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Wolfgang Rüddenklau

Die Chance einer Ameise - Zur Einheitsfeier 1999

 telegraph 3/1999 -   schliemann.com/telegraph/3-99/kolumne.html

 

Falls jemand doch noch Zweifel haben sollte: Ja, wir haben das 10. Jubiläumsjahr der Wende – dem Jahr, das, wenn man der Berichterstattung in allen Blättern und auf allen Wellen glauben sollte, dann so schön und harmonisch und zwangsläufig in der deutschen Einheit resultierte. 

Und wir, die seinerzeitigen Macher dieser Erfolgsstory, sind derzeit sehr stark gefragt, um 1½-Minuten-Statements abzugeben, die dann mehr oder weniger passend zu den populären Erinnerungs­sendungen zusammen­geschnitten und verwurstet werden. Das war der Grund, warum ich in den letzten Wochen meinen Telefonhörer kaum noch abgehoben habe. Denn wenn man, wie früher üblich, den Erfolg von Menschen nicht an einem zufällig und ungewollt erreichten Ergebnis misst, sondern an der Erreichung der von ihnen selbst gedachten Ziele, dann ist diese Revolution keineswegs die Erfolgstory als die sie heute dargestellt wird. Aber auch schon an der Frage, ob es tatsächlich eine Revolution war, die auf uns zurollte, und wenn ja, welche, schieden sich damals - wie heute - die Geister. 

Reinhard Schult, linker Flügelmann der Ostberliner Gruppen und späterer Mitbegründer des Neuen Forums, verkündete, es gebe da Spinner, die glauben, wir hätten eine revolutionäre Situation. Gemeint waren damit zum Beispiel wir in der Umwelt-Bibliothek, die im Unterschied zu den thematisch orientierten Studierkreisen des Friedenskreises Berlin-Friedrichsfelde sehr wohl die Stimmung der zahlreichen Besucher unserer Veranstaltungen und der Leser unseres DDR-weit verbreiteten Oppositionsblattes spürten.

Die Ereignisse beschleunigten sich sichtlich. Veränderungen, die früher in Jahrzehnten in unserem stagnierenden Land nicht geschehen waren, geschahen jetzt innerhalb von Monaten, dann von Wochen, von Tagen und schließlich im Gipfelpunkt der Ereignisse innerhalb von Minuten und Sekunden.

Deshalb saßen auch Anfang September 1989, zu einem Zeitpunkt, als dieses Anschwellen noch bestritten werden konnte, eine Reihe von Autoren von Untergrundzeitungen im Garten des KvU-Gebäudes zusammen.

KvU - Kirche von Unten, in Distanzierung zur staatsfrommen evangelischen Kirchenleitung entstandene Gruppe, die den Freiraum der Kirche nutzte.

Wir tauschten uns über die Notwendigkeit eines, im Unterschied zu unseren Monatsblättern, kurzfristig erscheinenden Nachrichtenblattes aus. Je nach der Masse der einkommenden (und von der offiziellen Presse verschwiegenen) Ereignisse sollte das Blatt alle zwei bis drei Tage erscheinen. Und wir suchten und fanden den Namen „telegraph", der einer solchen Aufgabe angemessen erschien. Mit „ph" sollte der Name geschrieben werden, weil einer von uns, Peter Grimm, Macher der Zeitschrift „Grenzfall" der Initiative Frieden und Menschenrechte, sich zu erinnern glaubte, dass „telegraf" der Titel einer früheren sozialdemokratischen Zeitung Westberlins, im Besitz des Hauses Springer wäre.

Soweit reichten damals unsere Überlegungen und kühnsten Träume.

Zu der beabsichtigten paritätischen Besetzung des „telegraph" aus einer Reihe von Redaktionen von Ostberliner Untergrundblättern kam es dann nicht in der beabsichtigten Weise. Der Plan versandete, wie so viele, und wurde dann Anfang Oktober 1989, als sich die Ereignisse wirklich überschlugen, von uns Leuten der Umwelt-Bibliothek verwirklicht. Wir hatten praktisch als einzige jedenfalls einige der Ressourcen für den zu erwartenden Ansturm. Nachdem im Jahre 1987 ein Überfall der Staatssicherheit auf unseren Bücherkeller im Pfarrhaus der Zionskirchgemeinde am Protest der Öffentlichkeit gescheitert war, hatten wir unter dem Schutz dieser Öffentlichkeit zwei weitere Kellerräume als Druckkeller ausgebaut. Unser schutzgebender Pfarrer, Hans Simon, verstand glücklicherweise - wenn auch mit einigen Rückschlägen - die Zeichen der Zeit. Schlitzohrige und von uns abzusichernde Vereinbarung war: „Alles, was in der Umwelt-Bibliothek gedruckt wird, ist legal und alles was illegal ist, ist nicht in der Umwelt-Bibliothek gedruckt worden".

Eingerichtet worden war von uns zunächst ein hermetisch nach außen abgeschlossener Keller für unsere Wachsmatrizenmaschinen, unsere goldwerten Druckerschwärzevorräte und das knappe Papier, das wir in landesweiten Aufkaufaktionen zusammenscharrten und in meterhohen Regalen stapelten. Als wir dann durch eine Spende der Westberliner AL einen Computer bekamen, einen Amiga 500, wurde an dieses Konklave ein weiterer Keller angebaut, der neben den Computerarbeiten auch als Redaktionsraum diente. Das muss wohl der Zeitpunkt gewesen sein, als mir Frau Simon, die Frau unseres Pfarrers erzählte, sie hätte heute nacht einen Alptraum gehabt. Ich hätte an ihrer Wohnungstür mit meiner üblichen druckerschwärzegefleckten Kleidung gestanden und hätte gesagt: „Frau Simon, wir brauchen jetzt auch ihr Schlafzimmer!"

In diesen mit einem westlichen Safeschloß abgesicherten Kellerräumen also machten und druckten wir im Jahre 1989 unsere „Umweltblätter", die auflagenstärkste und am weitesten verbreitete Untergrundzeitschrift der DDR - höchste Auflage 5000 Exemplare a 50 Seiten (aber machen Sie das erst mal mit zwei Wachsmatrizenmaschinen!). Und dort wurden auch eine Reihe von anderen Berlinern und anderen Blättern gedruckt, dazu Merkzettel, Flugblätter, Aufrufe, ja, beschämt muss man eingestehen, dass wir seinerzeit auch das erste Programm der neugegründeten SDP druckten - wir warten heute noch auf eine kleine Aufwandsentschädigung oder mindestens doch eine Danksagung vom SPD-Parteivorstand.

Dort begannen wir auch am 3. Oktober 1989 mit dem „telegraph", verstärkt durch einige Leute aus anderen Gruppen, die uns früher schon gelegentlich geholfen hatten, Dirk Teschner vom Friedenskreis Friedrichsfelde, Dietmar Wolf von der Autonomen Antifa, Peter Grimm von der untergegangenen Zeitschrift „Grenzfall", Fritz Kühn und Bodo Niedlich von der Kirche von Unten... Von der Umwelt-Bibliothek arbeiteten meiner Erinnerung nach Tom Sello, Frank Ebert und Martin Schramm mit. Ein halbes Jahr lang begleitete uns auch Ruppert Schröter, ein alter Prominenter der trotzkistischen DDR-Opposition der siebziger Jahre, der nach der Maueröffnung zurückgekommen war (und heute als Pressesprecher des Potsdamer Arbeitsministeriums seine Zeit verschwendet). 

Mitarbeit heißt dabei, dass prinzipiell erst ein mal alles von allen gemacht wurde: Recherche, Redaktion, Eintippen in den Computer, Ausdrucken auf die Wachsmatrizen, Drucken, Zusammenlegen, Heften und Verkauf. Natürlich gab es für bestimmte Aufgaben auch Spezialisten. Martin Schramm hatte seinerzeit für alle vertrauenswürdigen und lernwilligen Mitglieder der Berliner Opposition einen geheimen Computerkurs durchgeführt und half uns permanent bei der Softwarepflege. Bodo Niedlich und Fritz Kühn kannten jede einzelne Schraube unserer Wachsmatrizen­maschinen und erkannten sofort, was ihnen diesmal wieder fehlte. Und Ruppert Schröter, der seinerzeit in Westdeutschland an kleinen Industrieblättern als Redakteur gearbeitet hatte, war für uns Berater in journalistischen Fragen.

Wenn ich von Recherche geredet habe, habe ich allerdings etwas übertrieben. Wenn schon die „Umweltblätter" das öffentliche Beschwerdebuch des Landes waren und aus allen Teilen des Landes ungefragt Korrespondenzen erhielten, so wuchs dies beim „telegraph", der Brisanz der Zeit angemessen, ins Ungeheure. Die ersten Nummern des „telegraph", die alle 2 bis 3 Tage erschienen, wurden uns aus den Händen gerissen, erst recht, wenn wir dann unseren Stand in der von tausenden von Menschen besuchten Gethsemanekirche aufstellten, dem Sitz der Mahnwache, dem Zentralpunkt aller Ostberliner Demonstrationen. Wir mussten, in die Umwelt-Bibliothek zurückgekommen, die Wachsmatrizenmaschinen zu einer neuen Auflage anwerfen und Tag und Nacht drucken. Wir verkauften etwa 6000 bis 8000 Exemplare und hätten spielend die zehnfache Menge und mehr verkaufen können, wenn die gusseisernen Teile unserer altersschwachen Wachsmatrizenmaschinen unter solchen unangemessenen Belastungen nicht zerrieben worden wären.

Die in jeder Nummer des damaligen „telegraph" erflehten Offsetdruckmaschinen haben wir leider nie bekommen. Ein schon lange geplanter Coup gelang dann doch nie - unsere Westberliner Unterstützergruppe wollte die Maschinen in einem Schiffsrumpf eingeschweißt in die DDR schmuggeln. Angefragte DDR-Druckereien sagten ab. Ohne offizielle Genehmigung sei immer noch kein Druck möglich. Nach einiger Druckhilfe durch die Kopierer der TU Westberlin erhielten wir schließlich im Februar 1990 eine offizielle Drucknummer der DDR und wir konnten zum ersten Mal den „telegraph" in einer legalen Druckerei drucken. Nachdem uns Ende 1989 nur noch die Versorgung Ostberlins halbwegs gelungen war, konnten wir erstmals wieder den Verkauf außerhalb Ostberlins steigern, ohne Furcht vor Beschlagnahme Abonnements annehmen und den Lesern zuschicken. Allerdings war es zu diesem Zeitpunkt schon zu spät. Wie eine Lawine drangen die westdeutschen Druckmedien in die DDR ein und Stück für Stück, Woche für Woche, sank unsere Auflage in den Keller. Der „telegraph" wurde das, was er heute noch ist, eine ständig von der Pleite bedrohte Nischenzeitschrift, eine der vielen, aber doch immer weniger werdenden Sektenzeitschriften in der bundesdeutschen Meinungsbeliebigkeit.

 

Dies kann nur ein Fragment, eine Erinnerung an die ersten Tage der Zeitschrift sein. Zu diskutieren wäre mancherlei und es würde für ein Buch ausreichen. Da aber in unserer heutigen Gesellschaftsordnung vor allem in Frage stände, ob und wie dieses Buch zu vermarkten wäre, wenn es nicht der derzeitig gesponserten Strömung entspricht und wie der Autor in der Zeit der Bearbeitung seine Rechnungen bezahlen kann, wird es wohl nicht geschrieben werden. Und auch ich persönlich liebe doch eher Bücher mit Happyend.

Zusammenzufassend wäre vielleicht noch zu sagen, dass es die selbstgestellte Aufgabe der ersten Folge des „telegraph" 1989 und 1990 war, einerseits die von der staatsgelenkten DDR-Presse verschwiegenen Ereignisse öffentlich zu machen und andererseits eine Entwicklung in Richtung eines demokratischen Sozialismus zu fördern. Bei der ersten und mehr noch der zweiten Aufgabe hat der „telegraph" natürlich versagt. Die Schuld dafür aber kann nur teilweise den schwachen Schultern der damaligen Redakteure angelastet werden. Immerhin wäre zu überlegen, ob es nicht wirklich zumindestens eine größere Rolle des Blattes gegeben hätte, wenn wir seinerzeit alles auf eine Karte gesetzt und beispielsweise eins der Druckhäuser der Blockparteien besetzt hätten. Allerdings war 1989, angesichts des unerwarteten Erfolgs, die Berliner Opposition in so viele Fraktionen mit durchaus jeweils organisationseigener Zielsetzung gespalten, dass für eine solche Besetzung wohl kaum eine positive Stellungnahme beispielsweise des Neuen Forums zu haben gewesen wäre. 

Die Frage „Was wäre, wenn" ist in der Geschichte bekanntlich verboten, aber wenn man sie doch stellt, wird klar: Wir hatten damals so viele Chancen wie etwa eine Ameise bei einem Verkehrsunfall. Dass es den „telegraph" dennoch gegeben hat und weiter gibt, mag immerhin als Triumph des Überlebens gewertet werden – jedenfalls ist es mehr als von der Mehrzahl der seinerzeit mit ihm entstandenen Strömungen, Organisationen, Zeitschriften und Sender gesagt werden kann.

 

 

 

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