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Epilog     Rennefanz-2012

 

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Als ich diese Zeilen schreibe, ist beinahe ein Jahr vergangen, seitdem Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos tot in einem Wohnwagen in Eisenach entdeckt wurden. Was ist seitdem passiert?

Ein Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz trat zurück. Vier Untersuchungsausschüsse wurden eingerichtet.

Eine echte Debatte, ein Nachdenken, wie Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe zehn Jahre unerkannt mordend und raubend durchs Land ziehen konnten, schon gar nicht darüber, was sie zu Terroristen machte, hat nicht stattgefunden.

Es gab keine Lichterketten, keine großen Demonstrationen, und die Bücher, die sich mit dem Thema befassten, landeten nicht auf den Bestsellerlisten. Stattdessen belegte ein Buch mit dem Titel Digitale Demenz wochenlang einen der ersten Plätze. Darin ging es darum, dass Computer und Smart -phones dumm machen.

Es gab Übersprungshandlungen:

Eine junge Frau wurde aus der deutschen Olympia-Ruder-Mannschaft nach Hause geschickt, weil sie einen Neonazi zum Freund hat und man fürchtete, diese Beziehung könnte dem Ansehen Deutschlands im Ausland schaden. Ein Opernsänger durfte den Fliegenden Holländer nicht singen, weil er auf der Brust ein Tattoo trug, das angeblich einem Hakenkreuz ähnelt. So wollte Deutschland zeigen, dass Nazis hier keine Chance haben. So hilflos.

Deutschland ist ein Land, das die ganze Zeit das Gefühl hat, dass es etwas wiedergutmachen will, aber nicht weiß, wie, und es will vor allem möglichst nicht gestört werden in seiner Unfähigkeit, etwas gutzumachen. Der verstorbene Theaterregisseur Christoph Schlingensief hat das mal gesagt.

Ist das der Grund, warum die Morde der NSU weniger Interesse auslösten als, sagen wir, die Beschneidungsdebatte? Weil man nicht gestört werden will im Nicht-Nachdenken? Weil die deutsche Vergangenheit immer noch lange, dunkle Schatten wirft? Oder spielt es vielleicht eine Rolle, dass die Opfer Migranten und die Täter Ostdeutsche sind? Also Minderheiten in der Gesellschaft?

Ich weiß nicht, was ich erwartet habe.

Ich weiß nur, dass das Drama um Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe mich nicht loslässt. Es hat mich aufgerüttelt und Erinnerungen geweckt an eine Zeit, die ich lange vergessen wollte, die mir unangenehm war. Doch es ist Teil meiner Geschichte, meiner Identität.

Jena ist der Ort, an dem alles begann. Hier wuchsen Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe auf und hier trafen sie sich nach der Wende in einem Jugendklub. Jena, eine ostdeutsche Stadt, die für immer in einem Atemzug mit dem NSU-Trio genannt werden wird. Dort will ich hin, um meine Reise in die Vergangenheit abzuschließen.

Im Zug lese ich einen Artikel aus der Zeit, er handelt von dem NSU-Trio und der rassistisch aufgeheizten Atmosphäre in den neunziger Jahren. Es ist ein sachlicher Artikel, aber ich stolpere über die Überschrift: »Generation Nazi«. Ist das alles, was meine Generation ausmacht: Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe als Pin-ups der letzten Generation der DDR?

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Mich nervt, wie das Wort Nazi als Kampfbegriff benutzt wird, um eine ganze Altersgruppe zu verdammen und zum Schweigen zu bringen. Die Realität ist viel komplizierter, als sich viele das in ihren Redaktionsstuben in Hamburg vorstellen.

Ausgerechnet einer Wissenschaftlerin der Universität Jena ist bereits vor über zehn Jahren aufgefallen, dass die Wendekinder, die 1989 zwischen 8 und 15 Jahre alt waren, sich nicht so entwickelten, wie sie sollten. Tanja Bürgel widersprach der damals gängigen These, dass mit der ersten in Freiheit erwachsenen Generation die Integration abgeschlossen ist. Bürgel, auch aus persönlichem Erleben, misstraute diesem Optimismus und begann eigene empirischen Forschungen.

Zunächst wurde die Historikerin kaum ernst genommen, erst in den vergangenen Jahren stieg das Interesse. Tanja Bürgel erforscht seit Jahren die deutschen Generationen, die die großen Umbrüche durchlebt haben, den Ersten Weltkrieg, den Zweiten Weltkrieg, zuletzt die Wende. Die Reaktionen auf Zusammenbrüche seien immer ähnlich, erläutert sie in ihren Schriften. Sie entladen sich in neuen radikalen Bewegungen. Das sei nach dem Ersten Weltkrieg so gewesen, als die Kommunisten und Nationalsozialisten erstarkten, und das war zwanzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg so, als in Westdeutschland die 68er-Bewegung und eine starke Neonazi-Szene entstand. Was für eine Generation würde der jüngste große Umbruch hervorbringen?

Sie interviewte Kinder und Jugendliche und stieß auf erstaunliche Muster. Im Unterschied zu den um 1970 Geborenen, die eine abgeschlossene Kindheit hatten, schon zu Hause ausgezogen waren und sofort die neuen Freiheiten ausnutzten, als die Mauer fiel, waren die Jüngeren oft pessimistischer, fühlten sich heimatlos, ärgerten sich mehr über Dinge. Eltern und andere Autoritäten waren entmachtet.

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»Sie waren in die Welt geworfen, ohne eine Instanz zu haben, an der sie sich festhalten können«, so beschreibt es Bürgel. Wir sitzen in einem Cafe und es ist fast ein bisschen unheimlich. Ich kenne diese Frau erst seit fünf Minuten, sie könnte vom Alter her meine Mutter sein, und sie redet über mein Leben, als würde sie mich seit Ewigkeiten beobachten. Ich höre ihr gebannt zu.

Die Historikerin beschreibt einen »Zustand der Entfremdung, der metaphysischen Obdachlosigkeit«, der zu einem verstärkten Innendruck führe, der sich in einer Suche nach erlösenden Selbst- und Weltbildern entlud. Es ist ein merkwürdiges Gefühl zu wissen, dass die eigenen Erlebnisse, die man selbst kaum verarbeitet hat, historisch schon eingeordnet sind. Ich wiederhole still die Worte: metaphysische Obdachlosigkeit.

Ich begreife, dass das, was ich an mir und auch an Fällen wie bei Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe beobachtet habe, keine vereinzelten Schicksale sind, sondern Teil eines größeren Phänomens, für das es nicht nur individuelle, sondern gesellschaftliche Ursachen gibt.

Es geht nicht darum, die Taten des NSU-Trios zu verharmlosen, es geht um die Jugendlichen, die abdrifteten und Halt in einem radikalen Weltbild suchten. Nicht bei allen fand das so extrem statt, aber viele erlebten Absetzbewegungen, Erschütterungen, Ausbrüche. Bei vielen klafft bis heute ein Loch in der Biografie.

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Die Historikerin Tanja Bürgel hat im Laufe ihrer Forschungen zu dieser Generation vielfältige Beispiele von ostdeutschen Kindern und Jugendlichen gefunden, die ihren Eltern nach der Wende entglitten und abdrifteten. Manche suchten Halt in den festen Strukturen der Bundeswehr, die nächsten reisten um die Welt und wandten sich von der Zivilisation ab, wieder andere richteten ihre Aggressivität gegen sich selbst und wurden magersüchtig. Auch Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe sieht Bürgel als Teil einer »verlorenen Generation«.

Aber gibt es nicht all dies auch unter westdeutschen jungen Erwachsenen?

Ja, sagt Tanja Bürgel, aber nicht in dem Ausmaß wie im Osten, wo viele nach der Wende zum ersten Mal eine tiefe existenzielle Angst erlebten und nicht auf die Erfahrungen der Eltern zurückgreifen konnten.

Eine Befragung von 12- bis 25-jährigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus dem Jahr 2000 hat ergeben, dass Ostdeutsche sich im Vergleich zu gleichaltrigen Westdeutschen ungleich beladener fühlen. Sie nehmen das Leben schwerer, ärgern sich mehr über Dinge, auch im persönlichen Bereich, leiden häufiger unter negativen Gefühlen.

Als ich im Spätsommer 2012 in Jena aus dem Zug steige, sehe ich: sanierte Häuser, junge Leute auf den Straßen, gut gefüllte Cafes und Restaurants. In der Straßenbahn der Stadt hört man Englisch, Russisch und Spanisch. An der Uni lernen über zwanzigtausend Studenten, dank großer Firmen wie dem Optikbetrieb Carl Zeiss Jena liegt die Arbeitslosigkeit bei rund sechs Prozent, weit unter dem ostdeutschen Schnitt. Ich vergleiche Jena mit Eisenhüttenstadt, dem Ort meiner Jugend, und mir fällt auf, wie unterschiedlich es den Städten heute geht: Jena, 1558 gegründet, hat sich seit der Wende gut entwickelt. Eisenhüttenstadt, 1950 gegründet, stirbt seit der Wende einen langsamen Tod. Doch in den frühen neunziger Jahren waren die Lebensbedingungen noch ähnlicher.

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Ich treffe Marco K., der sich einst im gleichen Freundeskreis wie Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe bewegte. Er wuchs im gleichen Neubauviertel auf, gemeinsam mit anderen Kameraden fuhren sie zu Schulungen und Aufmärschen.

Ende der neunziger Jahre, als das NSU-Trio im Untergrund verschwand, hat K. die Szene verlassen und sich ein neues Leben aufgebaut. Er will eigentlich nicht mehr reden, weil die Geschehnisse von damals abgeschlossen seien, schreibt er in einer ersten E-Mail.

Aber dann sagt er doch zu.

K. trägt kurze Hosen, ein eng anliegendes T-Shirt mit V-Ausschnitt, um den Hals hat er ein buntes Tuch geschlungen. Nichts erinnert äußerlich an sein früheres Leben. Ich möchte wissen, wie er radikal geworden ist.

»Es war keine Entscheidung«, sagt er. Alle seien damals im Neubauviertel rechts gewesen und mit Bomberjacke herumgelaufen. »Das war eine Jugendkultur wie Hip-Hop in Berlin.« Die Jugendlichen lungerten auf der Straße herum. Ihr Viertel Jena-Lobeda veränderte sich. Viele Einheimische zogen in den Westen, in die leeren Wohnungen kamen Russlanddeutsche. »Die fuhren mit BMW herum, während unsere Eltern keine Arbeit hatten«, so nahm Marco K. das als 14-Jähriger wahr. Er hatte das Gefühl, sein Viertel verteidigen zu müssen. Heute sagt er: »Wir suchten Bauernopfer.«

Er ging 1995/96 in den Winzerclub, dort hingen auch Leute wie Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt herum. Als K. dazu-stieß, waren die Älteren bereits feste Größen in der Szene. »Das waren charismatische Leute, sie konnten gut reden, waren selbstbewusst, wir schauten zu denen auf«, erinnert er sich.

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Ich will vor allem mit ihm über den Ausstieg reden, ich will wissen, was entscheidet darüber, ob jemand in der Gesellschaft ankommt oder Außenseiter bleibt?

Haben seine Eltern versucht, ihn herauszuholen? Marco K. antwortet ausweichend, sie haben versucht, sich mit anderen Eltern auszutauschen, aber sie kamen an ihren Sohn nicht heran. Die Muster kommen mir inzwischen bekannt vor. Ich weiß es aus eigenem Erleben, wie begrenzt der Einfluss der Eltern ist.

Marco K. erzählt, einmal sei »ein Sozialarbeiter im Schlabberlook« vorbeigekommen und wollte mit ihnen reden. »Der hat unsere Meinungen in der Luft zerrissen, danach haben sich einige erst recht angespornt gefühlt, sich politisch zu engagieren und zu bilden.«

Ich kann nicht einschätzen, wie authentisch oder ernsthaft Marco K. sich um einen Neuanfang bemüht hat. Er wirkt offen, reflektiert, doch bei aller Freundlichkeit spürt man ein Unbehagen.

Ähnlich wie bei mir damals war es auch eine Begegnung, die sein Weltbild veränderte. Es geschah nicht von einem auf den anderen Tag, es war ein Prozess. Er freundete sich mit einem Mann aus einer Burschenschaft an, nicht unbedingt die Lieblinge der Linken, aber er lernte einen anderen, friedlicheren Patriotismus kennen. Sie saßen zusammen und hörten Volkslieder, »Ännchen von Tharau«. K. gefiel das. Die Glatzen kamen ihm auf einmal dumm und gewaltätig vor. Er änderte sein Leben, orientierte sich politisch und geistig neu, lernte neue Freunde kennen. Zu seinem Bruder, bis heute ein führender Neonazi, hat er keinen Kontakt mehr.

Wenn man ihn länger nach seinem Ausstieg bohrt, wird er wütend. Er hat sich von den Nazis abgewandt, aber fühlt sich weiterhin wie ein Außenseiter. Ihn nervt das Misstrauen,

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das ihm entgegengebracht wird. Er habe als Freiberufler bereits mehrere Aufträge wegen seiner Vergangenheit verloren. Einem Scientology-Aussteiger würde geglaubt, ein Nazi-Aussteiger stünde sein Leben lang am Pranger. »Wenn ich ge-wusst hätte, wie viel Ärger mir das einbringt, wäre ich dabeigeblieben«, sagt er. Er klingt bitter.

Er war 19, als er ausstieg. Obwohl seine aktive Neonazi-Zeit über zehn Jahre zurückliegt, hat Marco K. immer noch Angst vor unerwünschten Begegnungen. Als am Nebentisch im Cafe ein Tourist ein Foto machen will, versteckt K. sein Gesicht hinter einem Tuch. Er fühlt sich verfolgt, von wem genau, ist nicht so leicht zu sagen. Angst vor Racheakten alter Freunde? Oder der Antifa? Er kann es selbst nicht so genau sagen. Man kann ihm nur mailen, seine Handynummer hält er geheim.

 

Ich stehe vor dem Block, in dem Uwe Böhnhardt aufgewachsen ist. Die Eltern bekamen in den siebziger Jahren im Viertel Lobeda eine der begehrten neuen Wohnungen zugeteilt. Sie leben noch heute dort. Ich stehe vor dem Klingelschild und suche nach dem Namen Böhnhardt. Neben mir ein Kollege, der die Böhnhardts schon kennt.

Brigitte Böhnhardt ist erst irritiert, empfängt mich dann aber herzlich und legt schnell ein weiteres Gedeck auf den Kaffeetisch. Nur einmal lässt sie sich anmerken, wie viel Kraft solche Gespräche sie kosten: »Na, wollten Sie sich mal die Nazi-Monster-Eltern angucken?«

Wir unterhalten uns über die neunziger Jahre. Ich erzähle meine Geschichte, wie ich ähnlich wie ihr Sohn in den neunziger Jahren abgedriftet bin. Es ist eine schwierige, eine unmögliche Situation. Wie spricht man mit einer Mutter, deren Sohn mutmaßlich zehn Menschen ermordet hat und sich am Ende selbst tötete?

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Ich will mich nicht mit Uwe Böhnhardt vergleichen. Ich kann mich nicht mit Uwe Böhnhardt vergleichen. In dem Jahr, in dem er sich mit seinen Freunden in Chemnitz versteckte und in den Untergrund ging, begann ich meinen ersten Job. Als sie im Untergrund lebten und Videos anfertigten, in denen sie ihre Mordtaten rühmten, lernte ich in England einen anderen Umgang mit Fremden als in Deutschland. In England ist es normal, dass es Polizistinnen gibt, die das traditionelle muslimische Kopftuch tragen oder Lehrer mit Turban. Das Leben von Böhnhardt und seinen Freunden nahm einen völlig anderen Verlauf.

Wir suchen nach Gemeinsamkeiten und kommen auf die Anarchie, die damals an den Schulen herrschte, als Lehrerin hat Böhnhardt alles hautnah miterlebt. »Im Grunde waren damals alle Eltern froh, wenn sie ihre Kinder durch diese schwierige Zeit gebracht haben und aus ihnen anständige Menschen geworden sind«, sagt Brigitte Böhnhardt.

 

Die Geschichte von Uwe Böhnhardt ist komplizierter, als die oberflächlichen Details über sein Leben glauben machten: kleinkriminell mit 13, im Gefängnis mit 15, Bombenbauer mit 20, Mörder mit 21. Es ist eine Geschichte mit vielen Auf und Abs und enttäuschten Hoffnungen. Nachdem er aus dem Gefängnis herauskam, holte er seinen Abschluss nach, machte eine Lehre als Maurer. Die Eltern schöpften Hoffnung. Er bekam einen Job, er war stolz darauf, sein eigenes Geld zu verdienen - und wurde nach einem Monat wieder entlassen. Das habe ihn schwer getroffen, sagen die Eltern. Sie hofften, wenn er in andere Umgebung komme, dann verändere er sich, lerne neue, andere Freunde kennen. Brigitte Böhnhardt legte ihm eine Anzeige hin, für eine Stelle in Westdeutschland. Doch er landet bei einer Drückerkolonne, zwei Kameraden müssen ihn herausholen. Danach hörte er auf, nach Arbeit zu suchen.

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Wenn man die Eltern von Uwe Böhnhardt in Jena erlebt, wie sie mit sich ringen, wie sie immer wieder ihr Gedächtnis durchgehen, um den Punkt zu finden, an dem das Leben von ihrem Uwe, ihrem Nesthäkchen, kippte, an dem sie etwas anders hätten machen können, den Lauf der Geschichte aufhalten, dann hat das etwas zutiefst Berührendes - und Verzweifeltes. Ihre Hilflosigkeit erinnert mich an meine eigenen Eltern. Das erklärt vielleicht auch, warum ich im Gespräch mit Westdeutschen oft das Gefühl habe, die Böhnhardts verteidigen zu müssen. Übertragung nennen Psychologen das.

Sie haben ein großes Interview gegeben, haben öffentlich Abbitte geleistet für ihren Sohn, den sie vor zehn Jahren zum letzten Mal lebend sahen. »Unsere Schuld wird sein, dass wir kleine Zeichen nicht richtig gedeutet haben, dass wir immer gehofft haben, dass er ernsthafter wird«, sagt Brigitte Böhnhardt.

2002 fand das letzte Treffen mit den Eltern statt, damals lebten Uwe Böhnhardt und seine Freunde schon im Untergrund. Die Eltern verrieten sie nicht an die Polizei. »Wir hatten Angst, dass wir dann alle drei für immer verlieren würden«, sagt Brigitte Böhnhardt. Sie ahnte nicht, dass die Mordserie damals schon begonnen hatte.

Normalerweise bin ich diejenige, die die Fragen stellt. Diesmal ist es umgekehrt, Brigitte Böhnhardt will wissen, wie ich den Ausstieg geschafft habe. Ich sage, dass es ein langer, komplizierter Prozess war. Ich erzähle von dem Mann, in den ich mich verliebt hatte, der mir zeigte, dass ein anderes Leben möglich war. Während Böhnhardt und seine Freunde durch die Ablehnung der Außenwelt immer radikaler wurden, sich zurückzogen in ihre eigene, mörderische Gedankenwelt, fing ich an zu zweifeln und Fragen zu stellen.

Brigitte Böhnhardt hört erst aufmerksam zu, dann sehe ich, wie ihre Gedanken wegdriften. Sie sagt, sie hat auch immer gehofft, Uwe Böhnhardt würde eine Freundin mitbringen, die ihn auf andere Gedanken bringt. Stattdessen kam Beate Zschäpe. Beate Zschäpe, die einzige Überlebende des Trios.

Ich sage nichts. Es gibt keinen Trost. Und doch fahre ich nicht bedrückt zurück nach Berlin. Ich bewundere den Mut und die Offenheit, mit der die Böhnhardts über ihr Scheitern reden, sich verletzlich machen. Es ist ihnen wichtig, dass es nie wieder einen Uwe Böhnhardt gibt, dass andere Eltern nicht dasselbe erleben.

Ich habe etwas ebenso Banales wie Wichtiges gelernt: Die Wut wird weniger, wenn man über sie spricht. Das ist ein Anfang.

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Ende

 

 

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