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5. Krise des Politischen

und der Staatstheorie

 

 

 

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Wir beschäftigen uns im folgenden mit der Philosophie des Politischen und fragen nach der Krise der gegenwärtigen Staatstheorie. Es geht um die Krise eines Modells von Politik, das — bei allen Mutationen und Veränderungen — die mehr als zweihundertjährige europäische Geschichte seit der Aufklärung bestimmt hat. Politik hat natürlich zu verschiedenen Zeiten immer etwas grundlegend Unterschiedliches bedeutet. 

Es gibt keinen abstrakt-allgemeinen, in sich kohärenten, durch alle Zeiten hindurch geltenden Begriff von Politik. Der Begriff der Politik muß — bezogen auf unterschiedliche geschichtliche Epochen — immer wieder neu definiert werden. Fest steht, daß Politik das Schicksal von Völkern und Kulturen mehr bestimmt hat und auch weiter bestimmen wird als alles andere. »Politik ist unser Schicksal« (Napoleon).

Dieses Bewußtsein ist uns, nachdem wir seit 40 Jahren in einem liberalen System leben, offensichtlich abhanden gekommen. Die alltäglichen Äußerungen über die Politik kreisen viel eher um die These, daß Politik ein schmutziges Geschäft sei, von dem ein anständiger Mensch und guter Bürger sich möglichst fernzuhalten hätte. Es sind wohl nur wenige, die sich des Ausspruchs von Napoleon bewußt sind. Wenn wir das 20. Jahrhundert im ganzen in den Blick nehmen, gibt es aber wohl keine bessere Definition als die, daß die Politik letztlich unser Schicksal bestimmt. 

Alle Katastrophen des 20. Jahrhunderts sind vielleicht Katastrophen, die nicht immer von der Politik verursacht und von ihr herbeigeführt worden sind, aber doch unter ihrer wesentlichen Beteiligung vonstatten gingen. Zumindest zeigte sich die Politik nicht imstande, sie zu verhindern oder auch nur auf ein noch einigermaßen erträgliches Maß zu reduzieren. Von diesem Wort, daß die Politik unser Schicksal sei, geht auch eine fürchterliche Drohung aus, denn welches Schicksal sollten wir nach den Erfahrungen des 20. Jahr­hunderts für die Zukunft noch zu erwarten haben, wenn die Politik die schicksalhaft bestimmte und letztlich entscheidende Macht sein sollte?


Wir haben es heute in Deutschland mit einer allgemeinen Politikverdrossenheit zu tun. Politikverdrossenheit heißt, daß man die Politik leid ist und von ihr nichts mehr wissen will. Hinter der Politikverdrossenheit verbirgt sich der Sachverhalt, daß die Bürger der Politik nicht mehr zutrauen, die wichtigsten Probleme zu lösen. Man erachtet die Politiker aus bekannten Gründen im ganzen nicht mehr für glaubwürdig

Ein so bedeutender Historiker wie Christian Meier hat die gegenwärtige Situation als »Ruhe vor dem Sturm« bezeichnet, als einen Zustand, in dem die Politiker einen erbarmungswürdigen Anblick der Ratlosigkeit und der Hilflosigkeit böten. Wir müßten davon ausgehen, daß, gemessen am früheren bundesrepublikanischen Bewußtsein, schwere Zeiten auf uns zukämen. Wir würden aus unserer idyllischen Nischenexistenz herausgeschleudert und zur Politik verdammt werden. Wir könnten sehr wohl wieder in die Sturmgewässer der Geschichte geraten. 

Die Politik weiß offenbar angesichts der Herausforderungen und der neuen Lagen, mit denen sie konfrontiert ist, keine Mittel und keinen Weg, um mit der neuen Lage fertig zu werden. Wenn dem so wäre, müßte die Politikverdrossenheit weiter zunehmen: Da die »Geschichte« doch immer irgendwelche politischen Reaktionen erzwingt, befinden wir uns mehr und mehr in einer Situation, die geeignet ist, irrationale Reaktionen zu provozieren.

Das Mißtrauen und die Abneigung gegen die Politik sind zwar verständlich, aber das ändert nichts daran, daß die Politik eine der großen, vielleicht die entscheidende Schicksalsmacht ist. Wir können uns ein unpolitisches Verhalten und Denken weniger denn je leisten.

Was immer die Politik tun kann, muß und will, sie muß immer die Aufgaben lösen, die mit einer Lage gegeben sind. Die Lösung hängt daher immer mit der vorausgehenden Erfassung der Lage zusammen. Eine Politik, die von einer unzulänglichen oder sogar falschen Einschätzung der Lage ausgeht, wird sehr schnell in Bedrängnis geraten. Der Prozeß der deutschen Einigung beweist uns jedenTag, was es bedeutet, wenn die Politik die Lage falsch einschätzt. Eine einmal erfolgte falsche Lageeinschätzung führt dann zu fatalen Konsequenzen, die womöglich gar nicht mehr so einfach korrigiert werden können.

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Wenn man sich den obersten wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Grundsatz der deutschen Vereinigung noch einmal vergegenwärtigt, dann ist dieser Prozeß mit dem Versprechen verbunden gewesen, daß es in einer überschaubaren Zeit möglich sei, die Angleichung der Lebensverhältnisse in den neuen an diejenigen der alten Bundesländer zu erreichen. Das war und ist die Prämisse, die der Politik seit der Wiedervereinigung zugrunde liegt. Der Glaube, man könnte nach dem Kollaps des Kommunismus in wenigen Jahren »blühende Landschaften« schaffen, ist ein Paradebeispiel für eine fatale falsche Lagebeurteilung der Politiker.

Wir werden uns daher im weiteren mit der veränderten Lage auseinandersetzen müssen, welche die konventionellen Methoden und Modelle der Politik in Schwierigkeiten geraten läßt. Letztlich interessiert uns dabei, ob der Liberalismus erneut in die Krise geraten ist, wie weit die Krise fortgeschritten ist und welche denkbaren Korrekturen und Alternativen sich anbieten. Wenn sich diese These von der Krise des Liberalismus als richtig herausstellen sollte, wäre das ein alarmierendes Signal. Dann muß man sofort die Frage nach der Alternative oder der Kraft aufwerfen, der man zutrauen könnte, mit einer erneuten Krise des Liberalismus am Ende unseres Jahrhunderts fertig zu werden. 

Alle Katastrophen, die aus den ungelösten Problemen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs im 20. Jahrhundert hervorgegangen sind, haben ihren Nährboden in der damaligen Krise der liberalen Demokratie oder anderer geschichtlich überkommener Regierungsformen gehabt. Der Erste Weltkrieg führte nicht zuletzt deshalb zum Zweiten Weltkrieg, weil die Siegermächte keinen Frieden schaffen konnten; sie konnten zwar den Krieg gewinnen, aber keinen Frieden schaffen. Der Nationalsozialismus war auch eine Folge der Unfähigkeit der Siegermächte, den Ersten Weltkrieg durch eine Friedensordnung zu beenden. Wenn wir heute von einerWiederkehr der Krisensituation des Liberalismus reden müßten, dann hätten wir offensichtlich aus der Geschichte gar nichts gelernt. 

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Wir hätten vielleicht wiederum aufgrund einer falschen Analyse der geschichtlichen Lage nicht die richtigen Konsequenzen gezogen. Es gibt unübersehbare Zeichen dafür, daß vieles, von dem wir geglaubt haben, es sei im Orkus der Geschichte versunken, plötzlich wiederkehrt: der Faschismus, der Nationalismus, Krieg mitten in Europa. Mit dem Stichwort »Sarajevo« ist geradezu eine beängstigende Analogie zur Krisenlage von 1914 bezeichnet. Keine politische Science-fiction hätte sich das so ausmalen können. Die Menschen sind eben dazu verdammt, die Geschichte so lange zu repetieren, bis sie die Lektion, die die Geschichte ihnen erteilt hat, begriffen und gelernt haben. Im Augenblick spricht einiges dafür, daß wir von einem Lernen dieser Lektion noch meilenweit entfernt sind.

Jede Überlegung zur Krise des Politischen muß von der neuen Welt(un)ordnung ausgehen. In gewisserWeise muß heute die Politik die gesamte planetarische Konstellation mitbedenken. Politik wird heute in einer Weise, wie das in der Geschichte noch nie der Fall war, im Blick auf die Lage der Welt als Ganzes betrieben. Dies hat den einfachen Grund, daß heute alles mit allem zusammenhängt. Es kann kein Land mehr in bezug auf die Dinge, die in einem anderen Land geschehen, gleichgültig bleiben, ob dieses Land nun Jugoslawien, Rußland, China, Japan oder auch Italien heißt. Carl Friedrich von Weizsäcker spricht in diesem Zusammenhang mit Recht davon, daß wir uns im »Zeitalter der Weltinnenpolitik« befänden. 

Betrifft die Politik die ganze Welt, so muß natürlich auch jemand für die Weltpolitik zuständig sein. Und so geistert in den Köpfen vieler Leute seitdem die Vision eines Weltstaates herum. Der Weltstaat solle, wie der einstige territoriale Nationalstaat, mit dem Monopol auf Gewalt ausgestattet werden und dann dafür sorgen, daß bestimmte Regelungen, auf die sich die Weltgemeinschaft, vertreten durch die Vereinten Nationen, verpflichtet hat, durchgesetzt werden. Wenn die Entwicklung tatsächlich dahin ginge, dann bedeutete dies in der Tat das Ende der Politik. Dann gäbe es keine Politik mehr, sondern — wie Carl Schmitt gesagt hat — nur noch Polizei. Noch vor Jahresfrist sprachen sich Experten dafür aus, die Vereinten Nationen so zu organisieren, daß sie — sozusagen als Weltregierung — die Menschenrechte an jedem Ort der Welt durchsetzen könnten. Die Vereinten Nationen sollten dann das letztinstanzliche Subjekt der Politik sein.

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Die alte Weltordnung war eine bipolare Welt. Es gab den Osten und den Westen, den Kommunismus und den Kapitalismus oder — marxistisch formuliert — die Mächte des Fortschritts und die Mächte der Beharrung. Wir dürfen heute nicht vergessen, daß die damalige Ordnung nur die Fassade war, hinter der 40 Jahre lang unaufhörlich um die Vorstellung von der Einen Welt gerungen wurde. Diese Bipolarität, die Aufteilung der Welt zwischen den Supermächten, ist nun zusammengebrochen. Wir erleben gegenwärtig eine schleichende Anarchisierung aller politischen Verhältnisse. Wenn es uns nicht gelingt, zu einer vertrauenerweckenden Weltfriedensordnung zu kommen, ist an eine Lösung aller anderen Fragen nicht zu denken. Alle anderen Überlebensprobleme der Menschheit haben keine Chance, gelöst zu werden, wenn die Anarchisierung der politischen Verhältnisse und die Ausbreitung politischer Gewalt anhalten werden.

Die westliche Welt hat 40 Jahre lang ihre Rechtfertigung aus dem Anspruch bezogen, daß sich ein kollektiver Völkermord nie wieder ereignen dürfe. Heute gibt es in Deutschland nicht einmal Friedensdemonstrationen gegen das, was in Jugoslawien geschieht. Europa sieht zu und behandelt die Vorgänge in Jugoslawien im Kontext strategischer und diplomatischer Erwägungen, wie sie der Diplomatie vor 150 Jahren angemessen gewesen wären. Dort geschieht ein Völkermord, und Europa sieht zu. Erreicht Serbien seine expansionistischen Ziele, sanktioniert Europa gar noch den Territorialgewinn der Serben, so wird dies eine Vorbildfunktion für andere Staaten haben.

Wir denken die Politik nur noch in sozioökonomischen Kategorien. In diesem Sinne sind wir gute Marxisten geblieben. Jede über das Sozioökonomische hinausgehende Kategorie fehlt unseren Politikern. Die geistige, geschichtliche, kulturelle, ja, zuweilen religiöse Dimension politischer Konstellationen kommt unseren Politikern kaum mehr in den Blick. 

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Das zeigt sich nicht nur hinsichtlich ihrer Ohnmacht gegenüber dem Krieg auf dem Balkan, sondern auch bei der Behandlung der europäischen Einigung. Europa ist ein geschichtlich-kulturelles Gebilde, und es müßte aus dieser Perspektive gestaltet werden. Und was machen unsere Politiker? In bürokratischer Manier machen sie ein wirtschaftliches Europa daraus. Sie meinen, ein weltgeschichtliches Projekt wie die politische Einheit Europas könne man administrativ herstellen. Nachdem wir gerade erst im Osten Europas den Zusammenbruch supranationaler Organisationsstrukturen bürokratischer Art erlebt haben, haben wir nichts Besseres zu tun, als das Projekt Europa dem zentralistischen, bürokratischen Brüssel anzuvertrauen. Europa braucht eine gemeinsam geteilte substantielle Gemeinsamkeit. Europa braucht eine zugrundeliegende politische Idee — eine Vision. Statt dessen hat sich Politik in Ökonomie und Administration verflüssigt. Der Begriff des Politischen ist uns abhanden gekommen. Diese Entwicklung zeichnet sich über einen langen Zeitraum der europäischen Geschichte ab. Europa braucht dazu erst einmal einen Begriff des Politischen, und mehr noch, einen Begriff des Staates.

Früher galt allein der Staat als das Subjekt der Politik. Das war noch für Max Weber ganz selbstverständlich. Konkurrierende kollektive Gestalten rangen innerhalb und zwischen souveränen Territorialstaaten um die Ausweitung ihrer Macht. Heute gibt es ein identifizierbares Subjekt des Politischen nicht mehr. Der Begriff des Politischen ist amorph, diffus geworden. Das bedeutet etwa für Carl Schmitt, daß wir in einer potentiell total politisierten Gesellschaft leben, in der es keinen Sachbereich gibt, der nicht jederzeit politisch relevant werden könnte. Es sei nichts mehr dem Zugriff und der möglichen Politisierbarkeit entzogen. Helmut Schelsky zufolge ist die Politik in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft nur noch mit der Aufgabe betraut, die ehernen Sachgesetze einer wissenschaftlich-technischen Zivilisation mit- und nachzuvollziehen. Wissenschaft und Technik schreiben der Politik die Imperative vor, nach denen sie zu verfahren hat.

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Die Politik könne nur noch die in den Sachgesetzen der wissenschaftlich-technischen Zivilisation liegenden Notwendigkeiten erkennen und sie vollziehen. Eine an Zielen und Normen ausgerichtete Politik gäbe es nun nicht mehr. Die Industriegesellschaft Bundesrepublik Deutschland befindet sich in einem auf dem Weltmarkt gnadenlos geführten Kampf, und ihr Bestehen hängt von der Innovationsfähigkeit der Wissenschaft und der Fähigkeit der Gesellschaft ab, die jeweils neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft in neue Technologien umzusetzen und diese Technologien dann in den jeweils modernsten Produkten auf dem Weltmarkt anzubieten. 

Der industriegesellschaftliche Fortschritt folgt den seiner eigenen Logik entspringenden und sie bestimmenden Sachzwängen. Diese Sachzwänge haben eine objektive Gewalt über alle fortgeschrittenen Industriegesellschaften errungen, so daß die Politik nur noch die von ihr ausgehenden Imperative zu erfüllen hat. Sie muß, da alles an den Bestand und die Reproduktionsfähigkeit der Industriegesellschaft gebunden ist, in immer größerem Ausmaße diesen Sachzwängen gehorchen. Wenn die Industriegesellschaft Bundesrepublik den neuen Wettbewerbsbedingungen auf dem Weltmarkt nicht gerecht wird, werden wir früher oder später als eine Industriemacht verschwinden, und der soziale Standard in der Bundesrepublik wird nicht mehr aufrechtzuerhalten sein. Über die krisenhaften Phänomene hinaus, von denen die Demokratie jetzt schon heimgesucht wird, wird dies möglicherweise zu einem erneuten Kollaps der Demokratie in Deutschland führen.

Bereits an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ist von großen Denkern, etwa von Saint-Simon*, erkannt worden, daß das neue geschichtsmächtige Subjekt nunmehr die Industriegesellschaft sein werde. Politik im klassischen Sinn werde verschwinden. Die Herrschaft der Politik werde dann abgelöst von der Herrschaft der Experten, und die Politik werde als ein unsachlich empfundener Störfaktor stigmatisiert. Diese Prognose erwies sich nur partiell als richtig, denn die gesellschaftlichen Angelegenheiten haben keine aus sich selbst gespeiste Evidenz, die jeden von der Richtigkeit einer zu treffenden Entscheidung überzeugen könnte.

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Darum haben alle Prognosen, die mit der technokratischen Utopie verbunden waren, wonach eines Tages die Politik verschwinden würde, sich nicht erfüllt. Eine solche wissenschaftlich-technisch ausgelegte Industriegesellschaft hat ein in ihrer Logik liegendes politisches Ziel, nämlich die Bedürfnisse, das heißt die materiellen Bedürfnisse der Massen, in dieser modernen Industriegesellschaft zu erfüllen. Diese Gesellschaftsformation ist erfolgreicher als je irgendeine in der Geschichte, wenn man sie an diesem ihr immanenten Maßstab mißt, materielle Güter zu produzieren. Keine andere Gesellschaftsformation hat dieses Versprechen in einer so überwältigenden Fülle verwirklicht.

Mit den Mitteln, über die die moderne Anthropologie verfügt, ist die Frage nicht zu beantworten, wieso mit der an die Erzeugung dieser materiellen Güterfülle geknüpften Verheißung eine Befriedigung der Menschen gleichwohl nicht eintritt. Es treten immer wieder neue und andere Bedürfnisse auf, die befriedigt werden wollen. Schon zu Beginn der Neuzeit vor 300 Jahren hat Thomas Hobbes gesagt, daß der Mensch im Moment der Befriedigung schon wieder Hunger habe; dadurch unterscheide sich die menschliche Bedürfnisnatur von der tierischen. Durch die industriegesellschaftlich erzeugte Güterfülle die Menschheit eines Tages zufriedenzustellen, das ist ein eitler Traum. Die menschliche Bedürfnisnatur ist grenzenlos im Sinne des Begriffs der schlechten Unendlichkeit. Die materielle Befriedigung des Menschen ist nicht herstellbar. Jede Form der Befriedigung setzt ein neues Bedürfnis nach weiteren Formen der Befriedigung frei.

Nach Hermann Lübbe ist Politik die Fähigkeit, Entscheidungen über Fragen zu erzielen, in denen der wissenschaftliche Sachverstand und die Kompetenz von Experten zur Entscheidung nicht mehr ausreichen. Wenn der wissenschaftlich-technische Sachverstand nicht ausreiche, dann sei Politik gefragt. Politik bedeute dann die Fähigkeit, eine Machtlage zur Entscheidung zu bringen, in der die Technokraten nicht mehr weiterwissen. In Hermann Lübbes Definition von Politik schimmert immerhin noch ein Rest des Begriffs von Politik hindurch, wie ihn die Tradition der politischen Philosophie seit Piaton geprägt hat.

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Was wurde in dieser Tradition substantiell unter Politik verstanden, und was wurde als normatives Fundament aller politische Praxis zugrunde gelegt?

Politik ist in dieser Tradition darauf gerichtet, ein geordnete Zusammenleben von Menschen zu ermöglichen. In dem substantiellen Begriff von Politik ist unverzichtbar der Begriff »Ordnung« impliziert. Wenn man den Begriff der Ordnung preisgibt und nur noch in prozessualen Kategorien denkt, dann könnte das fatale Auswirkungen haben. Das absolute Minimum, das Politik leisten muß, ist, einen geordneten Zustand des Zusammenlebens herbeizuführen und zu garantieren. Eine zentrale Einsicht de neuzeitlichen Philosophie der Politik bei Thomas Hobbes lautet: Wenn ein durch legale Gewaltanwendung in seinem Bestand oder Frieden geschützter Zustand sich auflöst, dann fällt die politisch organisierte, geordnete bürgerliche Gesellschaft in den Naturzustand zurück. Hobbes beschreibt diesen Zustand als einen, in dem keiner seines Lebens, seines Eigentums sicher sein kann.

Der durch eine 300jährige politische Zivilisation hindurchggangene Mensch des Westens nimmt die durch den Staat gewähleistete Sicherheit nicht mehr als eine Leistung des Staates wahr. Das könnte sich in absehbarer Zukunft wieder ändern. Das Sicherheitsproblem ist schon jetzt wieder von wachsender Bedeutung. Die Angst wird wieder zu einem Grundgefühl weiter Kreise der Bevölkerung gehören. In der Frage der Sicherheit sind wir schon wieder auf dem besten Wege, in eine Zweiklassengesellschaft zurückzufallen. Die einen können sich einen private Sicherheitsschutz leisten und leben in Sicherheit, die anderen können sich solche Dienste eben nicht leisten und leben in ständiger Angst. Wenn der Staat das einst in ihn gesetzte Vertrauen für Sicherheit zu sorgen, nicht wiederherzustellen vermag, wird in nicht zu ferner Zukunft der liberale Staat im ganzen in Frage gestellt werden. Das würde aber einen Rückfall hinter eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften bedeuten, wenn der mit dem legalen Gewaltmonopol ausgestattete Rechtsstaat versagen sollte. Bei der Formulierung eines Begriffs von Politik kann man auf Ordnung nicht verzichten, weil eine gewisse Ordnung Normalität bedeutet. Normalität ist nur dann da, wenn eine gewisse Stabilität existiert. 

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Der zweite fundamentale Unterschied des europäischen Politikverständnisses zu einem Begriff von Politik, der auch für asiatische Despotien anwendbar ist, ist der Begriff der Gerechtigkeit. Politik, so wie die Griechen sich Politik gedacht haben, ist um die Herstellung einer gerechten Ordnung bemüht. Die Europäer würden aufhören, Europäer zu sein, wenn sie auf die Gerechtigkeit verzichten würden. Die Kernfrage auch der heutigen politischen Wirklichkeit ist die Frage nach der Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit. Gibt es aber einen konsensfähigen Begriff von Gerechtigkeit? Wohl kaum. So schwierig es aber sein mag, heute noch einen konsensfähigen Begriff von Gerechtigkeit zu finden, dürfen diese theoretischen Unlösbarkeiten doch nicht den Blick vor der Wirklichkeit verstellen, daß nach wie vor alle politischen öffentlichen Vorgänge nach »gerecht« und »ungerecht« beurteilt werden. Keine Politik und keine Partei kann sich auf die Dauer diesem Urteil des Volkes entziehen.

Was die antike politische Philosophie von der modernen Politikwissenschaft unterscheidet, ist, daß die antiken politischen Philosophen Politik in der Sprache behandelten, in der auch die Bürger selbst über Politik sprachen. Die verwissenschaftlichte Politik hat eine Sprache der Politik ausgebildet, die die Bürger nicht sprechen und z.T. auch gar nicht verstehen. Für Politik in Europa wurde in entscheidender Weise das Wort von Aristoteles bedeutsam: Die Menschen können zwar eine Polis* aus dem Wunsch gründen, die Not des Lebens zu überwinden. Die Not veranlasse die Menschen zum politischen Zusammenschluß. Aber der Grund, der sie beisammenbleiben läßt, sei nicht das bloße Überleben, sondern liege im Wunsch nach dem »guten Leben«. Die Menschen gründen eine Polis und verbleiben in ihr um des guten Lebens willen. Der grundlegende Begriff von Politik, der für die Griechen unter den Bedingungen der Polis verbindlich war, ist bezogen auf die Herstellbarkeit einer gerechten und guten Gesellschaft. Unser europäischer Politikbegriff setzt nicht das Phänomen Herrschaft voraus, sondern in der Antike ist der Begriff des guten Lebens der aller Politik zugrunde liegende Begriff.

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Freie und Gleiche ringen in der Polis um die Ermöglichung des guten Lebens. In der politischen Philosophie von Piaton und Aristoteles geht es um die Konzipierung eines öffentlichen Raums, in dem freie Bürger als Gleiche aus dem Dunkel ihrer privaten Existenz in das Licht des Raums des Öffentlichen — des Politischen — eintreten. Die Griechen nannten den Privatmann »Idiotes«*, was gleichzeitig »gewöhnlicher Mensch, Nichtskönner, Laie, Stümper« bedeutete. Sie waren tatsächlich »Idioten«, die sich nur um das Eigene kümmerten und nicht um das Öffentlich-Allgemeine. Darum war der eigentlich politische Ort der Marktplatz als Ort der Öffentlichkeit. Das öffentliche Sprechen selbst war das eigentliche politische Handeln.

Wenn es im Zusammenleben der Polis ein gerechtes und gutes Zusammenleben geben soll, dann muß man wissen, was das Gute ist. Was ist die wichtigste Bedingung, um eine solche Polis des guten Lebens zu führen? Für die Griechen war die Antwort ganz einfach: Kein gutes Leben ohne gute Bürger. Gute Bürger verfügen über gute Tugenden. Das Wirken der Politik in einer solchen Polis ist darauf gerichtet, die Bürger »besser« zu machen, die Bürger in den Stand der »Tüchtigkeit« zu setzen. In der Politik der Polis geht es um die Verwirklichung des Guten. Auch der politische Philosoph verstand sich als ein Bürger, der seinen Beitrag zum Zustandebringen einer Gemeinschaft von Freien und Gleichen um eines guten Lebens willen leisten wollte.

Die Polis schien an der damaligen Spaltung der Gesellschaft in Reiche und Arme zu zerbrechen. Es kam zu einem Bürgerkrieg, ja, zu einer Revolution. Die Griechen suchten einen neutralen Schiedsrichter, der diesen Streit schlichten sollte, und fanden den »Gesetzgeber« Solon. Im Falle Solons handelt es sich, wie in dem vergleichbaren Fall der Krise der Weimarer Republik, um den Fall einer »Stasis«*, das heißt einer in sich gespaltenen und vom Auseinander­brechen bedrohten Gesellschaft. Er hat die Reichtümer umverteilt, so daß es zu einem tragfähigen und zustimmungsfähigen Ausgleich gekommen ist. Solon hat tief in die Besitzstände der Gesellschaft, der Polis, eingegriffen und wieder relativ gerechte Verhältnisse hergestellt. Solon gab der Polis eine Verfassung und richtete keine Tyrannei auf. 

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Man kann also eine auseinanderbrechende Polis wieder neu stiften durch Versöhnung, durch das Wort und einen Schiedsspruch. Platon meint daher, daß es in der Welt des Politischen erst dann besser stehen werde, wenn entweder die Mächtigen philosophieren oder die Philosophen Macht ausüben. Dieser Satz erscheint uns heute als skandalös. Wir denken hier gleich an eine Ideokratie. Philosophie und Macht seien unvereinbar. Das typische deutsche Problem der Scheidung von Macht und Geist hat hier seinen Ursprung. Was hat Platon sich bei diesem Satz gedacht? Das zentrale Problem der Politik ist für Platon die Machtverteilung. Das Problem besteht darin, mit der Macht richtig umzugehen. 

Nach Habermas sollen alle Konflikte ohne den Einsatz von Macht rein als das Ergebnis von Verständigungsprozessen gelöst werden. Ist aber damit das Machtproblem gelöst? Nein, denn in jedem Diskurs gibt es Ungleichheiten, die den Beteiligten eine unterschiedliche Macht geben, in diesem Diskurs ihre eigenen Vorstellungen auf Kosten der anderen durchzusetzen. Wer beispielsweise nicht über die Gabe der eindrucksvollen Rede verfügt, ist zweifellos im Nachteil gegenüber dem, der über sie verfügt. Es gibt die »Macht des Wortes«, vor allem in Deutschland. Die Reformation kam durch die Macht des Wortes von Martin Luther zustande. Selbst das Phänomen des Nationalsozialismus ist ohne die verführerische Macht des Wortes nicht erklärbar. Der Macht des Wortes kommt in der Geschichte eine ungeheuer große Bedeutung zu. Auch in der Demokratie ist Macht nichts anderes als die Macht, die durch Zustimmung entsteht, und Zustimmung entsteht nicht ohne das Wort.

Platon wurde zum Begründer der politischen Philosophie des Abendlandes durch seinen Versuch, eine Antwort auf die Krise der Demokratie zu geben. Nicht nur die politische Philosophie, sondern die Philosophie im ganzen wurde durch eine Krise der Demokratie herausgefordert: Die athenische Demokratie war in einer Krise, und Piaton versuchte mit seiner Philosophie eine Antwort auf die Probleme der Demokratie zu geben. 

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Platons Antwort auf die Frage nach einer möglichen Überwindung der Philosophie lautete, daß die Übel, die in dieser Krise sichtbar wurden, nur durch Philosophie geheilt werden könnten. Die Krise der Demokratie ist für Platon eine Folge des Verfalls des Denkens. Platon macht eine Form des falschen Denkens aus, die er Sophistik* nennt. Sophistik ist eine Form des Denkens, bei der die Politik und selbst ethische Fragen in technisch lösbare Verfahren transponiert werden. Alles gilt als lösbar, wenn man nur die richtige Technik beherrscht. Was die Sophisten* lehren, sind Techniken. Genau das ist auch unser Bewußtseinszustand in Deutschland. Auch wir transformieren alle politischen und ethischen Fragen in technische Fragen und halten die Probleme für lösbar, wenn wir nur im Besitz der richtigen Techniken sind. Bei Platon und Aristoteles wird das Politische gedacht als die Gestalt der Wirklichkeit des Menschen. 

Die politisch geordnete Gemeinschaft ist der Ort, an dem das, was dem Menschen eigen ist, eine Chance hat, verwirklicht zu werden. In der neuzeitlichen Tradition geht es nun nicht mehr um Politik als eine Gestalt, die den Menschen zum Menschen bildet und die primär um eine gerechte Ordnung bemüht ist. Nein, bei Hobbes geht es vielmehr um das Thema der Selbsterhaltung. 

Hobbes Frage lautet: Wie muß man das Politische, in diesem Falle in der Form des Staates, institutionalisieren, damit der Mensch eine Chance hat, sich überhaupt erhalten zu können? Die methodisch bedingte Fiktion, die Hobbes mit dem Begriff des Naturzustandes entwickelt, besteht darin, zu zeigen, wie es um den Menschen und sein Los in dieser Welt bestellt ist, wenn es keine ihn politisch schützende Macht gibt. Dann herrscht das, was Hobbes »bellum omnium contra omnes« nennt, ein Krieg aller gegen alle, in dem die Schwachen sterben und die Starken als die am besten Angepaßten überleben. Hobbes war der Meinung, daß im Naturzustand nicht der Tod als solcher, sondern die Angst vor dem Getötetwerden die Menschen umtreibt. Die Prämisse, die dem Ansatz der politischen Philosophie zum Beginn der Neuzeit zugrunde liegt, ist die Einsicht in die Sterblichkeit des Menschen. Der Mensch ist ein sterbliches Wesen, und das macht die Politik für Hobbes ebenso notwendig wie gefährlich.

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Die Politik unterscheidet sich von allen anderen Lebensbereichen des Menschen darin, daß es um Fragen von Leben und Tod geht.Täuschen wir uns nicht: Die aus der Sterblichkeit des Menschen sich ergebenden Fragen von Leben und Tod könnten auch in unserer geschichtlichen Lage sehr schnell wieder aktuell werden.

Woran entzündet sich nach Hobbes dieser Krieg aller gegen alle? Daran, daß jeder das Recht auf alles hat, aber die zur Verfügung stehenden Mittel der Natur begrenzt sind. Die Knappheit löst den Kampf aus. Hobbes geht von der realistischen Einsicht aus, daß die Bedürfnisse, die der Mensch zu befriedigen ein Recht zu haben glaubt, zwar unendlich seien, aber wegen der Knappheit der zur Verfügung stehenden Mittel nie befriedigt werden können. 

Aus dieser Einsicht von Hobbes wachsen alle Theorien der modernen Welt, soweit sie eine Welt zu verwirklichen suchen, in der keine Politik mehr nötig sein wird. Wer Hobbes' Ansatz teilt, der kann sich vorstellen, daß, wenn der erschlossene Reichtum so groß geworden ist, daß alle bekommen können, was sie haben wollen, es keiner Politik mehr bedarf. Der Sozialismus, und im Kern auch der Liberalismus, will eine Welt hervorbringen, in der auf der Basis der Überwindung der materiellen Knappheit keine Macht, keine Herrschaft mehr notwendig sein wird. Beide zielen darauf ab, Herrschaft abzuschaffen und Politik zu überwinden. Wir teilen bis heute die Sehnsucht, daß dieses moderne Versprechen sich einmal erfüllen könnte. 

Man führt die Notwendigkeit der Politik in scheinbarer Übereinstimmung mit Hobbes darauf zurück, daß die Menschen in ihrer Endlichkeit um knappe Mittel konkurrieren. Der Krieg ist ein Resultat der Unendlichkeit der Bedürfnisse auf der einen und der Endlichkeit der Mittel auf der anderen Seite. Diese Konstellation vorausgesetzt, gibt es für Hobbes keinen Frieden. Hobbes' politische Philosophie ist aus dem Wunsch nach Frieden entstanden. Frieden ist für ihn die elementare und unverzichtbare Bedingung des Zusammenlebens von Menschen. Nur unter der Bedingung des Friedens können die Menschen ihre beschränkten Ziele verfolgen, ohne dabei von anderen behindert zu werden. Frieden durch die Etablierung eines wahrheitsneutralen Staates um der Überwindung des konfessionellen Bürgerkrieges willen, das war die Losung des Thomas Hobbes.

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Die Christen konnten sich damals nicht einigen, wer die christliche Wahrheit verbindlich interpretieren dürfe. Die Kernfrage des Politischen für die neuzeitliche Welt ist die Frage: »Quis interpretabitur?« Wer ist das zur Interpretation legitimierte Subjekt, das berechtigt ist, für alle verpflichtende Entscheidungen zu treffen? Für Hobbes ist der für dieses Recht zur verbindlichen Interpretation Zuständige der Souverän. Hobbes vollendet nach Carl Schmitt die Reformation insoweit, als er endgültig die in den Religionskriegen virulente Frage, an deren Unentschiedenheit das Mittelalter zugrunde gegangen ist, nämlich die Frage nach der Autorität von Kaiser und Papst, entschieden hat. Das Telos der Politik im Mittelalter war die Erfüllung eines heilsgeschichtlich begründeten Auftrags: die Herrschaft des Antichrist zu verzögern. Es ging darum, die Möglichkeit des Kommens des Reiches Gottes offenzuhalten. Sowohl die weltliche als auch die spirituelle Gewalt waren im Rahmen des corpus christianum an der Lösung dieser Aufgabe beteiligt.

Politik war im Mittelalter insofern ein Akt der Theologie. Es ging in ihr um die Erfüllung einer Heilsteleologie. Im Investiturstreit beginnt sich die politische Moderne zu konstituieren. Der damals ausbrechende Konflikt zwischen den Konfessionen wird von Hobbes eindeutig im Sinne der Reformation entschieden: In allen für den öffentlichen Frieden zuständigen Fragen soll es eine Instanz, ein Subjekt geben, welches das Recht hat, verbindliche Entscheidungen zu treffen und mit dem Monopol von legaler Gewalt auch durchsetzen zu dürfen. Gemeint war der Souverän, der Staat. Eine alle befriedigende Entscheidung gibt es in der Politik nicht, und der Preis, den man für Hobbes' Vorschlag zahlen muß, läßt sich in der Hobbesschen Formel zusammenfassen: »Non veritas sed auctoritas facit legem.« (Nicht die Wahrheit, sondern die Autorität macht das Gesetz.)

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Hobbes hat sich auf das scheinbar wahnwitzige Unternehmen eingelassen, den Frieden auf eine Politik zu gründen, die zu ihrer Voraussetzung den Wahrheits­verzicht hat. Er ist insofern der eigentliche Gründungsvater des Liberalismus, weil

1. der Staat in der Befriedigung der kalkulierbaren Eigeninteressen des einzelnen existiert und nicht um seiner selbst willen.
2. die Politik sich nicht auf eine Wahrheit stützt, sondern den Verzicht auf die Entscheidung der Wahrheitsfrage impliziert.

Das Merkmal des Liberalismus für die Neuzeit ist, daß Hobbes nicht nur die Politik im Interesse der atomar gedachten einzelnen konzipiert, sondern daß er die Wahrheitsfrage entpolitisiert. Keiner darf in der Politik die Wahrheitsfrage stellen und beanspruchen, sie zu beantworten. Niemand darf im Namen der Wahrheit Politik machen wollen. Sobald es eine politische Kraft gibt, die sich durch die Wahrheit selbst legitimiert sieht, stellt sich in anderen Formen der Bürgerkrieg wieder her, von dem Hobbes meinte, daß er durch einen Souverän, der kraft seiner Autorität und nicht kraft der Autorisierung durch die Wahrheit entscheidet, überwunden werden könne. Hobbes hat erkannt, daß diese Moderne es sich nicht mehr leisten kann, die Wahrheitsfrage mit der Politik zu verknüpfen.

Warum soll jeder Bürger den Gesetzen gehorchen? Hobbes' Antwort ist unüberholt, denn er sagt: wegen des Schutzes, der dem einzelnen durch die Gesetze, die der Staat durchsetzt, vom Staat gewährleistet wird. Gehorsam verdient nach Hobbes nur der Staat, der in der Lage ist, seine Bürger zu schützen. Diese Einsicht ist heute so wahr wie zu Hobbes' Zeiten: ein Staat ist am Ende, wenn die Bürger nicht mehr den Eindruck haben, daß er sie in ihrem Leben und ihrem Eigentum schützt. Die Quintessenz der liberalen politischen Moderne besteht darin, daß der Staat in erster Linie Leben und Eigentum der Bürger zu schützen habe. Wenn der Staat das nicht mehr leisten kann und will, beginnen die Bürger, sich selbst zu schützen, oder sie folgen demjenigen, der ihnen glaubwürdig Schutz verspricht. Wenn das Schutzverlangen der Bürger einen bestimmten Grad erreicht hat und sie die Erfahrung machen müssen, daß der Staat diesem Schutzbedürfnis nicht mehr Rechnung trägt, folgen sie demjenigen, von dem sie sich diesen Schutz erhoffen können.

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Wenn dagegen die Aufklärung zum Fundament der Politik gemacht wird, geht die Entwicklung dahin, daß dieser Verfassungsstaat meint, auf einen Souverän verzichten zu können. Die Essenz der liberalen bürgerlichen Verwirklichung des Verfassungsstaates bildet die Erfindung einer Konstruktion, unter deren Bedingung es keiner souveränen Gewalt, keiner Antwort auf die Frage bedarf, wer in letzter Instanz zu entscheiden befugt ist. Denn im gewaltenteiligen Verfassungsstaat herrschen dem Liberalismus zufolge nicht Menschen, sondern das Gesetz. Die Essenz der liberalen Welt besteht darin, daß sie es geschafft hat, auch den Inhaber der letztentscheidenden Macht zu entmächtigen und ihn selbst dem für alle geltenden, generell gefaßten Gesetz zu unterwerfen. Das politische Wunder besteht darin, daß diese Konstruktion im 19. Jahrhundert funktioniert hat, war doch das 19. Jahrhundert eine der friedlichsten Epochen der Menschheit.

Mit der bürgerlichen Gesellschaft ging auch diese souveränitätslose Herrschaft des Gesetzes im 20. Jahrhundert nach dem Ersten Weltkrieg unter. Die Antwort auf diesen Untergang bedeutete, daß sich in den zwanziger Jahren faschistische Regime in Europa durchsetzen konnten. Es kam zu einer »faschistischen Epoche in Europa« (Nolte). Das Politische verändert sein Gesicht, wenn eine Situation wie in Weimar im Jahre 1932 eintritt und der Staat aufhört, im Sinne Hobbes' das in letzter Instanz zur Entscheidung und zur verbindlichen Durchsetzung berechtigte und befähigte Subjekt zu sein. Diese Situation dauerte fast das ganze 20. Jahrhundert hindurch an. Lenin war der erste, der in seiner Rede vom »Weltbürgerkrieg« diese Konstellation erfaßt hatte und die radikalsten Konsequenzen aus dem Zusammenbruch der liberalen Tradition Europas gezogen hat. Weltbürgerkrieg heißt, daß die Fragen nach dem Staat, dem Recht und Gesetz erledigt sind. Die Legalität hörte auf, als legitim anerkannt zu werden. Was legal ist, ist bloß legal, aber damit noch lange nicht legitim. 

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Wenn man an unseren liberalen Staat die Frage der Legitimität stellt, kann dieser Staat nur so lange eine Antwort geben, wie Legalität als solche bereits als legitimierend akzeptiert wird. Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs treten Legalität und Legitimität auseinander, das heißt der Staat hört auf, das konkret bestimmbare Subjekt des Politischen zu sein. 

Carl Schmitt war es, der unter dieser Bedingung die Frage »Was ist Politik?« gestellt hat. Ungeachtet des Streits der Ideologien hat seine Schrift »Über den Begriff des Politischen« eine weltweite Rezeption erfahren. Die Schmittsche Theorie des Politischen war für die neue Linke genauso wichtig wie für den Staat Israel in dessen Gründungsphase. Auf Carl Schmitts Einsichten können wir nicht verzichten. Er hat die richtigen Fragen gestellt. In der Philosophie kommt es weniger auf die Antworten an als darauf, daß man die richtigen Fragen stellt. Derjenige bestimmt den Ablauf der politischen Dinge, der die entscheidenden Fragen stellt. Hätte Carl Schmitt gefragt: »Was ist das Politische?«, so müßte man ihn in die Tradition der politischen Philosophie von Piaton bis Hegel einordnen. Er hat nun aber nicht die Frage nach dem Wesen, sondern nach dem Kriterium des Politischen gestellt. Der »Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus«. Gemessen an der Hobbes-Tradition bedeutet dieser Satz eine Revolution.

Was ist das Kriterium des Politischen? Es ist nach Carl Schmitt das Kriterium der Unterscheidung von Freund und Feind. Dies ist keine alles erschöpfende Formel für die Politik des 20. Jahrhunderts, aber die Frage ist, ob man etwas von der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts verstehen kann, ohne von diesem Kriterium Gebrauch zu machen. Nach Carl Schmitt kann unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts — unter den Bedingungen des Nihilismus — die Frage nach den Inhalten der Politik nicht mehr beantwortet werden. Im 20. Jahrhundert ist der Staat als das Subjekt des Politischen fraglich geworden. Es ist potentiell alles politisierbar geworden. Jeder Sachbereich unterliegt jederzeit der Möglichkeit und der Gefahr, politisiert zu werden. Alles unterliegt dem Zugriff der Politik. Der Staat ist damit einerseits fraglich, andererseits total geworden. 

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Von einem liberalen Staat kann da wohl kaum noch die Rede sein. Wenn alles politisierbar ist, wird es nach Carl Schmitt ernst mit der Politik. Er geht davon aus, daß der Staat die organisierte Einheit eines Volkes ist. Der Staat ist — hier stimmt Schmitt mit Rousseau und Hobbes überein — zuständig dafür, daß eine Gesellschaft sich nicht auflöst. Nach Schmitt steht eine Entscheidung über Freund und Feind nur dann an, wenn der Streit in einem Teil- und Sachbereich der Gesellschaft zu einem solchen Grad der Dissoziation, des Auseinandertretens der Gesellschaft führt, daß die politische Einheit bedroht ist. Das war unter den Bedingungen der Weimarer Republik der Fall, als der Staat sich in voller Auflösung befand und sich allenthalben eine bürgerkriegs­ähnliche Entwicklung abzeichnete. 

Wenn eine solche Entwicklung droht, dann muß es eine Instanz geben, die die politische Einheit garantiert. Derjenige, der die politische Einheit in Frage stellt oder gar zerstört, muß nach Schmitt als der Feind dingfest gemacht werden, weil sonst ein Rückfall in den Bürgerkrieg unaufhaltsam wäre. Darum bedarf es in dieser Situation des harten Kerns einer politischen Haltung, nämlich der Bestimmung von Freund und Feind. Schmitt meinte damit den öffentlichen Feind, nicht den persönlichen Feind. Dieser Feind kann nicht abstrakt definiert werden. Den Feind gibt es nur als einen existentiellen, als einen, der in einer konkreten Situation die Auflösung der politisch organisierten Einheit und damit den Rückfall in den Bürgerkrieg auslösen kann. Sollte sich eine solche Instanz nicht finden, droht der Bürgerkrieg, und derjenige, der sich in diesem Bürgerkrieg durchsetzt, wird dann nach seinen Kriterien Freund und Feind unterscheiden.

Die Theorie von Carl Schmitt scheint sich am Schicksal der Weimarer Republik verifiziert zu haben. Denn woran ist der republikanische, demokratische Staat Weimars zugrunde gegangen? Daran, daß er zur Unterscheidung von Freund und Feind nicht mehr fähig war. Er war zur politischen Entscheidung nicht mehr fähig. Weimar ist zugrunde gegangen an der Krise des Liberalismus. Die Verfassung der Weimarer Republik war schon damals eine der vorbildlichsten und im Sinne des liberalen Prinzips eine der perfektesten liberalen Verfassungen der Welt.

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Was macht nach Carl Schmitt diesen so bis zum Exzeß liberalisierten und sich liberalisierenden Staat zur politischen Entscheidung unfähig? Die Gründe liegen auf der Hand. Die Verfassung der Weimarer Republik beruhte auf dem liberalen Prinzip der Wertneutralität. Weimar hat diese Neutralität so weit getrieben, daß es sich im Namen seines eigenen Formalismus und seines Neutralismus den Feinden auslieferte und überantwortete. Hitler kam 1933 durch eine »legale Revolution« an die Macht. Die liberale Demokratie hat sich selbst diesem Mann ausgeliefert. Das dürfen wir nie vergessen. Carl Schmitt hat aus diesem Grunde, die Verfassungswirklichkeit interpretierend, den Schluß gezogen: Es gibt für die Weimarer Republik nur die Möglichkeit, entweder die Rechte auszuschöpfen, die der §48 der Reichsverfassung einräumt, also den Reichspräsidenten mit der Vollmacht einer befristeten kommissarischen Diktatur zur Herstellung der Normalität auszustatten, oder sich selbst zur Disposition zu stellen.

Die von Carl Schmitt vorgeschlagene Außerkraftsetzung der Verfassung für eine bestimmte Zeit war durch die Verfassung legitimiert. Es handelte sich dabei um eine legale Form der Außerkraftsetzung der Verfassung, kontrolliert und befristet, mit dem Auftrag, die dann vorliegenden Möglichkeiten zu nutzen, eine normale Situation wiederherzustellen. Carl Schmitt plädierte dafür, die nationalsozialistische Partei zu verbieten. Ein Reichspräsident, der die Macht in seinen Händen vereinigt hätte, wäre womöglich imstande gewesen, diese Normalität wiederherzustellen. Angesichts der Alternativen, die wir inzwischen kennen, hätte man diesen von Carl Schmitt gewiesenen Weg beschreiten müssen. Schlimmstenfalls wäre im Kontext der Schmittschen Antwort eine Art autoritärer Diktatur wie unter Salazar in Portugal oder unter Franco in Spanien herausgekommen. Den Wahnsinn des Zweiten Weltkrieges und die Judenvernichtung hätte es jedenfalls nicht gegeben. Es ist die Tragödie der deutschen Geschichte, daß die Demokraten damals nicht über ihren Schatten springen konnten.

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Wir sind in eine Lage versetzt, in der wir mit Herausforderungen konfrontiert sind, denen wir mit den unserer liberalen Demokratie zugrunde liegenden Kategorien nicht ausreichend begegnen können. Die Diskrepanz zwischen der Herausforderung der geschichtlichen Lage einerseits und der Möglichkeit, mit ausschließlich liberalen Methoden darauf zu antworten, wird immer größer. Erschwerend kommt hinzu, daß das soziale und ethische Grundgewebe der Gesellschaft sich ständig auflöst. 

Wir haben es mit Jugendproblemen zu tun, die sich jetzt als Folge der inneren Auflösung der Familie zeigen. Diese Probleme sind politisch kaum noch zu lösen. Es gibt keinen Ersatz für die erziehende Kraft der Familie. Indem die Familie nicht mehr ein in sich sittliches und geistiges Klima zu erzeugen vermag, werden die Erziehungs­leistungen nicht mehr erbracht, auf die wir alle angewiesen sind. Für den Ausfall dieser Erziehung kann es keinen Ersatz geben, es findet dann zwangsläufig eine falsche »Sozialisation« statt. Indem der Staat inzwischen zu einem Instrument der gesellschaftlichen Kräfte und ihrer Kompromiß­formeln geworden ist, gibt es mit der Depotenzierung des Staates auch keinen Ort in der Gesellschaft mehr, von dem aus man die Gesellschaft noch steuern könnte. Es gibt keine Institution mehr, von der aus eine Steuerung des Ganzen noch möglich wäre. 

Die Krise des Politischen in unserem liberalen System muß durch einen veränderten Liberalismus selbst gelöst werden. Denn zu einer in ihrem Kern liberalen Demokratie gibt es keine Alternative. Alle anderen Alternativen — die kommunistische, die faschistische, die nazistische, auch die autoritäre — sind gescheitert. Alle mit diesen Alternativen verknüpften Hoffnungen auf Besserung haben sich nachweislich als Illusion erwiesen. Nach Carl Schmitt gibt es nur dann Politik, wenn sie durch eine anspruchsvolle Idee legitimiert wird. Nur eine Politik, die durch eine anspruchsvolle, moralische Idee legitimiert ist, kann eine Autorität ausbilden, ohne die es keine Politik gibt.

Die von unserem liberalen System zugelassene systematische Zerstörung von Autorität ist gefährlich, weil der Autoritätsverlust den Kräften der nackten, barbarischen Gewalt freie Bahn verschafft. Politik braucht eine Idee, sie braucht Autorität, und sie bedarf eines ihr zugrunde liegenden Ethos. Daran zu erinnern, beabsichtigte ich mit meiner Erinnerung an die politischen Philosophien von Platon, Hobbes und Carl Schmitt. Noch vor allen materiellen, technischen und organisatorischen Fragen müssen wir an die geistig-moralischen Voraussetzungen auch einer liberalen Politik denken. Die Krise des Liberalismus ist nicht nur eine Krise der politischen Institutionen, sondern sie ist wesentlich eine Krise der liberalen Kultur. Der Niedergang der Weimarer Republik hat uns schon einmal in diesem Jahrhundert diese Lektion erteilt. Aber haben wir die Lektion auch gelernt?

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