszutreten, an die einmütige Bequemlichkeit, den Weg des geringsten Widerstandes zu wählen, der paradoxerweise ein Streben nach Knechtschaft beförderte, und an die Bereitschaft, das Leben auf dem Abstellgleis Einordnung — Unterordnung — Unterwürfigkeit zu ertragen.

 

   2  IM-Vorlauf   

 

Vor mir liegen die aufgeschlagenen Seiten einer orangefarbenen Akte; und ich denke daran, daß jenes Stück Leben, das diese Seiten mit ihren Aktenvermerken, «Operativinformationen», mit ihren konspirativen Niederschriften besitzen, alle Menschen einschließt, mit denen ich in den 80er Jahren befreundet war oder rein zufällig verkehrte: Es handelt sich hierbei um eine «IM-Vorlauf-Akte», die im April 1985 durch Mitarbeiter der Staatssicherheit in der Bezirksverwaltung Rostock angelegt wurde. 

Erst heute, also sieben Jahre später, verschafft mir der Einblick in diese Akte die Möglichkeit, Hintergründe meines konspirativen Zusammentreffens mit dem sogenannten «Führungsoffizier» zu erfahren und darüber zu reflektieren. Bei mir war es eine Mischung aus Fügsamkeit und Überzeugtsein, die mich bereitwillig gemacht hatte, vertrauliche, geheime Gespräche mit dem MfS-Organ zu führen — nicht zuletzt deshalb, weil ich glaubte, dadurch meine kritischen Intentionen und Zweifel im Hinblick auf die erlebte DDR-Wirklichkeit artikulieren zu können.

Ich erinnere mich an den roten Wartburg, mit dem ich in ein entlegenes Waldstück am Rande der Stadt Rostock befördert wurde, an meine damalige Angst, irgendwohin entführt oder verschleppt zu werden, an die operative Technik (Tonband, Mikrofon), die eingesetzt wurde und die ich zu bemerken glaubte, weil ich eine merkwürdige Rückkopplung beim Sprechen im Innenraum des Wartburgs wahrzunehmen schien, an die ernsten Gesichter der beiden Offiziere des Staatssicherheitsdienstes, wie sie mit zackigen Worten an meine Staatstreue appellierten und dabei eifrig bemüht waren, ein Vertrauensverhältnis zu mir aufzubauen: denn darin wurden sie geschult, und der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses hatte vom Führungsoffizier auszugehen. — Vor allem fällt mir jetzt wieder ein, daß ich wenige Monate zuvor in den Verruf gekommen war, Spitzel des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zu sein. Die Niedertracht dieser einzigartigen Verleumdung habe nicht nur ich erdulden und spüren müssen. Ich habe einige Menschen in meinem studentischen Umkreis erlebt, bei denen diese Anschuldigung, Verleumdung, letztlich Denunziation viel Schmerz hinterließ. Und sie waren fortan in ihrer sozialen Gruppe gebrandmarkt.

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Mit dem Stigma dieser Demütigung mußten viele leben, weil es über lange Jahre keine Möglichkeit gab, den Spitzelverdacht zu entkräften bzw. zu berichtigen. Wer auch immer derartige Schmähungen säte und verbreitete, sie fielen auf fruchtbaren Boden angesichts jener latenten Beziehungserkrankung zwischen den Menschen, die sich durch Mißtrauen, Mißgunst, Neid, Intrigen in der Gesellschaft fortpflanzte. Überall, wo die dynamischen Mechanismen der Erniedrigung und des Herabsetzens griffen, wurden Freundschafts- und Vertrauensbande gekappt.

Daran denke ich in diesem Augenblick, daß wenige Wochen, nachdem mich der Spitzelvorwurf gegenüber meinen besten Freunden und Bekannten in innere Nöte versetzt hatte, tatsächlich die «Kontaktaufnahme» durch Offiziere des MfS stattfand: Nun war ich wirklich ein «IM-Kandidat»! Und die Vorlauf-Akte ist eine akribische «Nachweisführung» über den Versuch, mich für die «Lösung politisch-operativer Aufgaben» zu gewinnen. 

Im Vorschlag zur Kontaktaufnahme finde ich den damaligen Blickwinkel des MfS auf meine Person:

«Aus den vorliegenden Sachverhalten wird erkennbar, daß Sch. über operativ-interessante Verbindungen zu operativ-bedeutsamen Personen aus der sogenannten Aussteigerszene in Rostock und darüber hinaus verrügt. Es wird vorgeschlagen, die eingetretene Situation zu nutzen, um mit Sch. in Kontakt zu kommen. Als Anlaß wird die bevorstehende Exmatrikulation genutzt und Sch. aufgezeigt, daß durch sein Verschulden im Endeffekt ein geplanter Diplomlehrer für Sonderschulen der Volksbildung verloren geht. Mit diesen Ausführungen soll erreicht werden, daß sich Sch. in der Richtung öffnet, unbedingt wieder studieren zu wollen. In diesem Zusammenhang wird er aufgefordert, zu seinem bisherigen Leben Stellung zu beziehen. Bringt Sch. die vorhergenannten Sachverhalte zur Sprache, wird an seinen Wiedergutmachungswillen appelliert. Dies wäre gleichzeitig die Grundlage für weitere Kontaktgespräche, ohne zunächst über konspirativ erarbeitete Sachverhalte zu sprechen. Verhält sich Sch. verschlossen, wird ihm eindeutig mitgeteilt, daß die Universität kein Interesse an einer Wiederaufnahme des Studiums hat. Im nächsten Gespräch wird geprüft, inwieweit er bereit ist, Personen zu belasten

Darum sollte es also auch in meinem Fall gehen.

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Nahezu klassisch finde ich in dieser Akte ausformuliert, wie biografische Brüche und Phasen psychosozialer Instabilität von Menschen ausgenutzt wurden, um sie in konspirativen Szenen — ob im Wald oder in «konspirativen Wohnungen» — zu Akten der Hingabe an einen Staat zu erniedrigen, der seine kritischsten Köpfe in die Haftanstalten oder ins Exil abkommandierte, der die Einschüchterung und Verfolgung wirklicher und vermeintlicher Gegner der DDR am hellichten Tage vornahm, der die Masse der Menschen fortwährend demoralisierte, so daß Begriffe wie moralische Integrität und moralische Verantwortung zunehmend ihren Sinn verloren.

Nach einem halben Jahr voll von Werbungsgesprächen und Augenblicken der Erschöpfung und des selbstquälerischen Abwägens lehnte ich die «inoffizielle Zusammenarbeit» mit dem MfS ab. Die IM-Vorlaufakte wurde abgeschlossen und archiviert. Daß ich die Entscheidung getroffen hatte, mich nicht daran zu beteiligen, als Informant des MfS meinen Freunden eine kriminelle bzw. staatsfeindliche Identität zuzuschreiben, war für mich im nachhinein eine befreiende und wertvolle Erfahrung: daß es möglich war, sich an eigenen moralischen Werten zu orientieren und dem System nicht bedingungslos Gefolgschaft zu leisten. — Ich hatte mich auch einem Freund anvertraut, der wenige Monate später im Strafvollzug einsaß.

Heute weiß ich, daß im selben Jahr 448 Menschen durch Mitarbeiter der MfS-Bezirksverwaltung Gera angesprochen wurden, eine «inoffizielle Zusammenarbeit» mit dem MfS einzugehen: 448 IM-Vorläufe wurden angelegt und in das dafür vorgesehene Registrierbuch «Form 64» eingetragen. Mit dieser Eintragung wurde das erstmalige Erscheinen bzw. der Ausgangspunkt der Kontaktaufnahme zu einem IM-Kandidaten dokumentiert. In der ausgegebenen Vorlaufakte befinden sich neben dem Eröffnungsbericht schriftliche Hinweise zur «Notwendigkeit der Gewinnung des Kandidaten»; Vermerke über die Umstände, wie die zu gewinnende Person ins Blickfeld des MfS geriet; Aussagen zur «vorgesehenen Einsatzrichtung» und zur «IM-Kategorie»; Informationen, die das Persönlichkeitsbild des Kandidaten erhellen sollten; sowie der Werbungsvorschlag, der den unmittelbaren Ausgangspunkt für die sich anschließenden Werbungsgespräche mit dem Kandidaten bildete. Diese Gespräche sollten den Nachweis erbringen, ob der IM-Kandidat offen und bereit war, über Personen und Sachverhalte zu berichten. In der Regel dauerte

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die Werbungsphase mehrere Monate und mündete in die Bereitschaft des Kandidaten ein, eine Verpflichtungserklärung zu unterschreiben und einen Decknamen anzunehmen. Andere Varianten waren mitunter die Abnahme einer mündlichen Verpflichtung oder die Besiegelung des konspirativen Bündnisses per Handschlag. In selteneren Fällen konnte mit dem Kandidaten eine Sofortwerbung vereinbart werden. Meine Recherchen zu den 448 angelegten IM-Vorläufen ergaben, daß 351 Personen nach einer längeren Werbungszeit bereit waren, mit dem zuständigen Führungsoffizier zu kooperieren. 

Bestimmte Motive und Beweggründe haben dabei immer wieder den Ausschlag gegeben: materielle Verlockungen und Zuwendungen, die dem Kandidaten in Aussicht gestellt wurden; das Eröffnen von beruflichen Perspektiven, die dem Karrierewunsch des Kandidaten entsprachen; weltanschauliche Überzeugungen, aber auch das Nachgeben im Hinblick auf sogenannte «Faustpfänder» oder kompromittierende Fakten und menschliche Verfehlungen, die das MfS oft als Ansatz für eine Gewinnung nutzte. Bei 41 Personen fand eine «Sofortwerbung» statt, deren Grundlage zumeist eine gesteigerte Verbundenheit und Identifikation mit den DDR-Verhältnissen war. 50 IM-Kandidaten lehnten eine inoffizielle Zusammenarbeit ab. Viele von ihnen begründeten das mit ihrer Moralauffassung, mit psychologischen Bedenken, mit religiösen Überzeugungen, mangelndem Interesse oder mit ihrer antisozialistischen Einstellung gegenüber dem Staat.

Einige IM-Kandidaten wurden ausgemustert, weil sie in den Augen der Staatssicherheit geistig oder charakterlich den «Konspirativen Erfordernissen» nicht genügten. Sechs der angesprochenen Personen saßen in Haftanstalten ein und erklärten sich als «Wiedergutmachung» dazu bereit, über Mitgefangene auszusagen: Hafterleichterung oder vorzeitige Haftentlassung waren dann die Belohnung für ihre denunziatorischen Dienste als «Zelleninformanten».

Diese Zahlen und Fakten belegen, daß wir gut unterscheiden können zwischen denen, die in die konspirative Zusammenarbeit einwilligten, und jenen, die sich verweigerten. Bei ihnen kam es zur Archivierung der IM-Vorlaufakte. Bei den ersteren wurde der IM-Vorlauf in einen «IM-Vorgang» umregistriert. Und der Einblick in die Arbeits- bzw. Berichtsakte wird eine differenzierte Bewertung möglich machen, wird das Maß ihrer Verantwortlichkeit bestimmen lassen;

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um so mehr, wenn sie sich ihrem akuten oder latenten Gewissenskonflikt mit der Vergangenheit durch Schuldabweisung, Verdrängung oder Gleichgültigkeit zu entziehen versuchen.

Der Vollständigkeit halber muß auch erwähnt werden, daß die konspirative Zusammenarbeit zwischen einigen IM und ihren Führungsoffizieren nicht immer von Kontinuität geprägt war. Mitunter verlor das MfS schon nach kurzer Zeit das Interesse am Kandidaten, weil sich die Voraussetzungen geändert hatten: Krankheit, Arbeitsplatzwechsel, Umzug, Redseligkeit, die zu einer Gefährdung der «Konspiration» führte, aber auch Handlungen allgemeiner Kriminalität durch den IM führten dann zur Beendigung der Zusammenarbeit. Der IM-Vorgang wurde archiviert. Andere IM entzogen sich dem Zugriff ihres Führungsoffiziers durch ausweichende Unpünktlichkeit, durch Unehrlichkeit und nicht vorhandene Objektivität bei der Berichterstattung und lösten auf diese Art und Weise das Problem ihrer inneren Bedrängnis, aufgrund wachsender moralischer Bedenken oder weil sie sich vielleicht in einem schwachen Augenblick ihres Lebens der konspirativen Verschwörung hingegeben hatten. Andere wieder «dekonspirierten» ihre Tätigkeit für das MfS und wendeten sich vertrauensvoll an den Ehepartner oder an Freunde. Ebenso gab es Fälle von «Verrat» und Überläufertum von IM, die zum Beispiel nach dem Ablauf einer Dienstreise in den Westen nicht zurückkehrten. In sehr seltenen Fällen war ein Wandel in den Überzeugungen und Einstellungen gegenüber dem DDR-Staat zu registrieren, der den IM zu einem rigorosen Abbruch der «IM-Tätigkeit» veranlaßte.

 

   III Kontaktaufnahme und Bestandsaufnahme  

 

Auf was sich ahnungslose Menschen in der Vergangenheit einzulassen hatten, wird an einem Beispiel drastisch deutlich. Die Verdinglichung der Menschen beruhte auf ausgeklügelten Planungen und Maßnahmeplänen, auf deren Basis nicht nur das Anderssein und Andersdenken bekämpft wurde: Die kriminelle Energie, die mit den Konzeptionen und Operativplänen entfesselt wurde, verstrickte ein-

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zelne Menschen immer wieder in Situationen offener oder gar anonymer Bedrohung, verbreitete Angst und unterhöhlte das Selbstwertgefühl. Die <Werkzeuge> dafür, die IM, wurden vom MfS sorgfältig ausgesucht und nach vollzogener «Anwerbung» aufwendig auf ihre Aufgaben vorbereitet.1 Ihre Tätigkeit — und auf einer zweiten Ebene übrigens auch die ihrer «Führungsoffiziere» — unterlag einer kontinuierlichen Kontrolle, «IM-Bestandsaufnahme» genannt.

i. Kontaktaufnahme mit der (...)

Auf Grund des vertraulichen Verhältnisses, welches in der Katholischen Kirche zwischen Geistlichen und Gläubigen besteht (u. a. Beichtgeheimnis) ist bei einer Kontaktaufnahme mit der (...) unter dem Vorwand, Probleme der Pastoralsynode oder andere kirchliche Fragen klären zu wollen, von vornherein zu erwarten, daß sie darüber ihrem Seelsorger Mitteilung macht und somit die Zielstellung einer späteren Zusammenarbeit nicht erreichbar ist. Um zu prüfen, ob die (...) überhaupt bereit ist, sich mit uns zu unterhalten und z. B. Probleme ihrer beruflichen Tätigkeit mit uns zu besprechen wird die (...) unter dem Vorwand, Fragen im Zusammenhang mit der Zivilverteidigung (ZV) klären zu wollen, durch uns angesprochen. Die (...) hat auf diesem Gebiet in der Vergangenheit eine gute Arbeit geleistet und war bei der Ausbildung als Gruppenführer und Operativ Stellvertreter eingesetzt. Für ihre Einsatzbereitschaft wurde sie prämiert und mit der Ehrennadel der ZV ausgezeichnet.

Die (...) wird am (...) in das Arbeitszimmer des Verantwortlichen für ZV an der Universität bestellt. Die Mitarbeiter der AbteilungXX/4 werden sich als Mitarbeiter des MfS vorstellen, um nicht bei späteren Gesprächen die (...) zu schockieren.

Der (...) wird ausgehend vom humanistischen Anliegen der Politik unseres Staates das Problem der ZV in bezug auf ihre Stellung und Haltung zu Christen dargelegt. Es ist anzunehmen, daß sie über dieses Gespräch mit ihrem Pfarrer spricht. Da das Gespräch aber nicht ihre Tätigkeit in der Pastoralsynode bzw. als aktiver Laie der katholischen Kirche betrifft, wird sie über die wahre Zielstellung des Gesprächs keine exakten Vorstellungen entwickeln können. Andererseits werden wir feststellen können, ob die (...) überhaupt gewillt ist, uns über die angeschnittenen Fragen zu informieren oder ob sie ein solches Gespräch ablehnt. Das Gespräch soll so gehalten werden, daß es die Möglichkeit weiterer Gespräche offen läßt.

l Je nach Notwendigkeit des Einsatzes und der Aufgabenstellung eines IM wurden durch das MtS verschiedene Einstufungen vorgenommen, von denen der IM in der Regel keine Kenntnis besaß; grundlegende Voraussetzung für eine inoffizielle Tätigkeit war die Einhaltung der Konspiration.

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2. Operative Kontrollmaßnahmen Zielstellung:

Es soll geprüft werden: — Macht die (...) Mitteilung über die Gespräche mit dem MfS zu ihrem Pfarrer ? — Macht die (...) im Arbeitsbereich Mitteilung

über ihren Kontakt mit dem MfS ?

Realisierung: — Absprache mit der KD1 (...) über den Einsatz des IM (...). Dieser wird in einem Gespräch mit dem Pfarrer feststellen, ob dieser über Informationen zu unseren Aktivitäten verrügt.

— Maßnahme-A-2 über den Telefonanschluß der (...) am Arbeitsplatz, Tel.-Nr. (...) App. (...) und über die Tel-Nr. (...) des Kath. Pfarramtes in (...)

— Absprache mit der KD (...) über IM-Einsatz im Arbeitsbereich, um Reaktionen der (...) in diesem Bereich zu erhalten.

3. Operative Notwendigkeit und Perspektive des IM-Kandidaten   

Auf Grund ihrer Laientätigkeit im Bereich der Katholischen Kirche und ihrer Tätigkeit als Synodale hat die (...) einen umfangreichen Eindruck über die Situation innerhalb der Katholischen Kirchen und sie kann Entwicklungstendenzen im Verhältnis Kirche/Staat erkennen und einschätzen. Durch ihren guten Kontakt zu klerikalen Kreisen und ihrer Verbindung zu verschiedenen Synodalen würden sich Möglichkeiten der operativen Kontrolle dieser Personen durch die (...) ergeben. Auf Grund der Spezifik der katholischen Linie wird es aber einen längeren Zeitraum beanspruchen, bis die (...) für solch einen Einsatz zu verwenden ist. In der nächsten Zeit (bis Ende...) soll das Verhältnis zu Studentenpfarrer (...) geklärt werden, um daraus evtl. kompromittierendes Material gegen den (...) und gegen die (...) zu erhalten. Andere Anhaltspunkte sind zur Zeit in dieser Richtung nicht zu erkennen.

4. Konzeption zum Ausbau des IM-Vorlaufes Die (...) wird am (...) zwecks Klärung einiger Fragen zu ihren Personalangaben auf das VPKA3 bestellt. Hier wird sie vom Unterzeichnenden empfangen und ein Gespräch mit ihr zu folgendem Problem geführt:

Bei der Einreisekontrolle an der GÜST4 (...) wurde bei der Überprüfung der Toilette eines D-Zuges beiliegender KASSIBER festgestellt. Nach den

1 KD: In jeder Kreisstadt eines Bezirkes der ehemaligen DDR gab es eine Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit.

2 Maßnahme -A-: Telefonüberwachung.

3 VPKA: Volkspolizeikreisamt

4 GÜST: Grenzübergangsstelle

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uns vorliegenden Kenntnissen handelt es sich dabei um eine bei den ZEUGEN JEHOVAS übliche Art der Nachrichtenübermittlung. Der (...) wird danach anheimgestellt, sich zu diesem Problem zu äußern. Im weiteren Gesprächsverlauf wird die (...) befragt, welche Zusammenhänge sie zwischen dem Kassiber und ihrer Person sieht:

Hat sie schon Verbindungen zu Anhängern der Zeugen Jehovas oder Symphatiebekundungen gehabt ? Wie kann sie sich den Inhalt des Kassibers erklären ? Wie kann ihre Adresse in der BRD bekannt geworden sein? Gibt es in der DDR Personen, die der (...) bekannt sind, die Verbindungen zu Zeugen Jehovas unterhalten bzw. selbst welche sind ? Nach Klärung dieser Fragen wird das Gespräch mit der (...) beendet. Durch die von uns weiter einzuleitenden Maßnahmen in dieser Hinsicht, wird der Ausbau des Kontaktes zur (...) möglich sein.

5. Vorgesehene Maßnahmen

- Absprache mit Genösse (...) zwecks Bestellung der (...) zum VPKA

- Schreiben eines Kassibers, der den üblichen Methoden der Nachrichtenübermittlung der Zeugen Jehovas entspricht — Termin (...)

- Gesprächsführung entsprechend der Konzeption durch Unterzeichnenden

- Weitere Aktivitäten unsererseits, die ein scheinbares Interesse der Zeugen Jehovas an der (...) vortäuschen sollen: Versand von ZJ-Materialien (Wachturm/Erwachet) in größeren zeitlichen Abständen mit fingierten Adressen aus dem süddeutschen Raum. Dadurch gibt es die Möglichkeiten, die Gespräche auszubauen bzw. die Ehrlichkeit der (...) zu überprüfen und es wird ihr Interesse an der Klärung der Problematik stimuliert.

Es ist gut zu wissen, daß auch diese IM-Kandidatin nach kurzer Zeit weitere Kontakte mit dem MfS verweigerte.

Im Mittelpunkt der «IM-Bestandsaufnahme», die in regelmäßigen Abständen — jährlich mindestens einmal im Zusammenhang mit der «Erstellung von politisch-operativen Lageeinschätzungen» — zu fertigen war, wurden immer wieder Fragen zur «Effektivität» und «Intensität» der Zusammenarbeit mit den IM aufgeworfen. Auf der Grundlage einer Planvorgabe durch den Leiter der jeweiligen Bezirksverwaltung ging es um eine detaillierte Analyse der Arbeit des IM-führenden Mitarbeiters mit seinen «Quellen».1

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Die Einschätzungen bezogen sich auf die Anzahl der durchgerührten Treffs, Treffdauer, die Einhaltung des festgelegten Treffrhythmus, den Auslastungsgrad von konspirativen Wohnungen und anderes mehr. Durch die « ständige Klärung der Frage - Wer ist wer ?»2 wurden die Inoffiziellen Mitarbeiter laufenden Überprüfungen ausgesetzt, um möglichst frühzeitig Anzeichen von Unehrlichkeit, Dekonspiration oder gar Doppelagententätigkeit zu erkennen. Wichtig waren ebenso Aussagen zum « operativen Aussagewert» der erarbeiteten Informationen sowie über Ursachen und Umstände von IM-Verlusten bzw. Archivierungen.

Im folgenden beispielhaft einige Aussagen und Schlußfolgerungen aus einer IM-Bestandsaufnahme:

1. IMS «Siegfried»

IMS und Ehefrau (mitverpflichtet) werden genutzt zur operativen Kontrolle kirchlicher Hauskreise, entsprechend der Schwerpunkte der Linie XX.3 IMS ist operativ erfahren, da er mehr als dreißig Jahre IM. Er bearbeitete mehrere OV4) und war bei Durchführung OPK5 beteiligt, zuletzt bis 1988 OPK «Weis». 1987/88 erfolgte auch Nutzung zur Aufklärung einer Verbindung ins Operationsgebiet (BRD/West-Berlin). Informationen des IMS zu kirchlichem Hauskreis sind operativ bedeutsam für Lageeinschätzung unter diesem Personenkreis. Treffs erfolgen regelmäßig in Abständen von 3 Wochen. Weitere Perspektive ist gegeben (1989 bis 30. /. 89 -10 Treffs mit 9 Informationen).

 

1)  Informationsträger, die «politisch-operativ bedeutsame Informationen» zu Personen und Sachverhalten lieferten; es gab a) inoffizielle Quellen: Inoffizielle Mitarbeiter; b) offizielle Quellen: u. a. Tagespresse, Zeitschriften, Informationsspeicher etwa der Volkspolizei, Kaderunterlagen, oftmals Direktoren von Schulen, Betriebsdirektoren u.a.m. Für Quellen bestand ein genereller Schutz, eine generelle Geheimhaltungspflicht.

2)  Grundsatzfrage im MfS-Betrieb, um das Persönlichkeitsbild bzw. Handlungen einer Person zu hinterfragen: Wann - Wo - Wie - Womit - Was - Warum - Wen - Wer -Was wurde veranlaßt - Geschlecht - Alter - Gestalt - Kopfform - Gesicht - Körperhaltung und Besonderheiten - Stimme und Sprache - Bekleidung.

3)  Organisationsaufbau des MfS, wonach alle Diensteinheiten auf zentraler (Berlin) und bezirklicher Ebene miteinander in Kooperation standen, um Aktivitäten und Erscheinungen des «politischen Untergrundes» (PUT) bzw. der «politisch-ideologischen Diversion» (PiD) zu beobachten, zu untersuchen und zu bekämpfen (Beziehungen zu OPK und 0V).

4)  Operativer Vorgang

5)  Operative Personenkontrolle

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2. IMS «Musiker»

Die Einsatzrichtung des IM ist unter dem Aspekt seiner neuen Tätigkeit in einer Profi-Musikgruppe zu überarbeiten, wobei nach wie vor seine operativen Möglichkeiten im Klub der Jugend und Sportler genutzt werden müssen. Daraus ableitend ist der IMS mit einer solchen Legende auszurüsten, daß er jederzeit die Möglichkeit hat, sich in diesem Personenkreis zu bewegen.

3. IMS «Günther»

Der IMS fiel mit einem versuchten ungesetzlichen Grenzübertritt an. Im Ermittlungsverfahren wurde herausgearbeitet, daß der IMS bis zu diesem Zeitpunkt ehrlich mit dem MfS zusammengearbeitet hat. Eine Anhäufung persönlicher Probleme, über die er nicht berichtet hatte, führte zum Entschluß eines ungesetzlichen Grenzübertritts. Es ist zu prüfen, ob und wie eine inoffizielle Zusammenarbeit weitergeführt werden kann.

4. IMS «Brenner»

- Dekonspiration gegenüber Kontaktperson im NSW1

- Zeitlich begrenzte Zusammenarbeit nur noch in Form von Abschöpfung, ohne ihm weiteres Wissen zu vermitteln

- Abbruch der Zusammenarbeit ca. 12/89 mit der Begründung gegenüber IMS, daß «keine Notwendigkeit der ZA» mehr besteht.

5. IMS «Viktor Henze»

Der Einsatz des IM erfolgte seit 20 Jahren vorrangig in operativ-interessanten Personenkreisen, in deren Rahmen nutzbare Informationen erarbeitet werden konnten. Auf Grund vorliegender Hinweise (K I)2 über ein nichtauszu-schließendes Verbleiben bei einer Reise in die BRD, wurde diese abgelehnt (durch VP), aus Gründen der Sicherheit wurde die Zusammenarbeit formell eingestellt.

 

IV Exkurs: «Kassation» und einige Folgerungen für die Erschließung der Akten

Diese Beispiele sollen nicht nur aufzeigen, wie konkret auf dem Hintergrund der sicherheitspolitischen Bedürfnisse des Staates die Beurteilung von IM vorgenommen wurde. Sie können auch als wichtige Hinweise verstanden werden, auf welche Weise verlorene MfS-Bestände sich unter Umständen rekonstruieren lassen. 

Bevor ich zum Schluß noch einmal auf das MfS-Überwachungssystem - und seine extremen Folgen - zurückkomme, möchte ich deshalb zunächst einige Schlußfolgerungen aus meiner bisherigen Arbeit im Außenarchiv Gera einfließen lassen.

1)  Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet  
2)  Dezernat I der Kriminalpolizei  

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Die Arbeit mit allen «Bestandsaufnahmen» und «IM/GMS-Nachweisen»' bietet zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Verein mit den Vorgangsheften der IM-führenden Mitarbeiter sowie mit der Si-cherheits- und Auskunftsverfilmung die Chance, Lücken aufzuspüren und möglichst rasch zu schließen: Das betrifft insbesondere sämtliche Karteien (Form 16/Form 22/Form 77/Form 78/Form 505)2, auf deren alleiniger Grundlage über einen langen Zeitraum Überprüfungen realisiert und Auskunftsersuchen gefertigt wurden. Diese Karteien strotzen nur so von Lücken; denn das Verdecken, Beseitigen, Wegoperieren und Weglügen gehörte zur Realität während des gesamten Auflösungsprozesses. Im Sprachgebrauch des ehemaligen MfS/AfNS wurde dies nobel als «KASSATION »bezeichnet. Die Vernichtung betraf nicht nur brisantes Material laufender Vorgänge, sondern auch eine unerträgliche Menge von bereits archivierten Operativen Vorgängen, Operativen Personenkontrollen und IM-Vorgängen.

In den Archivregistrierbüchern («Operative Hauptablage») sind diese Akten fein säuberlich mit einem Rotstift eingekreist. Die «Kassation» wurde zudem mit einem Paginierstempel vermerkt:

1)  GMS: Bürger der DDR mit einer auch in der Öffentlichkeit bekannten staatsbewußten Einstellung und Haltung, der sich zu einer Zusammenarbeit mit dem MfS bereit erklärte. Der Einsatz von GMS zielte auf die Erlangung von Informationen aus deren jeweiligen Verantwortungsbereichen (z. B. Theater, Verband Bildender Künstler, Universität u. a. m.)

2)  F(orm) 16: Personenkartei (Klarnamen) über alle aktiven und passiven Erfassungen zu Personen und Objekten eines Bezirkes. Inoffizielle Mitarbeiter, Operative Vorgänge, Operative Personenkontrollen, Zelleninformanten, Sicherungsvorgänge, Untersuchungsvorgänge etc.; F22: Vorgangskartei über Gesamtbestand der aktiv registrierten Vorgänge und Akten eines Bezirkes; F 77: Arbeitskartei über Gesamtbestand der aktiven registrierten Vorgänge geordnet nach Decknamen und Diensteinheiten — Decknamenkartei; F 78: Territorialkartei bzw. Straßenkartei über Gesamtbestand der IM /GMS, 0V eines Bezirkes geordnet nach Wohnorten, Straßen, Hausnummern und Wohnungsnummern; F 505: Kerblochkartei zum Gesamtbestand der aktiven registrierten Inoffiziellen Mitarbeiter.

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29. ii. 89-V-Liste 77! Diese Angaben deuten neben dem Datum und «-V-», das für «Vernichtung» steht, auch auf den Computer-Ausdruck, der dann auch noch auf die nächtlichen « Kassierungsarbeiten » schließen läßt: 29.11.89 Uhrzeit: 05:04:15 - 01.12.89 Uhrzeit:

03:48:27-05.12.89 Uhrzeit: 02:36:43 usw. Ich habe durch Zufall mehrere Kassationslisten und die dazugehörigen Karteikarten Fi6;

F22; F77 gefunden, die allesamt aus ihren Schränken entfernt waren : Bisher stieß ich auf 481 Operative Vorgänge bzw. Operative Personenkontrollen, die aus dem Archiv heraus die Reise zur Vernichtung angetreten sind, und es läßt sich leicht vermuten, daß es sich dabei um mehrere tausend Blatt handelt.

Der bisherige Vergleich zwischen allen «Findhilfsmitteln»1 und dem Vorhandensein der Akten ergab, daß 150 Operative Vorgänge bzw. Operative Personenkontrollen mit einer sehr unterschiedlichen Anzahl von Bänden tatsächlich nicht mehr aufzufinden waren. Wesentliche Konsequenzen, die sich aus dem Fund ergeben:

• Die möglich gewordene Vervollständigung aller Karteien läßt mit Blick auf das Akteneinsichtgesetz für mehrere hundert Personen überhaupt erst einmal die Auskunft zu, daß über sie ein Operativer Vorgang bzw. eine Operative Personenkontrolle angelegt wurde.

• Durch Vergleiche kann schnell festgestellt werden, welche Akten der Vernichtung anheimfielen. Für Betroffene, deren Vorgangsakten nicht mehr auffindbar sind, ergibt sich dann die folgende Möglichkeit einer Akteneinsicht: Wenn laufende Vorgänge vernichtet worden sind, muß dem Betroffenen die AKG-Akte2 vorgelegt werden; er erhält dadurch verdichtete Informationen zum eigentlichen Vorgang; solche AKG-Akten können durchaus 100 Blatt umfassen, in Einzelfällen sogar mehrere Bände.

1)  Alle Karteien, Registrierbücher, Vorgangshefte der IM-führenden Mitarbeiter, Verfilmungen, IM-Bestandsaufnahmen, Nachweise über Inoffizielle Mitarbeiter u.a.m., die zur Feststellung einer inoffiziellen Tätigkeit von Personen bzw. ihrer Observierung durch das MfS führen über die Registriernummer zu den Akten über eine Person (z.B. IM-Vorgang oder OV).

2)  Auswertungs- und Kontrollgruppe: Analytische Tätigkeit zur Verarbeitung und Nutzbarmachung der aus inoffiziellen und offiziellen Quellen gewonnenen Informationen. AKG-Akten beinhalten verdichtete Informationen zu Operativen Personenkontrollen und Operativen Vorgängen, wurden unabhängig angelegt und in der Struktureinheit «AKG» geführt und archiviert.

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Sollte auch die AKG-Akte fehlen, dann gibt es alledings nur noch die Aussicht auf Informationen über Ermittlungsberichte aus der «Zentralen Materialablage» (ZMA) oder durch das Auffinden interner, diverser Mitteilungen bzw. Rückmeldungen.

• Sollte es sich bei vernichteten Vorgängen um bereits archivierte, d. h. vor dem Herbst 1989 abgeschlossene Vorgänge handeln, so sollte eine Akteneinsicht über die Verfilmung ermöglicht werden. Denn alle archivierten Akten sind in der Regel verfilmt worden:

Dies betrifft sowohl IM-Vorgänge als auch Operative Vorgänge, Operative Personenkontrollen, Untersuchungsvorgänge aus den Untersuchungshaftanstalten und Vorgänge, die zur Ermittlung gegen allgemeine kriminelle Straftaten angelegt wurden. Zu diesen Filmen gehört eine Filmkartei, die eine schnelle Orientierung bei der Suche nach der Registriernummer/Archivnummer1 des jeweiligen Vorgangs zuläßt.

• Weiterhin möchte ich auf unkenntlich gemachte Decknamen in den Vorgangsakten oder AKG-Akten hinweisen, weil diese Auslöschung auf den Sinn der Verfilmung deutet: Mit ihrer Hilfe wäre es zu jeder Zeit möglich gewesen, die IM wieder den Vorgängen zuzuordnen, in denen sie eingesetzt waren. Über die Durchsicht der Filme kann gewährleistet werden, die Klarnamen zügig bereitzustellen. Dies ist eine notwendige Ergänzung zur Arbeit mit der Decknamenkartei vor allem dann, wenn die IM-Akte gesäubert bzw. vernichtet worden ist. Fehlt die Decknamenkartei, so muß gänzlich auf die Arbeit mit den Verfilmungen zurückgegriffen werden. Bei gesuchten laufenden inoffiziellen Mitarbeitern sollte die sogenannte Sicherheitsverfilmung zu Rate gezogen werden, weil eben dort die Klarnamen fixiert sind.

Die Verwendung der unterschiedlichsten Dokumente und Materialien — IM-Bestandsaufnahmen, IM/GMS-Nachweise, Handkarteien der Mitarbeiter in allen Struktureinheiten des MfS, IM-Kerb-

i Verbindliche Zahlenkombination zur Nachweisführung von Operativen Vorgängen, IM-Vorläufen, IM-Vorgängen, OPK-Akten u. a. m. Registriernummern sind in den Findhilfsmitteln angegeben und führen zur Aktenlage über eine Person.

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lochkarteien (F 505) - sowie aller zur Verfügung stehenden Karteien würde die Erstarrung in begrenzten Handlungsmöglichkeiten rasch und beträchtlich lockern, in die uns der alleinige Umgang mit den bisher üblichen Karteien (F 16, F 22, F 77, F 78 etc.) versetzt hat. Dazu gehört natürlich auch ein effektiver Umgang mit den Verfilmungen und Registrierbüchern im Archiv. Das schleppende Tempo, in dem solche Möglichkeiten seit Inkrafttreten des Stasi-Unterlagen-Gesetzes verfolgt werden, ist auf ungenügende Vorbereitungen im Vorfeld zurückzuführen: Das betrifft insbesondere die Personalsituation und die völlig unzureichende materiell-technische Ausstattung.

Zur umfassenden Erschließung der archivalischen Hinterlassenschaften müssen rasch und unkonventionell Sachverständige und erfahrene Bürgerrechtler hinzugezogen werden.

 

   V Auskunftspersonen   

 

In der Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit dominiert seit geraumer Zeit der Begriff «Belastung». Es heißt: «Du bist belastet, als IM gearbeitet zu haben.» Ich finde, die Ausschließlichkeit seiner Anwendung auf die Enttarnung von Spitzeln verkürzt den anzustrebenden Prozeß der umfassenden Diskussion um das lebhafte Mitmachen und Mitlaufen in einer Gesellschaft, die durch Korruption, Amtsanmaßung und Komplizenschaft versottet war. Es ist insofern nicht unwichtig, den Begriff der «Auskunftsperson» in die Diskussion einzuführen, weil er viele Menschen meint, die in ständiger Bereitschaft lebten, über den Nachbarn zu informieren, über den Schläger oder Säufer im Nachbarhaus, über den bärtigen Studenten im Haus gegenüber...

Ich spreche von einer Mentalität, die auf dem Neid beruhte, daß der andere vom Leben mehr haben könnte als man selber, die hinter der Gardine lugte; die daherkam mit strengem Blick, die aufpaßte, daß nichts schiefging... Diese Mentalität wurde benutzt und ausgenutzt. Im Verständnis des MfS waren «Auskunftspersonen» zumeist legendiert anzusprechen, um sie zu Informationen - natürlich zu operativ-bedeutsamen Informationen - über Personen zu bewegen,

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gegen die ermittelt wurde. Vor dem «Ansprechen» einer Auskunftsperson war ihre «wahrscheinliche Informiertheit» einzuschätzen. Es war klarzustellen, ob es Möglichkeiten der Beeinflussung zu nutzen galt, um die Auskunftsbereitschaft zu erlangen.

Im Wirrwarr des Archivgutes und der Panzerschränke stieß ich auf einen Schrank, der mit dem Kürzel «AKP» gekennzeichnet war:

Darin befanden sich die roten Karteikarten (Form 401), die nach Wohnbezirken, Straßennamen und -nummern geordnet sind. Unter dem Namen der Auskunftsperson - handschriftlich vermerkt - charakteristische Hinweise zur Auskunftsbereitschaft! Hier ein nachträglicher Streifzug durch eine Straße in Gera:

 

Der Ruf des MfS, eine flächendeckende Überwachung installiert zu haben, gründet sich zu einem nicht geringen Teil auf der Bereitwilligkeit von «Auskunftspersonen», Ermittlungen durch gezielte Aussagen zu unterstützen. In der «Zentralen Materialablage» (ZMA) häufen sich Tausende solcher Ermittlungsberichte, die zu einem großen

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Teil einfache Persönlichkeitseinschätzungen darstellen, um staatsfeindliche Aktivitäten, SED-Gegner, Neigungen zum Nichtwähler-tum, zur Aussteigerszene, Sektenzugehörigkeit, bekanntschaftliche Verbindungen ins «NSW», Aktivitäten von Antragstellern und anderes mehr festzustellen bzw. «vorbeugend» zu erkennen. Mitunter dienten diese Ermittlungsberichte dazu festzustellen, ob eine Person sicherheitspolitischen Erfordernissen genügte, ob sie noch für einen bestimmten Posten in Frage kam...

Das Bedürfnis des Staates, in dieser Weise zu verfahren, folgte gleichsam aus der Erkenntnis, daß ein großer Teil der Menschen eine öffentliche und eine private Meinung vertraten, und es galt zu ermitteln, was viele am Arbeitsplatz, in den Kollektiven an wirklicher Gesinnung verbargen; was sich in den Nischen der Gesellschaft allmählich an die Oberfläche schipperte.

Man kann sich wundern über jene Auskunftspersonen, die an Bildung, beruflicher und sozialer Stellung weit über dem Durchschnitt standen. Offenbar war es ihr Wunsch zur Identifikation mit diesem Staat. Er saß tief. Und sie standen mitten auf der sozialistischen Leiter. Und der Zusammenbruch des totalitären Regimes bedeutet noch lang nicht das automatische Ablegen des Korsetts totalitärer Gewohnheiten ...

 

   VI Festnahme-Isolierung   

 

Zwei Jahre unentwegten Forschens in den Kellern des Archivs gehen nicht wie eine Episode an einem vorüber. Die Zweifel am Vermögen der Menschen, ein versöhnlicheres Verhältnis zueinander zu gewinnen, nähren sich und stehen in einer merkwürdigen Verbindung mit den Zahlen, Fakten und dem Wissen, auf welch elementare und auch banale Weise sich Menschen gegenseitig Schmerz und Wunden zugefügt haben. Andererseits bin ich froh über die nachsozialistischen Lehrstunden, weil sie mir Erfahrungen vermitteln aus dem Tiegel des Unrechts und mich davor bewahren, in aller Raschheit und Eile vor Erfahrungen zu fliehen, die vor wenigen Augenblicken noch alltäglich waren und es in anderen Teilen der Welt noch sind.

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Ich habe keinen fertigen Standpunkt und keine fertige Antwort auf die Frage: «Was wäre im Herbst '89 geschehen, wenn... ?» Aber meine Vorstellungskraft speist sich noch immer aus den Ereignissen auf dem «Platz des Himmlischen Friedens», und ich kann mir noch immer Gewaltakte, Haßgebrüll, Würgegriffe, Stiefelschlagen und -tritte ausmalen..., was mich alles gar nicht von so weit her - aus den Akten zumal - erreicht:

Fangarm

Nebelwerfer Granitfelsen Grünstein Baumschlag

Finallauf

Diese Wörter, denen an sich schon das Odium von Gewalt anhaftet, sind Losungen und Kontrollkennworte, die zu jenen «schlagartigen und konspirativen» Aktionen führen sollten, in denen nach geheimen Planungen der Staatssicherheit in sogenannten Spannungsperioden «binnen 24h» ausgewählte Personen festgenommen bzw. isoliert werden sollten.

Im Verständnis des MfS betraf die «Festnahme» nicht nur Personen, die unter dem dringenden Verdacht standen, «Straftaten gegen die Volkswirtschaft, gegen die allgemeine Sicherheit und staatliche Ordnung» zu begehen, sondern auch Personen, die

- «den organisatorischen Zusammenschluß von feindlich-negativ gesinnten Personen anstrebten bzw. betreiben,

- innerhalb einer sogenannten staatlich unabhängigen Friedensbewegung aktiv in Erscheinung getreten sind,

- unter demagogischer Tarnung, wie der Wahrung der Menschenrechte bzw. des Umweltschutzes, massive Aktivitäten entwickelt haben,

- unter dem Schutz reaktionärer klerikaler Kräfte mit relevanten Handlungen aufgetreten sind,

- Forderungen nach einer Veränderung der Staats- und Gesellschaftsordnung in der DDR durch die Verbreitung von Auffassungen über einen <demokratischen Sozialismus) und neue Sozialismusmodelle aufgestellt haben ^Dissidenten. >).»

Festnahme und Unterbringung in Strafvollzugseinrichtungen und Untersuchungshaftanstalten waren die Ziele der Aktion «Fangarm». Verhaftung und Verbringung in sogenannte «Isolierungsobjekte»,

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wie Jugendwerkhöfe, Kinderferienlager und ehemalige Kriegsgefangenenlager waren die Ziele der Aktion «Finallauf». Isoliert werden sollten Personen, die wegen ihrer « verfestigten Staatsfeindlichkeit»in der Lage schienen, «bestimmte Bevölkerungskreise gegen den Staat aufzuwiegeln»; vorbestrafte Personen im Sinne von «Rowdytum, Zusammenrottung, öffentlicher Herabwürdigung», Untersuchungsgefangene, Strafgefangene, die eine «Gefährdung» bei «gesellschaftlicher Wiedereingliederung» darstellten...

Als wenige Monate nach Beginn der Auflösung der Staatssicherheit das Wissen von der Planung sogenannter «Isolierungslager» in der Bevölkerung durchsickerte, wurde von verantwortlicher Seite - dem damaligen Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Gera und den Vertretern von Militärstaatsanwalt und Polizei - immer wieder behauptet, es handele sich lediglich um vorbereitende Planungen für Internierungs-lager entsprechend den Bestimmungen der Haager und Genfer Menschenrechtskonventionen, die im Falle des Kriegszustandes eine schützende Verwahrung von ausländischen Bürgern, Bürgern diplomatischer Vertretungen usw. vorsehen. Später versuchte man die vorliegenden Erkenntnisse dadurch ins Episodenhafte zu verklären, daß man sich auf gewissermaßen übliche Vorbeugungsmaßnahmen im Zustand der Verteidigungsbereitschaft berief. Aber selbst derartige Argumentationen, die das Ungeheuerliche zu verharmlosen suchen, verraten noch die verzerrte Sicht auf Menschen, mit denen man am Ende auch noch «Fangarm» und «Finallauf» spielen wollte: «Zur Gewährleistung der erforderlichen gezielten Selektierung von Personen» hatte man schon vorsorglich Personalkarten, Auskunftsberichte und Einstufungsvorschläge angelegt bzw. erarbeitet. Und die Grundlage dafür waren die Operativen Vorgänge, Operativen Personenkontrollen, aber auch KK-Erfassungen: Sie bildeten das Fundament für die Aufnahme, Ausgliederung oder Wiederaufnahme in den so bezeichneten «spezifisch-operativen Vorbeugungskomplex».

Zu diesem Zweck wurden Auskunftsberichte geschrieben und mit einem Einstufungsvorschlagversehen. Ein Auskunftsbericht beinhaltete im ersten Teil Angaben zum biographischen, sozialen und beruflichen Werdegang des oder der Betroffenen, die mit den Angaben identisch sind, die zuvor auf einer gesondert angelegten Personalkarte festgeschrieben worden waren. Dann folgt:

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Ausführliche Begründung

Die Bearbeitung des Pfarrers (...) erfolgt seit Juli 1984 im Rahmen des operativen Ausgangsmaterials (OAM) «Kreuz» und seit Mai 1987 in der OPK «Abendmahl». Pfarrer (...) ist seit 1982 in (...) tätig. Mit dem Wirksamwerden des Pfarrers wurde das Gemeindehaus zielgerichtet für die Gründung einer Jungen Gemeinde ausgebaut und nachfolgend genutzt. In seinem gesamten Auftreten gegenüber staatlichen Organen zeigt sich Pfarrer (...) provokativ und feindlich-negativ. Er verweigerte bisher mehrfach seine Teilnahme an Wahlen und begründete dies damit: « Er ist mit dem Wahlsystem nicht einverstanden, die Kandidaten werden ihm vor die Nase gesetzt und er könne nicht frei entscheiden.»

Pfarrer (...) unterhält umfangreiche Kontakte zu Patengemeinden in der BRD und zu kirchlichen Amtsträgern außerhalb des Kreisgebietes sowie zu Mitgliedern Junger Gemeinden innerhalb des Bezirkes. Derzeit ist Pfarrer (...) bestrebt, eine selbständige «Umweltschutzgruppe» in (...) aufzubauen. Im Rahmen dieser Arbeit führte er am (...) den ersten Umwelttag in (...) durch. Inhaltlich ging es um

Während dieses Umwelttages trat Pfarrer (...) erneut offen negativ-feindlich in Erscheinung. Er forderte die Teilnehmer offen auf, zukünftig nicht an Wahlen teilzunehmen, griff die staatlichen Organe in provokatorischer Art und Weise an, und machte den Staat für die Katastrophe im Bereich der Umwelt verantwortlich. Weiterhin bemerkte er, daß Eingaben durch die staatlichen Organe nicht bearbeitet werden.

Beweismittel: OPK «Abendmahl» - KD (...) zu beachtende Verbindungen: 0V «Helfer» und OPK «Altar» besondere Hinweise: großes Fachwerkhaus mit Garten, keine Klingel an der Haustür, nur ein Hauszugang, aber mehrere Möglichkeiten, das Grundstück über Gartenwege zu verlassen. Stellungsnahme des Dienstvorgesetzten:

Die Aufnahme in die Kennziffer 4.1.3. (Isolierung) ist gerechtfertigt. Vorschlag zur Einstufung:

Kennziffer 4. i. 3. Bestätigung:

(Unterschrift des Leiters der Kreisdienststelle)

Es mag Menschen geben, die unter dem Eindruck dieser Fakten zusammenzucken. Es werden zuallererst die direkt Betroffenen sein. Andere wieder möchten sie gerne bagatellisieren, als gewöhnlich hinstellen, ihnen jegliche Bedeutung absprechen. Es sind vor allem die Primärverantwortlichen — die Herren der Bezirkseinsatz- und Kreiseinsatzleitungen (BEL/KEL), Offiziere vom Wehrbezirkskommando und die hauptamtlichen Mitarbeiter der Arbeitsgruppe des Leiters (AGL) in den ehemaligen MfS-Bezirksverwaltungen. 

Sie schweigen und warten gelassen darauf, daß ihnen juristisch einwandfrei die berühmte Individualschuld nachgewiesen werden kann: Was sind schon bereitliegende Befehle? Was sind schon Maßnahmepläne? Was sind schon Richtlinien, Direktiven, Geheimbefehle und Planungen? Es macht ihnen nichts aus, daß auf ihrer Basis Menschen mürbe gemacht, unterdrückt, entrechtet, eingesperrt und belogen werden. Aber diese Schriften und Planungen lügen nicht. Sie sind der perfide Auswuchs eines diktatorischen Anspruches, das Rückgrat von Menschen zu brechen.

All die Gesichter, mit Sommersprossen, Narben, Warzen oder Muttermalen, mit spitzer, schiefer oder Knollen-Nase, mit schmalen oder dicken Lippen, mit Kinngrübchen, gespaltenem Kinn oder Doppelkinn, auf den Paßbildern, in den Ordnern der Kennziffer 4.1.1. (Festnahme) und 4.1.3. (Isolierung), die in den MfS-Bezirksverwaltungen lagern, sind eine massive Warnung und erinnern an das totalitäre Korsett, zusammengehalten aus Konspiration, Lüge und Denunziation.

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