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9. Von der Abwehr zur Ehrfurcht: Spiritualität

 

"Ich glaube, daß der Mensch nicht nur erträgt: er wird siegen [...], weil er eine Seele hat, einen Geist, der zu Mitgefühl, 
Opferbereitschaft und Ausdauer befähigt ist."  William Faulkner: Rede anläßlich seiner Nobelpreisverleihung, 10.12.1950 

  

 

 

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Mit zwanzig sprang Stefan von einer Brücke. Er wollte sterben. Er tauchte mit den Füßen zuerst ins Wasser ein und zog sich deshalb nur leichte Verletzungen zu. Ein Passant verständigte die Polizei; Stefan wurde gerettet, bevor er an Unterkühlung starb. »Das war keine spirituelle Erfahrung, glauben Sie mir. Ich war voller Zorn, überlebt zu haben.«  

Obgleich ihm in der Klinik eine Fehldiagnose gestellt wurde — »Kein Mensch fragte mich nach Mißbrauch in meiner Familie; man sagte mir, ich hätte Schwierigkeiten, mich an das Erwachsenenleben zu gewöhnen, als wäre das ein Grund, mitten im Winter von einer Dreißig-Meter-Brücke zu springen« — war sein mißlungener Selbstmordversuch der Beginn einer langen Reise durch Psychotherapien.

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Stefans Eltern, Theresa und Franz, kannten sich von Kindheit an, als sie noch in Ungarn auf benachbarten Bauernhöfen lebten. Theresa und ihre Eltern, die strenge Katholiken waren und einen ausgeprägten Sinn für soziale Gerechtigkeit besaßen, gaben ungarischen Juden Unterschlupf in ihrem Haus. 1941 flog die Sache auf und die ganze Familie wurde von den Nazis im KZ Buchenwald eingesperrt. Theresas Mutter wurde bald danach erschossen und ihr Vater starb an Unterernährung. Franz verweigerte den Nazis den Kriegsdienst und kam 1942 ebenfalls nach Buchenwald, wo Theresa und er sich verliebten.

Theresa wurde von den Wachtposten mehrmals vergewaltigt und grausam mißhandelt. Eines Tages schoß ein Nazi-Offizier sie in den Rücken, weil sie sich ihm widersetzte. Sie wurde für tot gehalten und an Ort und Stelle liegengelassen. Franz und drei andere Lager­insassen fanden sie am selben Abend, bewußtlos, aber am Leben. Sie brachten die Schwerverletzte in die Krankenstation; nur ihrem unbändig starken Lebenswillen war es zu verdanken, daß sie überlebte und wieder gesund wurde.

Nach dem Krieg heirateten Theresa und Franz. 1950 wanderten sie in den Mittelwesten der Vereinigten Staaten aus, in eine Stadt mit einer großen ungarischen Gemeinde. Theresa brachte Stefan und drei Jahre später Peter zur Welt.

In Stefans Nachbarschaft lebten viele ehemalige KZ-Häftling, die einen Pakt des Schweigens geschlossen hatten. »Sie redeten nicht über den Krieg oder wie sie nach Amerika gekommen waren. Die Erwachsenen lebten nach der Devise: <Wir sind jetzt hier — über die Vergangenheit reden wir nicht.>« Die Welt außerhalb ihrer Nachbarschaft wurde als feindlich gesehen: »Meine Eltern glaubten nach wie vor, ein weiterer Holocaust lauere an der nächsten Straßenecke.« 

Keiner der Buben lernte ein Wort Englisch, bevor sie in die Schule kamen, und später wurden sie die Dolmetscher ihrer Eltern.

»Die ersten Jahre meines Lebens waren im großen und ganzen in Ordnung. Ich erinnere mich, daß meine Mutter uns Wiegenlieder sang und an ihren Stickereien arbeitete. Mein Vater arbeitete in der Fabrik. Als Peter und ich zur Schule gingen, hatte meine Mutter nicht mehr viel zu tun. Sie fing an zu trinken und wurde bald zur Alkoholikerin. Wenn ich von der Schule kam, hatte sie sich häufig beim Kochen sinnlos betrunken, und ich rannte und machte den Gasherd aus.«

Dann wieder kam Stefan nach Hause und niemand war da. »Ich wartete bis zum Abend. Wenn Mama bis dahin nicht heimgekommen war, sagte ich zu Peter: <Schließ die Tür ab und laß niemand rein bis ich wiederkomme.> Dann ging ich von Bar zu Bar und fragte überall auf ungarisch, ob jemand meine Mutter gesehen habe.

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Ich fühle mich noch heute gedemütigt von den Blicken der Leute, die mitleidig auf den kleinen heulenden Jungen herunterschauten. Einmal, als ich neun war, fand ich sie in einer zwei Meter hohen Schneewehe mit offenem Mantel und ohne Schuhe. Ich habe bis heute keine Ahnung, wie ich sie nach Hause schleifte.«

Stefan beschützte seine Mutter auch vor dem Abscheu seines Vaters. »Ich konnte nicht einschlafen, bevor er nach Mitternacht heim kam. Er arbeitete zwei Schichten, um ihr aus dem Weg zu gehen. Die Wohnung war unaufgeräumt, sie lag irgendwo betrunken herum, er weckte sie auf und brüllte sie an. Sie war stockbetrunken und hatte keine Ahnung, wieso er so wütend war. Dann gab es furchtbare Auseinander­setzungen und ich warf mich dazwischen, um zu schlichten. Noch heute sehe ich das verquollene, blutig geschlagene Gesicht meiner Mutter vor mir.«

Stefan wußte nicht, wie er mit der Verzweiflung und dem Chaos in seiner Umgebung fertig werden sollte. Zunächst suchte er Zuflucht im katholischen Glauben. »Jede Nacht betete ich, daß meine Eltern glücklicher sein mögen, daß meine Mama gesund wird und mein Papa aufhört, sie so gemein zu behandeln.« Doch seine Gebete halfen nichts. Die Trunksucht seiner Mutter verschlimmerte sich und sein Vater kümmerte sich noch weniger um die Familie; er weigerte sich aber, Theresa in die Klinik zu bringen, denn das hätte für sie wieder Gefängnis bedeutet. 

Die Schule war für Stefan kein Ort der Zuflucht, wie für so viele Mißbrauchsopfer. »In der Grundschule hielten mich alle für dumm, weil Englisch nicht meine Muttersprache war. In den unteren Klassen der Highschool wurde ich bestraft, weil ich mit den Nonnen über Theologie stritt. Ich war sehr zynisch — für mich gab es keinen Himmel und keine Erlösung. Das Leben war hart und dann kam der Tod. In der siebten Klasse las ich <Der Fremde> von Camus. In früher Jugend war ich bereits davon überzeugt, daß die Welt sinnlos und lächerlich sei. Die Realität ist eine Illusion, die sich von einer Sekunde zur nächsten verändert.«

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Etwa zur gleichen Zeit, als Stefan den Existentialismus entdeckte, begann er sich für Kampfsport zu interessieren. Sein Leben veränderte sich: »Mein Karatelehrer wurde mein zweiter Vater. Der Karatesport ist sehr gesundheits­orientiert und verbietet Alkohol. Mir gefiel daran besonders die körperliche und geistige Wendigkeit. Ich kämpfte ständig gegen unsichtbare Dämonen — Ängste, Gefahren, Unsicherheiten. Karate bedeutet Kampf, ohne zu wissen, gegen wen man kämpft.«

Während Stefan in der Sporthalle gegen seine Dämonen kämpfte, begann Peter mit Theresa zu trinken, in der Hoffnung seine Gesellschaft würde ihren Schmerz lindern. Als Fünfzehnjähriger brach er in Wohnungen ein, klaute Geld und kaufte davon Schnaps, den er mit seiner Mutter trank. Als ich Stefan kennenlernte, hatte Peter gerade eine fünfjährige Haftstrafe wegen bewaffneten Raubüberfalls abgesessen.

Als Stefan dreißig war, lag Theresa im Sterben. Sie litt an Korsakow-Psychose — ein Spätstadium des Alkoholismus. »Bis zu meinem Selbstmordversuch führte ich ein wildes Leben. Aber Karate hatte ich beibehalten. Durch Karate lernte ich viele Buddhisten kennen. Sie strahlten einen Frieden aus, nach dem ich mich so sehr sehnte. Eines Tages fragte ich, ob ich mit ihnen den Tempel besuchen könne. Ich fühlte mich zum Buddhismus hingezogen, weil es bei dieser Religion darum geht, Illusionen zu durchbrechen.«

Nach einem Besuch bei seiner Mutter, die im Koma lag, meditierte Stefan zum ersten Mal in einem Zen-Tempel von fünf Uhr morgens bis neun Uhr abends. »Es war eine direkte Begegnung mit mir selbst. Ich aß nicht, machte keinen Fernseher an, um mich abzulenken, und suchte nicht Trost bei einer Geliebten. Ich saß einfach still da in diesem Tempel und fühlte mich furchtbar. Das ganze Entsetzen, das ich ständig unterdrückt hatte, wallte in mir hoch. Ich schlotterte am ganzen Körper und weinte. Der Schmerz brannte und versengte mich, bis er sich endlich legte.«

Stefan fand schließlich die Gelassenheit, die er jahrelang durch Philosophie, Psychotherapie und im Kampfsport gesucht hatte. Häufige Tempel-<Sitzungen> halfen ihm, mit dem Tod seiner Mutter fertig zu werden, die im gleichen Monat starb.

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»Von überall her kamen die Menschen ans Sterbebett meiner Mutter. Ich wußte, daß sie vor ihrer Verhaftung durch die Nazis eine führende Widerstands­kämpferin war. Die Menschen kamen, um sich bei ihr zu bedanken und sich von ihr zu verabschieden. Sie erzählten mir unglaubliche Geschichten von ihrer Tapferkeit. Die Frau, die ich zumeist als stammelnde, seelisch gestörte Alkoholikern kannte, war auch eine Heldin. Die Leute sagten, sie sei eine Heilige, ihr Geist werde weiterleben.«

Stefan findet noch heute innere Ruhe im Buddhismus und Karatesport. Wie seine Mutter in ihrer Jugend setzt er sich sehr für andere Menschen ein. »Ich arbeite gern als Therapeut für gestörte Menschen — Leute, mit denen sonst niemand arbeiten möchte. Ich spreche nicht über meine Familie oder meinen Selbstmord­versuch, aber die Menschen spüren den Glauben, den ich in sie habe. Und die Hoffnung. Ich möchte, daß die Menschen aufhören, ihre Traumen als bleibende Narben zu sehen, sondern vielmehr als ihre Möglichkeiten, tiefere und weitere Einsichten in das Leben zu haben als andere. Es gibt ein breites Spektrum von Weitsicht und Hoffnung, das Menschen, deren Leben ohne Probleme verläuft, oft verschlossen ist.«

 

     Das erste, was zu tun ist    

 

Bei den Anonymen Alkoholikern gibt es einen immer wiederkehrenden Satz: In der Krankheit des Alkoholismus ist Spiritualität das erste, das verschwindet und das letzte, das zurückkehrt. Im Vergleich zu Alkohol weist die gestörte Familie weitaus größere Erfolge im <Seelenmord> auf, wie Alice Miller das Phänomen nennt.1  Mißbrauchte Kinder werden ihres Glaubens an den guten Willen anderer Menschen und ihres Glaubens an eine sichere Welt beraubt. Die Psychotherapeuten Patricia Reiker und Elaine Carmen erläutern:

Konfrontationen mit Gewalt verletzen die elementaren Vorstellungen des Selbst als unverletzlich und intrinsisch wertvoll und der Welt als geordnet und gerecht. Nach dem Mißbrauch kann die Einstellung des Opfers zum Selbst und zur Welt nie wieder so sein wie zuvor: sie muß wieder­her­gestellt werden, um die Mißbrauchserfahrung einzugliedern.2

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Spiritualität, seit jeher ein Bestandteil unserer Zivilisation, hilft uns, eine Verbindung zu anderen und zur Natur zu erfahren. Alle spirituellen Systeme beruhen auf dem Glauben an die Existenz einer Macht, die größer ist als das Selbst, und der Glaube an diese Macht macht uns zu besseren Menschen.

Sechzehn der Befragten meiner Studie fanden als Erwachsene in der Spiritualität eine große Quelle der Heilung. Ihre Vorstellung von Spiritualität wird von dem Arzt Bernie Siegel in <Prognose Hoffnung> wieder­gegeben.

Spiritualität bedeutet die Fähigkeit, Frieden und Glück in einer fehlerhaften Welt zu finden und zu spüren, daß die eigene Persönlichkeit fehlerhaft und dennoch akzeptierbar ist. Aus diesem gelass­enen geistigen Befinden erwachsen sowohl Kreativität und die Fähigkeit zu uneigennütziger Liebe, die Hand in Hand gehen.3

Jenny sagt: »Ich weiß nicht, ob meine Spiritualität meine Heilung beschleunigte, oder ob meine Heilung mir größeren Zugang zur Spiritualität verschaffte. Heute gehört meine Spiritualität zu meinem Alltagsleben. Wenn mich eine schlimme Erinnerung befällt oder mich problematische Gefühle überkommen, hilft mir mein Glaube an etwas Größeres als ich es bin — daß ich das nicht durchmachen würde, wenn es keinen Grund dafür gäbe, wenn ich nicht dafür bereit wäre —, diese Tiefen zu überstehen.« Viele Mißbrauchs­opfer stellten wie Stefan fest, daß Spiritualität sie in tiefere Bereiche der Selbstbejahung und der Aussöhnung mit ihrer Vergangenheit führte, als Psychotherapie dies vermochte.

In seinem Buch Wenn Erfolg allein nicht glücklich macht erforscht Rabbi Harold Kushner die Unterschiede zwischen Psychotherapie und Spiritualität:

Die ursprüngliche, wörtliche Bedeutung des Begriffs >Psychotherapie< ist >Pflege und Heilung der Seele<, und unsere Seele braucht Pflege. Ich selbst habe Nutzen aus der Therapie gezogen in Zeiten meines Lebens, als ich von Problemen überwältigt war und einen erfahrenen außen-

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stehenden Beobachter brauchte, der mir sagte, wo ich mir die Dinge schwerer machte. Ich mußte gesagt bekommen, daß ich gewissen Wahrheiten aus dem Weg gehe. Außerdem habe ich Anschau­ungen der Psychologie und Psychotherapie in meine Predigten eingebaut und dazu benutzt, um Ratsuchenden meiner Kirchengemeinde Beistand zu leisten. Ich weiß, daß Therapie wertvoll ist... Doch die Werte des therapeutischen Ansatzes sind überwiegend Werte der Anpassung an Gegeben­heiten, nicht aber Visionen einer nicht existenten Welt.4

Viele einstige Opfer finden im spirituellen Glauben die gefahrlose, gerechte Welt, die für sie in der Kindheit nicht existierte.

 

    Unsere ersten Idole    

 

Ganz kleine Kinder halten ihre Eltern für allwissend und allmächtig. Ein kleines Kind watschelt ins Wohn­zimmer, das Gesicht mit Schokolade beschmiert. Seine Mutter sagt ihm: »Hab' ich dir nicht gesagt, du sollst nicht an die Schokoladenkekse gehen?« Das Kind antwortet unschuldig: »Ich habe aber nichts angestellt.« Doch die Mutter beharrt: »Ich seh' doch, daß du an den Schokoladenkeksen genascht hast.«

Und das Kind denkt, meine Mami weiß alles. Sie war im Wohnzimmer und ich in der Küche, und sie weiß es trotzdem. Wie macht sie das? Wenn die Mütter mit dem Vorfall liebevoll und fürsorglich umgeht, assoziiert das Kind die Allwissenheit und Allmacht der Mutter mit Fürsorge und Schutz. Damit wird ein Grundstein für einen tröstlichen Glauben an eine höhere Macht gelegt.5

In einer gestörten Familie wird die allwissende und allmächtige Mutter aller Wahrscheinlichkeit nach weniger liebevoll und fürsorglich sein. Einmal wird das Kind nicht bestraft, weil es Schokolade genascht hat, da die Mutter betrunken im Wohnzimmer sitzt. Das nächste Mal wird es wegen eines ähnlichen Vergehens beschimpft oder geschlagen. 

Jake mußte wegen genau dieses <Verbrechens> einen ganzen Tag nackt in der Ecke stehen. Als er das nächste Mal beim Naschen erwischt wurde, kam sein Vater ins Zimmer und aß die restliche Schokolade auf.

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Der unvermeidbare Sündenfall der Eltern spielt auch eine Rolle darin, wie das Kind andere höhere Mächte wahrnimmt. Hat ein Kind auf behutsame Weise begriffen, daß die Eltern nicht wirklich allwissend und allmächtig sind? Bestand der <Trostpreis> darin, daß das Kind selbst mächtig und wissend werden konnte, um seine eigene Sicherheit in der Welt zu garantieren, um an sich selbst glauben zu können? War das Kind geneigt und befähigt, sich von der Elternbindung zu lösen und an eine Art Bindung an andere höhere Wesen zu glauben? Oder fand diese Erkenntnis als Folge eines Traumas oder eines Verrates statt? 

In gewalttätigen Familien ist zumindest ein Elternteil eine irrationale und rachsüchtige <Gottheit>. Ein Kind hat vermutlich nicht den Wunsch, sich andere potentielle ähnliche Gottheiten zu suchen, wenn es mit den Göttern seiner Familie kaum fertig wird.

 

    Gottvater und Mutter Natur    

 

Ungeachtet des elterlichen Verhaltens glaubten manche in der Kindheit Versehrte Menschen weiterhin an eine höhere Macht oder Wissensquelle. Rob erinnert sich: »Egal wie schlimm alles war, ich wußte immer, daß es etwas Größeres gab als mich und meine Probleme.«

Viele sagten, sie hatten das »deutliche Gefühl, daß meine Eltern - nicht ich - unrecht hatten«. Jenny glaubt, daß die Wurzeln ihrer heutigen starken spirituellen Überzeugung in ihrer Kindheit liegen.

»Ich wußte, wenn ich aufhören würde, mich meinem Vater zu widersetzen, würde ich weniger brutal und weniger häufig geschlagen werden. Doch schon als kleines Mädchen wußte ich, daß es etwas Wichtigeres gab als meinen Körper. Ich befürchtete, meine Seele würde zerbrechen, wenn ich mich unterwerfe. Heute bewundere ich das mutige kleine Mädchen, das ich damals war.«

Die kleine Yolanda »liebte die Jungfrau Maria. Ich machte meine Schularbeiten in der Kirche, damit sie mir beim Lernen hilft. Dann betete ich ein Vaterunser, weil ich befürchtete, der liebe Gott könnte eifersüchtig sein.«

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Als Justin dreizehn Jahre alt war, nahm ihn Marjorie, seine Nachbarin, die sich um ihn kümmerte, in einen Gottesdienst der Pfingstbewegung mit. »Die erste Predigt vergesse ich nie. Der Priester las aus der Bibel, Johannes 3:16: >Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat.< Ich sagte mir >Das bin ich - dieser jeder. Die meinen mich.<« Er nahm Christus in sein Leben auf und fand nicht nur Trost in Marjories >strahlendem Frieden<, sondern auch im Willkommen einiger Familien der Kirchengemeinde, die Justin bei sich aufnahmen und bei denen er seine Jugendjahre verbrachte.

Jenny fand in der Baptistenkirche einen >guten Vater<. »Ich war acht Jahre alt, als ich in einem Ferienlager die Psalmen von David las: >Ein Vater will ich sein von vaterlosen Kindern.< Und ich fragte mich, sind damit auch die gemeint, die böse Väter haben? Das war das Fundament, in das ich meine Wurzeln senkte.« Sie hat auch eine starke Naturverbundenheit, die ihr ein Bild der Stärke gibt, die ihr die passive Mutter nicht vermitteln konnte: »Ich sehe mich als einen vom Wind zerzausten Baum auf einem Berggipfel. Der Baum ist schief und krumm, aber auf seine Art auch schön. Die Wurzeln haben sich tief in die Felsritzen gegraben, um den Stürmen zu trotzen. Alle Blätter sind abgefallen, man kann den Baum, seine Äste und Zweige wirklich sehen.«

Immer wieder schilderten die Befragten meiner Studie die Natur - häufiger als andere Menschen - als >beruhigend<, >gebend<, >heilsam< und >nährend<. Esther fand Trost im Ozean. »Er war das einzige Beständige in meinem Leben. Jedesmal wenn wir ans Meer kamen, hatte es sich nicht verändert, es war zeitlos, gleichbleibend und immer sicher. Seine Schönheit und Kraft war wohltuend. Ich legte mich in den heißen Sand und ließ mich von den Wellen umspülen. Das Meer reinigt, heilt, liebt mich, dachte ich mir.«

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Rita wuchs in der Nachbarschaft einer Navaho-Reservation auf. Ihre Mutter, selbst Navaho-Indianerin, zog es vor, in einer armseligen Behausung in der Stadt zu leben. »Meine Mutter haßte und verleugnete ihre Abstammung. Sie verbot meinem Bruder und mir, in die Reservation zu gehen. Ich fand es dort wahnsinnig interessant und schlich mich bei jeder passenden Gelegenheit hinein. In der Reservation ritt ich ohne Sattel auf wilden Ponies. An einem Sommertag, als ich acht Jahre alt war, führte ich das Pony zum Wasser. Plötzlich stand ein alter Mann vor mir, den ich schon mal in der Stadt gesehen hatte. Ich hatte geglaubt, er spricht kein Englisch, aber er sagte mir, er sei Medizinmann und sehe, daß ich ein spiritueller Mensch werden könne.«

In den nächsten fünf Jahren brachte der alte Indianer Rita die spirituellen Lehren ihrer Kultur nahe. »Er zeigte mir einen >Springkaktus<. Diese Kakteen haben lange, dünne Wurzeln über der Erde. Wenn man auf eine Wurzel tritt, macht der Kaktus einen Sprung, als wolle er angreifen. Der Mann fragte mich, ob der Kaktus mich an einen Menschen erinnere. Er kam mir vor wie mein Vater, der grundlos auf uns Kinder losging und uns schlug. Wir sprachen darüber und der Medizinmann half mir, Gewalttätigkeit weniger persönlich zu nehmen; er brachte mir bei, nicht auf Wurzeln zu treten.«

Manche Befragte sagten mir, ihre Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft verschlimmerte ihr Trauma. Stefan erklärt: »Die Fixierung der katholischen Kirche auf Sünde und Bestrafung bestärkte mich darin, daß ich es verdiene, mißhandelt zu werden, als Strafe für meine Sünden. Gegen meine Eltern konnte ich mich nicht auflehnen, also lehnte ich mich gegen Gott auf - wenn es dich wirklich gibt, wie kannst du zulassen, daß mir das angetan wird?«

Mißbrauchstäter, die sich für religiös halten, reden den kindlichen Opfern häufig ein, sie, die Täter, seien Werkzeuge Gottes, ihre Mißhandlung sei der Wille Gottes: »Du sollst Vater und Mutter ehren« ist ein Gebot Gottes; »Du sollst dein Kind ehren« ist kein Gebot Gottes. 

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     Leben im Angesicht des Todes    

 

Die meisten Kinder lernen den Tod kennen durch den Verlust von Haustieren und das Sterben ihrer Großeltern. Tritt ein solcher Todesfall ein, wird ein verständnisvoller Erwachsener dem Kind den Begriff des Todes und des Sterbens erklären, die Fragen des Kindes beantworten und ihm in seiner Trauer beistehen. Die Kindheit sollte eine Zeit der Unschuld und Unbeschwertheit sein. Im Idealfall werden Kinder vor der Unbegreiflichkeit ihrer eigenen Sterblichkeit bewahrt, bis sie älter und besser befähigt sind, mit Verzweiflung umzugehen, und philosophische Fragen im Zusammenhang mit Leben und Tod besser begreifen können.

In gewalttätigen Familien sind Gewaltandrohungen, ja sogar Todesdrohungen ebenso normal wie in gesunden Familien die Frage: »Wie war es heute in der Schule?« Nancys Stiefvater fand nichts dabei, ihr zu sagen: »Wenn ich dich bloß sehe, könnte ich dich schon an die Wand werfen.« Und leider war das nicht nur so daher geredet.

Esther erinnert sich: »Ich wußte nie, ob ich am nächsten Tag noch leben würde. Als erwachsene Frau erkenne ich heute, wie viel Melodram und Theater dabei war, aber als Kind konnte ich das nicht wissen. Ich glaubte die Drohungen. Meine Mutter sagte mir ständig: >Ich habe dich in die Welt gesetzt und ich nehme dich auch wieder von dieser Welt.< Wenn ich besinnungslos geschlagen wurde, war ich dem Tod ganz nah, ohne wirklich zu sterben. Jeden Abend beim Einschlafen fürchtete ich einerseits, am nächsten Morgen nicht aufzuwachen, und andererseits wünschte ich, ich würde nicht mehr aufwachen.«

Aufgrund der an ihnen verübten Gewalt hatten viele Überlebende todesnahe Erfahrungen. Manche fixierten sich auf solche Erlebnisse und brachten sich ständig in Todesgefahr, um >das Schicksal herauszufordern^ Die Mißbrauchsopfer dagegen, die Zugang zu Spiritualität fanden, vermochten diese erschreckenden Erfahrungen durch Spiritualität zu verstehen und zu integrieren.

Zwei Befragte berichteten von übersinnlichen Erfahrungen, die ihnen halfen, lebensbedrohende Situationen durchzustehen. Janet erinnert sich: »Ich hatte Angst, mein Vater bringt mich um, wenn er mich mit seinem Gummiknüppel verdrosch. Als ich acht Jahre alt war, wachte ich einmal mitten in der Nacht auf. Mein Zimmer war angefüllt mit weißem Nebel.

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Es war friedlich und ruhig. Ich sah meine Babysitterin — der einzige Mensch, der sich wirklich um mich kümmerte — in einem Sarg liegen, mitten im Zimmer. Sie wirkte glücklich, und alles war wie es sein sollte, daran erinnere ich mich genau. Zwei Tage später starb sie. Nach dieser Todesahnung hatte ich nie wieder Angst vor dem Tod.« Als Zwanzigjährige wurde sie >zynisch< und >sexbesessen<, doch als Dreißigjährige nahm sie wieder Verbindung zu ihren spirituellen Kräften auf und heute meditiert sie, wobei sie sich ein >heilsames weißes Licht< vorstellt, daß sie an jedem ihrer Tage begleitet.

Als Rob zweiundzwanzig Jahre alt war, starb seine Mutter und sein Vater war wegen der Erkrankung an Huntington-Chorea in einer Spezialklinik untergebracht. »Ich hatte gerade meine Militärzeit hinter mir, war seit kurzem trocken und völlig verzweifelt. Ich hatte ernste Selbstmordabsichten. Ich betete: Wenn es da oben etwas gibt, muß ich es wirklich wissen. Ich spürte, wie ich emporgehoben wurde, schwebte in der Luft, als würde mich jemand in einer unsichtbaren Wiege schaukeln. Ich hatte ein tiefes Gefühl des Wohlbefindens. Alles in meinem Leben verband sich zu etwas Sinnvollem, aber ich konnte nicht sagen, was dieser Sinn war. Ich schwebte im Nichts, und es erschien mir eine Ewigkeit zu sein. Ich war nicht allein.«

Der Tod verliert seine Macht, wenn Mißbrauchsopfer in der Spiritualität Trost und Rückhalt finden, die ihre Eltern ihnen vorenthielten. Statt zu >leben, um dem Tod zu entgehen<, lernen sie zu leben um des Lebens willen.

 

     Glaube besiegt Angst    

 

Um ihre Seele zu schützen, wenn Glaube und Vertrauen zerstört wurden, werden Kinder trotzig. Der Therapeut Robert Subby, der mit erwachsenen Kindern von Alkoholikern arbeitet, definiert Trotz als »Leben in einer Welt ohne Glauben«.6 Manche Überlebende, die gelernt haben, nichts dem Zufall zu überlassen, glauben: »Ich bin allein auf dieser Welt: es liegt alles an mir.« Manche glauben, es gebe keine größere Macht als das Selbst.

Die Überzeugung, Kontrolle über sein Leben zu haben, ist eine gesunde Hinstellung — bis zu einem gewissen Punkt.

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Alles, was geschieht, einem göttlichen Willen zu unterstellen, ist mit Sicherheit eine Flucht vor Eigen­verant­wortung. Der Gedanke, daß ein Mensch sein Schicksal völlig alleine bestimmt, ist gleichermaßen problematisch, er spiegelt das Verlangen nach totaler Kontrolle eines Menschen, der paradoxerweise keine Kontrolle hat. Diese Denkart ist beherrscht vom Verlangen, alles unter Kontrolle zu haben.

Das Gebet der Anonymen Alkoholiker bringt genau das erwünschte Gleichgewicht zum Ausdruck: »Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.« Ironischerweise werden einstige Opfer, denen der Glaube fehlt, und die das Verlangen nach Kontrolle haben, ebenso irrational wie ihre Eltern ihnen einst erschienen. Sie fürchten möglicherweise, in die Position des verängstigten kleinen Kindes zurückzufallen, hilflos dem Zorn der Götter ausgeliefert zu sein, wenn sie die Kontrolle aufgeben.

Jake sagte: »Ich begann aus medizinischen Gründen zu meditieren, um meinen hohen Blutdruck zu normalisieren. Anfangs fand ich es entsetzlich — besonders das Gerede, seine Energie mit dem Universum in Einklang zu bringen. Ich hätte meine Energie viel lieber mit einer Sportsendung in Einklang gebracht. Aber mein Blutdruck ging herunter. Und als meine Frau und meine Kinder sagten, ich sei ruhiger geworden, entspannte ich mich noch mehr. Sie sagten mir, was für ein Tyrann ich gewesen sei, daß ich immer recht haben mußte, allen sagte, was sie zu tun hätten. Heute ist mein Motto: >Tu nicht irgendwas, setz dich einfach mal hin!< Wir haben alle mehr Spaß miteinander. Ich habe kapiert, daß ich mich nicht mehr ständig um alles kümmern brauche.«

Viele einstige Opfer empfanden religiöse Erziehung in der Kindheit als etwas, das »im Kopf stattfand - es ging nur um Gebote und Rituale«. Als Erwachsene kehrten sie jedoch zur Religion zurück und erlebten sie als mehr >aus dem Herzen kommende Jenny halfen Bibelsprüche. Als junge erwachsene Frau mit einem Ehemann, der sie verprügelte, und nach der

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Amputation ihres rechten Beines als Folge eines schweren Autounfalls versuchte sie immer verbissener, ihr Leben zu meistern. 1966 war sie schließlich am Ende angekommen: »Die Ehe mit meinem zweiten Mann endete mit Scheidung, seine Geschäftsräume brannten aus, ich mußte für zwei Häuser Hypotheken bezahlen, hatte gerade meinen Job wegen meiner Behinderung verloren und zog unsere drei Kinder alleine groß. Eines Tages sah ich mich mit Krücken einen Berg hinaufsteigen, zwei Häuser und drei Kinder hingen an mir. Genau wie früher, als ich noch ein kleines Mädchen war, mußte ich weitergehen, mußte alles tun, egal wie erschöpft ich auch war. Dann wurde mir bewußt, daß ich nicht Gott war. Gott war jemand anderer. Ich hörte auf, alles kontrollieren zu wollen. Ich akzeptierte, daß ich ein Ganzes bin und von einem allmächtigen Schöpfer geliebt werde.«

Jennys Leben veränderte sich drastisch. Sie erholte sich finanziell und begann, sich aktiv für Behinderte einzusetzen. Sie ließ sich als seelsorgerische Beraterin ausbilden. Sie hat sich ihre Ausdauer und Hilfsbereitschaft aus der Kindheit bewahrt und diese Wesensstärken mit ihrem Glauben, ihrer Selbstbejahung und einem Familiensinn, den ihr die Kirchengemeinde der Pfingstbewegung vermittelt, in eine vernünftige Relation gebracht.

Jennys Glaube, der mir auch bei vielen anderen spirituell orientierten einstigen Opfern aufgefallen ist, läßt sich am besten mit einer alten Geschichte verdeutlichen.

 

Ein alter Mann besitzt eine Farm und ein Pferd, das seinen Acker pflügt. Eines Tages läuft ihm das Pferd weg und seine Nachbarn lamentieren: »Oh wie furchtbar, daß dein Pferd weggelaufen ist. Ist das nicht furchtbar für dich?« Er entgegnet: »Wir werden sehen.«

Sein Pferd kommt mit fünf wilden Pferden zurück. »Oh wie wunderbar!« jubeln die Nachbarn. Der alte Farmer entgegnet: »Wir werden sehen.«

Beim Zureiten eines der wilden Pferde wird der Sohn des Farmers abgeworfen; er bricht sich das Bein. »Was für eine Tragödie!« klagen die Nachbarn. Und wieder sagt der Farmer bloß: »Wir werden sehen.«

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In der darauffolgenden Woche werden alle jungen Männer aus der Gegend zum Militär eingezogen, um in den Krieg zu ziehen. Der Sohn des Farmers wird wegen seines komplizierten Beinbruchs als nicht wehrtauglich zurückgestellt. »Was hast du bloß für ein Glück!« rufen die Nachbarn. »Wir werden sehen«, entgegnet der Farmer.

 

Der Farmer ist von seinem Glauben beseelt — dem gleichen Glauben, der einstigen Mißbrauchsopfern geholfen hat, sich weniger einsam in der Welt und weniger verantwortlich für alles, was geschieht, zu fühlen. Die Ohnmacht, die sie als Kinder empfanden, war echt und grausam, doch der Versuch, immer und überall Macht und Kontrolle zu haben, ist nicht die richtige Antwort. Glauben verwandelt Ohnmacht in einen Zustand der Bereitwilligkeit, eine Haltung der Akzeptanz — ein beständiges >Wir werden sehen<, mit dem der Betreffende seine Ichgrenzen überschreiten kann. Mit Hilfe des Glaubens bedeutet Verwundbarkeit nicht länger zwangsläufig Verletzung: sie kann auch eine Gelegenheit zur Heilung bieten.

Glaube ist ein Heilmittel gegen Angst. Geleitet durch einen Glauben an eine Macht, die größer ist als das Selbst, haben viele ihre Lebensangst in Ehrfurcht vor dem Leben verwandelt. Rabbi Harold Kushner erläutert den Unterschied:

Die Empfindung der Ehrfurcht gleicht in mancher Hinsicht der Furcht. Wir fühlen uns überwältigt in Gegenwart eines Menschen oder einer Sache, die wesentlich mächtiger ist als wir selbst. Ehrfurcht ist jedoch eine positive Empfindung, ein erweiterndes Gefühl. Furcht erweckt in uns den Wunsch zu fliehen, Ehrfurcht erweckt in uns den Wunsch, näher zu treten, auch wenn wir zögern, zu nahe zu kommen. Statt uns unserer Winzigkeit oder Schwäche zu schämen, stehen wir mit offenem Mund und staunen über das, was größer ist als wir selbst. Wenn wir am Rand einer steil abfallenden Klippe stehen und nach unten schauen, überkommt uns Angst. Wir wollen dieser Situation so rasch und so sicher wie möglich entgehen. Wenn wir sicher und gefestigt auf einem Berggipfel stehen und uns das Landschaftspanorama betrachten, sind wir voller Ehrfurcht. Diesen Anblick könnten wir für immer genießen.7

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Die Wahrnehmung, einen Berg bestiegen zu haben, statt schwankend am Rand eines Abgrunds zu stehen, ist wichtig. Keines der einstigen Opfer, mit denen ich gesprochen habe, war der Meinung, den Gipfel bereits erreicht zu haben, aber sie sehen sich alle als beherzte Bergsteiger auf dem Weg zum Gipfel. Welcher Unterschied zur Lebenseinstellung, ein Opfer zu sein, das in einen Abgrund zu stürzen droht!

 

         Vergeben und Vergessen        

 

Manche Mißbrauchsopfer, die ihren Zorn auf ihre mißbrauchenden und nichtbeschützenden Eltern fürchten, wenden sich der Spiritualität zu, die ihnen helfen soll zu verzeihen. Thelma erkennt, daß Verzeihen für sie >>ein Umweg um meine Wut ist. Ich verzeihe den Menschen beinahe sofort, um von meiner Wut loszukommen. Ich verzeihe ihnen nicht nur, ich klopfe mir sozusagen selbst auf die Schulter und sage mir, was für ein wunderbarer Mensch ich bin, weil ich vergeben kann. Aber das alles gibt mir kein wirklich besseres Gefühl.«

Wie wir gesehen haben, müssen die Opfer zunächst sich selbst verzeihen, hilflos und unschuldig zu sein; sie müssen ihre Verdrängung und Bagatellisierungstendenz aufgeben, bevor sie anderen verzeihen können. Der Psychiater Scott Peck hält uns vor Augen, daß das eine sehr schwere Arbeit ist: es gibt keine Abkürzungen, weder in der Spiritualität noch in einem anderen Bereich. Um wirklich vergeben zu können, um gerecht und fair in unserem Verhalten zu sein, glaubt er, daß wir in unserem Inneren eine Gerichtsverhandlung abhalten müssen. Mit Eröffnungsreden, Verlesung der Anklage und der Verteidigung, Zeugenvernehmung und Kreuzverhör, Beweislegung und Schlußplädoyers.

Erst nach einem Schuldspruch kann eine Begnadigung erfolgen. Herrscht keine Einigkeit über die Schuldfrage, ob Freispruch oder Verurteilung, müssen wir von vorne beginnen. Nach einem solchen Prozeß, der exaktes Denken und tiefe emotionale Erforschung erfordert — da der Betreffende alle Rollen gleichzeitig spielt —, kann man mit einem ungerechten und bedauerlichen Teil seiner Vergangenheit Frieden schließen und ihn akzeptieren.8

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Rita stellte fest, »am Ende meiner Trauerarbeit war echtes Verzeihen für mich ganz natürlich. Vorher sagte ich immer >Eigentlich konnten meine Eltern nichts dafür. Sie waren Alkoholiker oder sie waren selber mißbrauchte Kinder oder sie taten uns weh, weil der Rassismus ihnen weh tat.< Das war jedoch kein Verzeihen — das war Rationalisieren. Erst als ich ans Ende meines eigenen Schmerzes gelangte, konnte ich ihren Schmerz wirklich erkennen und verzeihen.«

Die Therapeutinnen Wendy Maitz und Beverly Holman äußern sich zum Verzeihen der Opfer von sexuellem Kindesmißbrauch in ihrem Buch Incest and Sexuality:

Überlebende fragen sich oft, ob sie dem Täter und anderen Familienmitgliedern verzeihen sollen. Ein Verzeihen im Sinne, andere von der Verantwortung ihrer Missetaten freizusprechen und zu glauben, ihre Taten seien gerechtfertigt, ist ungesund. Wenn aber das Verzeihen in einer Form definiert werden kann, das Verständnis für die Schwächen, Grenzen und den Hintergrund einer Person aufbringt, dann kann es sehr nutzbringend sein. Diese letztgenannte Form des Verzeihens ist selbstbejahend. Damit hat das Opfer die Möglichkeit, seine eigenen Schwächen zu akzeptieren, Mitgefühl für sich selbst aufzubringen, Überreste von Selbstbeschuldigung auszuräumen und sich von ständigen negativen Gefühlen gegen Familienmitglieder zu befreien.9

Anderen zu vergeben bringt Ordnung ins eigene Leben. Rob beschreibt das mit Loslassen, was ihm in seinem Leben im Wege steht: »Meine Eltern sagten mir immer wieder, ich sei nicht liebenswert und ich glaubte ihnen. Heute glaube ich das nicht mehr. Sie sind noch immer dafür verantwortlich, es gesagt zu haben, aber ich nehme es nicht mehr so wichtig. Ich kann es jetzt loslassen.«

Und Claudia Black schreibt: »Verzeihen heißt nicht Vergessen. Es heißt sich daran erinnern und loszu­lassen.«10

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      Heilsame Rituale     

 

Joans afrikanisch-portugiesische Kultur ist reich an Ritualen. Gegen Ende ihrer Therapie kaufte sie eine Puppe, die ihr ähnlich sah, um das kleine Mädchen zu symbolisieren, das ihre Mutter getötet hatte: »Ich legte die Puppe in eine Schachtel mit einem Brief an meine Mutter, in dem ich ihr schrieb, wie sehr ich sie liebte und wie sehr sie mir fehlte. Ich vergrub die Puppe feierlich neben dem Grab meiner Mutter und mit ihr mein Schuldbewußtsein und meine Qualen.«

Jeder muß seinen persönlichen Ansatz zur spirituellen Heilung finden. Ich glaube aber auch, daß wir ein kollektives und umfassendes Ritual der Heilung brauchen. Meine Kollegen, die post-traumatische Belastungsstörungen bei Vietnam-Veteranen behandeln, sprechen von zwei deutlichen Etappen in ihrer Arbeit: >Vor der Mauer< (Das Vietnam-Kriegerdenkmal in Washington, D.C.) und mach der Mauer<.11

Die Mauer repräsentiert einen >spirituellen Durchbruch<, weil die Kriegsteilnehmer damit einen Treffpunkt erhielten, wo sie gemeinsam trauern und Erinnerungen austauschen konnten. Die Mauer ist auch, und das ist nicht minder wichtig, ein Zeichen dafür, daß dieses Land aufgehört hat, die Erfahrung Vietnam zu verdrängen und die Trauer über den Krieg zuzulassen. Heute ist die Mauer ein heiliger Ort für Kriegs­teilnehmer und ihre Angehörigen, an dem heilsame Rituale abgehalten werden — man sucht die Namen von Kameraden und geliebten Menschen, nimmt das Andenken an den eingravierten Namen mit nach Hause; Besucher hinterlassen Briefe, Blumen, Kriegsauszeichnungen und ähnliches an der Gedenkmauer.

Ich glaube, daß wir im Hinblick auf Kindesmißbrauch heute da sind, wo wir vor fünfzehn Jahren mit den Vietnam-Kriegsteilnehmern waren. Wir verdrängen die Erfahrung zum großen Teil. Abgesehen von Gruppen­therapie und Selbsthilfegruppen, die gewöhnlich mehr auf den Verstand ausgerichtet sind als auf die Seele, gibt es für diese Opfer keinen Ort, wo sie zusammenkommen und über ihre Verluste trauern können, um sich weniger einsam zu fühlen. Unsere Gesellschaft erkennt die Trauer um unsere traumatisierte Kindheit nicht an.

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Wir brauchen eine Gedenkmauer für Überlebende von Kindheitstraumen. Einen Ort der Besinnung, an dem wir uns erinnern können und nicht allein sind, an dem wir mit Gleichgesinnten trauern. Uns fehlt eine solche Gedenkstätte an die Schrecken des Kindheitstraumas. Wir haben lediglich das lebendige Andenken in den Überlebenden, die den Mythos des >einmal geschädigt, für immer geschädigt< bestätigen: Kriminelle, Süchtige und mißbrauchende Eltern. Sie erinnern uns daran, wie schlimm es ist, zu vergessen. Ihre Existenz erschüttert unsere Überzeugung, daß Kinder in unserem Land ein geborgenes Leben führen.

 

      Einstellung ist Dankbarkeit     

 

Keiner der Befragten meiner Studie glaubte, daß sein Mißbrauch der Wille Gottes war oder Strafe für seine Sünden oder, noch mystischer ausgedrückt, schlechtes Karma, Vergeltung seiner Sünden, die er in einem früheren Leben begangen hat, oder noch schlimmer, eine >Entscheidung<, die das Opfer selbst getroffen hat, um spirituell weiterzukommen. Sie sahen in solchen Überzeugungen lediglich weitere starke Kontroll­mechanismen, in denen unangemessenes Schuldbewußtsein als Glaube getarnt wird.

Yolanda befaßt sich mit Schamanismus, fernöstlichen Religionen und indianischen spirituellen Glaubens­richtungen. Sie lehnt den Gedanken ab, daß Mißbrauch in der Kindheit und Vernachlässigung von Gott gesandt sind: »Meiner Meinung nach erfüllt Mißbrauch keinen Sinn, hätte nie passieren dürfen und hat keine Werte. Mißbrauch ist Mißbrauch ist Mißbrauch. Ihm einen Sinn zuzuweisen hieße, ihn zu entschuldigen, als würde man Eltern, die ihre Kinder mißhandeln, sagen: >Es ist richtig, daß du deinem Kind weh tust, denn es wird einen tiefen Sinn und Zweck darin sehen.<

Wenn Menschen mir sagen, ich hätte mir meine Kindheit selbst gewählt, weil ich daraus wichtige Lehren ziehen mußte, sage ich ihnen, sie sollen sich nur ordentlich verprügeln lassen, wenn sie glauben, es sei so sinnvoll.«

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Sobald einstige Opfer aber begriffen hatten: »Es ist nicht mein Fehler«, wandten sich viele der Spiritualität zu, um dort Antwort auf die nächste Frage zu finden: »Warum ist das geschehen?« Rabbi Harold Kushner gibt eine Erklärung:

Schmerz ist der Preis, den wir bezahlen, um zu leben... Wenn wir das begreifen, ändern wir unsere Fragestellung von: >Warum müssen wir Schmerz ertragen?< in: >Was müssen wir tun, damit unser Schmerz sinnvoll wird und nicht bloß zweckloses, leeres Leiden? Wie können wir all die schmerzvollen Erfahrungen in unserem Leben in Geburtsschmerzen oder Wachstums­schmerzen verwandeln?< Selbst wenn wir nie begreifen, warum wir leiden oder nie die Kräfte beherrschen, die unser Leiden hervorrufen, so haben wir dennoch eine Menge darüber zu sagen, was das Leid mit uns bewirkt und welche Menschen wir aufgrund unseres Leidens werden. Schmerz macht manche Menschen bitter und neidisch. Andere macht er sensibel und mitfühlend. Das Ergebnis, nicht die Ursache des Schmerzes, macht manche Schmerzerfahrungen sinnvoll und andere leer und zerstörerisch.12

 

Vielen gelang es, das Beste aus einer schlimmen Situation zu machen und darin <Geschenke> oder <Lehren> zu erkennen — Techniken, Interessen, Kreativität, größere Talente —, die sich im Schatten des Mißbrauchs entwickelten. Der indianische Glaube lehrte Rita, »die Geschenke im Mißbrauch zu erkennen, damit ich nicht von ihm beherrscht wurde. Das ist etwas, was die Kultur der Weißen nicht begreift. Meine Sensibilität ist etwas Positives; sie ist aus dem Mißbrauch entstanden. Seit ich das weiß und akzeptieren kann, erhält der Mißbrauch die richtige Perspektive und verliert die negative Macht über mich. Aber ich würde nie sagen, ich habe mir gewalttätige Eltern ausgesucht, um ein sensibler Mensch zu sein.«

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Stefan fand das »Geschenk meines Humors in der Hölle, die ich durchgemacht habe. Ich kann das Absurde in jeder Situation sehen. Das hat mir das Leben gerettet, denn solange die Dinge absurd sind, solange etwas surreal ist, kann es nicht mein Fehler sein. Mein Humor bringt mich anderen Menschen näher und hilft mir, meine Perspektive zu bewahren.«

Janet glaubt, sie würde heute weniger optimistisch sein, wenn sie nicht so schwer geprüft worden wäre: »Nur weil ich Hunderte von Torturen ausgestanden habe, habe ich diese Gabe, die ich an andere weitergebe. Das Leben ist gut, und es wird besser, wenn man älter wird.«

Elaines schönste Kindheitserinnerung ist: »Wenn ich an unserem alten Klavier im Keller saß und stunden­lang spielte. Draußen vor dem Kellerfenster konnte ich das Gras sehen und die Staubpartikelchen glitzerten in den schräg einfallenden Sonnenstrahlen.« Sie brachte sich bei, komplizierte Sonaten im Kopf zu komponieren. »Als Achtjährige döste ich auf dem Rücksitz des Wagens bei langen Autofahrten mit der Familie. Ich hörte den gleichmäßigen Rhythmus des fahrenden Wagens und schrieb und hörte Musik im Kopf für ein Quartett, dem dieser Rhythmus zugrunde lag. Während meiner ganzen Kindheit komponierte ich Musik, um nicht an meine Probleme denken zu müssen. Ich bin sehr dankbar, daß ich dieses Talent besitze.«

Diese Überlebenden sind in bemerkenswerter Weise frei von Bitterkeit und Empörung gegen ihren Kindes­mißbrauch, der eine universale Perspektive gewonnen hat: »Wie kann das überhaupt passieren? Wie kann ein Erwachsener einem Kind so etwas antun?« Im Gegensatz dazu neigen Überlebende, die an nichts glauben, was außerhalb ihrer eigenen Person liegt, zur Ichbezogenheit und Bitterkeit: »Wie konnte mir das angetan werden?« Sie haben die Verbindung zu anderen, die das gleiche Schicksal erlitten, verloren und daher ihre Isolation verstärkt.

Die Befragten meiner Studie hatten außerdem ein bemerkenswertes Mitgefühl für ihre >Brüder und Schwestern<, die zumindest vorübergehend von dem Trauma besiegt worden waren. Die meisten dachten: »Wenn Gott nicht so barmherzig gewesen wäre, könnte ich in der gleichen Situation sein.« Manche erinnerten sich, in der gleichen Situation gewesen zu sein, und schätzten sich glücklich, sich daraus befreit zu haben.

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»Ich sehe einen Verbrecher im Fernsehen oder einen geistig Gestörten auf der Straße oder eine Mutter, die ihr Kind im Supermarkt schlägt und denke an die Angst, Wut, den Argwohn, den Abscheu, die ich als kleiner Junge empfand, als ich geschlagen wurde. Ich denke, sie wollen, daß ich mich erinnere, daß ich verstehe, wie sie sich fühlen. Ich hoffe, daß andere Menschen sie anschauen und etwas mehr darüber wissen, was es bedeutet, wie man sich fühlt, welche Konsequenzen es hat, ein mißhandeltes Kind zu sein.«

Diese Überlebenden glauben, daß der Friede und die Gelassenheit, die sie heute finden, den Schaden, der ihnen in der Vergangenheit zugefügt wurde, ausgleicht. Wie Paul sich ausdrückt: »Ich weiß, daß meine Vergangenheit existiert, aber ich möchte mich nicht damit befassen. Ich sehe, wie wunderbar meine Kinder sind, ich sehe die Kraft eines Flusses, die Sanftheit einer Hügellandschaft, die Farben eines Sonnen­untergangs und ich denke, das Leben ist gut. Hier auf dem Land stapeln' wir Holz für den Winter. Wenn ich an all das Grauen denke, das ich als Kind erlebt habe, sehe ich das als großen Holzstapel vor mir. Aber als Erwachsener habe ich Freunde kennengelernt, habe viele Interessen, eine Menge Liebe in meinem Leben, und ich freue mich meines Lebens. Ich glaube, daß diese Dinge ebenso wichtig sind und mir nicht ohne Grund zugekommen sind. Die guten Dinge in meinem Leben machen zwei große Holzstapel aus. Verstehen Sie mich nicht falsch — es ist nicht so, daß ich den bösen Stapel nicht sehen will. Er ist da. Es ist lediglich so, daß die Waagschale zum Guten ausschlägt, und das hilft mir sehr.«

Ich war immer wieder beeindruckt von der Fähigkeit dieser Überlebenden, aus wenig viel zu machen, das Gute mit dem Schlechten zu verweben, um ein ganzes Leben daraus zu machen. Laura sieht ihr Leben als Patchwork-Decke. 

»Als ich anfing, hatte ich nur einen Haufen alter Lappen, aber aus den wenigen guten Fetzen, die ich als Kind bekam — meine Katze, die mich liebte, Lehrer, die mich wegen meiner Klugheit lobten, mein Geheimversteck, die Romane von Nancy Drew, eine Woche im Haus meiner Großeltern, als ich zehn Jahre alt war —, habe ich eine Decke gemacht. Wie die wunderschönen alten Patchwork-Decken, die man im Museum bewundern kann, ist auch meine Decke an manchen Stellen verschlissen und ausgebleicht. Das sind die Zeichen der Gewalt, die mich in meiner Kindheit gequält hat. Der Rest meiner Decke ist so schön, daß diese kleinen Fehler gar nicht auffallen. Im Gegenteil, dadurch bekommt meine Decke ihre Eigenart. Ich kann mich in meine Decke hüllen, und sie hält mich wunderbar warm.«

Diese Überlebenden, die ihre Kindheit in einer Hölle verbrachten, haben sich einen Himmel in ihrem Alltag geschaffen. Besser gesagt, sie sehen die Welt als nicht vollkommen, sondern einfach als <gut genug>. Sie wachsen über ihr Ich hinaus und lernen eine weitere Heilquelle kennen. »Das ist meine letzte Grenze«, erklärt Beth. »Meine Spiritualität, meine Meditation und mein Vertrauen in mein Schicksal geben mir ein Gefühl der Zugehörigkeit in diese Welt und einen Seelenfrieden, die mir keine Therapie und auch nicht die besten Freunde geben können.«

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Ende

 

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