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Vorwort von Hans Joachim Schädlich 1992

 

 

7-10

Einige Leute lassen es sich nicht nehmen, die Aufklärung der Stasi-Verbrechen als Inquisition zu bezeichnen. Den Bundes­beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, Joachim Gauck, nennen sie einen Inquisitor. Leider haben es diese Leute versäumt, rechtzeitig die Stasi als Inquisition und den Chef der Stasi, Erich Mielke, als Inquisitor zu benennen.

Die Gründe einiger Leute, die Geschichte zu verdrehen, mögen verschieden sein. Manche fühlen sich nur als Warner berufen; sie sorgen sich, das Gift der Stasi könne weiterwirken. Aber der Ausdruck dieser Sorge ist trivial. Denn das Gift der Stasi wirkt auch dann weiter, wenn die Stasi-Verbrechen nicht aufgeklärt werden.

Manche haben tiefere Gründe für Geschichtsverdrehung. Die einen haben jahrzehntelang mit den geistigen, kommerziellen und «humanitären» Handlangern des Stasi-Staates kooperiert und ihre Stasi-Partner menschlich schätzen gelernt. Sie sind in die Operationen des Stasi-Staates verwickelt und möchten jetzt ihre eigene Geschichte sauberhalten. Die anderen hatten den Stasi-Staat als Verwirklichung des Ideals vom demokratischen Sozialismus vor Augen und wollen jetzt nicht, daß die Visage der Traum-Wirklichkeit vor aller Augen tritt.

Als das Recht auf Einsicht in die Stasi-Akten, das lange genug auf sich warten ließ, endlich verabschiedet war, da erreichte die Stasi-Schmutzwoge auch offiziell die Ufer der alten Bundesrepublik.

Nun hörte man angesehene westdeutsche Politiker sagen, es stehe den Westdeutschen nicht zu, über die Verwicklung der Ostdeutschen in das Stasi-System zu rechten, da die Westdeutschen doch das Glück gehabt hätten, in der Demokratie zu leben, und keine Ahnung von den Zwängen besäßen, in die die Ostdeutschen von der SED-Diktatur versetzt worden seien.

Angesehene westdeutsche Politiker verteilen sogar freigiebig Persilscheine und erwecken den Eindruck, als besäßen sie keine Ahnung von den Zwängen, in die die Persilschein-Empfänger die Ostdeutschen versetzt haben.

Man stelle sich nur einmal vor, nach der Zerschlagung der Nazi-Diktatur hätte zum Beispiel ein angesehener amerikanischer Politiker gesagt, es stehe den Amerikanern nicht zu, über die Verwicklung der Deutschen in das Nazi-System zu rechten, da die Amerikaner doch das Glück gehabt hätten, in der Demokratie zu leben, und keine Ahnung von den Zwängen besäßen, in die die Deutschen von der Nazi-Diktatur versetzt worden seien.

Die Stasi-Verbrechen sind eine öffentliche Angelegenheit, und es steht niemandem zu, einer demokratischen Öffentlichkeit Vorschriften zu machen, worüber sie nachzudenken und zu rechten habe und worüber nicht. Es läßt sich sogar vermuten, daß die in der alten Bundesrepublik stationierten Truppen des Staatssicherheitsdienstes ihre besten Köpfe in die Diskussion schicken, um sie ihrerseits ein wenig Front gegen die Aufklärung der Geschichte machen zu lassen.

Fatalerweise sieht man verschiedene Westdeutsche unvermittelt im Einklang mit hochrangigen Stasi-Verbrechern, die wie honorige Generäle ins Rampenlicht treten und die Gesellschaft erpresserisch vor den angeblichen Folgen der Aufklärung — Aufruhr, Mord und Totschlag — warnen. Diese mörderischen Generalstäbler bieten sich sogar als Helfer des Rechtsstaates zur Bewahrung der demokratischen Ordnung an. — Es ist schwer, angesichts der unheiligen Allianz von Verbrechen, Vertuschung und Verdummung nicht vor Ekel in Depressionen zu verfallen.

Als beliebtes Argument der Vertuscher und Verdummer begegnet der Hinweis auf die Zeit nach dem II. Welt­krieg: Es sei die Nazi-Vergangenheit nicht bewältigt worden, warum solle dann die Stasi-Vergangenheit bewältigt werden. Für die «gewöhnliche» Verbrechensaufklärung und -bekämpfung hieße das: Es ist jener Mord nicht aufgeklärt worden, warum solle dann dieser Mord aufgeklärt werden. Anders gesagt: Hier äußert sich die vollständige Kapitulation demokratischen Rechtsempfindens.

Gewöhnlich folgt noch ein Gefasel von Amnestie, Vergebung und Versöhnung. Das Wort <Versöhnung> verleitet vielleicht manchen zu einer väterlich-gönnerischen Geste gegenüber so etwas wie einem mißratenen, aber dennoch geliebten Sohn. 

In Wahrheit steckt in <Versöhnung> das Wort <Sühne>.

Sühne aber ist eine Voraussetzung für Vergebung. — Gegen den beschwichtigenden Hinweis auf die Zeit nach 1945 muß aber gelten: Wurde die Nazi-Vergangenheit nicht bewältigt, so soll wenigstens die Stasi-Vergangenheit bewältigt werden. — Übrigens unterschlägt der Hinweis auf die Zeit nach 1945 die Tatsache, daß sich die bundes­republikanische Gesellschaft weit mehr mit der Nazi-Vergangenheit beschäftigt hat als die DDR-Gesellschaft. Die SED-Diktatur stand in der antidemokratischen Tradition der Nazi-Diktatur, auch wenn es antifaschistische Bemäntelungen der SED-Diktatur gab.

Die Aufklärung der Stasi-Verbrechen richtet sich nicht gegen eine linke Kultur in Deutschland, wie es uns von falschen Linken mit totalitären Neigungen eingeredet werden soll. Sie richtet sich vielmehr gegen die Praktiken eines der reaktionärsten Regime, das es in Deutschland gegeben hat. Die Aufklärung der Stasi-Verbrechen stellt eine Arbeit dar, ohne die eine demokratische Kultur in Deutschland — auch eine linke — keine Chance hat. Die Aufklärung der Stasi-Verbrechen ist Teil einer demokratischen Kultur.

In jüngster Zeit hat sich die Polemik gegen die Aufklärung der Stasi-Verbrechen und gegen die Bundesbehörde für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes beängstigend zugespitzt. Gegen die Übermittlung von Daten aus den Stasi-Archiven, die zum gesetzlichen Auftrag der Bundesbehörde zählt, werden Dienstaufsichts­beschwerden, Gegengutachten, ja sogar gerichtliche Schritte angedroht. Ein russisches Sprichwort aber sagt: «Murre nicht wider den Spiegel, wenn du eine schiefe Fratze hast.»

Das vorliegende Buch soll die historische Wahrheit über die SED-Diktatur und deren Machtinstrument, das Ministerium für Staatssicherheit, aufklären helfen. Die Beton-Mauer des SED-Staates ist gefallen; es ist geboten, die Mauer des Vergessens, die — schon wieder — errichtet wird, niederzureißen.

Die Illusionen über den Charakter des SED-Regimes müssen ausgeräumt, die geistige Zerstörung, die das SED-Regime beabsichtigt und angerichtet hat, muß durch die Wahrheit über dieses Regime behoben werden.

Es wird gezeigt, daß der Glaube an den Kommunismus mit tiefster Perversion aller menschlichen Werte gepaart war. Die Einsicht in die Stasi-Akten befördert die Erkenntnis, daß ein System, welches sich niedrigster Mittel zum Zweck der Macht­erhaltung bediente, zwangsläufig untergehen mußte.

Die Darstellung der Wahrheit ist keine Jagdszene, sondern eine offene Bühne, auf der die Protagonisten der SED-Diktatur und ihre Opfer einander gegenübertreten. Das Buch stellt die Täter dar und spricht vom Widerstand der Opfer und ihrem Recht auf Wahrheit. Es wendet sich gegen die durchsichtige Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses.

Aktenkundige Opfer der SED-Diktatur, die als erste in die Stasi-Akten einsehen konnten, sprechen von ihren Einsichten. «Aktenkundig» ist ein Sachbuch, das von den Sachen der Stasi-Täter und von den Sachen der Stasi-Opfer handelt — subjektiv, objektiv, leidenschaftlich und kühl.

7-10

Hans Joachim Schädlich

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