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8  Arbeit und industrielle Revolution

 

 

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Für die meisten Arbeitstheoretiker seit Marx stellt die industrielle Revolution den Beginn systematischer menschlicher Arbeit und der Geschichte der Arbeiter­klasse dar. Je länger die Epoche der industriellen Revolution zurückliegt, um so mehr wird der Industrie­arbeiter zu einer Kultfigur. Selbst für manchen kapitalistischen Unternehmer scheint es derzeit ehrenvoll zu sein, einen echten Arbeiter in seiner Ahnenreihe zu haben, um damit seine Verbundenheit mit der Grundform der Arbeit, nämlich der Industrie­arbeit, zu dokumentieren.

Die erste Frage, die sich bei der industriellen Revolution stellt, ist die nach dem Begriff des Revolutionären. In der Regel wurde bis dahin der Begriff Revolution verwandt für den Aufstand von Unterdrückten gegen Unterdrücker. Der Begriff "Industrielle Revolution" bezeichnet aber die endgültige Einführung des Industrie­systems in die Arbeitswelt und den Einsatz der Dampf­maschine als Energie­quelle. 

Marx definiert als den wahren Kernpunkt der industriellen Revolution die Mechanisierung der Verarbeitungs­maschine und sieht erst sekundär die Dampfmaschine als Triebkraft der industriellen Revolution an. Hier hat also niemand gegen einen Unterdrücker revoltiert, vielmehr wurde eine revolutionäre Technik in die Arbeitswelt eingeführt.

Für die Arbeitenden war die industrielle Revolution alles andere als eine revolutionäre Angelegenheit, denn es kam mitnichten zu einer Aufhebung der Abhängigkeit — die industrielle Revolution, die Industrialisierung, schuf vielmehr den freien Sklaven. Betrachtet man die Angelegenheit von heute aus, also nach der endgültigen Einführung der automatischen Produktion, dann war die industrielle Revolution der Anfang vom Ende der Arbeit und der Anfang vom Ende des Arbeiters.

Wird die industrielle Revolution konsequent zu Ende geführt, so steht am Ende der Entwicklung der tätigkeits­lose Arbeiter. Das ist der Mensch, der den ganzen Tag Aufsichtsfunktionen ausfüllt, nichts tut, nur beobachtet, eine Verantwortung aufgebürdet bekommt, die er nicht tragen kann, und der zum Sündenbock gestempelt wird, weil er sich nicht in das maschinelle System der automatisierten Fertigung einfügen läßt. Am Ende aller industriellen Katastrophen steht das menschliche Versagen.

Die industrielle Revolution holt den Handwerker aus dem Kleinbetrieb und degradiert ihn zum Industriearbeiter. Sie entmündigt ihn seiner Gestaltungs­fähigkeit der Arbeit, reduziert ihn zum Handlanger und unterwirft ihn Arbeitsbedingungen, die sich aus militärischem Drill ableiten.

Die industrielle Revolution schafft den freien Sklaven, nimmt ihm aber im Unterschied zum Sklaven die Gestaltungs­möglichkeiten für seine Arbeit. Sie erlegt dem Arbeitenden ähnlich harte Arbeits­bedingungen auf wie dem Sklaven, ordnet ihn gesellschaftlich mit sehr beschränkten Rechten an die dritte oder vierte Stelle ein, teilt ihm die Funktion eines Maschinenteils zu, fordert von ihm die Schaffung von Nachkommen und degradiert ihn zum Proleten.

Es gibt in der Zwischenzeit eine unendliche Flut von Thesen, warum an gesellschaftlichen Zweig­punkten technische Entwicklungen in Gang gesetzt werden.

Die erste Begründung ist immer die Not der Menschen. Die zweite Begründung ist die Erleichterung des Loses der Menschen, die dritte ist die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen, die vierte ist das Machtstreben von Herrschern, Ingenieuren und vielen anderen. 

Des weiteren gibt es die eher verschwommenen Thesen vom Prozeß der Zivilisation, einem allmählichen, unmerklichen, aber fast zwanghaften Fortschreiten im Rahmen einer Veredlung der Lebens­formen des Menschen. 

Und schließlich wird noch die Vorstellung von einer evolutionären Entwicklung der Möglichkeiten des Menschen, sein Leben in seiner Umgebung zu gestalten, ins Spiel gebracht. Diese These leitet sich im wesentlichen von der These Darwins her, der in der Natur die Evolution als einen immerwährenden Fortschritt bis zur Herausbildung des jeweils bestangepaßten Lebewesens in Verbindung mit der Natur sah.

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Nun gibt es aber, wenn man den Menschen noch als Naturwesen und nicht als Kunstprodukt geistiger Deformation ansehen will, eine Verbindung zwischen der natürlichen Entwicklung im Rahmen eines evolutionär-natürlichen Prozesses und einer natürlichen Entwicklung der technischen Zivilisation. Das einzige Verbindungs­glied zwischen Natur und Technik ist das Gehirn des Menschen, sein Denkapparat.

Alle technische Zivilisation, alle Apparate und Maschinen sind zwar aus natürlichen Ressourcen geschaffen, entspringen aber keinem evolutionären Prozeß, sondern sind Abbildungen von Modellen des menschlichen Gehirns. Die Maschine ist in der Regel ein nicht vollendetes Modell eines menschlichen Denkprozesses. Nicht vollendet ist die Maschine deshalb, weil die menschlichen Denkprozesse nur zu einem kleinen Teil in die Realität, in das Bewußte, in das Aussprechbare, in das Zeichenbare, in das Formbare übertragen werden können.

Die industrielle Revolution stellt den endgültigen Einzug der Maschine in alle Tätigkeitsbereiche des Menschen dar. War das primäre Ziel nur die Abschaffung der Handarbeit, so entwickelte sich aus diesem Ziel die Anschauung, daß fast alle Funktionen des Menschen künftig durch Maschinen ersetzt werden können und der Mensch ein Wesen in reiner Muße werden könne.

Aus diesen Vorstellungen heraus galt besonders im Sozialismus die industrielle Revolution als ein positiver Schritt in Richtung auf das Wohl der Menschheit. Insoweit konnte auch die katastrophale Arbeitssituation des Proletariers in der Frühphase der industriellen Revolution nahtlos als ein für die Menschheit insgesamt positives Moment ihrer Entwicklung interpretiert werden.

Interessanterweise hatte auch Marx ein gespaltenes Verhältnis zur Arbeit. Zum einen definiert er den Menschen als Arbeitswesen und sieht den Arbeiter als einen der höchstentwickelten Vertreter der menschlichen Gattung an, andererseits betrachtet er die Arbeit als demütigende Tätigkeit und will den Menschen durch die endgültige Entwicklung des Maschinensystems von der Notwendigkeit der Arbeit befreien. 

Ein weiterer Widerspruch in dem Werk von Marx besteht darin, daß er glaubt, man könne durch die neuentwickelte industrielle Produktionsweise die Produktivität der menschlichen Arbeit unermeßlich steigern.

Vor allem dieser zweite Widerspruch führt, weil er von vielen Nachfolgern so ernst genommen wurde, zu gewaltigen Konsequenzen. Auch dies will ich nicht Marx anlasten, denn niemand ist gezwungen, ihm zu folgen, aber es ist schon katastrophal, daß gerade diejenigen, die Marx kategorisch ablehnen und ihn bekämpfen, ihn in diesem Punkt fast sklavisch folgten.

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Die westlichen Kapitalisten sind in diesem Punkt die besseren Marxisten gewesen. Sie wollten demonstrieren, daß man auch mit anderen Methoden als den von Marx propagierten sozialistischen und kommunistischen Arbeitsformen eine unendliche Steigerung der Produktivität der menschlichen Arbeit erreichen könne. Dabei konnte man schon zu Marx' Zeiten erkennen, daß die Steigerung der Produktivität in der Industrie nichts mit der menschlichen Arbeitsleistung zu tun hat. Ob ein Mensch in der Steinzeit, im Mittelalter oder im Industrie- oder Computerzeitalter gearbeitet hat — er hat letztlich immer nur gearbeitet. Er erbrachte eine bestimmte Körperleistung. die zwar geringfügig durch Training eine Steigerung erfahren kann, die sich aber von der des Steinzeitmenschen nicht grundsätzlich unterscheidet.

Der Produktivitätsgewinn der Arbeit ist auch nicht in erster Linie abhängig von der wissenschaftlichen Durchdringung der Arbeitsprozesse, sondern er ist vom Handwerker bis zum Arbeiter der Automatisierungsgeneration erst möglich gewesen durch den Einsatz von Energie. Steigerte die handwerklich-mechanische Methode der Arbeit die Arbeitsproduktivität des Menschen vielleicht um das Zehnfache, so steigerte der Einsatz künstlich erzeugter Energie die Arbeitsleistung des Menschen um das Tausend-, das Zehntausend- oder vielleicht demnächst um das Hundert­tausendfache.

Die eigentliche Kraft des Menschen bei der Arbeit spielt also in einer fortgeschrittenen Arbeitsgesellschaft, wie wir sie heute in den westlichen, aber auch in den östlichen Industrienationen haben, überhaupt keine Rolle mehr. Man kann daher nicht mehr von einer Steigerung der menschlichen Arbeitsproduktivität sprechen, sondern nur von einer Steigerung der Produktivität, die inzwischen vom Menschen unabhängig ist.

Die Rückseite der Produktivitätssteigerung ist — und das konnte uns erst die industrielle Revolution klarmachen — die Vernichtung der natürlichen Ressourcen, und zwar nicht nur der Rohstoffe, sondern auch der Lebenselemente des Menschen wie Luft, Wasser, Boden und Wald.

Die Ausbeutungsdiskussion zu Beginn der industriellen Revolution war von Anfang an trotz des harten Loses der Arbeiter eine Scheindiskussion, denn schon der erste Arbeiter im Industriebetrieb, der sein Produkt mit Hilfe der Dampfkraft herstellte, beutete unbewußt die Natur aus und bezog einen Teil seines Einkommens aus dieser Naturausbeutung oder Naturzerstörung.

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Treibt man die Idee der industriellen Revolution intellektuell auf die Spitze, so handelt es sich in der Tat um den Aufstand der Maschinen gegen den Menschen. Es ist die konsequente Weiterentwicklung der faustischen Idee, nämlich die Verselbständigung der Maschine, die Loslösung von ihrer Bändigung durch den Menschen.

Während der industriellen Revolution hat es allerdings auch wirkliche revolutionäre Bewegungen gegeben. So haben z.B. die Mühlenarbeiter in London gegen die Albion-mill protestiert und sie angezündet und vernichtet. Seither geistert in allen intellektuellen Traktaten und vor allem bei den Repräsentanten der Arbeiter­bewegung, bei den kommunistischen, sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Organisationen und Parteien das Gespenst des Maschinen­stürmers herum.

Der Maschinenstürmer ist der Zurückgebliebene, der Unreflektierte, der ungebändigte Proletarier, der in einer anarchistischen Aktion die wahren Widersprüche zwischen Ausbeuter und Ausgebeuteten verkennt und in der Maschine selbst das Instrument der Ausbeutung sieht. Er schlägt zur falschen Zeit, an der falschen Stelle gegen den Falschen los, er ist konterrevolutionär, verhindert den Fortschritt und ist nicht bereit, die Opfer zu bringen, die das industrielle System vom Arbeiter verlangt.

Nachdem viele Schritte auf dem Weg der industriellen Revolution gemacht worden sind, nachdem in weiten Teilen der Industrie­länder die angeblich wirklichen Konfliktfelder bearbeitet worden sind, d.h. die Verteilung zwischen Besitzern und Besitzlosen, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten begradigt worden ist, nachdem der Arbeiter einen relativ hohen Anteil am Geldwert seines Produktes und des Produktes der Maschinen erhalten hat, erkennt die Industriegesellschaft plötzlich mehrere interessante neue Probleme: 1. Der Arbeiter wird für das Produktionssystem immer uninteressanter; 2. der Mensch ist kein Arbeitstier, sondern ein Lebetier, und für dieses Leben braucht er seine natürliche Umgebung; 3. das permanente Training des Arbeiters zum Arbeiten hat in der Tat das produziert, was Marx so eigentlich nicht wollte, nämlich den Menschen zum animal laborans zu konditionieren.

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Dieser Mensch kann nichts mehr anderes als nur noch arbeiten. Und sobald man ihn nicht mehr arbeiten läßt, ihm also mehr Freizeit gibt, fängt er sofort wieder an zu arbeiten.

Diese jahrtausendelange Konditionierung auf Arbeit hin und vor allem die exponentielle Steigerung dieser Konditionierung im Industriezeitalter führt zum eklatantesten Widerspruch in der Geschichte der menschlichen Entwicklung. Der Mensch, der eigentlich nicht zum Arbeiten geboren, sondern ein Denk- und Mußetier ist, erwirtschaftet die höchsten Überschüsse in der Geschichte seiner Entwicklung und benötigt gleichzeitig den geringsten körperlichen und geistigen Aufwand für die Produzierung seines Überschusses. Er kommt damit also theoretisch dem Ziel der Befreiung von der Arbeit immer näher.

Gleichzeitig hat er aufgrund seiner Produktivitätssteigerung eine riesige Warenmenge zu konsumieren, und weil er sie nicht mehr konsumieren kann, muß er sie sogar teilweise vernichten. Trotzdem wird die Sucht nach Arbeit immer stärker, so daß der Mensch, wird er in die Freizeit entlassen, seine Arbeitsleistung intensiviert. Je mehr die Produktion steigt, um so geringer wird sowohl die benötigte Arbeitsleistung des Menschen als auch die Zahl der Menschen, die für diese Arbeit eingesetzt werden. Darüber hinaus werden die Menschen immer weniger mit wirklicher Arbeit beschäftigt, sondern erhalten immer mehr die Funktionen von Wächtern, Beobachtern und Verantwortungsträgem, die in der Regel zwar nichts machen können, aber im Falle einer Störung des Produktionsablaufs aufgrund ihrer Funktion wegen menschlichen Versagens doch zur Verantwortung gezogen werden.

Die industrielle Revolution hatte niemals die Absicht, den Menschen wirklich Arbeit zu geben, sondern es ging immer nur darum, Produkte hervorzubringen. Die Industrieproduktion war von Anfang an auf eine menschenlose Produktionsmethode ausgerichtet. Der Mensch spielt in diesem Produktionssystem nur eine Aushilfsrolle auf Zeit. Während der Bauer sich seine Arbeit mehr oder weniger aus Unverständnis aufhalste und immerhin 10.000 Jahre seine Funktion erfüllte, brachte es der Handwerker des städtischen Systems nur noch auf 2-3000 Jahre. Der Industriearbeiter dürfte es auf reichlich 200 Jahre bringen, wobei der moderne Typus des Systemträgers von Anfang an der Angestellte war. Doch zu ihm später.

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Noch einmal zurück zu den Anfängen der industriellen Revolution.  

Für fast alle Historiker, und zwar des westlichen wie des östlichen Lagers, liegen der Beginn und der erste Höhepunkt der industriellen Revolution in England. Vor allem Karl Marx und Friedrich Engels haben, gestützt auf ihre Erfahrungen in England und die daraus entwickelten Theorien, entscheidend auf die theoretischen Grundlagen der modernen Arbeitsgesellschaft eingewirkt. Der Schwerpunkt der Betrachtungsweise sowohl bei Engels als auch bei Marx lag aber mehr auf dem Elend der Arbeiter als auf den Produktionsmethoden und der politischen Ökonomie. Dies ist deshalb wichtig, weil Marx als Vater der politischen Ökonomie gilt und ihm in dieser Frage am wenigsten Irrtümer unterstellt werden können.

Mit unserem heutigen Wissensstand müssen wir jedoch die Anfänge der industriellen Revolution in Amerika und nicht in Europa suchen.  

Sowohl in England als auch in Frankreich und später in Deutschland sind alle Industriebetriebe posthandwerkliche Betriebe, auch wenn sie mit Dampf­maschinen, Verarbeitungs­maschinen und ähnlichen Attributen der Industrie gearbeitet haben. Erst diese nachhandwerkliche Struktur ermöglichte in Europa das Entstehen starker Gewerkschaften, eine Entwicklung, wie wir sie im industriellen Amerika niemals beobachten konnten.

Die Geburtsstunde der industriellen Revolution hat weder an der Themse noch am Rhein oder an der Ruhr oder sonstwo in Europa geschlagen, sondern in Amerika in Delaware, im Tal des Redclay-Creek. 

Dort wurde 1784-85 von Thomas Ellicot und Oliver Evans die erste automatische Fabrik der Welt, eine automatische Mahlmühle, errichtet.

Bis heute ist dieses Ereignis von fast allen Historikern, Politökonomen und Wirtschaftswissenschaftlern in seiner Bedeutung für die Entwicklung des gesamten industriellen Systems nicht richtig gewürdigt worden. 

Der einzige, der zu dieser Frage ausführlicher Stellung genommen hat, war S. Giedion in seinem 1948 in Oxford erschienenen Buch "Mechanization takes command". Dieses Buch ist bis in die siebziger Jahre von den meisten kaum beachtet worden, und auch mir ist es erst 1985 zugänglich geworden. Zuvor war mir aber schon klar, welche Bedeutung die Mühle von Ellicot und Evans für die industrielle Revolution hatte.

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Es besteht einiger Anlaß zu der Vermutung, daß Marx eventuell Kenntnis von den Dingen hatte, denn in einer Fußnote erwähnt er, daß man die Entwicklung des Fortschritts der Produktivkräfte anstatt an der Spinnmaschine auch an der Mühle demonstrieren könnte. Hätte Marx dies gemacht, wäre der Erkenntnis­fortschritt über die Entwicklung der industriellen Revolution wohl wesentlich anders verlaufen, denn der Unterschied zwischen der industriellen Revolution in Europa und in Amerika ist gravierend.

Europa schlägt sich auch im 19. Jahrhundert immer wieder verdeckt oder offen mit dem Problem der Arbeitskräfte in den großen Industriebetrieben herum. Man kann sogar behaupten, die berühmten Pioniere der industriellen Revolution in Europa — Krupp, Siemens u.a. — haben bewußt oder unbewußt immer wieder dargestellt, daß ihre gesamten Anstrengungen in erster Linie auf die Beschäftigung von großen Arbeitermassen und in zweiter Linie auf das Problem der Produktion in Form von Massenproduktion ausgerichtet waren. Zwar fiel für sie dabei auch ein satter Gewinn ab, aber das Hauptproblem, nämlich das Problem der Abschaffung der Arbeit durch die Weiterentwicklung der Industrieproduktion, wurde dabei verdeckt, verheimlicht oder verkannt.

In Amerika war dies von Anfang an anders: 

Die europäischen Einwanderer wollten mit den meisten Traditionen aus Europa brechen. Sie gaben mit ihrer Auswanderung ihre Verwurzelung in ihren Heimatländern auf und versuchten diesen Verlust zu relativieren, indem sie den Boden und die Umgebung in ihrem neuen Land nicht mehr als Wohn- und Heimstätte sahen, sondern als Produktionsmittel. Daher hat es von Anfang an in Amerika kein herkömmliches Bauerntum mehr gegeben, sondern sofort den industriellen Farmer. Auch der frühe amerikanische Farmer war niemals Bauer, sondern Massenproduzent. Ihn interessierte nicht, was der Boden hergab, sondern nur, was der Markt wollte.

Die amerikanischen Einwanderer wollten keine Kulturwerte schaffen, sondern von vornherein Geld verdienen. Dies war auch notwendig, denn die meisten von ihnen mußten sich, in New York angekommen, sofort bei den dort ansässigen Banken Geld leihen, um die Ausrüstungsgegenstände für den Betrieb ihrer neuen Farm zu kaufen. Das Geld wurde ihnen auf das Land geliehen, das die Regierung zuteilte.

Dieses Modell ist eine der wesentlichen Grundlagen des späteren amerikanischen Industriesystems. Hinzu kommt, daß zur Zeit der großen Einwanderungs­wellen in Amerika ein Mangel an Arbeitskräften herrschte, so daß die Mechanisierung der Landwirtschaft und der Industrie eine notwendige Voraussetzung für den Aufbau einer Massenproduktion war.

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Das amerikanische Wirtschaftssystem war kein System der Konsumenten, sondern eines der Produzenten. Die Amerikaner konzipierten von Anfang an ihre Produktion auf Masse, Raum und Markt. Solange wegen der dünnen Besiedlung die Zahl der Konsumenten noch zu gering war, mußte für den europäischen Markt produziert werden. Aus diesem Grunde setzte die industrielle Revolution in Amerika bei der Landwirtschaft an, denn Weizen, Mehl, Fleisch und Futtermittel waren auch für Europäer notwendige Produkte. Dagegen waren Produkte aus dem weiterverarbeitenden Bereich wie der Eisen- und später der Elektro- und Automobil­industrie aufgrund der zu geringen Kaufkraft und des unterentwickelten Kreditwesens für Europäer und deren Markt nicht geeignet. Diese Produkte wurden zunächst nur in Amerika zu Massen­produkten und traten erst später ihren Siegeszug nach Europa an.

Damit ergibt sich folgende Erkenntnis:  

Der Einwanderer in Amerika hatte von vornherein kein Verhältnis zu seinem Boden. Jeder Bauer in Europa — und selbst ein Großbauer — saß mehr oder weniger seit Jahrhunderten auf seiner Scholle und dachte nicht daran, diese zu verlassen. Er hatte eine Beziehung zu seinem Acker und Boden wie auch zu seiner Umgebung, weshalb er seine Ressourcen pfleglich behandelte. Der nach Amerika Ausgewanderte wollte hingegen gerade das hinter sich lassen und sich gleichzeitig von den staatlichen Gängeleien in Europa lösen. Er verabscheute die Verwurzelung an die heimatliche Scholle und betrachtete den Boden und das Land als Rohstoffquelle. Wenn es ausgepowert war, verließ er es und zog weiter westwärts, wo genug Land vorhanden war.

Die amerikanische Gesellschaft war von Anfang an eine Wegwerfgesellschaft. Die Produkte, die sie benötigte, mußten billig sein und funktionieren, ohne daß man eine Beziehung zu ihnen herstellte. So konnte sich in Amerika schon sehr frühzeitig eine Lebensmittel­industrie entwickeln, die Fertigbrot, Fertigfleisch und vieles andere auf den Markt brachte. Der amerikanischen Gesellschaft ging es niemals um den Produzenten, den Arbeiter, den Handwerker oder den Bauern. Es ging um das Produkt, um den Verbrauch und um den Job, der den Kauf des Produktes und den Verbrauch sicherstellte.

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Nun könnte man meinen, daß gerade aus diesem Grund das Leben in Amerika mit weniger Arbeit verbunden gewesen wäre. Hier wird jedoch die Widersprüch­lichkeit einer modernen Massen­produktions­gesellschaft wie der amerikanischen deutlich. Baute das europäische System auf einer langen Tradition und Kenntnissen handwerklicher Technologie sowie materiellem Reichtum auf, der in den tradierten zivilisatorischen Werten wie Häusern, Geräten, Maschinen, Infrastrukturen und Ackerboden sichtbar wurde, so mußte das amerikanische System der Agrartechnologie und der billigen Massenproduktion im Industriebereich auf Kredit und Verwaltung aufgebaut werden. Damit sank der Anteil der Arbeit, die der Durchschnittsamerikaner für den Lebensunterhalt aufbringen mußte, zwar erheblich im Vergleich zum Europäer. Er mußte jedoch um so mehr für unproduktiven Bereich der Banken und der Verwaltung aufwenden. Damit war das Leben in Amerika von Anfang an härter, teurer und schwerer.

Der Weg der europäischen Kultur nach Amerika und die amerikanische industrielle Revolution waren der Anfang vom Ende dieser Kultur. Es war die endgültige Loslösung von der Grundlage menschlichen Lebens.

Hierfür gibt es noch mehr Anzeichen.

Als die großen Entdeckungen des Mittelalters werden die Reformation, die Entdeckung Amerikas und das Fernrohr angesehen. Die Reformation bot in der calvinistischen Dimension der Gottgläubigkeit die ökonomische Dimension und die Suche nach dem Heil auf dieser Erde durch Reichtum. Die Entdeckung Amerikas hat die bereits beschriebenen Entwicklungen eingeleitet, und das Fernrohr ist in gewisser Weise die letzte Konsequenz der Entdeckung Amerikas, eröffnete es dem Menschen doch endgültig die Erkenntnis über die Dimension des Weltalls.

Deshalb war es auch konsequent, daß die beiden Glücksgesellschaften dieser Erde, das kapitalistische Amerika und die real-sozialistische Sowjetunion, die ersten Weltraumnationen wurden. Der Aufbruch in den Weltraum ist das Eingeständnis der Undurchführbarkeit beider Heilsvisionen auf dieser Erde. Die Raumfahrt war die Vision der Auswanderung auf einen anderen Planeten, falls das Experiment USA oder UdSSR scheitern sollte. Und es ist gescheitert. 

Inzwischen ahnen wir, daß die Entdeckung des Fernrohrs uns die Erkenntnis vermittelt, auf Gedeih und Verderb dazu verurteilt zu sein, auf dieser Erde zu leben. Menschliche Lebensbedingungen haben wir bisher auch in Millionen Lichtjahren Entfernung nicht entdecken können, und selbst wenn wir sie dort entdecken würden, werden wir keine Möglichkeit haben, dorthin zu gelangen. Damit sind alle Vorstellungen eines Verlassens unseres Planeten am Ende, und das Modell der amerikan­ischen Wegwerf­gesellschaft ist gescheitert.

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Zurück jedoch zum technologischen Moment dieser Gesellschaft. 

Das Grundelement der amerikanischen industriellen Revolution waren die Maschine und das maschinelle System. Der Arbeiter war eine Ausnahme­erscheinung, ein potentieller Störfaktor. Ein Lebensbereich nach dem anderen wurde von dieser Art der industriellen Revolution ergriffen. Die Europäer entwickelten zwar die wissenschaftlichen Vorstellungen, sie machten die Erfindungen, sie hatten aber nicht die polit-ökonomischen Voraus­setzungen, um eine Massen­produktion zu entwickeln. 

Auch die größten Industriebetriebe in Europa sind bis zum Zweiten Weltkrieg Handwerks­betriebe geblieben. Krupp war niemals Unternehmer, sonder immer ein Handwerker. Selbst als das VW-Werk nach dem Zweiten Weltkrieg die Fließbandproduktion von Ford übernahm, blieb der VW-Käfer ein handwerklich orientiertes Produkt. Seine Massenverbreitung verdankt er nicht seiner massen­produkt­gerechten Konstruktion, sondern der Qualifikation der Arbeiter, die das schwierige Produkt "Käfer" zusammenbastelten.

Wie anders dagegen war von Anfang an die Automobilproduktion in Amerika. In Amerika wurden bis zum Zweiten Weltkrieg kaum grundlegende Erfindungen oder Patente gemacht, aber alle Produktionsmethoden kommen und kamen aus Amerika. Oliver Evans, der große Konstrukteur unzähliger Maschinen in vielen Bereichen, hat Europa niemals besucht. Europa interessierte ihn nicht, er beschaffte sich lediglich die Konstruktions­modelle und die Papiere von dort. 

Der Industrielle Ford entwickelte sein Fließband auf der Grundlage der amerikanischen Gesellschaft. Der Fließbandarbeiter Fords war ein Jobber. Er war zufällig an seinem Fließband, er konnte auch woanders arbeiten. Eine Identifikation mit der Produktion der "Tin Lizzy" bei Ford fand nicht statt — im völligen Unterschied zur Produktion des "Käfers" in Wolfsburg oder anderswo in Europa.

Aus dieser gravierenden Fehleinschätzung der beiden großen Arbeitsgesellschaften Europa und Amerika resul­tiert die Fehlein­schätzung der politischen und ökonomischen Entwicklung, denen Marx und seine Nach­folger aufsaßen. Die industrielle Revolution im amerikanischen Sinne hat in Europa bis heute nicht statt­gefunden, und sie wird nunmehr auch nicht stattfinden, weil eine völlig neue Entwicklung einsetzt. Dazu jedoch später mehr.

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Neben die technischen und gesellschaftlichen Bedingungen in Amerika traten die ökonomischen Bedingungen des großen Marktes Amerika, der von vornherein ohne Grenzen konzipiert war. Daher trat Amerika seinen Weg in die industrielle Revolution mit der Entwicklung eines neuen Verkehrssystems an, der Eisenbahn. Die Marktöffnung für die Massenproduktion in Amerika geschah durch die transkontinentalen Eisenbahnen, die den Riesenmarkt in kürzester Zeit mit jedem Produkt an jedem Ort versorgen konnten. Gespeist wurde dieser Riesenmarkt durch die Energie. Auch diese war kein Produkt der Arbeitsgesellschaft, sondern ein Produkt der globalen Ausbeutungsgesellschaft. Zwar wurde die Eisenbahn noch von heimatlosen Wanderarbeitern erbaut, danach aber ist der Anteil an Arbeit in diesem System gering, besteht es doch aus nahezu schierer Energie. Dasselbe gilt im Fortschritt der Industrialisierung von der Landwirtschaft, der Maschinenbauindustrie, der Automobilindustrie und später der Verbrauchsindustrie in allen Bereichen des täglichen Lebens.

Insoweit ist auch einleuchtend, daß zwar die Erfindung des Computers — aus wissenschaftlichen Gründen — in Europa stattfand, der Einsatz jedoch in Amerika erfolgte. Mit dieser Entwicklung betrat die industrielle Revolution ihre letzte Stufe auf dem Weg zur Vollendung. Nachdem der Mensch schon weitgehend von der Handarbeit befreit ist, muß er nun auch bei den Aufsichts-, Leit- und Krisenfunktionen ersetzt werden. Die Fühl-, Seh- und Denkarbeit des Menschen, seine letzte Tätigkeitsnische, wird abgeschafft.

Auch diesen Schritt tat das amerikanische Industriesystem vorsätzlich, folgerichtig, willig und freudig. Das europäische, handwerklich orientierte System kann auch hier aufgrund seiner traditionellen Hinwendung zum Menschen nur unbeholfen, unfähig und getrieben reagieren. In den Produktionssystematiken der europäischen Firmen, Betriebe und wissenschaftlichen Bereiche erhält der Computer immer nur eine Hilfsfunktion. Er wird nicht in seiner Komplexität und in seiner Schematisierung eingesetzt, weil das Verständnis eines organisierten Massenbetriebes in Europa immer noch völlig falsch ist. Selbst die Japaner tun sich in dieser Hinsicht weniger schwer als die Europäer. Hier spielen Traditionen mit, die an dieser Stelle nicht untersucht werden sollen.

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Der Durchschnittsamerikaner kennt heute noch nicht einmal sein eigenes Land, er hat keinen Begriff von dem, was Nordamerika ist, und er hat noch weniger einen Begriff von dem, was Europa bedeutet, was europäische Kultur bedeutet, beruft sich aber gleichzeitig — und hierin liegt der Widerspruch der Geschichte — auf sämtliche europäischen Traditionen. Dabei geht es ihm heute im Durchschnitt wesentlich schlechter als dem Europäer, er hat weniger Urlaub, und zwar weit weniger, er hat kaum eine soziale Absicherung, er hat eine miserable Umwelt, aufgrund seines ständigen Jobbens ist es ihm kaum gelungen, kulturelle Werte zu schaffen, und so bleibt für ihn lediglich die Unterhaltung durch das Fernsehen.

Das amerikanische Fernsehsystem, wie es heute konzipiert ist, ist nur denkbar als Ergänzungsmodell für das allgemeine Wegwerfsystem einer gesamt­gesell­schaftlichen Organisationsstruktur. Auch die Entspannung am Feierabend soll ein Wegwerf­produkt sein, sie soll nicht einfangen, sie soll nicht engagieren, sie soll und will nicht zum Nachdenken bringen über das Leben und die Umgebung. Wie die Umwelt keine Heimat, keine Verwurzelung, keinen Bezug herstellt, so stellt die Unterhaltung keine Anforderungen und keinen Bezug her. Niemand hat dies besser dargestellt als Neil Postman.

 

An dieser Stelle ist noch einmal ein Rückblick auf <Die deutsche Ideologie> von Marx und Engels notwendig. 

In keinem seiner Werke hat Marx deutlicher seine Auffassung über die Entwicklungsgeschichte der Zivilisation dargelegt. Vor allem seine Definition des Menschen verdient hervorgehoben zu werden. Marx sagt: "Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst" (Marx/Engels-Werke, Bd. III, S, 21).

Folgte man Marx, so wären alle Menschen vor der Einführung des Ackerbaus nicht zur Gattung des Menschen zu rechnen. Dann würden alle jene, die sich auch heute noch vom Jagen und Sammeln ernähren, ebenfalls nicht zu dieser Gattung gerechnet werden können: Eskimos, Indianer, Südseebewohner, Zigeuner usw. Weiterhin definiert Marx ohne nähere Erklärung, aber auch ohne weitere Untersuchungen Dinge als Fortschritt, die heute, wo wir es leider besser wissen müssen, nicht mehr ohne weiteres so einfach eingestuft werden können.

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Seine Definition der Stadt hat zwar an verschiedenen Stellen durchaus unterschiedliche Bewertungen, steht aber insgesamt immer in einem positiven Gesamtkontext, wenn er z.B. schreibt. "Der Gegensatz zwischen Stadt und Land fängt an mit dem Übergang aus der Barbarei in die Zivilisation, aus dem Stammwesen in den Staat, aus der Lokalität in die Nation, und zieht sich durch die ganze Geschichte der Zivilisation bis auf den heutigen Tag hindurch. Mit der Stadt ist zugleich die Notwendigkeit der Administration, der Polizei, der Steuern, kurz des Gemeinwesens und damit der Politik überhaupt gegeben... Die Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land ist eine der ersten Bedingungen der Gemeinschaft, eine Bedingung, die wieder von einer Masse materieller Voraussetzungen abhängt und die der bloße Wille nicht erfüllen kann, wie jeder auf den ersten Blick sieht" (Marx/Engels Werke, Bd. III, S. 50).

Und in einer Fußnote definiert er noch genauer, was er eigentlich unter dem Fortschritt der Zivilisation versteht. "Häuserbau: Bei den Wilden versteht es sich von selbst, daß jede Familie ihre eigene Höhle oder Hütte hat, wie bei den Nomaden das separate Zelt jeder Familie. Diese getrennte Hauswirtschaft wird durch die weitere Entwicklung des Privateigentums nur noch nötiger gemacht. Bei den Agrikulturvölkern ist die gemeinsame Hauswirtschaft ebenso unmöglich wie die gemeinsame Bodenkultur. Ein großer Fortschritt war die Erbauung von Städten" (Marx/Engels Werke, Bd. III, S. 29).

An dieser Stelle wird endgültig deutlich, welche Setzungen Marx vorgenommen hat und welche er benötigte, um seine an sich verständliche materialistische Geschichts­schreibung definieren zu können. Verständlich ist das Problem für Marx deshalb, weil er aus seiner Sicht die Geschichte als eine rein menschlich geprägte Entwicklungs­geschichte sehen mußte. Hier hatte er auch seine Verdienste, denn er setzt, wie er es selber nennt, gegen die Unverbindlichkeit der Geschichte der Eroberungen, der Gewalt, der Kriege, der Plünderungen eine gewisse Verbindlichkeit der materiellen Randbedingungen, die Gruppen, Gesellschaften und Staaten zu ihren wirklich geschichtlichen Taten anregten, zwangen oder trieben.

Aber hier liegt auch der entscheidende Unterschied zwischen meiner Geschichtsauffassung und der von Marx. 

Marx schreibt seine materialistische Geschichtsauffassung als eine Geschichte des Antriebs der Mängel. Er sagt dies deutlich, indem er schreibt; "Alle Geschichtsschreibung muß von diesen natürlichen Grundlagen und ihrer Modifikation im Laufe der Geschichte durch die Aktion der Menschen ausgehen" (Marx/Engels, Bd. III, S. 21).

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Das heißt, er sieht in der Produktion der Lebensgrundlage der Menschen den eigentlichen Antrieb für die sozial­geschichtlichen Entwicklungen. Er geht davon aus, daß die natürliche Umgebung dem Menschen eigentlich keine reale Lebensgrundlage verschafft, sondern daß er sich diese materielle Lebens­grundlage gegen seine natürliche Umgebung erkämpfen muß.

Auch Marx hängt also der Vorstellung aus dem Alten Testament an: Macht Euch die Erde Untertan. Er steigert diese Vorstellungs­welt durch seine Lehre vom Fortschritt der Produktivkräfte. Der Mensch hat nach seiner Auffassung als alleinige Grundlage seiner menschlichen Bedingungen seine Arbeitskraft. Das läßt zwei Deutungen zu: Zum einen wollte Marx sich konsequent gegen die geisteswissenschaftliche Orientierung der damals herrschenden Philosophie wenden, und zum zweiten läßt das vermuten, daß er von Anfang an ein gespaltenes Verhältnis zum Unterbewußtsein und zum Unbewußten des menschlichen Geistes gehabt hat.

Für Marx, und das spricht aus sehr vielen Zitaten, ist das Unbewußte, das Traumhafte, das Metaphysische in der Regel gleichgesetzt mit Religion, also mit einem Rückzug ins Unwirkliche und in den Glauben. Noch deutlicher wird seine fast schon manische Ablehnung des Unbewußten in folgendem Zitat: 

"Der ›Geist‹ hat von vornherein den Fluch an sich, mit der Materie ›behaftet‹ zu sein, die hier in der Form von bewegten Luftschichten, Tönen, kurz der Sprache auftritt. Die Sprache ist so alt wie das Bewußtsein, die Sprache ist das praktische, auch für andere Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein, und die Sprache entsteht wie das Bewußtsein erst aus dem Bedürfnis der Notdurft des Verkehrs mit anderen Menschen. Wo ein Verhältnis existiert, da existiert es für mich, das Tier verhält sich zu Nichts und überhaupt nicht. Für das Tier existiert sein Verhältnis zu anderen nicht als Verhältnis. Das Bewußtsein ist also von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt und bleibt es, so lange überhaupt Menschen existieren"   (Marx/Engels Werke, Bd. III, S. 30).

Dieses Zitat belegt überdeutlich, daß Marx eine fast unüberschreitbare Trennungslinie zwischen Mensch und Natur zieht, indem er dem Tier noch nicht einmal ein Verhältnis zu seinem Mittier zuspricht. Für Marx gibt es keine Verwischung von Grenzen, sondern nur die harte Grenze.

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Das wird noch deutlicher, wenn er eine Definition der Naturreligion gibt und den frühen Menschen mit seiner angeblichen Naturreligion als borniertes und beschränktes Wesen ansieht. Dazu heißt es bei ihm: "Dieser Anfang (der Naturreligion, H.J.R.) ist so tierisch wie das gesellschaftliche Leben dieser Stufe selbst, er ist bloßes Herdenbewußtsein, und der Mensch unterscheidet sich hier vom Hammel nur dadurch, daß sein Bewußtsein ihm die Stelle des Instinkts vertritt oder daß sein Instinkt ein bewußter ist" (MEW, III, S. 31).

Es ließen sich beliebig viele weitere Zitate für Marx' antinaturhafte Einstellung finden. Dabei geht es hier nicht darum, Marx recht oder unrecht zu geben, sondern um eine bestimmte materialistisch begründete Philosophie in einem bestimmten Zeitrahmen. Kein Philosoph und kein Geschichts­wissenschaftler hat vor Marx eine realistischere Betrachtungsweise der geschichtlichen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft gewagt oder gegeben. Aber auch er ist verhaftet in dem Glauben des 19. Jahrhunderts — und auch hier ist "Glaube" der richtige Ausdruck — an die Machbarkeit fast aller materiellen Vorstellungen.

Marx ist der perfekte Apologet des christlichen Materialismus. Die Natur ist für ihn noch nicht einmal Rohstoff des Menschen, sondern höchstens Kulisse. Und nie vorher ist der Mensch in seiner Allgewalt so überschätzt worden wie bei Marx. Nichts belegt das deutlicher als das berühmte Zitat aus der <Deutschen Ideologie>:

"Und endlich bietet uns die Teilung der Arbeit gleich das erste Beispiel davon dar, daß, solange die Menschen sich in der naturwüchsigen Gesellschaft befinden, solange also die Spaltung zwischen dem besondern und gemeinsamen Interesse existiert, solange die Tätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigne Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht. 
Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will — während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden" (MEW III, S. 33).

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Die Vorstellungen von Marx sind in der Tat scheinbar in einigen hochentwickelten kapitalistischen Gesell­schaften bereits verwirklich. Es ist der Mensch der hochentwickelten, hochdifferenzierten Arbeitsgesellschaft, der nicht unbedingt zu den allerreichsten gehört, aber einen hohen Anteil an Freizeit neben seiner Arbeit hat und in dieser Freizeit all das machen kann, was Marx für erstrebenswert hält: morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben oder nach dem Essen zu kritisieren.

Der Aufwand aber, den dieser Mensch oder diese Masse Mensch betreiben muß, um dies alles zu tun, ist ungeheuer hoch. Er braucht in der Tat an seinem Arbeitsplatz nicht mehr körperlich zu arbeiten, seine Arbeit wird von Maschinen und Computern erledigt, und er erfüllt Aufsichtsfunktionen. Er kann theoretisch jagen, fischen, Viehzucht treiben oder kritisieren. Faktisch kann er es nicht mehr, denn gerade jener Mensch der hochentwickelten, arbeitsteiligen Zivilisation trifft in seiner Umgebung auf nichts mehr, was er jagen könnte, auf nichts mehr, was er fischen könnte, und im Grunde auch auf nichts mehr, was er kritisieren könnte.

Das ist nun beileibe nicht allein ein Problem des kapitalistischen Systems. Fast spiegelbildlich hat auch der Vertreter des kommunistischen Systems, wenn er in einer ähnlichen Funktion ist, dasselbe Problem. Die Utopie des allumfassenden Fortschritts der Produktivkräfte, wie sie sich in den gesellschaftlichen Entwürfen des 19. Jahrhunderts darstellt, ist also scheinbar im 20. Jahrhundert realisiert worden. Die Gesellschaft regelt in der Tat den größten Teil der allgemeinen Produktion, und sie regelt ihn so umfassend gründlich, daß der einzelne heute nicht mehr eine Funktion als Arbeitender hat, sondern eine Funktion als Konsument.

Genau diese Regelung der Produktion hat das, was nach Marx den Menschen einengt, nämlich die Naturwüchsigkeit seiner Umgebung, zerstört. Der Preis für die Regelung der allgemeinen Produktion konnte nur aus dem Umfeld des Menschen bezahlt werden, und er ist heute fast schon bezahlt. Die Befreiung des Menschen von der Arbeit wurde bezahlt mit dem Zwang des Menschen, sich eine künstliche Umgebung zu schaffen. Der Fortschritt der Stadt endet nicht in der Aufhebung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land, sondern in der Verstädterung des Landes und damit in seiner Zerstörung.

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Die Vorstellung von Marx, daß das Sein das Bewußtsein bestimme, war insoweit richtig, als ein hart Arbeitender in einem Stahlwerk, auf einer Baustelle, an einem Fließband oder in einem Chemiewerk ein anderes Bewußtsein entwickelt als ein Intellektueller oder ein Bürokrat. Aber — und das ist der entscheidende Unterschied in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit — Marx vergleicht die Entwicklung des Bewußtseins des Menschen in seiner frühen Setzung in der Natur mit der Bewußtseins­entwicklung des zivilisierten Menschen in seiner Setzung in eine künstliche Arbeitswelt. Hier wird etwas verglichen, was nicht miteinander verglichen werden kann.

Die natürliche Umgebung des Menschen ist eben nicht, wie Marx sie beschreibt, "eine durchaus fremde, allmächtige und unangreifbare Macht" (M/E-Werke, Bd. III; S. 31), die dem Menschen gegenübertritt, sondern im Gegenteil eine vertraute, beherrschbare und belebbare Umgebung und keine Macht. Der Mensch war in dieser Umgebung nicht Vieh und nicht Tier, sondern Mensch. Eine solche Formulierung, wie sie Marx hier benutzt, kann nur von dem Menschen des Industriezeitalters gesetzt werden, der sich mit den Sachzwängen der Industrialisierung arrangiert hat. Und er verwechselt damit zugleich die Umgebung, die dem Menschen gegenübertritt, wenn er in einem Stahlwerk, auf einer Baustelle, in einem Chemiewerk oder in einer allmächtigen Bürokratie arbeitet. Genau dort findet er eine fremde, allmächtige, unangreifbare und machtvolle Umgebung, die ihn zu vernichten droht, wenn er sich ihr nicht machtvoll entgegenstellt.

Marx nennt die Beziehung des Naturmenschen zu seiner Umgebung Naturreligion. Ich nenne die Beziehung, die Marx dem Industriemenschen zueignet. Industriereligion. Es ist genau das beschränkte Verhalten des Menschen zu seiner künstlichen Umgebung, zu ihrer Unheimlichkeit, zu ihrer Übermächtigkeit, zu ihrer Nichtbeherrschbarkeit, zu ihrer Fremdheit, zu ihrer Unmenschlichkeit, die den Menschen zu einem einsamen Wesen in einer ihm eigentlich fremden Umgebung macht.

Die Industrialisierung ist die letzte Steigerungsstufe einer Kunstwelt, die dem Menschen mit einer letzten Fremdheit und Einsamkeit gegenübertritt. Der Mensch ist von Anfang an, und zwar seit Millionen von Jahren, mit seiner Umgebung sehr gut ausgekommen.

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Mit seiner industriellen Umgebung kommt er nicht zurecht. Er versucht ihr zu entfliehen, er versucht in die Natur zurückzugelangen, er versucht zu jagen, zu fischen und zu philosophieren, alles Tätigkeiten, die er in der Industriewelt nicht finden kann. Und erst aus dieser, von Marx nicht erkannten Widersprüchlichkeit zu seinem Verhalten gegenüber der Industrie, erklärt sich dessen Sehnsucht, den Menschen von seiner Arbeit zu befreien. Marx will ihn nicht von seiner natürlichen Arbeit, nämlich der Arbeit für den natürlichen Lebensunterhalt, befreien, sondern er will ihn — und da hat Marx dann wieder recht — von seiner industriellen Arbeit befreien.

An dieser Stelle taucht nun die Frage auf, wozu denn das Industriesystem dem Menschen dient? Welchen Teil des Lebens­unterhalts schafft es ihm? 

Es schafft ihm nicht unmittelbar seine Lebensbedürfnisse, die aus Essen, Trinken und Kultur bestehen, sondern es schafft ihm nur Tauschwerte, die er gegen diese unmittelbaren und ursprünglich notwendigen Ressourcen einzutauschen sucht. Daraus folgt, wenn das industrielle System so weit entwickelt ist, daß es ohne die Arbeitskraft des Menschen auskommt, dann schafft es jedem Menschen, der an diesem System teilnimmt, Tauschwerte, die ihm die ursprünglichen Lebens­grundlagen verschaffen können. Die Frage, die sich dann aber stellt, lautet, um welchen Preis diese Tauschwerte vom industriellen System ohne menschliches Zutun erwirtschaftet werden?

Die Antwort darauf ist heute eindeutig und endgültig zu geben: Der Preis ist das Umfeld des Menschen selbst, also seine Lebens­grundlage. Damit hebt aber das industrielle System sich selbst auf, denn es schafft zwar die Tauschwerte, die der Mensch scheinbar braucht, und zwar ohne Arbeit, um seine Lebensgrundlage zu sichern, aber es verbraucht gleichzeitig die Lebens­grundlage selbst. Der Mensch kann am Ende der Befreiung von der Arbeit nicht mehr atmen, er kann kein Wasser mehr trinken, und er hat keinen Boden mehr, auf dem irgendetwas wachsen kann. Der Fortschritt der Produktivkräfte, die Teilung der Arbeit und die Befreiung des Menschen von den natürlichen Abhängigkeiten seiner Umgebung führen mithin zu der Vernichtung der natürlichen Grundlagen des Menschen und der Natur.

Das industrielle System ist ein kostspieliger, radikaler und hoffentlich noch rückführbarer Versuch des Menschen gewesen, aus seiner natürlichen Umgebung auszubrechen und die Abhängigkeit von der Erwirt­schaftung des eigenen Lebensunterhalts aufzu­heben. 

Das Sein bestimmt eben nur dann das Bewußtsein, wenn das Sein des Menschen verhaftet bleibt mit seiner physischen und geistigen Herkunft, wenn der Mensch das bleibt, was er von Anfang an war, ein Tier, das mit Geist begabt ist. 

Die Transformation des Menschen vom homo sapiens zum homo laborans ist mißlungen. Sie führt lediglich zu seiner eigenen Ausrottung. Sie ist genauso mißlungen wie die totale Vergeistigung des Menschen oder seine totale Verewigung durch die Religion.

Der Mensch ist eben doch nur ein denkendes Mußetier.

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 Hans Joachim Rieseberg  1992