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2 - Clerus Minor oder Die Selbstentleibung der Intelligenz

Reich-1992

 wikipedia  Klerus  "Klerikerstand", "Minoristen", "niedere Weihen" in Röm-kath-Kirche

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  Zauberlehrling 

So hatten wir es nicht gewollt, so nicht erwartet. Die Evolution, die Reform, die Vernunft war uns unter der Hand zur Revolution entglitten. Wir sind das Opfer einer doppelten Illusion geworden: daß das Volk unsere Ziele übernehmen und uns zu Führern wählen und daß der Westen uns in dieser Rolle anerkennen würde. Dazu schließlich noch die Überraschung, daß die bürgerliche Freiheit auch uns — warum gerade mir? — die Freisetzung aus der Arbeit und aus dem Lebensplan bringen würde. Alle anderen hätten «die Abwicklung» verdient, nur nicht ich!

Die Illusion bestand darin, daß wir glaubten, die Unterdrückten und Gepreßten in einer Klassengesellschaft zu sein, in der die Nomenklatura die Macht hatte und sie mit den Fangarmen Partei, Staatssicherheit, Apparat und Armee gegen das Volk, und damit auch gegen uns, verteidigte.

In Wahrheit waren wir nicht so sehr Unterdrückte, sondern Geprellte. Unsere Wut darüber, daß uns die selbstverständlichen Freiheiten, ja geradezu die Existenzbedingungen des Intelligenzlers vorenthalten wurden, war ein ebenso wichtiges Motiv für die Rebellion wie das Leiden an der drückenden bürokratisch-administrativen Entartung. Die Cleveren unter uns, auch die mit geringeren Skrupeln, erkauften sich diese Freiheiten mit Wohlverhalten. Sie wurden zum Beispiel Reisekader. Der Gemüsefrau war die Dienstreise in den Westen aus evidenten Gründen verwehrt: Sie brauchte das nicht als Arbeitswerkzeug. Für sie wäre das Luxustourismus gewesen, und deshalb bereitete es keinen Skrupel, es ihr zu verwehren. 

    Mitgefangen, mitgehangen   

Die Intelligenz war eingebaut in einen Kopfentwurf der Gesellschaft und ihrer Zukunft, in eine streng geplante Rationalität: der Wirtschaft und der Lebensverhältnisse. Die Wirtschafts- und Verwaltungs­intelligentsia erfüllte die Kommandos, die technische Intelligenz baute Geräte, Maschinen und Steuerungsanlagen, die schöpferische Intelligenz schuf die Illusionen, und die Gesellschafts­wissenschaftler kreierten das Weltbild, das die wahren Verhältnisse auf den Kopf stellte: Oberster Glaubenssatz war die Lehre von der Diktatur des Proletariats und der Klassenmacht der Arbeiter und Bauern. 

Die behauptete Wahrheit dieser großen Lüge machte jede kleine Wahrheit so gefährlich, so brisant, machte jeden Liedersänger und Schriftsteller potentiell zum Zerstörer des Systems.

Ich weiß, ich weiß. Wir waren in unserer Entfaltung gehemmt und behindert. Der Kollege im Westen lebte besser, freier, hatte ganz andere Ressourcen für seine schöpferische Arbeit. Er konnte die Grenzen seiner Begabung ausloten. Bei uns erstickten die kungelnden Bonzen jeden Impuls, den Sozialismus menschlich und effizient zu gestalten. Das stimmt natürlich.

Ich weiß das, und ich wußte das. Warum aber haben wir geschwiegen? Warum haben wir «nur unsere Arbeit gemacht»? Wo war die Klassensolidarität der Intelligenz, als Sacharow, Havemann, Havel fertiggemacht wurden?

Der Widerspruch zwischen Intelligenz und Politbürokratie, den wir für antagonistisch hielten (weil er nicht ausgleichbar war), war in Wahrheit der zwischen der herrschenden Klasse und ihrem hegemonialen Stand. Er ist analog dem Widerspruch zwischen absolutistischem Hof und dem armen Kleinadel. Daß der Kleinadel unzufrieden war, ändert nichts daran, daß das System die Klassenmacht des ersten und zweiten Standes verwirklicht hatte.

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Analogien für die unbequeme Stellung der Intelligenz zwischen Herrschenden und Beherrschten bietet der Kleinadel im zaristischen Rußland. Verarmter Landadel, in hoffnungsloser wirtschaftlicher Hängestellung. Oder gefügiger Dienstadel, in einer standesunwürdigen Abhängigkeit, nach Dienstklassen eingeteilt, wo doch ursprünglich der Grundbesitz oder das militärische Verdienst unter sonst Gleichen bestenfalls eine quantitative Bedeutung hatte.

Die klassische russische Literatur hat die erbärmliche Stellung dieser Adelsschicht eindringlich geschildert. Bei aller Erbärmlichkeit: Adel bleibt Adel. Und der Bauer nimmt stets vor dem Baron den Hut ab.

Eine andere Analogie ist der mindere Klerus zu Zeiten des Verfalls des Mittelalters. Auch diese Schicht gebildet, des Lesens und Schreibens kundig, der Struktur nach herrschend, der tatsächlichen Lage nach verarmt, verprellt. Solche Hängestellungen bringen, wenn die Integration ad maiorem Dei gloriam nicht mehr gelingt, Revolutionäre aller Arten hervor: Luther, Münzer und andere — bis in die Gegenwart.

Die in der Ideologie auf den Kopf gestellte Herrschaltspyramide und der real existierende Scheinwiderspruch zwischen Intelligentsia und ihrem Herrschafts­stand erzwangen ein ganzes Netzwerk von Klischees und Illusionen, in deren Nebel dann schließlich das System erwürgt wurde. Die Intelligenz leitete das Ende des epochalen Spuks ein. Sie riß das Geflecht ein, das ihr die Klassenmacht sicherte. Sie zerstörte es, weil die Einsicht, daß es im Systemstreit versagte, ihr die Klassenmacht schal werden ließ, zur lästigen Pflicht degenerierte.

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Am Ende versuchte die Nomenklatura, die widerspenstigen Begriffsarbeiter genauso einzusperren wie die produzierenden Handarbeiter. Es begann die große Zeit der Staats­sicherheit, der vom Flammenschwert der Oktoberrevolution zum Würgeeisen gegen die bockigen Intelligenzler umgeschmiedeten Waffe der Partei.

Das ging zu weit. Da wurde dann Selbstentleibung als Pantomime von Kettensprengung in Szene gesetzt. Rat- und Hilflosigkeit war nach getaner Arbeit das Ergebnis, und zum erstenmal versagten die glatten Worte. Die Begriffsakrobaten, für eine historische Sekunde sprachlos.

   Die Kostümierung der Intelligentsia   

Jede Gesellschaft hat ihre Intelligenz als Wissensverwalter. Wissen wird im Kontext von abstrakten Begriffen chiffriert und in dieser Form aufbewahrt und weitergegeben. Wissen ist stets gleichzeitig stolz in sich selbst ruhend und selbstzerstörend.

Auch die Funktion von Intelligenz hat zwei Pole: Sie bewahrt die Stabilität des Systems und schafft Voraussetzungen, es zu überwinden, zu transzendieren.

Für die Stabilisatoren des Systems ist Intelligenz ein zweifelhafter Verbündeter. Man kann sich nicht darauf verlassen, daß sie im Boot bleibt, wenn dies zu kentern droht.

Intelligenz ist stets kostümiert. Ihre Angehörigen spielen eine selbstdefinierte Rolle. Sie heben sich vom profanen Volk ab, erfinden skurrile Moden und verlieren die Lust an ihnen, wenn sie akzeptiert und nachgemacht werden.

Zu den Kostümen der Intelligenz gehören:
In stabilisierender Funktion: Der weise Magier im Zauberergewand und der Bürokrat mit Schlips und/oder Ärmelschoner.

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Auch der Mönch ist eine oft gespielte Rolle. Die Vollendung der stabilisierenden Funktion macht ihn zum Regelglied im wohldefinierten System. Eine Traumrolle, aber auch das Ende des Stückes. Agierende in ultrastabilen Systemen werden gnadenlos von der historischen Bühne gejagt. Im alten China gibt es die besten Beispiele; Toynbee nennt weitere.

In transzendierender Absicht: Narren und Berserker. Der Narr spricht lachend systemsprengende Wahrheit aus, ohne auf ihrer Durchsetzung zu bestehen. Als Clown bei Shakespeare, überhaupt im Elisabethanischen Theater. Als Narodnik im Kittelhemd des russischen Bauern, treuherzigen Blickes und mit großer Geduld das Volk aufklärend, bis dieses die Geduld verliert und die Spinner stehenläßt. Eine verfremdete Narrenrolle ist auch Graf Tolstoi, der eine Sense nimmt und bei den Bauern mittun will. Er erreicht stets nur, daß sie ehrerbietig aufstehen, die Mütze abnehmen und «Ganz recht, der Herr!» sagen, wenn er mit ihnen auf Bauernart plauschen will.

Die Geduld des Narodniks ist nicht unerschöpflich. Da das halsstarrige Volk ihm nicht folgt, muß er, bei begrenzter Wirkungszeit, schärfere Saiten aufziehen. So gelangen die energischsten Narodniki zum Zarenattentat. So wird der friedlichste establishment­verweigernde 68er zum Terroristen. Um an den Zaren heranzukommen, müssen sie sich systemkonform stellen; um Sprengstoff zu besorgen, brauchen sie viel, viel Geld, Fahrzeuge, den ganzen logistischen Firlefanz. Sie treiben die technische Raserei auf die Spitze, um sie zu überwinden. Extrem angepaßtes Extremalverhalten. Das gelingt aber nicht. So resignieren sie als versteckte Expropriateure.

Intelligenz verträgt Niederlagen schlecht. Aus der Niederlage weicht sie in eine Vermengung der beiden Pole ihrer Funktion aus: Sie wird extrem angepaßt oder angepaßt extrem.

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   Begriffsbestimmung   

Das Wort «Intelligenz» hat eine lange Geschichte. All seinen Bedeutungsschattierungen ist etwas gemeinsam, eine Durchschnitts­bedeutung im mengentheoretischen Sinne, auch wenn wir gelegentlich sehr viel guten Willen aufbringen müssen, um das noch zu bejahen, wie etwa im Kontext von «intelligence Service».

Für uns in der DDR war der am häufigsten intendierte Begriff hinter dem Wort ein Russizismus. Er ist eine Rückübersetzung aus dem russischen «Intelligentsia». Er bezeichnet eine soziale Schicht. Ich bin nicht hinreichend gebildet in russischer Etymologie, um zu entscheiden, ob dieser Begriff zusammen mit dem Siegeszug der marxistischen Begriffswelt populär wurde oder unabhängig davon. Jedenfalls ist die Verwendung als Begriff einer sozialen Schicht ungewöhnlich für das westeuropäische Ohr — etwa so ungewöhnlich, als würden sich die Schmiede die Standesbezeichnung «Körperkraft» zulegen und sich dazu mit Fleischhauern und Transportarbeitern vereinigen.

Dagegen darf man daran erinnern, daß auch der Begriff «Akademiker» nicht ohne merkwürdige Nebenbedeutungen ist und ebenfalls dazu neigt, bei denen, die sich dazu rechnen dürfen, Berufsdünkel zu erzeugen. 

In der DDR jedenfalls war «Akademiker» ein Wort von unglaublicher Hochnäsigkeit a priori, während «Intelligenz» (genauere Parallele: «Angehöriger der Intelligenz») neutral verwendet wurde.

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Was nicht verhinderte, daß es von denen, die außerhalb dieses Begriffshofes standen, ebenfalls als dünkelhaft empfunden wurde («Diese Intelljenzler bilden sich wunder was ein auf ihre Schlauheit!»). Da die meisten Vertreter die Privilegien nicht hatten oder nicht zu haben glaubten, die angeblich mit seiner Trägerschaft automatisch verbunden waren («Denen stecken sie es hinten und vorne rein!»), entstand ein reaktiver Dünkel, eine beleidigte Hochnäsigkeit a posteriori. Wie der Ochse, der das schwere Fuhrwerk schleppt und zum Lohn mit Wasser und trockenem Gras abgefüttert wird.

Im Vergleich zum «Akademiker» hat der administrative Sprachgebrauch in den sozialistischen Ländern eine starke Ausweitung des Begriffs «Intelligenz» durchgesetzt. Der Begriffsumfang von «Akademiker» wurde annähernd durch «Hochschulabsolvent» ersetzt, was weniger deutliche politische Emotionen hervorrief. Und Hochschul­absolventen gehörten zur Intelligenz, waren eine Teilmenge der Intelligenzler. Intelligenz gab ihre Exklusivität auf, umfaßte auch «niedere» Weihen wie «Fachschulabsolvent». 

Da das Fachschulwesen auf ähnliche Weise wie das Hochschulwesen Studiengänge organisierte, die Semestereinteilung übernahm und Diplome verteilte, franste der ganze Intelligenzbegriff am Rande aus, und es war nicht mehr ganz klar, ob die Kranken­schwester, der Fachschulingenieur, der Finanzökonom nun zur Intelligenz gehörten oder nicht. 

Mit entsprechender Frustration ihrer Vertreter, die die Herablassung spürten, aber meist die gleiche angeordnete Geistesarbeit zu verrichten hatten wie die Hochschul­absolventen. Auch die Grenzen zur Arbeiterschaft waren fließend, und die Intelligenz spürte die Verachtung der Arbeiter für die Brillenträger und war gleichzeitig an vielen Arbeitsstätten auch noch schlechter bezahlt.

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Aber auch in der anderen Richtung wurden die Grenzen des Begriffs «Intelligenz» im Spätsozialismus absichtlich unscharf gehalten: in Partei und Staatsapparat. Die SED war nach Definition und mit Bezug auf ihren Ursprung eine Arbeiterpartei. Als Mitglieder wurden Arbeiter allerdings tendenziell immer seltener. Es wurden immer wieder Anstrengungen unternommen, den Anteil der Arbeiter­schaft zu erhöhen, durch Werbekampagnen und Neuerfassungen des Bestandes. Neue Arbeiter zu gewinnen war eine Sisyphosarbeit, weil die meisten Arbeiter aufhörten, Arbeiter zu sein, wenn sie der Arbeiterpartei beigetreten waren. Sie nahmen eine Funktion im Kreisrat der FDJ wahr oder wurden ABI (Arbeiter- und Bauerninspektion) oder übernahmen sonst einen Posten, den die Arbeiterschaft nicht mehr als Arbeit anerkannte.

Erfolgreicher als die Arbeiterwerbung war da schon die Ausdehnung des Begriffes: Als Arbeiterkinder galten bei der Studien­platzvergabe zum Beispiel die Söhne und Töchter des Polizeiapparates, der Staatssicherheit und der Nationalen Volksarmee mit der Begründung, daß «wir ja als erste aufgeknüpft werden, wenn die Arbeiter- und Bauernmacht gestürzt wird», wie mir einmal ein Elternbeiratsvorsitzender offenherzig erklärte.

Das Merkwürdige war nun, daß alle diese Arbeiter ehren- oder verdiensthalber auch noch in Personalunion Intelligenz wurden. Sie nahmen ein Fernstudium an einer Universität auf, wurden zur Militärakademie «delegiert», kamen auf die Partei- oder Gewerkschafts­hochschule oder wurden in die Sowjetunion geschickt. Heraus kamen Arbeiterführer mit Bezeichnungen wie Diplomökonom, Diplomfinanzökonom, Staatswissenschaftler, Gesellschaftswissenschaftler. Sie bevölkerten alle Ebenen des Zentral­komitees, der Ministerien und der örtlichen Verwaltungen, schleppten Diplome, Doktor- und Professorentitel mit sich herum und waren gleichzeitig Intelligenz und Arbeiter und Bauern.

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Sie setzten die Interessen des Proletariats mit dem Begriffsapparat der Intelligenz durch. Die Bevor­mundeten protestierten halblaut, murrend. Die Proletarier sahen nicht ihre Interessen verteidigt, und die Intelligenz sah ihren Begriffsapparat verfälscht. Die Arbeiter fanden, daß ihre Interessen im Westen immer noch besser vertreten seien («Lieber dort Arbeitslosen­unterstützung in harter Westmark als hier für wertloses Papiergeld malochen!»), die Intelligenz meinte, daß ihre Kreativität durch Begriffs- und Aufgabenbürokratisierung so weit gelähmt würde, daß der Systemwettbewerb zwangsläufig verloren­gehen mußte. «Es kann gar nicht weit genug abwärts gehen, damit endlich Vernunft einkehrt!» Sie haben recht behalten, das System ist zusammengebrochen, mit ihm aber auch die wirtschaftliche Vitalität der betroffenen Länder.

Die Erweiterung des Intelligenzbegriffs war an ihre Grenzen gestoßen, als ein typischer Intelligenzler in der Sowjetunion die Macht ergriff, der Jurist Gorbatschow, und sich an die rational abgefederte Reform des entgleisten Systems machte. Die anderen Länder folgten zögernd, zuletzt auch die DDR, indem Erich Honecker vom Dachdecker mit tadellosem Proletarier­stammbaum schließlich wenigstens zum Ehrendoktor einer japanischen Universität ernannt wurde.

Nimmt man die Erweiterung des Intelligenzbegriffes weit über die Grenzen des alten «Akademikers» hinaus beim Wort, dann war die Intelligenz eine zahlenmäßig außerordentlich starke und politisch einflußreiche Schicht. Es stehen sich nun zwei Grundthesen unversöhnlich gegenüber: Erstens, dieser ganze Intelligenzrummel war nur Staffage, sie waren keine Intelligenz, sondern Bürokraten und Funktionäre, die das Sozialprodukt verbraten konnten.

Daß sie sich die Schmuckfedern der Intelligenz zulegten, war Anmaßung und Frevel, und jedes ihrer ungebildeten Worte verriet das und beschmutzte den guten Namen des Standes. Zweitens, die Erweiterung ist der Tendenz nach berechtigt, die Intelligenz befand sich auf dem Wege zur Klassenmacht, die Funktionäre waren die Hegemonial­schicht der Intelligenz.

Ich bezweifle, daß ein Diskurs zwischen diesen Thesen entscheiden kann. Wir sollten sie einfach beide ansehen, ihre Konsequenzen ausdenken und urteilen, welchen Erklärungswert sie für die Vergangenheit haben und was aus ihnen für die Gegenwart und Zukunft folgt.

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