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2   Medien als Epistemologie  

 wikipedia Epistemologie - Erkenntnistheorie 

Postman-1985

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Ich möchte in diesem Buch zeigen, daß in Amerika ein tiefgreifender Medien-Metaphernwandel statt­ge­funden hat, der den Inhalt weiter Bereiche unseres öffentlichen Diskurses in gefährlichen Unsinn verkehrt hat. 

Damit ist klar, worin meine Aufgabe in den folgenden Kapiteln besteht. Ich muß zunächst darlegen, wodurch sich der öffentliche Diskurs unter der Vorherrschaft der Druckpresse von dem des heutigen Amerika unterscheidet, dadurch nämlich, daß er im allgemeinen kohärent, ernsthaft und rational geführt wurde; dann muß ich nach­zeichnen, wie dieser öffentliche Diskurs unter der Vorherrschaft des Fernsehens verkümmerte und unsinnig geworden ist. 

Um dem Mißverständnis vorzubeugen, ich wolle hier das alte elitär-akademische Klagelied über das im Fernsehen gesendete »dumme Zeug« anstimmen, sei vorweg klargestellt, daß mein Interesse der Epistemologie, nicht der Ästhetik oder der Literaturkritik gilt. Mir macht der Unsinn im Fernsehen genausoviel Spaß wie vielen meiner Zeitgenossen auch, und ich weiß sehr wohl, daß die Druckpresse genug davon hervor­gebracht hat, um den Grand Canyon bis zum Rande zu füllen. Das Fernsehen ist nicht alt genug, um sich in der Fabrikation von Unsinn mit der Druckpresse messen zu können.

Gegen das »dumme Zeug«, das im Fernsehen gesendet wird, habe ich nichts, es ist das beste am Fernsehen, und niemand und nichts wird dadurch ernstlich geschädigt. 

Schließlich messen wir eine Kultur nicht an den unverhüllten Trivialitäten, die sie hervorbringt, sondern an dem, was sie für bedeutsam erklärt. Hier liegt unser Problem, denn am trivialsten und daher am gefährlichsten ist das Fernsehen, wenn es sich anspruchsvoll gibt und sich als Vermittler bedeutsamer kultureller Botschaften präsentiert. Paradoxerweise verlangen Intellektuelle und Kritiker vom Fernsehen häufig genau dies. Der Fehler dieser Leute besteht darin, daß sie das Fernsehen nicht ernst genug nehmen. Denn wie die Druckpresse ist das Fernsehen nichts Geringeres als eine Philosophie der Rhetorik. Will man also ernsthaft über das Fernsehen sprechen, so muß man über seine Epistemologie sprechen. Alles andere bliebe vordergründig.

Die Epistemologie ist eine komplexe, einigermaßen undurchsichtige Wissenschaft, die sich mit den Ursprüngen und der Natur von Wissen und Erkenntnis beschäftigt. Für uns ist sie hier insofern wichtig, als sie sich für Wahrheits­definitionen interessiert und für die Quellen, denen solche Definitionen entspringen. Ich möchte nun zeigen, daß sich derartige Definitionen von Wahrheit zumindest teilweise aus dem Charakter der Kommunik­at­ions­medien herleiten, durch die Informationen übermittelt werden. Ich möchte den untergründigen Zusamm­en­hang zwischen unseren Medien und unseren Epistemologien untersuchen.

 

Was ich mit dem Titel dieses KapitelsMedien als Epistemologie — meine, läßt sich, glaube ich, mit einem Begriff anschaulicher machen, den Northrop Frye geprägt hat: mit dem Begriff der »Resonanz«. »Durch Resonanz«, so schreibt er, »gewinnt eine begrenzte, in einem bestimmten Kontext stehende Aussage universale Bedeutung.«1 Als Beispiel führt Frye zunächst den Ausdruck »die Früchte des Zorns« (the grapes of wrath) an, der zuerst bei Jesaja im Zusammenhang mit der Verkündung eines göttlichen Strafgerichts über die Edomiten anklingt. Aber längst, so fährt Frye fort, »hat sich dieser Ausdruck aus diesem Kontext gelöst und ist in viele neue Kontexte eingewandert*, die von der Würde des menschlichen Daseins zeugen und nicht bloß seine Niedertracht widerspiegeln«.2) 

*  Zum Beispiel in die von Julia Ward Howe geschriebene Battle Hymn of the American Republic: »Mine eyes have seen the glory of the coming of the Lord: / He is trampling out the vintage where the grapes of wrath are stored.« Man denke auch an den Roman von John Steinbeck aus dem Jahre 1939. [Anm. d. Übers.]

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Frye schränkt die Idee der Resonanz jedoch nicht auf bestimmte Redewendungen und Sätze ein. Auch Figuren in einem Theaterstück oder einer Geschichte — Hamlet etwa oder Lewis Carrolls Alice — können Resonanz haben. Gegenstände können Resonanz besitzen und Länder ebenfalls: »Die geringfügigsten Einzelheiten der Geographie zweier kleiner, in sich gespaltener Länder, Griechenlands und Israels, haben sich unserem Bewußtsein so tief eingeprägt, daß diese Länder zu einem Teil der Landkarte unserer imaginären Welt geworden sind, egal, ob wir sie jemals gesehen haben oder nicht.«3

Frye fragt nun nach der Quelle der Resonanz und kommt zu dem Schluß, daß ihre generative Kraft aus der Metapher erwächst — aus der Kraft eines Ausdrucks, eines Buches, einer Figur oder einer geschichtlichen Ära, eine Vielfalt von Einstellungen und Erfahrungen zusammenzufassen und ihnen Bedeutung einzupflanzen. Auf diese Weise wird Athen zu einer Metapher für intellektuelle Größe, wo immer wir solcher Größe begegnen; Hamlet wird zur Metapher grüblerischer Unentschlossenheit und Alices Streifzüge zur Metapher für die Suche nach Ordnung in einer Welt semantischen Unsinns.

Ich löse mich nun von Frye (der dagegen gewiß nichts einzuwenden hätte), halte jedoch an seinem Begriff fest. Jedes Kommunikations­medium, so behaupte ich, verfügt über Resonanz. Jedes Medium, gleichgültig, wie beschränkt der Kontext war, in dem es ursprünglich verwendet wurde, hat die Kraft, sich über diese Beschränkung hinweg in neue, unvermutete Kontexte auszudehnen. 

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Weil es uns bei der Organisierung unseres Denkens und der Integration unserer Erfahrungen in einer ganz bestimmten Weise lenkt, prägt es unser Bewußtsein und unsere gesellschaftlichen Institutionen auf mannigfaltige Weise. Zuweilen beeinflußt es unsere Vorstellungen von Frömmigkeit, Güte oder Schönheit. Und immer beeinflußt es die Art und Weise, wie wir unsere Vorstell­ungen von Wahrheit definieren und mit ihnen umgehen.

Wie das vor sich geht, wie die Perspektive eines Mediums — fühlbar, aber ungesehen — eine Kultur prägt, möchte ich an drei Beispielen erläutern, in denen es jeweils um das Sagen von Wahrheit geht.

Zunächst der Fall eines westafrikanischen Stammes, der über kein Schriftsystem verfügt, dessen reiche mündliche Überlieferung seinen Vorstellungen von bürgerlichem Recht jedoch eine bestimmte Form verliehen hat.4 Wenn ein Streit entsteht, kommen die Kläger zum Häuptling des Stammes und bringen ihre Beschwerden vor. Die Aufgabe des Häuptlings, der sich nicht auf geschriebenes Recht stützen kann, besteht nun darin, in seinem gewaltigen Fundus von Sprichwörtern und Redensarten eine zu finden, die auf die Situation paßt und beide Kläger gleichermaßen zufriedenstellt. Ist ihm das gelungen, so stimmen alle Beteiligten darin überein, daß der Gerechtigkeit Genüge getan und der Wahrheit ein Dienst erwiesen worden ist. 

Man erkennt sogleich, daß Jesus und andere biblische Gestalten im Grunde nicht anders verfuhren, wenn sie sich innerhalb einer im wesentlichen mündlichen Kultur sämtlicher Mittel der gesprochenen Sprache, darunter Gedächtnisstützen, formelhafte Wendungen und Gleichnisse, bedienten, um Wahrheit zu entdecken und zu offenbaren. Walter Ong weist daraufhin, daß Sprichwörter und Redensarten in einer mündlichen Kultur durchaus keine nebensächlichen Kunstgriffe sind, deren man sich nur gelegentlich bedient: »Sie sind ständig präsent. Sie bilden die Substanz des Denkens. Komplexeres Denken wäre ohne sie unmöglich, denn es besteht aus ihnen.«5

Wir stützen uns heute eigentlich nur dann noch auf Sprichwörter und Redensarten, wenn es darum geht, Streitigkeiten zwischen Kindern oder mit ihnen zu schlichten. »Wer hat, der hat«, »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst«, »Zuviel Eile schadet nur« — auf solche Wendungen greifen wir in den kleinen Krisen mit unseren Kindern zurück, aber es erschiene uns lächerlich, sie vor Gericht zu gebrauchen, wo über »ernsthafte« Fragen verhandelt wird. 

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Kann man sich vorstellen, daß einem Gerichtsdiener, der die Jury nach ihrer Entscheidung fragt, die Antwort zuteil wird: »Irren ist menschlich, aber vergeben ist göttlich«? Oder: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist«? Für einen Augenblick mag es den Richter belustigen, doch wenn nicht sogleich ein »ernsthafter« Spruch folgt, zieht sich die Jury womöglich ein härteres Urteil zu als mancher schuldige Angeklagte.

Richter, Anwälte und Angeklagte sehen in Sprichwörtern und Redensarten keine triftigen Antworten auf Rechtsstreitigkeiten. Was sie in diesem Punkt von dem Stammeshäuptling trennt, ist eine Medien-Metapher. Denn in einer Gerichtsverhandlung, die sich auf gedrucktes Material stützt, in der das Verfahren zur Wahrheitsfindung durch Gesetzbücher, Schriftsätze und die Berufung auf andere Gerichtsurteile definiert und organisiert wird, hat die mündliche Überlieferung viel von ihrer Resonanz verloren — freilich nicht alles. 

Zeugenaussagen sollen mündlich gemacht werden, weil man annimmt, daß das gesprochene Wort ein wahr­haftigeres Bild von Einstellung und Auffassung des Zeugen entwirft als das geschriebene. In vielen Gerichtssälen dürfen sich die Geschworenen nicht einmal Notizen machen, und sie erhalten auch keine Abschriften von den Ausführungen des Richters. Die Geschworenen sollen die Wahrheit oder ihr Gegenteil hören, nicht lesen. Man kann also sagen, daß in unserer Auffassung von rechtlicher Wahrheit zwei Resonanzen aufeinanderstoßen — ein Überbleibsel der alten Überzeugung, daß die gesprochene Sprache, und nur sie, Wahrheit zu übermitteln vermag, und ein starkes Vertrauen in das geschriebene und, vor allem, das gedruckte Wort. Diese letztere Überzeugung hat für Poesie, Sprichwörter, Redensarten, Gleichnisse und andere Formen mündlicher Weisheit wenig übrig. Gesetz ist, was Gesetzgeber und Richter geschrieben haben. In unserer Kultur brauchen Anwälte nicht weise sein: sie müssen sich in Gesetzen und Entscheidungen auskennen.

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Einem ähnlichen Paradoxon begegnet man an der Universität, wo das Verhältnis zwischen den verschiedenen Resonanzen ungefähr das gleiche ist, d.h. es haben sich einige Traditionen erhalten, die auf der Vorstellung beruhen, die gesprochene Sprache sei das Organ der Wahrheit, in der Hauptsache jedoch sind die akademischen Wahrheitsvorstellungen eng mit der Struktur und der Logik des gedruckten Wortes verknüpft. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich hier eine Episode schildern, die ich einmal bei einem noch heute vielfach praktizierten mittelalterlichen Ritual, bei der unter dem Namen »Rigorosum« bekannten mündlichen Doktorprüfung, erlebt habe. Das Wort »mittelalterlich« verwende ich hier nicht im übertragenen Sinne — im Mittelalter wurden Studenten nämlich immer mündlich examiniert, und man hat diese Tradition bewahrt, weil man für ausgemacht hält, daß ein Kandidat sachkundig über seine schriftliche Arbeit sprechen können muß. Aber in erster Linie kommt es auf die schriftliche Arbeit an.

*

In dem Fall, an den ich hier denke, wurde das Problem, welche Form eine wahre Aussage haben muß, wenn sie legitim sein soll, von den Beteiligten so klar herausgearbeitet, wie es nur selten geschieht. Der Kandidat hatte in seine Doktorarbeit als Nachweis für ein Zitat folgende Fußnote eingefügt: »Mündliche Mitteilung gegenüber dem Forscher am 18. Januar 1981 im Roosevelt Hotel, in Anwesenheit von Arthur Lingeman und Jerrald Gross.«

Dieser Nachweis erregte die Aufmerksamkeit von nicht weniger als vier der fünf Prüfer, die alle der Meinung waren, er sei keine geeignete Form des Belegs und solle durch einen Hinweis auf ein Buch oder einen Aufsatz ersetzt werden. »Sie sind kein Journalist«, meinte ein Professor, »Von Ihnen erwartet man Wissenschaftlichkeit.« 

Wohl deshalb, weil der Kandidat keine Publikation kannte, die das enthielt, was ihm im Roosevelt Hotel mündlich mitgeteilt worden war, verteidigte er sich energisch: Es gebe Zeugen für das Gesagte, sie stünden zur Verfügung, um die Korrektheit des Zitats zu bestätigen, und die Wahrheit eines Gedankens hänge ja wohl nicht von der Form ab, in der er mitgeteilt wird.

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Vom Schwung der eigenen Beredsamkeit mitgerissen, fuhr er fort, es gebe in seiner Dissertation mehr als dreihundert Hinweise auf veröffentlichte Arbeiten, und es sei höchst unwahrscheinlich, daß die Prüfer auch nur einen davon auf seine Korrektheit überprüfen würden — womit er die Frage aufwerfen wollte: Warum nehmen Sie an, daß ein durch Hinweis auf ein gedrucktes Werk belegtes Zitat korrekt ist, ein durch Hinweis auf eine mündliche Mitteilung belegtes hingegen nicht?

Er erhielt darauf etwa die folgende Antwort:

Sie irren sich, wenn Sie glauben, die Form, in der ein Gedanke mitgeteilt wird, sei für seinen Wahrheits­gehalt belanglos. In der akademischen Welt kommt dem veröffentlichten Wort ein höheres Ansehen und größere Glaubwürdig­keit zu als dem gesprochenen Wort.

Was die Leute sagen, hält man für weniger verbindlich als das, was sie schreiben. Man nimmt an, daß das geschriebene Wort von seinem Autor durchdacht und überarbeitet, daß es vor seiner Veröffentlichung von Fachautoritäten und Lektoren überprüft worden ist. Es läßt sich leichter verifizieren oder widerlegen, es gewinnt einen unpersönlichen, objektiven Charakter, und zweifellos haben Sie sich aus eben diesem Grund in Ihrer Anmerkung als »Forscher« bezeichnet, statt Ihren Namen zu nennen; mit anderen Worten, das geschriebene Wort richtet sich seinem Wesen nach an die Welt, nicht an einen Einzelnen.

Das geschriebene Wort überdauert, das gesprochene verschwindet, und deshalb steht das Schreiben der Wahrheit näher als das Sprechen. Im übrigen ist es Ihnen gewiß lieber, wenn diese Kommission Ihnen schriftlich bestätigt, daß Sie (falls es so sein sollte) Ihr Examen bestanden haben, und es nicht bei einer bloß mündlichen Mitteilung beläßt. Unsere schriftliche Bestätigung würde die »Wahrheit« repräsentieren; unsere mündliche Zustimmung wäre nur ein Gerücht.

 

Der Kandidat war so klug, sich zur Sache nicht weiter zu äußern. Er begnügte sich mit der Erklärung, er werde alle von der Kommission angeregten Veränderungen vornehmen und hege den tiefen Wunsch, daß, falls er das »Mündliche« bestehen sollte, dies durch ein schriftliches Dokument bestätigt werden möge. Er bestand tatsächlich, und bald wurden die entsprechenden Worte zu Papier gebracht.

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Ein drittes Beispiel für den Einfluß der Medien auf unsere Epistemologien bietet der Prozeß gegen den großen Sokrates. Zu Beginn seiner Verteidigungsrede vor den 500 Geschworenen entschuldigt sich Sokrates dafür, daß er keine Ansprache vorbereitet habe. Er erklärt seinen athenischen Mitbürgern, daß er ins Stocken geraten werde, er bittet sie, ihn deshalb nicht zu unterbrechen und ihn statt dessen für einen Fremden aus einer anderen Stadt anzusehen, und er verspricht ihnen, die Wahrheit zu sagen, ungeschminkt und ohne rhetorisches Beiwerk. 

So zu beginnen war für Sokrates gewiß charakteristisch, nicht jedoch für die Zeit, in der er lebte. Denn Sokrates wußte sehr genau, daß seine Mitbürger nicht der Ansicht waren, die Grundsätze der Rhetorik und der Ausdruck der Wahrheit hätten nichts miteinander zu tun. Uns Heutigen sagt das Plädoyer des Sokrates durchaus zu, weil wir gewohnt sind, in der Rhetorik nur eine meist hochtrabende, überflüssige Ausschmückung der Rede zu sehen. Aber für die Menschen, die sie erfanden, für die griechischen Sophisten des 5. vorchristlichen Jahrhunderts und ihre Erben, war die Rhetorik nicht nur Gelegenheit zu schauspiel­er­isch­en Darbietungen, sie war vielmehr ein nahezu unerläßliches Mittel, um Belege und Beweise in eine Ordnung zu bringen, das heißt, sie war ein Mittel zur Mitteilung von Wahrheit.6)

Sie war nicht nur ein zentrales Element in der Bildung der Athener (von weit größerer Bedeutung als die Philosophie), sondern auch eine Kunstform von hohem Rang. Für die Griechen war die Rhetorik eine Form gesprochener Schriftlichkeit. Zwar setzte sie stets den mündlichen Vortrag voraus, aber ihre Macht, Wahrheit zu offenbaren, beruhte auf der Macht der geschriebenen Worte, Argumente in einer geordneten Abfolge zur Geltung zu bringen. 

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Obwohl Platon (wie wir aufgrund der Verteidigungsrede des Sokrates vermuten dürfen) diese Wahrheits­auffassung in Zweifel zog, waren seine Zeitgenossen davon überzeugt, die Rhetorik sei das geeignete Mittel, um die »richtige Meinung« sowohl zu entdecken als auch zu artikulieren. Die Regeln der Rhetorik zu mißachten, die eigenen Gedanken aufs Geratewohl zur Sprache zu bringen, ohne richtige Betonung, ohne die angemessene Leidenschaftlichkeit, das wirkte wie ein Affront gegen die Intelligenz der Zuhörer und erregte den Verdacht der Lügenhaftigkeit. Deshalb können wir annehmen, daß viele der 280 Geschworenen, die Sokrates dann für schuldig befanden, dies deshalb taten, weil ihnen seine Verfahrens­weise mit Wahrhaftigkeit nicht vereinbar schien.

 

Mit diesem und den vorangegangenen Beispielen möchte ich verdeutlichen, daß Wahrheitsbegriffe jeweils sehr eng mit den Perspektiven bestimmter Ausdrucksformen verknüpft sind. Die Wahrheit kommt nicht ungeschminkt daher und ist niemals so dahergekommen. Sie muß in der ihr angemessenen Kleidung auftreten, sonst wird sie nicht anerkannt, mit anderen Worten: »Wahrheit« ist so etwas wie ein kulturelles Vorurteil. Jede Kultur beruht auf dem Grundsatz, daß sich die Wahrheit in bestimmten symbolischen Formen besonders glaubwürdig ausdrücken läßt, in Formen, die einer anderen Kultur möglicherweise trivial oder belanglos erscheinen. 

So meinten die Griechen in der Zeit des Aristoteles und die Gelehrten der folgenden zweitausend Jahre, die wissenschaftliche Wahrheit lasse sich am besten aufdecken und zum Ausdruck bringen, indem man die Natur der Dinge aus einer Reihe von evidenten Prämissen deduziert. Das erklärt, warum Aristoteles der Ansicht war, Frauen hätten weniger Zähne als Männer und bei Nordwind gezeugte Kinder seien besonders kräftig. Aristoteles war zweimal verheiratet, aber soweit wir wissen, kam er nie auf den Gedanken, eine seiner Frauen zu fragen, ob er einmal ihre Zähne zählen dürfe. Und was seine Ansichten von der Kinderheil­kunde angeht, so dürfen wir vermuten, daß ihm Fragebögen ebenso fremd waren wie die Verlockung, sich hinter irgendwelchen Vorhängen zu verstecken, um Beobachtungen anzustellen. 

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So etwas wäre ihm gewiß unfein und unnötig vorgekommen, denn auf diese Weise ließ sich die Wahrheit über die Dinge nicht erhärten. Die Sprache der deduktiven Logik bot einen sichereren Weg.

Wir sollten uns jedoch nicht vorschnell über die Vorurteile eines Aristoteles lustig machen. Wir haben genug eigene Vorurteile, man denke nur daran, wie wir Wahrheit mit Quantifizierung gleichsetzen. Mit diesem Vorurteil geraten wir in eine erstaunliche Nähe zu den mystischen Vorstellungen der Pythagoräer und ihrer Anhänger, die alles Leben der Herrschaft der Zahlen zu unterwerfen versuchten. 

Viele Psychologen, Soziologen, Ökonomen und andere Kabbalisten der neueren Zeit lassen sich die Wahrheit von ihren Zahlen sagen, und wenn diese stumm bleiben, stehen sie mit leeren Händen da. Könnte man sich einen modernen Ökonomen vorstellen, der uns Wahrheiten über unseren Lebensstandard mitteilt, indem er ein Gedicht rezitiert? Oder indem er uns erzählt, was ihm bei einem nächtlichen Spaziergang durch East St. Louis widerfahren ist? Oder indem er uns eine Reihe von Sprichwörtern und Gleichnissen zum besten gibt, angefangen bei dem vom reichen Mann, dem Kamel und dem Nadelöhr? 

Im ersten Fall würden wir seine Mitteilung für belanglos halten, im zweiten für rein anekdotisch und im dritten für kindisch. Und doch sind diese Sprachformen imstande, Wahrheiten über ökonomische Beziehungen sowie über alle möglichen anderen Beziehungen zum Ausdruck zu bringen, und von anderen Völkern sind sie zu diesem Zweck durchaus verwendet worden. Aber das moderne Denken, das in einer Resonanzbeziehung zu anders gearteten Medien-Metaphern steht, nimmt an, daß sich in der Wirtschaftswissenschaft Wahrheit am besten mit Hilfe von Zahlen ermitteln und vermitteln läßt. Vielleicht stimmt das ja sogar. Darüber will ich nicht streiten. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, daß die Formen, in denen man Wahrheit zum Ausdruck bringen kann, eine gewisse Beliebigkeit aufweisen. Erinnern wir uns daran, daß Galilei gesagt hat, die Sprache der Natur sei in Mathematik geschrieben, und nicht etwa alles

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Doch auch die Wahrheit über die Natur muß nicht unbedingt in mathematischer Form ausgedrückt werden. Über lange Perioden der menschlichen Geschichte war die Sprache der Natur die Sprache von Mythos und Ritual. Und diese Formen, so kann man hinzufügen, zeichneten sich jedenfalls dadurch aus, daß sie die Natur unbehelligt ließen und die Vorstellung unterstützten, daß die Menschen selbst ein Teil dieser Natur sind. Eine Menschheit, die bereitsteht, den Planeten in die Luft zu sprengen, hat wenig Grund, sich zu rühmen, sie habe die richtige Sprache, um über die Natur zu sprechen.

Hiermit möchte ich nicht etwa einem epistemologischen Relativismus das Wort reden. Manche Arten, Wahrheit zum Ausdruck zu bringen, sind besser als andere und üben daher auch einen heilsamen Einfluß auf die Kultur aus, die sie sich zu eigen macht. Außerdem möchte ich meine Leser ja gerade davon überzeugen, daß der Verfall einer auf dem Buchdruck basierenden Epistemologie und der damit einhergehende Aufstieg einer auf dem Fernsehen basierenden Epistemologie für das öffentliche Leben schwerwiegende Folgen gehabt haben und daß wir von Minute zu Minute dümmer werden. Deshalb muß ich hier ganz deutlich zeigen, daß die Wichtigkeit, die man bestimmten Formen, Wahrheiten zu sagen, beimißt, eine Funktion des Einflusses ist, den die Kommunikationsmedien ausüben. 

Der Satz »Sehen ist Überzeugtsein« nahm als epistemologisches Axiom stets einen hohen Rang ein, aber es gibt auch andere Axiome: »Sagen ist Überzeugtsein«, »Lesen ist Überzeugtsein«, »Zählen ist Überzeugtsein«, »Deduzieren ist Überzeugtsein«, »Empfinden ist Überzeugtsein« — und ihre Bedeutung innerhalb der verschiedenen Kulturen hat entsprechend dem Medienwandel, den diese Kulturen durchliefen, zu- oder abgenommen. Wenn eine Kultur den Schritt von der Mündlichkeit zur Schrift, von der Schrift zum Druck und schließlich zum Fernsehen tut, dann geraten auch ihre Vorstellungen von Wahrheit in Bewegung. Jede Philosophie ist die Philosophie einer Lebensphase, hat Nietzsche gesagt. 

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Und man könnte hinzufügen: Jede Epistemologie ist die Epistemologie einer Phase der Medienentwicklung. Wie die Zeit, so ist auch die Wahrheit das Produkt eines Gesprächs, das der Mensch mittels der von ihm erfundenen Kommunikationstechniken und über sie mit sich selbst führt.

Da Intelligenz überwiegend durch die Fähigkeit, Wahrheit zu erfassen, definiert wird, leitet sich das, was eine Kultur unter Intelligenz versteht, insbesondere aus der Beschaffenheit ihrer wichtigen Kommunikations­formen her. In einer rein mündlichen Kultur bringt man Intelligenz häufig in eine Verbindung mit dem Talent zur dramatischen Zuspitzung, mit der Fähigkeit, knappe, vielseitig anwendbare Redewendungen zu ersinnen. Der weise Salomon, so wird uns im ersten Buch der Könige berichtet, kannte 3000 Sprichwörter. In einer Buchdruck-Kultur hält man Leute mit einem solchen Talent für verschroben, wahrscheinlich sogar für wichtigtuerische Langweiler. In einer rein mündlichen Kultur wird der Fähigkeit, etwas im Gedächtnis zu behalten, stets ein hoher Wert beigemessen, denn wo es nichts Schriftliches gibt, muß das Erinnerungsvermögen die Funktion einer mobilen Bibliothek übernehmen. Zu vergessen, wie etwas gesagt oder getan werden muß, wäre eine Gefahr für die Gemeinschaft und eine eklatante Form von Dummheit. In einer Buchdruck-Kultur ist es allenfalls ehrenwert, aber nicht nötig, ein Gedicht, eine Speisekarte, eine Gesetzesvorschrift auswendig zu kennen — es gilt fast immer für funktional irrelevant und gewiß nicht als ein Zeichen hoher Intelligenz.

Der allgemeine Charakter der vom Buchdruck geprägten Intelligenz dürfte jedem, der dieses Buch liest, bekannt sein; eine einigermaßen präzise Vorstellung von ihr kann der Leser gewinnen. wenn er sich einmal klar macht, was von ihm verlangt wird, wenn er dieses Buch liest. Zunächst einmal wird von ihm verlangt, für längere Zeit mehr oder weniger regungslos zu verharren. Wenn er hierzu (über diesem oder einem anderen Buch) nicht imstande ist, dann wird ihn unsere Kultur irgendwo zwischen »hyperkinetisch« und »undiszipliniert« einordnen und ihm in jedem Fall eine bestimmte intellektuelle Insuifizienz attestieren. 

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Die Druckpresse stellt strenge Anforderungen nicht nur an unseren Intellekt, sondern ebenso an unseren Körper. Körperbeherrschung ist jedoch nur eine Minimalvoraussetzung. Man muß auch gelernt haben, die Form der einzelnen Buchstaben auf der Buchseite außer acht zu lassen. Man muß gleichsam durch sie hindurchsehen, um die Bedeutung der von ihnen gebildeten Wörter direkt zu erfassen. Wer sich bei der äußeren Gestalt der Buchstaben aufhielte, der wäre ein ganz und gar untauglicher Leser, und vermutlich würde man ihn für geistig beschränkt halten. Wenn man gelernt hat, Bedeutungen ohne ästhetische Ablenkung zu erfassen, muß man außerdem imstande sein, sich unvoreingenommen, objektiv zum Text zu stellen.  

Dazu gehört, daß man, wie es Bertrand Russell nennt, »Immunität gegen Beredsamkeit« entwickelt, also die Fähigkeit, zwischen der sinnlichen Freude an den Wörtern, ihrem Zauber, ihrem einnehmenden Tonfall (falls sie dergleichen besitzen) und der Logik der Argumentation zu unterscheiden. Gleichzeitig muß man in der Lage sein, am Tonfall der Sprache zu erkennen, welche Haltung der Autor zu seinem Thema und zum Leser einnimmt. Anders gesagt, man muß den Unterschied zwischen einem Witz und einem Argument begreifen. Und wenn man sich ein Urteil über ein Argument bildet, dann muß man fähig sein, mehreres gleichzeitig zu tun: Man muß das endgültige Urteil aufschieben, bis das Argument vollständig entfaltet ist; man muß Fragen im Kopf behalten, bis man geklärt hat, ob, wo und wann der Text sie beantwortet; man muß die eigenen einschlägigen Erfahrungen auf den Text anwenden und seine Behauptungen an ihnen überprüfen. Aber man muß auch imstande sein, jene Teile des eigenen Wissens und der eigenen Erfahrung zurückzustellen, die mit dem Gedankengang des Textes nichts zu tun haben. Und als Vorbereitung auf all dies muß man den Glauben an die Magie der Wörter überwunden und gelernt haben, sich in der Welt der Abstraktionen zurechtzufinden, denn es gibt in diesem Buch nur sehr wenige Wendungen und Sätze, die vom Leser verlangen, sich konkrete Bilder vorzustellen. 

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Von unintelligenten Leuten sagt man in einer vom Buchdruck geprägten Kultur häufig, man müsse ihnen »Bilder malen«, damit sie verstehen. Intelligenz bedeutet hier, daß man in der Sphäre der Begriffe und Verallgemeinerungen auch ohne Bilder auskommt.

Die Fähigkeit, dies alles und noch mehr zu leisten, bestimmt das Wesen von Intelligenz in einer Kultur, deren Wahrheits­vorstellungen sich um das gedruckte Wort gruppieren. In den nächsten beiden Kapiteln möchte ich zeigen, daß Amerika im 18. und 19. Jahrhundert ein solcher Ort war, eine Kultur, die sich — stärker vielleicht als jede andere vorher und nachher — am gedruckten Wort orientierte. In den danach folgenden Kapiteln will ich zeigen, daß sich unsere Vorstellungen von Wahrheit und Intelligenz im 20. Jahrhundert infolge der Verdrängung der alten durch neue Medien drastisch verändert haben.

Ich möchte die Probleme nicht mehr als nötig vereinfachen. Deshalb will ich dieses Kapitel mit drei Bemerkungen abschließen, die vielleicht geeignet sind, das eine oder andere Gegenargument zu entkräften, das sich der aufmerksame Leser womöglich schon zurechtgelegt hat.

Zunächst: Ich behaupte nicht, Veränderungen im Bereich der Medien führten zu Veränderungen in der Struktur des menschlichen Verstandes oder der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit. Es gibt Leute, die diese oder ähnlich lautende Thesen aufgestellt haben (z.B. Jerome Bruner, Jack Goody, Walter Ong, Marshall McLuhan, Julian Jaynes und Eric Havelock7). Ich meine zwar, daß sie recht haben, aber für meine Argumentation benötige ich ihre These nicht. Deshalb werde ich mich nicht mit Überlegungen belasten, ob beispielsweise die Angehörigen einer mündlichen Kultur im Sinne Piagets intellektuell weniger entwickelt sind als die Angehörigen einer Schriftkultur und ob die Menschen in einer Fernsehkultur intellektuell weniger entwickelt sind als die Angehörigen der beiden anderen Gruppen. 

Ich begnüge mich mit der Feststellung, daß ein wichtiges neuartiges Medium die Diskursstruktur verändert, und zwar indem es bestimmte Anwendungs­formen des Intellekts fördert, bestimmte Definitionen von Intelligenz und Weisheit bevorzugt und nach einer bestimmten Art von Inhalten verlangt — kurz, indem es neue Formen von Wahrheit und Wahrheits­äußerung hervorbringt. 

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Ich wiederhole, daß ich in dieser Frage kein Relativist bin, denn ich bin überzeugt davon, daß die vom Fernsehen erzeugte Epistemologie nicht nur der auf dem Buchdruck beruhenden unterlegen, sondern daß sie auch gefährlich und vernunftwidrig ist.

Ich bin, zweitens, der Auffassung, daß die epistemologische Verschiebung, die ich hier angedeutet habe und nun im Detail beschreiben werde, nicht jeden und nicht alles erfaßt hat. (und vielleicht auch nie erfassen wird). Während einige alte Medien (z.B. die Bilderschrift und illuminierte Handschriften) zusammen mit den von ihnen begünstigten Institutionen und Wahrnehmungs­gewohnheiten tatsächlich verschwinden, werden andere Formen des kommunikativen Austauschs stets erhalten bleiben, zum Beispiel Sprechen und Schreiben. Die Epistemologie neuer Austauschformen, etwa des Fernsehens, übt also keinen gänzlich unangefochtenen Einfluß aus.

Man kann die Situation folgendermaßen umreißen: Veränderungen in der symbolischen Umwelt gleichen Veränderungen in der natürlichen Umwelt; zuerst vollziehen sie sich schrittweise und additiv, doch dann ist plötzlich eine »kritische Masse« erreicht, wie es die Physiker nennen. Ein Fluß, der nach und nach immer stärker verschmutzt wurde, kippt plötzlich um und wird giftig; die meisten Fische gehen zugrunde; in ihm zu schwimmen wird gesundheitsschädlich. Aber auch jetzt sieht der Fluß womöglich noch genauso aus wie vorher, und noch immer kann man eine Kahnpartie auf ihm machen. Mit anderen Worten, selbst wenn alles Leben in ihm erloschen ist, verschwindet der Fluß doch nicht, und ebensowenig sämtliche Arten, wie man ihn nutzen kann. Sein Wert freilich ist stark beeinträchtigt, und sein verschlechterter Zustand wirkt sich auf seine gesamte Umgebung schädlich aus. So verhält es sich auch mit unserer symbolischen Umwelt. 

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Wir haben, wie ich glaube, insofern eine »kritische Masse« erreicht, als die elektronischen Medien den Charakter unserer symbolischen Umwelt entscheidend und unwiderruflich verändert haben.

 Wir gehören heute einer Kultur an, deren Informationen, deren Ideen und deren Epistemologie vom Fernsehen und nicht vom gedruckten Wort geformt werden. Gewiß, es gibt noch Leser, und es werden zahlreiche Bücher veröffentlicht, doch man bedient sich des Gedruckten und des Lesens nicht auf die gleiche Weise wie früher — nicht einmal in den Schulen, die man für die letzten Bastionen des gedruckten Wortes gehalten hat. Wer glaubt, Fernsehen und Buchdruck könnten nebeneinander bestehen, der täuscht sich, denn Koexistenz setzt ein Gleichgewicht der Kräfte voraus. Hier aber gibt es kein Kräftegleichgewicht. Der Buchdruck ist heute nur noch eine Restepistemologie, und er wird es bleiben, bis zu einem gewissen Grad gestützt vom Computer sowie von Zeitungen und Zeitschriften, die freilich der Fernsehmattscheibe immer ähnlicher werden. Ähnlich den Fischen, die in einem vergifteten Fluß überleben, und den Kahnfahrern, die auf ihm rudern, gibt es Menschen unter uns, deren Urteil und Verstand in starkem Maße von den älteren Medien geprägt worden sind und die sauberes Wasser noch gekannt haben.

Schließlich möchte ich darauf hinweisen, daß der Fluß in dem oben angestellten Vergleich im wesentlichen ein Sinnbild für den sogenannten öffentlichen Diskurs ist — für die politischen, religiösen, informationellen und kommerziellen Formen unseres Ausdrucks. Ich behaupte, daß eine auf dem Fernsehen beruhende Epistemologie die öffentliche Kommunikation und die sie umgebende Landschaft verschmutzt; ich behaupte nicht, daß sie alles verschmutzt. Man macht mich immer wieder darauf aufmerksam, welchen Wert das Fernsehen als Quelle der Zufriedenheit und des Vergnügens für alte und kranke Menschen und auch für alle jene besitzt, die allein in einem Hotelzimmer sitzen. Mir ist klar, daß das Fernsehen die Möglichkeit bieten könnte, ein Theater für die Massen zu schaffen (ein Thema, das man meiner Ansicht nach bisher nicht ernst genug bedacht hat).

Es gibt außerdem die These, selbst wenn das Fernsehen die Macht habe, den rationalen Diskurs zu unter­graben, so sei seine emotionale Macht doch so groß, daß es die öffentliche Meinung gegen den Vietnamkrieg oder gegen bösartige Versionen von Rassismus zu mobilisieren vermochte. Diese und andere Nutzanwendungen des Fernsehens darf man nicht leichtnehmen.

Es gibt noch einen weiteren Grund, warum ich mein Buch nicht als einen Generalangriff auf das Fernsehen verstanden wissen möchte. Wer sich in der Geschichte der Kommunikationstechniken ein wenig auskennt, weiß, daß jede neue Technik des Denkens Umschichtungen im Gefüge der vorhandenen Instrumente mit sich bringt. Sie gibt und sie nimmt, obschon nicht in einem ausgewogenen Verhältnis. Ein Medienwandel führt nicht unbedingt zu einem Gleichgewicht. Manchmal schafft er mehr, als er zerstört. Manchmal ist es umgekehrt. Mit Lob und Verdammungsurteilen müssen wir vorsichtig sein, denn die Zukunft hält vielleicht noch manche Überraschung für uns bereit. Die Erfindung der Druckpresse ist selbst ein gutes Beispiel hierfür. 

Der Buchdruck unterstützte die moderne Vorstellung von Individualität, zugleich zerstörte er den mittel­alter­lichen Sinn für Gemeinschaft und sozialen Zusammenhalt. Der Buchdruck brachte die Prosa hervor, zugleich verwandelte er die Poesie in eine exotische, nur einer Elite zugängliche Ausdrucksform. Der Buchdruck machte die moderne Naturwissenschaft möglich, zugleich erniedrigte er die Religiosität zu bloßem Aber­glauben. Der Buchdruck unterstützte die Entstehung des Nationalstaates, zugleich machte er aus dem Patriot­ismus eine verächtliche, wenn nicht gar todbringende Gefühlsregung.

Ich mache keinen Hehl aus meiner Ansicht, daß die vierhundertjährige Vorherrschaft des Buchdrucks weit mehr Nutzen gebracht als Schaden angerichtet hat. Die modernen Ideen vom Gebrauch des Verstandes sind überwiegend durch das gedruckte Wort geprägt worden, ebenso unsere Vorstellungen über Erziehung, Wissen, Wahrheit und Information. 

Ich werde nachzuweisen versuchen, daß in dem Augenblick, da der Buchdruck an die Peripherie unserer Kultur gedrängt wird und das Fernsehen seinen Platz im Zentrum einnimmt, die Ernsthaftigkeit, die Klarheit und vor allem der Wert des öffentlichen Diskurses in Verfall geraten. Dennoch muß man stets ein waches Auge für positive Anstöße aus anderen Richtungen haben.

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