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3  Günter Kunert:  Meine Nachbarn 

  Günter Kunert bei detopia

 

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Lügen die Stasi-Akten, wie es manche Zeitgenossen, weil es sie in jeglicher Hinsicht entlasten würde, ständig behaupten? Doch wenn dem so wäre, wozu dann der ungeheure, ja, ungeheuerliche, ein Volksvermögen verschlingende Aufwand? Um den eigenen Dienstherrn, die Partei, zu desinformieren? Der Überwachungs­apparat nur ein Instrument des Selbstbetruges?

Meine Nachbarn, das heißt: meine einstigen Nachbarn werden über derlei beweisloses Gerede vermutlich ganz anders urteilen. Ich habe sie alle in meinen Akten wiedergefunden, und diese Begegnung war tatsächlich die einzige, die mich beim Studium des gebündelten Irrsinns erschüttert hat.

Nachdem mich die Helfershelfer des Big Brother zu einem Operativen Vorgang mit dem einfallsreichen Decknamen «Zyniker» ernannt hatten, entschlossen sie sich zu weiteren besonderen Maßnahmen. Über die «normale» Observierung hinaus, also neben dem Einsatz «Informeller Mitarbeiter», neben Briefzensur, telefonischen Lauschangriffen und der Benutzung «zuverlässiger Quellen» wie von «Kontaktpersonen», sollte nahe unserem Einfamilienhaus in Berlin-Buch ein ständiger «Stützpunkt» zwecks Dauerbeobachtung eingerichtet werden.

Wie das Material erkennen läßt, wurde der Plan sorgfältig, nämlich «generalstabsmäßig» vorbereitet. In einem den Akten beigefügten Umschlag als erstes: Fotos von unserem Domizil. Diesen folgte eine Skizze: Der Lageplan des Anwesens, kleiner Maßstab, nur drei, vier umgebende Straßen roh angedeutet. Danach eine ausführlichere Zeichnung, größerer Maßstab, mit den unseren Wohnbereich einschließenden Häusern und dem Straßenraster.

Endlich eine gedruckte Generalstabskarte des gesamten Bezirks. Auf jeder der drei Karten rot markiert: die Unterkunft «des Kunert», wie man von der Sprache des Unmenschen tituliert wurde. Oder noch abwertender, durch die Wahl der Bezeichnung die fatale Verbindung zur finstersten deutschen Vergangenheit herstellend: als «Objekt». Und, als hätten die Beamten in Mielkes Schloß eifrig Kafka studiert: als «K».

 

Weiterblätternd, nach der topographischen Einleitung, Aufzeichnungen über meine sämtlichen Nachbarn. Formblätter des MfS mit Notizen, Bewertungen, Anweisungen. Die Widerwärtigkeit eines Systems, das seinen Bürgern nicht nur in die Töpfe, sondern auch in die Schlafzimmer zu lugen pflegte, taucht aus den Papieren auf. Wie diese Menschen da in die Mühle gerieten, die doch nur mich zermahlen sollte — das ist an sich schon ein Akt aus dem Narrenparadies namens DDR. 

Ich immerhin war mir der Überwachung bewußt gewesen, mal bedrückter, mal wurstiger. Nun sah ich, wie diese harmlosen Durchschnittsbürger «erfaßt» worden waren, unter die Lupe genommen wie Insekten, ausgeforscht und «behandelt»: Mitglieder der sogenannten «Nischengesellschaft», in der es, entgegen einem häufig gehörten Beteuern, keinen Schlupfwinkel gegeben hat, wenn ein «höheres Interesse» sich regte. 

In diesem Lande gab es nie und nirgendwo eine Zuflucht vor den Augen des Apparates, und es fällt einem, obgleich es anders gemeint gewesen ist, Brechts Gedicht ein, in welchem es heißt: «Die Partei hat tausend Augen...» Bei unserem Edelklassiker war das noch positiv gemeint gewesen und keineswegs auf die Realität bezogen, wie sie mir aus den Akten entgegentritt.

Über alle dokumentierten Fakten hinaus, bei deren Kenntnisnahme, wie ich gestehen und mit einem Anflug von Pathos sagen muß, mir schwer ums Herz wurde, machte ich dennoch eine trostreiche, ja, ermutigende Erfahrung: Keiner meiner Nachbarn scheint eingewilligt zu haben, seine Wohnung, sein Haus als «Stützpunkt» zur Verfügung zu stellen. Den Beweis für den menschlichen Anstand der Umwohnenden meine ich darin zu entdecken, daß erst mehrere Häuser von dem unseren entfernt sich ein einziger zur Mitarbeit verstand, und der war noch dazu Offizier der «Zivilverteidigung», ergo sowieso eine Stütze von Thron und Altar des real existierenden Sozialismus.

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Eifrig berichtete er den Werbern, er sei sogar schon in unserem Haus gewesen — als er uns die Kohlen­karten gebracht habe! Dazu kann man bloß sagen: Ein Staat, der dreißig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg Kohlenkarten verteilen läßt, als sei dieser Krieg noch im Gange, hat sehr, aber auch sehr sehr viele Geheimpolizisten nötig.

Eigentlich müßte ich mich jetzt und hier und alsogleich bei meinen Nachbarn entschuldigen, von denen ich, selber von der Seuche des allgemeinen Mißtrauens infiziert, einige für Informanten gehalten habe: Gerade sie waren es nicht. Auch das ist eine durch die Akten vermittelte Wahrheit, derentwegen man sie liest und lesen sollte. Sie belasten nicht bloß Mitbürger, sie rehabilitieren sie auch. Wir haben in dem untergegangenen System unter deformierten zwischenmenschlichen Beziehungen und Bedingungen gelebt: Wir waren unfrei selbst in unserem beiläufigen Benehmen gegenüber Dritten — wie eben den Nachbarn. Wir blockierten selber automatisch unsere Empfindungen, wir schränkten unsere Kontaktfreudigkeit ein, sobald uns ein Blick zu neugierig vorkam, eine Frage zu forschend, ein Interesse an unserer Person nicht ausreichend begründet. Wir führten weithin ein Austerndasein.

Denn: Zu oft hatten wir ja mit unseren Verdächten recht. Das bestätigten ebenfalls die Akten. Jener junge Lyriker, der mich einst aufsuchte, um mit mir über Gedichte zu palavern - ein Abgesandter von Major Tischendorf, in Wirklichkeit ein IM «Imans», der stolz meldete, ich hätte mich fünf Stunden lang mit ihm unterhalten. Lektoren meiner DDR-Verlage haben über mich Auskunft gegeben, über meine Pläne, mein Befinden, meine politischen Ansichten, über meine Frau, die permanent als böser Geist im Spiel klassifiziert wird, weil sie «den Kunert in seiner feindlich-negativen Einstellung bestärkt». Auch Zunftgenossen haben mich fleißig ausgehorcht, gar Gutachten über meine Gedichte geschrieben, aus denen, wie sie unwiderlegbar schlußfolgerten, meine parteifeindliche, sozialismusverneinende, pessimistische, nihilistische, untergrabende, gegnerische Gesinnung eindeutig hervorginge.

Wie nicht anders zu erwarten, hat auch der Expräsident des Ex-Schriftstellerverbandes der Ex-DDR in einem Gespräch mit einem MfS-Offizier manches über mich anzumerken gehabt, wobei ihm die Fantasie, die seinen Büchern fehlt, in die Quere kam, da er zu Protokoll gibt: 


Kunerts, beide, hätten tagelang geweint, weil sie die DDR verlassen würden... - Ach ja, immer zu Späßen aufgelegt, der Hermann Kant. Gar ein Verleger reiht sich in die Schar der geheimen Informanten ein, Deckname «Hans», doch leicht identifizierbar, da er uns sowohl 1980 wie 1988 in Schleswig-Holstein aufsuchte, und viele Freireisende kamen ja nicht zu uns. Eine Selbstenttarnung ersten Ranges.

Und die Lehre aus solch obskurer Lektüre?  

Was nimmt der OV «Zyniker» an immateriellem Gewinn mit nach Hause? Wieder und wie stets die Gewißheit, daß die Intellektuellen (prozentual) anfälliger sind für das Zusammenwirken mit der Macht, und sei sie noch so geheim: Etwas davon kräftigt das eigene schwache Ego, richtet die mühselige und beladene Psyche auf. 

Dazu im Gegensatz die erstaunliche Resistenz des «Common man», der im Grunde mehr zu verlieren und mehr zu befürchten hatte als ein Verlagsleiter, als ein Lektor, als ein Regisseur, als ein Autor. Aber gerade sie sind der Verlockung anheimgefallen, da sie vermutlich meinten, im Bunde mit der Macht würden sie selber mächtiger, einflußreicher, überhaupt: bedeutender. Sind jedoch einzig Jämmerlinge geworden und bleiben es für den Rest ihres Lebens.

Ein Resümee?  

Möglicherweise sind die Menschen doch nicht ganz so mies, wie man sonst anzunehmen gezwungen ist. Jedenfalls die meisten meiner Nachbarn sind es nicht. Das jedenfalls war das Studium der Akten eines Gesellschaftssystems wert, das, unter anderem, an seinem zum Verfolgungswahn, und zwar Verfolgungswahn in zwiefacher Hinsicht, entarteten Sicherheitsbedürfnis zugrunde ging. Nicht zuletzt ist das eine wichtige Wahrheit, welche man den Dossiers entnehmen kann.

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