Teil 1   

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49-85

Ungefähr zur selben Zeit des Jahres 1971 wird in Vancouver, Kanada, die Ehe zwischen der 26jährigen Deutschen Gabriele K. und dem Kanadier Clifford R. geschieden.

Es war absehbar, daß eine Ehe zwischen diesen beiden Menschen nicht gutgehen konnte. Vor zwei Jahren hatte man es ihnen schwarz auf weiß gegeben. In einem Gutachten wird ihnen dringend davon abgeraten, eine Ehe miteinander einzugehen, da der Mann unter paranoider Schizophrenie leide und die Frau schwer depressiv sei. Unter diesen Umständen könnten sie sich gegenseitig nicht helfen und auch nicht auffangen. Vielmehr werde einer den anderen mit in die Welt des Irrealen reißen, und dies bedeute für beide einen Fall ins Bodenlose.

Es war der Psychiater einer privaten Suchtklinik in Vancouver, der die junge Frau und den Mann damals zu sich gerufen hatte, um ihnen dieses Testergebnis mitzuteilen. Die Frau ist als medizinische Assistentin seit zwei Jahren seine Kollegin im Krankenhaus, der Mann ist im Laufe seiner langen Krankenkarriere als Patient hier gelandet. So haben sich die beiden kennengelernt. 

Daß sie schwere psychische Probleme hat, weiß Gabriele K. schon lange. Sie ist seit einem Jahr wieder in psychiatrischer Behandlung wegen ihrer Depressionen, nimmt Valium und Librium. Aber die junge Frau und der Mann geben ihre Hochzeitspläne dennoch nicht auf.

Gabriele K. lebt seit 1966 in Kanada. Sie hat hier perfekt Englisch gelernt und ihre Ausbildung zur medizinischen Assistentin mit Auszeichnung abgeschlossen. Ein Test, der Jahre später gemacht wird, bescheinigt ihr einen Intelligenzquotienten, der weit über dem Durchschnitt liegt. Aber sie leidet unter ihrer hohen, piepsigen Stimme. Oft fühlt sie sich von anderen wie ein Kind, manchmal wie eine Idiotin behandelt, was ihr ohnehin geringes Selbstbewußtsein noch mehr mindert.

Cliff war vor ihrer Ehe schon einmal verheiratet gewesen und hat zwei Kinder. Er arbeitete bis zum Ausbruch seiner Schizophrenie für den kanadischen Geheimdienst. Nach seiner Scheidung verlor er den Job und wurde frühpensioniert. Cliff ist ein sehr gutaussehender Mann mit schönen Händen und einer melodiösen Stimme. Wie viele Schizophrene ist er ein Mensch von überragender Intelligenz und Kreativität. Endlich hat Gabriele K. einen Menschen gefunden, der wie sie selber fernab der Wirklichkeit in seinen inneren Welten und Visionen lebt. Sie erkennt nicht, daß zwischen ihrer Wirklichkeitsflucht und seinem Wahnsinn ein großer Unterschied besteht und sie sich beide niemals begegnen können.

Ihr Zusammenleben wird zur Katastrophe. Cliff gibt das Geld, das sie verdient, für die unsinnigsten Sachen aus, so daß oft nicht einmal genügend für Miete und Essen übrigbleibt. Seine paranoide Wahnwelt nimmt ihn immer stärker gefangen. Bald fühlt sie sich der Situation nicht mehr gewachsen. Es wird ein Ende mit Schrecken.

Aber immer noch hilft ihr der Traum von Amerika. Seit ihrer Schulzeit hat sie von diesem Land geträumt und die Tage gezählt, bis sie kurz nach ihrer Volljährigkeit tatsächlich nach Kanada reiste, um für immer hierzubleiben. Die Mutter hatte bis zum Schluß nicht daran geglaubt, daß ihre kränkliche, leicht zu verstörende Tochter diesen Schritt auch wirklich wagt. Vor allem die Abtreibung nach ihrer Vergewaltigung wenige Wochen zuvor hat sie sehr mitgenommen. 

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Ihre Vision von einem Land, wo sie eine andere sein wird, eine fröhliche, unbeschwerte junge Frau, wo die anderen sich ganz anders zu ihr verhalten, verstärkte sich durch das schlimme Erlebnis nur um so mehr. Seit ihrer Jugend ist sie immer nur in amerikanische Männer verliebt gewesen. Jetzt will sie endlich ins Land ihrer Träume, und alles wird gut.

 

Gabriele K. ist eines jener Kinder, die den Krieg zwar nicht mehr bewußt miterlebt haben, aber alle seine Schrecken in sich tragen. Sie kommt als Siebenmonatskind zur Welt. Die Mutter, die sich zu jener Zeit auf dem Bauernhof ihrer Eltern in Oberschlesien aufhält, stürzt im Januar 1945 während eines Bombenalarms die Treppe zum Luftschutzkeller hinunter. Das löst die Geburt aus. Auf die Welt kommt ein unterentwickeltes kleines Geschöpf, für das man nichts Besseres tun kann, als es zum Schutz gegen den entsetzlich kalten Winter in Tierfelle einzunähen. Am 19. Januar marschieren die Russen in Oberschlesien ein. Vor allem unter den Frauen breitet sich Panik aus. Schon seit Wochen kursieren furchtbare Geschichten über die Greueltaten der einmarschierenden Truppen. 

Die Mutter und die Großmutter machen sich mit dem schwächlichen Säugling auf den Weg nach Berlin. Es ist eine Flucht auf Leben und Tod wie für viele andere. Die beiden Frauen bemalen sich mit Ruß, um schmutzig und häßlich auszusehen, nur ein geringer Schutz vor Vergewaltigung. Wenn sich russische Truppen auf ihrem Marsch über die Landstraße in Richtung Westen nähern, verstecken sie sich in den Wäldern und legen dem kränklichen Kind eine Decke aufs Gesicht, damit seine Schreie sie nicht verraten. Jahre später vermutet ein Arzt, das Kind sei dadurch in Panik geraten, und dies wäre die Ursache für die viel zu hohe Stimmlage, unter der Gabriele K. seit ihrer Kindheit leidet. Denn trotz vieler Untersuchungen wird man niemals eine organische Ursache dafür finden.

Die Frauen sind monatelang unterwegs, teils mit den letzten noch fahrenden Zügen, meist aber zu Fuß. Das Kind ist sterbenskrank. Irgendwann regt es sich nicht mehr, und man hält es für tot. Die Großmutter hebt mit einer Schaufel ein kleines Grab am Straßenrand aus. Als man es hineinlegen will, bemerkt man, daß es noch atmet. Abermals geht es weiter in Richtung Berlin, wo der Vater des Kindes stationiert ist. Sie erreichen die Stadt mit letzter Kraft. Das ist im August 1945.

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In der zertrümmerten, von den Alliierten besetzten Stadt macht sich die Mutter sofort auf die Suche nach ihrem Mann. Nach tagelangem Umherirren erfährt sie, daß er tot ist. Er war am 24. April in Berlin in russische Kriegsgefangenschaft geraten. Im Lager von Trebbin ist er wie viele seiner Mitgefangenen im Juli 1945 verhungert. Er hat sein Kind nie gesehen.

»Russe« wird zum größten Schreckenswort für die Tochter. »Die Russen haben meinen Vater umgebracht. Die Russen haben unsere Familie zerstört. Die Russen haben unseren Hof und unsere Heimat zerstört. Am Tod meines Vaters sind nur die Russen schuld.« Das ist die Schreckenslitanei ihres Lebens. Und der nie gekannte Vater wird zum Leitbild, zur Traumfigur. Später schreibt Gabriele K. in einem Lebenslauf: »Wenn mein Vater noch leben würde, dann wäre mein Leben vor allem innerlich total anders verlaufen. In meinem Vater hätte ich jemand gehabt, der mir innerlich ähnlich ist, der mich versteht und der mich beschützt.« Dem fernsten Menschen ihrer Kindheit fühlt sie sich am nächsten: »Mein Vater war ein Träumer. Er war kein real denkender Mensch, der verträumte sich immer. Ich habe viel von ihm und vermisse ihn wahnsinnig in meinem Leben. Es gibt so wenige Menschen, die so sind, die in einer anderen, inneren Welt leben.« Diesen Vater, ihr Alter ego, wird sie ihr ganzes Leben lang suchen, auch in jenem unglücklichen Cliff, der dann ihr erster Ehemann wurde.

 

Nachkriegszeit, Hunger, Krankheit. Mit drei Jahren bekommt sie Typhus, dann Lungenentzündung. Vier Monate lang behält man das Kind im Krankenhaus. Die Mutter, die früher beim Auswärtigen Amt angestellt war, arbeitet jetzt als Bürokraft für die französischen Besatzungstruppen. 1949 beginnt sie eine Lehrerausbildung, dann schult sie zur Heil-pädagogin um. Das Kind wächst bei den Großeltern auf. Dort fühlt es sich wohl, aber immer wieder fragt es nach dem Vater, weint, vermißt ihn. Sie betet, sie bettelt, er möchte zurückkommen. Wenigstens einen großen Bruder hätte sie gerne, der sie beschützen könnte an Stelle des Vaters.

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Gabriele K. ist ein schwieriges Kind. Verträumt, immer krank, immer isoliert. Man gibt sie in den Kindergarten, aber sie reagiert so verstört, daß die Großeltern sie wieder nach Hause nehmen. Als sie in die Schule kommt, wird sie von den anderen Kindern wegen ihrer hohen Stimme gehänselt. Sie sondert sich völlig ab, hat keinen Anschluß, keine Freundin. Die praktische, lebenstüchtige Mutter besteht darauf, daß die Tochter sich an allen schulischen Unternehmungen beteiligt. Sie hofft, das Kind werde dadurch zutraulicher, geselliger. Vergebens. Dabei ist sie sehr begabt und eine gute Schülerin. Mündlich beteiligt sie sich selten am Unterricht. Sie schweigt lieber, bevor die anderen lachen.

Als sie neun Jahre alt ist, hat die Mutter ihre Ausbildung beendet und bekommt eine Anstellung als Heilpädagogin. Sie nimmt die Tochter zu sich. Inzwischen lebt sie mit einem Mann zusammen, der 23 Jahre älter ist als sie und vier Töchter hat. Gabriele K. versteht sich weder mit dem Mann noch mit den Mädchen. Sie findet sie alle schöner als sich selbst, fühlt sich abgelehnt. Es ist kein guter Start für das neue Zusammenleben von Mutter und Tochter.

Gabriele K. besucht das Gymnasium, hat gute Zeugnisse. Aber sie ist unter ihren Mitschülerinnen nach wie vor isoliert, kapselt sich ab. Als sie dreizehn Jahre alt ist, treten schwere Depressionen bei ihr auf. Ein Jahr später unternimmt sie nach einem Streit mit der Mutter ihren ersten Selbstmordversuch. Sie hat Tabletten geschluckt, doch die Mutter findet sie noch rechtzeitig.

Gabriele K. ist ein hübsches Mädchen geworden und hat ihre ersten Flirts. Es sind immer junge Amerikaner, von denen sie sich angezogen fühlt. So entsteht ihr Zukunftstraum: Eines Tages will sie nach Amerika, sie glaubt, dort könne sie frei von allen Bedrängnissen und Ängsten leben.

Amerika, die Amerikaner: Das bleibt ihr großes Leitmotiv, bis sie sich Jahre später zum ersten Mal in einen deutschen Mann verliebt, der sich dann als Romeo entpuppen wird. Woher rührt diese Affinität zu Amerika? Ist der Schlüssel für diese Liebe in ihrem Haß auf die Russen zu finden, die sie stets nur als die Mörder ihres Vaters betrachten kann? Liebt sie die Amerikaner als die großen Antipoden der Sowjetunion, die die Vatermörder vielleicht eines Tages für immer vernichten werden?

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Der Traum von einer Auswanderung wird immer konkreter. Doch zuvor will sie studieren. Sie möchte Fachärztin für Psychiatrie werden. Als sie sich über diesen Berufsweg informieren will und um ein Gespräch mit einem Fachmann, mit dem Medizinprofessor Dr. K., nachsucht, rät der ihr sofort ab. Ein so hübsches Mädchen wie sie werde sicher heiraten, da sei so ein Studium die reine Verschwendung.

1964, ein Jahr vor dem Abitur, lernt sie während ihrer Schulferien den Amerikaner Peter D. kennen, der damals in der US-Botschaft in Bad Godesberg beschäftigt ist, wo sie übrigens zehn Jahre später unter schicksalhaften Umständen selbst arbeiten wird. Sie verloben sich, obwohl sie inzwischen weiß, daß er Alkoholiker ist. Nach einem halben Jahr löst der Mann die Verlobung mit der Begründung, sie sei ihm zu unerfahren. Sie ist tief verletzt.

Nach dem bestandenen Abitur kann sie sich nur schwer für einen Beruf entscheiden, sie weiß nicht recht, was sie will. Die Mutter dringt auf eine Berufsausbildung, und sie absolviert auf der Handelsschule eine Ausbildung zur Auslandskorrespondentin. Nach einem halben Jahr hat sie das Zertifikat in der Tasche. Amerika ist wieder ein Stück näher gerückt.

Doch zunächst arbeitet sie bei einer Dienststelle der amerikanischen Armee, denn ihre Englischkenntnisse sind ausgezeichnet. Hier lernt sie einen amerikanischen Offizier kennen, der sie eines Abends in die Oper und anschließend zu einer Party einlädt. Unter dem Vorwand, er müsse zuvor noch seine Galauniform anlegen, lockt er sie in seine Wohnung. Dort wird er zudringlich. Als sie sich wehrt, schlägt er sie nieder und vergewaltigt sie. Danach ruft er ein Taxi, bugsiert sie hinein und sagt dem Fahrer, sie sei betrunken, er solle sie nach Hause fahren.

Trotz ihres-Schocks wendet sie sich umgehend an die amerikanischen Militärbehörden. Sie will den Mann anzeigen. Als sie bei der Behörde vorstellig wird, um den Fall zu schildern, erntet sie bei den anwesenden Männern nur hämische, anzügliche Kommentare. Sie geht gedemütigt und hilflos davon.

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Die Vergewaltigung hat Folgen. Sie ist schwanger. Unter großen Mühen findet sie in Berlin einen Gynäkologen, der für viel Geld eine Abtreibung vornimmt. Es ist eine äußerst schmerzhafte und bedrückende Erfahrung für die junge Frau.

Amerika. Endlich Amerika. Im Mai 1966 fährt Gabriele K. mit dem Schiff nach Kanada. Dort geht sie zunächst nach Windsor, dann nach Ontario und schließlich nach Toronto. Hier arbeitet sie bei einer Versicherungsgesellschaft, aber sie hat vor, ein Abendstudium in Psychologie zu beginnen. Sie erlebt ihre erste große Liebe, ein junger, gutaussehender Physiker. Doch er ist verheiratet und hat drei Kinder. Sie trennt sich, wird krank und magert völlig ab.

1967 zieht sie nach Vancouver. Hier absolviert sie ihre Ausbildung zur medizinischen Assistentin, und zwar an jener Klinik, in der sie ihren ersten Mann Cliff kennenlernt.

Später wird sie sagen, er sei der einzige Mann in ihrem Leben gewesen, der sie um ihrer selbst willen geliebt habe. Zwanzig Jahre nach ihrer Scheidung macht sie sich von Deutschland aus auf die Suche nach ihm. Sie erfährt, daß er tot ist. Er hat einige Jahre zuvor Selbstmord begangen.

 

Nach der Scheidung von Cliff im Jahr 1971 findet Gabriele eine neue Anstellung in der Praxis eines Neurochirurgen und Psychiaters. Er ist Inder, hat aber die kanadische Staatsbürgerschaft. Der Mann scheint in sie verliebt, doch er ist launisch und aggressiv, fühlt sich oft wegen seiner Herkunft übervorteilt und verachtet. Als sie ihm sagt, daß sie gern ein Kind von ihm haben möchte, lehnt er mit der Bemerkung ab , in seinen Augen sei sie ein so großer geistiger Kretin, daß das Kind nur ebenso dumm werden könne, und so ein Geschöpfwürde er nicht einmal im Krankenhaus ansehen. Solche Ausfälle hat er oft ihr gegenüber, aber sie trennt sich dennoch nicht von dem Mann.

Im Frühjahr 1973 besucht sie ihre Mutter in Berlin. Seit Gabriele K. in Kanada ist, haben sich Mutter und Tochter einander angenähert, und beide freuen sich auf das Wiedersehen. Es soll nur ein Besuch werden. Gabriele K. hat in Kanada zwar schlimme Erfahrungen gemacht, dennoch will sie von ihrem Amerika-Traum nicht lassen und unbedingt wieder zurückkehren.

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Ein Berliner Bekannter rät ihr, bei dem Pharma-Unternehmen Schering weitere Berufserfahrungen zu sammeln, um sich noch besser für Kanada zu qualifizieren. Sie folgt dem Rat, bewirbt sich und bekommt eine Anstellung bei der Firma. Es soll nur vorübergehend sein, bis sie wieder nach Vancouver fährt. Sie will auf gar keinen Fall in Deutschland bleiben.

Doch genau das wird geschehen. Gabriele K. wird nie mehr nach Kanada zurückkehren.

 

 

8.

 

In jener Nacht Ende Mai 1973 schläft Gerda O. keine Sekunde lang. Am nächsten Tag wird sie das Signal geben, das ihr ganzes Leben verändern wird. Sie hat alles auf eine Karte gesetzt und weiß genau, daß ihre Entscheidung äußerst gefährlich ist und sie unter Umständen das Leben kosten kann.

Vor wenigen Stunden ist sie zum Hauptpostamt in Warschau gegangen, nicht ohne sich ständig zu vergewissern, daß niemand ihr folgt. Von dort aus hat sie Herbert Schröter in ihrer gemeinsamen Bonner Wohnung angerufen. Als er abhebt, sagt sie: »Hier ist Rita. Fahre sofort zu unseren Freunden Klaus und Horst. Ich komme auch. Hast du das verstanden? Es ist sehr wichtig, daß du das verstanden hast.« Dann legt sie auf.

Herbert ist ein Vollprofi, und sie weiß, er wird sofort reagieren, auch wenn er geschockt ist. Er wird alles verschwinden lassen, was auf ihre Tätigkeit hinweisen könnte. Er wird die Papiere verbrennen, die Entwicklungsutensilien vernichten, die Container und das Radio mit dem starken Kurzwellenbereich einpacken und dann auf dem schnellsten Weg flüchten.

In der Tat läuft in Bonn alles nach der Anweisung für solche Fälle. Herbert Schröter wirft die wenigen Sachen, die er mitnimmt, in aller Eile in den Kofferraum seines Renault R 16, fährt einige Kilometer, läßt den Wagen dann irgendwo am Straßenrand stehen und nimmt ein Taxi. Das bringt ihn zum Flughafen Düsseldorf, wo er unter falschem Namen mit einem falschen Paß für einen Flug nach Berlin-Tegel eincheckt.

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Dort nimmt er die S-Bahn und landet wohlbehalten in Ostberlin. Herbert Schröter hat mit seiner überstürzten Abreise wohlgetan. Denn bei den Namen »Klaus« und »Horst« schrillten bei ihm alle Alarmglocken. Im Klartext bedeutet diese schon vor Jahren zwischen ihnen verabredete Nachricht, die Gerda ihm aus Polen übermittelt hat: »Ich bin hochgegangen, bringe dich sofort in Sicherheit!«

All dies vergegenwärtigt sich Gerda O. in dieser Nacht. Das Telefonat war der erste Schritt in ein neues Leben, wenn sie es denn erleben wird. Denn wie oft hat man ihr Geschichten über Verräter erzählt, die liquidiert werden mußten, weil man keine Möglichkeit mehr sah, sie auf andere Art aufzuhalten. Auch jener ältere Kommunist mit der KZ-Vergangenheit hat das bei ihren Treffs in Ostberlin immer wieder einfließen lassen. Nicht drohend. Man hat ihr nie gedroht. Im Gegenteil. In vielen Gesprächen konnte sie offen mit ihm über ihre Zweifel an ihrer Tätigkeit, am Sozialismus reden. Er ist immer freundlich und verständnisvoll darauf eingegangen und hat ihre Bedenken zerstreut. Aber er hat dabei immer deutlich gemacht, daß man nicht zimperlich ist, wenn man Verräter in den eigenen Reihen entdeckt. Vielleicht wird man sie jetzt einfach auf offener Straße abknallen, irgendwo hier in Warschau, das dürfte noch leichter sein als in der Bundesrepublik. Daß sie Herbert nicht ans Messer liefern will und ihn deshalb rechtzeitig gewarnt hat, ist für sie eine Art Lebensversicherung. Denn er ist ein hochkarätiger, mit Ehrenmedaillen dutzendfach ausgezeichneter DDR-Agent, dessen Verrat sie früher oder später vielleicht hätte teuer bezahlen müssen. Außerdem hat sie neun Jahre ihres Lebens mit ihm verbracht, die letzten davon waren allerdings schrecklich gewesen. Aber sie will trotzdem nicht schuld daran sein, daß er jahrelang im Gefängnis sitzt, überhaupt will sie nie mehr einen Menschen verraten. Sie will endlich aussteigen, mit allen Konsequenzen.

Als sie am nächsten Morgen ihre Wohnung verläßt und durch die Straßen von Warschau geht, ist sie auf dem Weg zu einer Verabredung. Jetzt steht der zweite und entscheidende Schritt ihres Planes bevor - ihre Offenbarung. Sie kann nur

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hoffen, daß sie sich nicht in dem Mann getäuscht hat, dem sie sich jetzt preisgeben will: dem Auslandskorrespondenten Werner T., den sie vor einigen Wochen in der Botschaft kennengelernt hat und mit dem sie inzwischen eine Beziehung eingegangen ist. Viele, die in der Botschaft ein- und ausgehen, arbeiten für den Bundesnachrichtendienst. Sie kennt die meisten und kann nur hoffen, daß ihre Intuition sie nicht täuscht und Werner T. wirklich nicht zu ihnen gehört, sonst kann ihr Bekenntnis zu einem Bumerang werden. Sie hat sich mit ihm zu einem langen Spaziergang verabredet, denn die Wohnungen sind alle verwanzt. Und dann wird sie reden.

Gerda O. ist 29 Jahre alt, acht davon hat sie ein Doppelleben geführt. Ab 1965 spionierte sie im Bonner Auswärtigen Amt, seit einem Jahr liefert sie - wenn auch nur noch halbherzig - Material aus der deutschen Botschaft in Warschau. Nun soll endlich Schluß sein. Eines der schwierigsten Dinge, die vor ihr liegen: Sie muß ihre Alltagsschizophrenie, jene zweite Haut des Agenten, die sie sich so mühsam zugelegt hatte, wieder abstoßen.

Sich anders verhalten, als man fühlt, etwas anderes sagen, als man denkt, und sich bei jeder Bewegung vorstellen, wie man dabei auf andere wirkt, dieses Doppelleben hat auch die Beziehung zwischen ihr und Herbert Schröter vergiftet. Hinzu kam die völlige Isolation, in der sie aus Sicherheitsgründen leben mußten. Keine Freunde, keine Bekannten, jedes gesellige Leben wird ihr von der HVA-Zentrale streng untersagt. Nur sie beide und der Auftrag. Auch ein Kind darf sie nicht haben. Die Führungsoffiziere reagieren mit einem direkten Verbot, als sie von ihrem Kinderwunsch spricht. Sie müsse sich auf ihren Auftrag konzentrieren, da sei kein Platz für ein Kind. Und was würde aus ihm, wenn sie hochgehe?

Aber auch Herbert Schröter hadert mit der Situation. Gerda ist längst der Superstar unter den weiblichen Quellen, und ihn betrachtet man nicht mehr als ihren genialen Entdecker, sondern eher als Briefträger, der nur dazu da ist, das Spitzenmaterial, das sie beschafft, in den rollenden toten Briefkästen zu deponieren. Im gleichen Maß sinkt Gerdas Bewunderung für ihn. Sie kann ihm längst das Wasser reichen. Ihre Liebe zu ihm, anfangs die treibende Kraft ihrer Arbeit für den Ostberliner Geheimdienst, erlischt allmählich. Seinen Charme, seine politische und persönliche Dominanz empfindet sie von Tag zu Tag mehr als reine Fassade, hinter der wenig Substanz steckt.

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Hochzeit von Gerda O.
und Herbert Schröter 
in Bonn, 1968 

In einer konspirativen Beziehung gibt es keine Privatsphäre. Den Führungsoffizieren bleiben diese Konflikte nicht verborgen. Sie legen dem Instrukteur Herbert Schröter nahe, Gerda zu heiraten. Vielleicht könne das ihre Gefühle zu ihm wieder stabilisieren. Er macht ihr einen Antrag, sie nimmt an. Vielleicht hofft auch sie, daß eine Ehe etwas an ihrer ausweglosen Situation verändern wird.

Die Hochzeit findet 1968 auf dem Bonner Standesamt statt. Gerdas Eltern sind aus Bayern angereist und fungieren als Trauzeugen. Welchen Bund sie da in Wirklichkeit bezeugt haben, das erfahren die konservativen Eltern erst fünf Jahre später.

Gerda O. arbeitet inzwischen als Sekretärin an einer Schlüsselstelle beim Auswärtigen Amt. Doch quälen sie zunehmend Schuldgefühle. Sie will die Materiallieferungen drosseln oder am liebsten eine geheim­dienstlich völlig uninteressante Stelle annehmen. Natürlich ist es für beides längst zu spät.

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Allmählich greifen beide immer öfter zum Alkohol. Die Ehe hat, wie sich schnell erweist, gar nichts geheilt. Es kommt zu handgreiflichen Auseinandersetzungen und wüsten Szenen. Ihr schwieriges Zusammenleben wird von den Führungsoffizieren scharf beobachtet, denn jeder Konflikt gefährdet ihre Sicherheit und damit das Weitersprudeln der wertvollen »Quelle« Gerda O.

An einen Befehl der Zentrale hält sich Herbert Schröter längst nicht mehr. Er unterhält Beziehungen zu anderen Frauen. Das verstößt absolut gegen die Regeln des Agentenlebens, denn durch seine Liebeleien gefährdet er Gerda. Sie erfährt von seinen Verhältnissen und ist wütend über seine Rücksichtslosigkeit. Wenn auch nur eine der Frauen einen kleinen Verdacht schöpft, können sie beide auffliegen. Eifersucht spielt bei Gerdas Empörung über ihren Ehemann keine Rolle mehr. Ihre innere Bindung an ihn ist längst zerstört. Trotzdem liefert sie immer noch regelmäßig Geheimmaterial aus dem Auswärtigen Amt. 

Eine Zeitlang kann ihre zunehmend stärker werdende politische Überzeugung ihre verlorene Liebe zu Herbert als Motivation für die Spionage ersetzen. Immer wichtiger wird ihr auch die Wertschätzung jenes älteren Offiziers, dessen Erinnerungen ans KZ sie so sehr erschüttert hatten und der schließlich — als Ersatz für den Romeo Schröter — als väterliche Führungsfigur fungiert. Dennoch zweifelt sie immer stärker an ihrem Tun, an ihrem Verrat. Sie will keine Spionin mehr sein, nicht mehr jeden belügen und betrügen, auch nicht ihr Land, die Bundesrepublik. Sie will heraus aus ihrem Käfig voller Angst und Selbstkontrolle, aber auch aus der unerträglich gewordenen Verstrickung mit Herbert.

Sie will Abstand von ihm und meldet sich »zur Abordnung« in die USA, das heißt zu einem zeitlich befristeten Einsatz bei der deutschen Botschaft in Washington. Hier hat sie zwar Ruhe vor ihrem Mann, aber nicht vor Ostberlin. Auch aus der Botschaft schmuggelt sie Geheimmaterial und bringt es in ihrer Kosmetiktasche mit. Nach ihrer Rückkehr aus Washington geht es im alten Stil weiter. Sie will diesem Leben endgültig entrinnen.

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Gerda O.
1969

 

1972 bewirbt sie sich ohne jede Rücksprache mit Herbert oder ihren Führungsoffizieren um eine Versetzung an die deutsche Botschaft nach Warschau und bekommt die Stelle auch. In der Zentrale ist der Teufel los über soviel Eigenmächtigkeit und über die Aufgabe ihrer Spitzenposition im Auswärtigen Amt. Ostberlin verbietet ihr den Wechsel in aller Form. »Du gehst nicht nach Polen«, sagen ihre Führungsoffiziere, »Polen ist das schlechteste Beispiel für den Sozialismus, da lassen wir dich nicht hin!«

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Dieses Verbot resultiert aus dem Mißtrauen der DDR gegen den sozialistischen Nachbarn Polen, dessen historisch tief verwurzelten Russenhaß man kennt. Gerdas Ostberliner Führungsstelle fürchtet vermutlich, sie könnte von dieser polnischen Grundaversion gegen die große Sowjetmacht angesteckt und »politisch aufgeweicht« werden. Aber Gerda schert sich keinen Deut um dieses Verbot. Im Oktober 1972 übersiedelt sie nach Warschau.

 

Der Anfang in der polnischen Hauptstadt ist hart für Gerda O. Sie kennt keinen Menschen und lebt völlig isoliert. Da Herbert Schröter in Deutschland geblieben ist, schickt man ihr einen anderen Verbindungsmann, der als Kurier fungieren soll. Sie kann ihn nicht ausstehen. In der Botschaft hat sie als Sekretärin die Kontrolle über alle eingehenden Telegramme. Kein uninteressantes Material. Warschau ist ein wichtiger Ort für Nachrichtendienste. Polen ist in dieser Zeit ein Gradmesser für die Entspannungspolitik zwischen Ost und West, und hier zeigen sich meist schärfer als in den anderen sozialistischen Bruderländern dissidente Strömungen.

Nach kurzer Zeit bietet man Gerda O. den Posten einer Sekretärin des Botschafters an. Das wäre ein Fressen für ihre ostdeutschen Abnehmer. Aber Gerda O. lehnt den Job ohne Rücksprache mit Ostberlin ab. Sie weiß, an einer solchen Stelle käme sie an sehr brisantes Material, gewänne auch Einblick in die privaten Belange des Botschafters. Man würde sie zu zwingen versuchen, all dieses Wissen preiszugeben. Sie hat jedoch innerlich längst das Rückzugsgefecht angetreten, und je weniger sie weiß, desto weniger kann sie verraten. Was sie nicht weiß: Noch zwei Jahre zuvor saß auf dem Posten, den sie soeben abgelehnt hat, eine Frau, die - ebenfalls als Romeo-Opfer - den gesamten Kontext der bundesdeutschen Verhandlungsposition bei den deutsch-polnischen Verträgen verraten hatte. Aber davon an anderer Stelle.

Gerda O. versucht nun monatelang, die HVA mit halbherzig besorgten Informationen hinzuhalten.

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Anfang März 1973 — in Deutschland ist Karneval — veranstaltet die Botschaft in Warschau ein Fest für ihre Angestellten. Verkleidung ist erwünscht. Gerda erscheint als Gaucho. Es wird ein feuchtfröhliches Fest. An diesem Abend lernt sie den Mann kennen, ohne den sie den Ausstieg vermutlich nicht geschafft hätte: den Journalisten Werner T. (Markus Wolf wird später in seinem Buch »Spionagechef im geheimen Krieg« behaupten, bei Werner T. hätte es sich »um einen getarnten Agenten des BND« gehandelt.) In kurzer Zeit sind sie ein Paar. Sie entwickelt schnell ein tiefes Zutrauen zu ihm. Nervlich ist Gerda inzwischen in äußerst schlechter Verfassung. Ihre Kolleginnen reden schon darüber. Sie vermuten allerdings, daß Gerda Eheprobleme hat.

 

Ostern kommt Herbert Schröter zu Besuch nach Warschau. Ihre Begegnung ist eine Katastrophe. Beide beschließen: Jetzt ist es genug. Sie werden sich scheiden lassen. Die Zentrale wird informiert. Kurze Zeit darauf erhält Gerda in Warschau Besuch von einer Abordnung ihrer HVA-Führungs-offiziere, die ihr in aller Form die Scheidungsgenehmigung der Ostberliner Genossen überbringt. Gerda O. reagiert wütend. Sie pfeife auf diese Genehmigung. Wenn sie sich scheiden lassen wolle, dann tue sie das auch und frage nach keiner Genehmigung. Die HVA-Abgesandten übermitteln ihr bei ihrem Besuch auch eine Einladung: Gerda habe die Ehre, zu Pfingsten 1973 in Prag den »General« kennenlernen zu dürfen, vermutlich also den HVA-Chef Markus Wolf persönlich. Offenbar ein Schachzug, um die jetzt führungslose Frau neu zu motivieren. Aber es ist zu spät. Sie hat sich entschieden: Sie wird sich stellen. Ihr drohen vielleicht zehn Jahre Gefängnis. Doch davor fürchtet sie sich nicht mehr.

In ihren Augen kann etwas viel Schlimmeres passieren, wenn sie sich den bundesdeutschen Behörden offenbart: Möglicherweise wird der Bundesnachrichtendienst nach ihrem Geständnis versuchen, sie zu zwingen, als Doppelagentin zu arbeiten, also scheinbar weiter für die DDR zu spionieren, aber immer in Absprache mit dem westdeutschen Geheimdienst. Sie weiß, daß sie nicht die erste wäre, der das passiert. Damit käme sie vom Regen in die Traufe. Sie will nicht am Ende für zwei Geheimdienste arbeiten, sondern für gar keinen mehr.

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Bei ihrem Ausstieg kann ihr nur einer helfen: Werner T. Sie hofft, daß er kein BND-Agent ist, der lediglich den Auftrag hat, sie zu einem Geständnis zu verlocken, damit man sie dann »umdrehen« kann. Daß der Mann also keine Art »Gegen-Romeo« von westdeutscher Seite ist. Ein hohes Risiko. Doch Gerda O. setzt alles auf eine Karte und vertraut sich Werner T. an jenem Tag Ende Mai 1973 bei einem langen Spaziergang am Stadtrand von Warschau an. Sie hat sich nicht in ihm getäuscht. Auch wenn Werner T. kein BND-Mitarbeiter ist, so weiß er doch genau, was zu tun ist. Er bringt sie sofort auf das bundesdeutsche Botschaftsgelände, damit sie vor möglichen Aktionen des DDR-Geheimdienstes sicher ist, denn in Ostberlin weiß man inzwischen vielleicht, daß sie keineswegs enttarnt worden ist, sondern sich stellen will. Dann rät er ihr, sich sofort dem Botschafter zu offenbaren. Sie tut es. Natürlich informiert der umgehend die deutschen Behörden.

Was nun folgt, ist ein Kapitel Geheimdiplomatie zwischen dem Botschafter und den zuständigen Stellen in der Bundesrepublik, vor allem aber ein Kabinettstückchen in puncto Verhandlungs­geschick von Werner T.

Über den Botschafter unterbreitet er folgendes Angebot: Entweder Gerda O., die ja in Polen nicht belangt werden kann und nach wie vor ein freier Mensch ist, fliegt nach Stockholm und wird dort bereit sein, einer Sicherungsgruppe aus Bonn Rede und Antwort zu stehen. Mehr aber auch nicht. Oder aber die deutschen Behörden garantieren Gerda O., sie nicht zu inhaftieren, wenn sie deutschen Boden betritt. Dann ist sie bereit, nach Bonn zu kommen, sich zu stellen und auszusagen. Sie einigen sich auf die zweite Möglichkeit.

Am 30. Mai 1973 macht sie sich in Begleitung von Werner T. auf den Weg zum Warschauer Flughafen. Es kommt noch einmal zu dramatischen Situationen. Im Flughafengebäude sieht sie plötzlich ihren Warschauer Kurier. Er gibt mit den Augen Zeichen, offenbar ein Angebot, umzukehren und in die DDR zu fliehen. Sie ignoriert ihn. Im Flugzeug ein weiterer Versuch. Ein Mann in polnischer Uniform hält ihr verstohlen einen amerikanischen Paß hin. Sie brauchte nur zuzugreifen und wäre in Freiheit. Sie schlägt auch dieses Angebot aus und kehrt nach Deutschland zurück.

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Während einer Reise nach Amsterdam 1974, 
ein Jahr, nachdem sie sich dem BKA gestellt hatte

Am Flughafen Köln/Bonn wird sie von BKA-Beamten in Empfang genommen. Aber sie bleibt auf freiem Fuß. Sie lebt wieder in ihrer Bonner Wohnung und wird monatelang täglich verhört. Sie zeigt sich äußerst kooperativ und gibt alles zu. Demnächst darf sie, bis der Prozeß beginnt, zu Werner T. nach Spanien ziehen, wo er lebt. Das Gericht hat die Erlaubnis dazu erteilt. Ein außerordentlicher Vertrauensbeweis, schließlich ist sie des Landesverrats angeklagt. Zwei Jahre später wird sie ihren neugeborenen Sohn in Armen halten.

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Vorher aber, im Sommer 1973, wird sie von Herbert Schröter in Ostberlin geschieden. Sie ist sicher, daß seine Karriere als Romeo endgültig beendet ist und daß sie nie wieder von ihm hören wird.

Darin sollte sie sich täuschen.

 

9.

 

Im August 1973 kommt in einem Mittelklassehotel in Burgas an der bulgarischen Schwarzmeerküste eine schöne, aber verhärmt wirkende junge Frau mit ihrer achtjährigen Tochter an. Sie haben zwei Wochen Übernachtung mit Frühstück gebucht. Es ist ein lebhaftes Familienhotel, Einzelreisende oder alleinstehende Mütter gibt es kaum. Die Mehrzahl der Touristen sind Deutsche. Die Gegend ist nicht nur schön, sondern für Deutsche auch außerordentlich preiswert. Die junge Frau sieht aus, als könne sie Erholung gut gebrauchen. Sie ist müde und erschöpft. Auch das kleine Mädchen wirkt traurig.

Am Abend im Speisesaal fällt das stille Mutter-Kind-Pärchen zwischen all den lebhaften Familienrunden auf. Sie spüren es beide und fühlen sich beobachtet und unwohl. Schon an diesem ersten Abend hat Karin S. das Gefühl, daß es ein großer Fehler war, mit dem Kind hier Urlaub zu machen. Sie hat ihre gesamten Rücklagen dafür ausgegeben, und wenn sie zurückkommt, wird der Kampf um ihren Lebensunterhalt wieder von vorn beginnen.

In den wenigen Stunden, die sie hier sind, hat das Kind beim Anblick all der Familien ständig gefragt, warum der Papi nicht auch bei ihnen ist, hat geweint und ist unglücklich. Es ist schlimmer als zu Hause.

Die Trennung von ihrem Mann dauert nun schon über zwei Jahre. Sie haben finanziell keinerlei Vereinbarung getroffen, und er gibt ihr nur unregelmäßig Geld. Doch sie fordert immer noch keine Entscheidung von ihm, ebensowenig zieht sie aber selber Konsequenzen.

Es geht ihr körperlich und psychisch immer schlechter.

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Peter F., für den sie nach wie vor Bänder abtippt und der regelmäßig vorbeikommt, hatte sie vor einigen Wochen gemahnt: So könne sie nicht weitermachen, sie würde noch krank dabei, und er sehe, wie sehr auch das Kind leide. Sie müsse sich erholen, endlich einmal Urlaub machen und neue Kräfte sammeln. Als sie sagt, daß sie kein Geld dafür habe, bietet Peter F. ihr einen Urlaubszuschuß an, außerdem einen Vorschuß auf künftige Arbeiten und rät ihr, ans Schwarze Meer nach Bulgarien zu fahren. Das sei äußerst preiswert und wunderschön. Direkt am Strand von Burgas gebe es gute Hotels, die sehr kin-der- und familienfreundlich seien. Karin S. hat noch niemals Urlaub im Ausland gemacht. Vielleicht wird das auch dem Kind guttun und der Beziehung zwischen ihnen beiden. Sie stimmt schließlich zu.

Im August 1973 fliegt Karin S. mit ihrer Tochter nach Bulgarien. In dieser ersten Nacht nach ihrer Ankunft beschließt sie, sich und dem Kind noch zwei Tage Zeit zu lassen und dann zu entscheiden, ob es nicht besser ist, den Urlaub abzubrechen. Am nächsten Morgen gehen sie zum Strand. Karin S. vergräbt sich in ein Buch und bemerkt deshalb erst nach einiger Zeit, daß Silke mit einem Mann Ball spielt. Als er sieht, daß sie ihn und die Tochter beobachtet, kommt er auf sie zu und stellt sich vor. Herbert Richter aus Berlin, von Beruf Brückenbauingenieur. Dann spielen sie zu dritt am Strand, und abends gehen sie zusammen essen. Das Kind ist begeistert von diesem »Ersatzvater«. Er ist charmant und zeigt warmherziges Interesse für die junge Frau und ihr Kind. Es stört sie nicht, daß er zwanzig Jahre älter, etwas untersetzt und kein sehr gutaussehender Mann ist. Sie fühlt sich sehr zu ihm hingezogen, als Frau bewundert und begehrt. Schon nach kurzer Zeit wird ihre Beziehung intim. In diesen zwei Wochen erlebt Karin S. eine tiefe Verwandlung. Ihr kaum noch vorhandenes Selbstvertrauen ist wieder erwacht, sie fühlt sich jung, schön und interessant. Und sie ist so verliebt wie noch nie.

Herbert Richter ist kein anderer als Herbert Schröter, HVA-Agent, Profi-Romeo und Noch-Ehemann von Gerda O. Es ist gerade zwölf Wochen her, daß er sich in letzter Sekunde in die DDR retten konnte, bevor Gerda O. sich in Warschau stellte.

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Seit Gerda O. vor den westdeutschen Behörden umfassend ausgesagt hat, auch was seine Person betrifft, ist er im Westen »verbrannt«. Aber auch von den östlichen Bruderländern aus läßt sich sehr gut operieren. Er ist gerade dabei, dies eindrucksvoll zu beweisen. Und die Schwarzmeerküste ist, wie man inzwischen weiß, ein ertragreiches Territorium für Spionage-Anwerbungen der einschlägigen Art.

Herbert Schröter ist auf sein neues Opfer glänzend vorbereitet. Peter F. hat gute Vorarbeit geleistet, und so kennt der Romeo die junge Frau in- und auswendig, bevor er sie zum ersten Mal gesehen hat. Er weiß Bescheid über ihren Familienhintergrund, ihre psychische Disposition, ihre auf den Vater fixierte kleine Tochter. Als erfahrener Romeo weiß er, daß die Kleine der beste Schlüssel zu dieser Frau ist. Sicher hat man auch einkalkuliert, daß das Familienhotel, zu dem ihr Peter F. geraten hat, für eine alleinstehende Mutter sehr deprimierend sein muß und daß sie dort ziemlich isoliert und ausgeschlossen sein wird.

Jedes Detail der Rechnung geht auf. Mag sein, daß sich Herbert Schröter besondere Mühe bei diesem neuen Einsatz gibt, denn sein Stern am Romeo-Himmel dürfte nach dem Debakel mit Gerda O. ziemlich tief gesunken sein. Und Karin S. ist eine sehr attraktive junge Frau, was nach der niederschmetternden Erfahrung mit Gerda sein angeschlagenes Selbstbewußtsein vielleicht wieder etwas hebt.

Es gelingt ihm, Karin S. in diesen vierzehn Tagen in jeder Beziehung eng an sich zu binden. Kurz bevor der Urlaub zu Ende geht, fragt er sie, ob sie ihn wiedersehen möchte. Natürlich will sie. Da sagt er ihr, daß er aus Ostberlin stamme und daß sie ihn deshalb dort besuchen müsse, wenn es ihr ernst sei mit dem Wiedersehen. Er könne als DDR-Bürger nicht in den Westen fahren. All das ist für Karin S. nebensächlich. Sie würde selbst nach Afrika fahren, um ihn zu sehen. Über die DDR weiß sie wenig, sie interessiert sich nicht für Politik. Für sie zählt nur noch eines: Sie will ihn, zu welchem Preis auch immer. Er hat gewonnen.

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Als sie nach Hamburg zurückkehrt, berichtet sie ihrem Mann umgehend von ihrer großen, neuen Liebe. Seine Reaktion erfüllt sie mit tiefer Genugtuung. Wenige Wochen später macht sie sich auf den Weg nach Ostberlin. Auf Herbert Schröters Weisung hin fliegt sie nach Berlin-Tempelhof und nimmt dann die S-Bahn zum Bahnhof Friedrichstraße. Dort holt Herbert Schröter sie ab. Sie wohnen im Hotel »Stadt Berlin«, und der Agent schenkt ihr alle Zärtlichkeiten und Aufmerksamkeiten, die sie sich nur wünschen kann. Am Abend gehen sie in die Bar des Hotels tanzen. Sie liegt im letzten Stockwerk des Gebäudes, und Karin S. ist entzückt vom Blick über die hell erleuchtete Stadt. Daß dieses Hotel eine Art Sperrgebiet für die ganz normalen DDR-Bürger ist, daß hier viele Stasi-Spitzel verkehren, ahnt sie natürlich nicht.

Bei diesem Besuch erzählt ihr Herbert Schröter, daß er noch verheiratet ist, die Scheidung aber kurz bevorstehe. Dagegen kann sie nichts sagen, sie ist schließlich selbst auch noch nicht frei. Aber das Wiedersehen erfüllt ansonsten alle ihre Hoffnungen.

Zwei Wochen später kommt sie erneut zu Besuch. Wieder wohnen sie im Hotel »Stadt Berlin«, und wieder gestaltet Herbert Schröter ihren Aufenthalt auf das schönste. Obwohl er so viel älter ist als sie, obwohl er nicht eigentlich attraktiv ist, sind es die erotischsten Nächte, die sie je erlebt hat. Bis auf ihren Mann hat sie bisher kaum sexuelle Erfahrungen gemacht. Nun lernt sie Dinge kennen, von denen sie bis dahin nichts ahnte. Der Agent setzt alle Mittel ein, die ihm als erfahrenem Mann zu Gebote stehen, um die junge Frau auch körperlich an sich zu binden. Seine Führungsoffiziere wissen, daß man sich dabei auf ihn verlassen kann.

In einer Nacht, nachdem sie sich geliebt haben, beginnt er ein Gespräch. Er müsse über etwas sehr Wichtiges mit ihr sprechen, sagt er. In Zukunft wird er immer diesen Moment nach der Liebe wählen, wenn die junge Frau besonders anschmiegsam ist, um sie zu bestimmten Dingen zu überreden, ihr Unangenehmes mitzuteilen. Aber das weiß sie jetzt noch nicht. In dieser Nacht gesteht er ihr, daß er nicht Richter, sondern Schröter heißt und daß er ein »Kundschafter für den Frieden« ist. Er tue dies aus voller Überzeugung, für eine Ideologie, die allein der Welt den dauerhaften Frieden bringen könne.

Die junge Frau ist sehr überrascht und auch schockiert.

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Aber dennoch imponiert es ihr, sie findet es sogar aufregend, ohne genau zu wissen, was es bedeutet, Agent zu sein, ein Agent der DDR obendrein. Er sei, fährt Herbert Schröter fort, nun in einer sehr schwierigen Lage. Seine Vorgesetzten machten ihm größte Schwierigkeiten wegen seiner Liebe zu einer West-Frau. Er sei Geheimnisträger und außerdem zu absolutem Gehorsam verpflichtet. Dabei liebe er sie über alles. Es gebe nur einen einzigen Weg, damit sie sich weiterhin sehen könnten. Sie müsse, das sei die Auflage seiner Vorgesetzten, auch für den Nachrichtendienst der DDR arbeiten. Aber er habe die felsenfeste Zusicherung seines Chefs, daß sie dies nur vorübergehend tun müsse, als Beweis ihrer Loyalität. Danach könne sie mit ihrer Tochter bald zu ihm in die DDR übersiedeln, sie würden heiraten und für immer zusammenbleiben.

Sie denkt nicht lange nach. Alles, was sie will, ist dieser Mann, und sie wird alles tun, was dafür notwendig ist. Was es bedeutet, für einen Geheimdienst zu arbeiten, weiß sie nicht. Aber sie fragt auch nicht danach. Am nächsten Morgen besucht sie ein sehr freundlicher Mann auf ihrem Hotelzimmer. Er beglückwünscht sie und Herbert zu ihrer Entscheidung, sagt, daß sie nun alle zu einer Familie gehörten. Er zieht ein Papier aus der Tasche. Es ist eine Verpflichtungserklärung für Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi. An diesem Morgen Anfang Oktober 1973 unterschreibt Karin S., daß sie in Zukunft für den Geheimdienst der DDR arbeiten und darüber strengstes Stillschweigen bewahren wird.

Ihr Deckname lautet »Inge«.

 

 

10.

 

An einem Abend im Januar 1975 machen sich Gabriele K. und ihre Freundin Eileen auf den Weg zu einer Tanzveranstaltung. Sie sind Kolleginnen, arbeiten bei Schering in Westberlin und sind Nachbarinnen in einem Haus mit firmeneigenen Wohnungen. Gabriele K. ist nicht glücklich, weder in der Firma noch in der Stadt. Sie will so bald wie möglich wieder nach Kanada zurück.

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Westberlin ist ihr zu hektisch, zu rauh, und außerdem ängstigt sie die Nähe zur DDR, zu den Russen. Die Furcht und den Haß auf die Kommunisten, auf die Mörder ihres Vaters, wie sie es sieht, wird sie ihr Leben lang nicht verlieren. Ein einziges Mal ist sie in der DDR gewesen, das war im Jahr 1957 in Begleitung der Mutter. Sie war zehn Jahre alt. Sie gingen in ein Cafe. Als die Mutter mit Westgeld bezahlen wollte, holte die Kassiererin die Volkspolizei, Die Mutter mußte mit zum Verhör, und die Polizisten warfen ihr vor, sie habe nicht genügend Respekt vor dem Staatssystem der DDR und seiner Währung. Dann wurden sie zurückgeschickt.

Gabriele K. besuchte die DDR nie wieder, nicht einmal Ostberlin. Aber natürlich fuhr sie unzählige Male an den unterirdischen, toten Bahnhöfen im Ostteil der Stadt vorbei, sah in der Dunkelheit die Volkspolizisten mit Maschinenpistolen stehen, an denen die Züge langsam vorbeirollten, und jedes Mal kroch die Angst in ihr hoch, sie würden sie verhaften.

Auch mit ihrer Arbeit bei Schering ist sie nicht zufrieden. Bei der Einstellung hatte man ihr eine exponierte Position versprochen, denn ihre Zeugnisse waren sehr gut. Aber nach kurzer Zeit sagt man ihr, wegen ihrer hohen, kindlichen Stimme müsse sie versetzt werden, und zwar auf einen Posten möglichst ohne Außenkontakte. In letzter Zeit hätten sich einige Anrufer beschwert, »daß man Kinder bei Schering arbeiten« lasse. Das verletzt sie tief. Nun arbeitet sie als Übersetzerin und Dolmetscherin in einer internationalen Forschungsgruppe der Firma, aber sie fühlt sich völlig überfordert. 10-Stunden-Arbeitstage sind keine Seltenheit, und sie nimmt zusätzlich oft noch Schreibarbeiten mit nach Hause, damit sie ihr Pensum erfüllt.

Seit Gabriele K. in Deutschland ist, haben ihre psychischen Probleme, ihre Depressionen wieder zugenommen. Sie steht oft unter Valium, und sie trinkt. Sie hat Heimweh nach Vancouver, fühlt sich in Deutschland verloren. Fast zehn Jahre hat sie dort gelebt und spricht inzwischen besser Englisch als Deutsch. Und doch findet sie den Absprung nicht. Oft setzt sie ein Datum für ihre Rückkehr fest, beantragt die nötigen Papiere bei der kanadischen Botschaft. Aber immer kommt etwas dazwischen. Meistens eine Krankheit. 

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Sie leidet unter starken Migräneanfällen, nimmt Librium, Codein-Tabletten, Schlafmittel. Hormonstörungen quälen sie, wegen ihrer Depressionen ist sie erneut in psychiatrischer Behandlung und bekommt weitere Psychopharmaka.

In dieser Zeit macht sie viele Männerbekanntschaften. Später wird sie einmal sagen, sie sei stets in der Hoffnung durchs Leben gelaufen, endlich den Mann zu finden, der die Vaterrolle für sie übernimmt. So geistern viele Männer durch ihr Leben, alles kurze, bedeutungslose Verhältnisse. Sie merkt, daß sie längst medikamentenabhängig geworden ist. Aus eigener Kraft macht sie einen Entzug, verzichtet auf sämtliche Tabletten, die sie viele Jahre eingenommen hat. Schwere Entzugserscheinungen, Nervosität, Krämpfe und Angstzustände sind die Folge. Sie versucht, mit Alkohol dagegen anzukämpfen. Ihr Traum vom Glück ist nach wie vor Amerika, eine Ehe mit einem amerikanischen Mann, ein Alltag ohne Angst.

An jenem Januarabend 1975, als sie mit ihrer Freundin Eileen zum Tanzen geht, lernt Gabriele K. den Frankfurter Sportarzt Dr. Werner Koch kennen, einen Mann, der etwa zwanzig Jahre älter als sie ist, aber sehr humorvoll und unterhaltsam. Sie verabreden sich einige Tage später, werden intim miteinander. Aber Dr. Koch dringt nicht oft darauf, mit Gabriele K. zu schlafen, obwohl sie sich regelmäßig sehen. Sie gehen miteinander essen oder zum Tanzen, außerdem kümmert er sich rührend um ihre Sorgen und ihre persönlichen Belange.

In dieser Zeit hat sie ein kurzes Verhältnis mit einem anderen Mann und wird schwanger. Es wird ihre dritte und schmerzhafteste Abtreibung. Sie erleidet einen hohen Blutverlust und ist sehr krank. Dr. Koch erfährt davon. Er besucht sie, pflegt und tröstet sie wie ein Vater.

Natürlich ist Dr. Werner Koch weder Doktor noch Sportarzt aus Frankfurt am Main. Der IM Werner Koch ist Sportlehrer aus Rostock und von seinem Führungsoffizier Kurt Zeichner alias Kurt Wieland, Abteilung XI der HVA, nach Westberlin geschickt worden, um Ausschau nach »operativem Ausgangsmaterial« zu halten. Er hat sich schon oft als »Werber« bewährt. Ein wichtiges Arbeitsfeld bei diesem Job sind Tanzveranstaltungen, wo man problemlos einsame, liebesbedürftige Frauen kennenlernen und daraufhin prüfen kann, ob sie »perspektivisch vielversprechend« sind. 

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Gabriele K., das meldet der IM umgehend an seinen Führungsoffizier, scheint außerordentlich vielversprechend. Denn der Abteilung XI unterliegt seit 1970 die Ausforschung der Missionen der USA in Bonn und Westberlin, und die junge Frau mit ihren hervorragenden Sprachkenntnissen und ihrem Faible für Amerika ist goldrichtig. Auch psychologisch wird man sehr gut mit ihr umgehen können. Sie ist labil und leicht beeinflußbar.

Über eines jedoch sind sich der IM und sein Führungsoffizier einig: Mit politischen Argumenten wird man Gabriele K. nicht beikommen. Dieser jungen Frau gegenüber muß ein künftiger Romeo unbedingt unter »fremder Flagge« reisen. Bei ihrem Kommunistenhaß ist es wenig aussichtsreich, sie offen als Informantin des MfS zu werben.

Doch bevor Dr. Koch gezielt auf ihre Berufspläne Einfluß nehmen kann, wendet sich das Blatt ganz überraschend von selbst. Sie plant einen Umzug nach Bonn, bevor sie dann endgültig nach Kanada zurückkehren will, und sie möchte sich dort einen Job bei der kanadischen oder der amerikanischen Botschaft suchen. Die Idee stammt von ihrer Mutter, die sieht, wie unglücklich ihre Tochter in Westberlin ist. Sie rät ihr, nach Westdeutschland zu gehen, wo sie sich vielleicht wohler fühlen wird. Dort soll sie sich eine Arbeit suchen und die Probleme mit ihrem Kiefer und ihren Zähnen, die sie seit längerem quälen, endlich beheben lassen, zumal sie in Kanada die Kosten für die langwierige, teure Behandlung selbst übernehmen müßte.

Ihre Bewerbung bei der amerikanischen Botschaft wird angenommen, und sie beginnt am 2. Juli 1975 ihre Arbeit als Übersetzerin in einer Abteilung, die sich um die Zusammenarbeit zwischen den USA und der Bundesrepublik in Sachen Aus- und Aufrüstung und um Heeresangelegenheiten beider Länder kümmert.

Dr. Koch hält die Beziehung weiter aufrecht. Manchmal unternehmen sie Wochenendreisen zusammen. Einmal fahren sie gemeinsam an den Vierwaldstätter See, wo er ihr ein schönes Grundstück direkt am Ufer zeigt, das er sein eigen nennt. 

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Er sagt, daß er sich hier demnächst ein Haus bauen und sich zur Ruhe setzen wolle. Aber Gabriele K. verliert das Interesse an ihm. Er ist ihr zu extrovertiert, zu laut und zu lustig. Wohin sie auch kommen, er will immer Mittelpunkt und Stimmungskanone sein. Sie steht dann am Rande, und er kümmert sich nicht mehr um sie. Schließlich beendet sie die Verbindung.

Sonst gleicht ihr Leben dem in Berlin. Wechselnde Männerbekanntschaften, psychische Abstürze. Wieder sucht sie Hilfe bei einem Psychiater, aber durch Zufall erhält die Botschaft Kenntnis davon und fordert sie auf, entweder ihren Posten aufzugeben oder die Therapie. Denn als Mitarbeiterin in einem militärischen Sicherheitsbereich könne sie leicht erpreßt werden, wenn bekannt würde, daß sie psychisch behandlungsbedürftig sei. Sie bricht die Behandlung ab. Ihre Mutter kommt aus Berlin, wohnt eine Zeitlang bei ihr und versucht, sie wieder aufzubauen. Noch immer ist Kanada ihr ersehntes Ziel.

Gabriele K. entschließt sich zu einer Sterilisation. Die Pille verträgt sie nicht. Sie ist jetzt 32 Jahre alt, hat drei Abtreibungen hinter sich, und sie weiß, daß sie sich immer wieder mit Männern einlassen wird. Die Sterilisation läßt sie an der Uni-Klinik Bonn vornehmen. Später schreibt sie in einem Lebenslauf: »Ich wollte keine Kinder, da ich selbst ein Kind bin und für den Mann wie ein Kind sein wollte. Ein anderes Kind würde nur stören.«

Doch auch nach der Trennung Gabrieles von Dr. Koch hat die HVA ihre »perspektivische Quelle« nicht vergessen. Die Vorbereitungen laufen längst auf Hochtouren. Der Plan steht fest. Schritt eins: Agent Berthold Becker, dessen Identität bis heute unbekannt ist, erhält den Auftrag, die unverfängliche Bekanntschaft mit Gabriele K. zu suchen und zu pflegen. Mehr zunächst nicht. Ende September 1976 gelingt ihm das auf eine etwas merkwürdige, aber wirksame Art vor jenem Kölner Juweliergeschäft, dessen Auslagen Gabriele K. studiert. Sie sucht ein Geburtstagsgeschenk für ihren derzeitigen Freund, einen Amerikaner, von dem sie fest glaubt, daß er sie liebt und daß er ihr Ehemann werden wird. Mit ihm will sie dann nach Amerika zurückkehren.

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Daß IM Becker, der auch vor diesem Schaufenster steht, nun einfach anfängt, vor sich hin zu sprechen, von einer Mexiko-Reise erzählt, von der er einer Freundin für 1000 Mark Schmuck mitgebracht habe und sie dennoch nicht zum Bleiben überreden konnte, daß Gabriele K. sich dann umdreht und tatsächlich in ein Gespräch mit ihm verwickeln läßt, mag nicht gerade ein Lehrbeispiel für konspirative Kontaktaufnahme sein. Aber es funktioniert. Becker ist die Vorhut für den späteren Auftritt des wahren Romeo. Dann und wann sehen sie sich, doch Becker ist ein Alkoholiker, der diesen Auftrag nur mit Mühe erfüllt und froh sein kann, daß die »perspektivische Quelle« Mitleid mit ihm hat und sich überwindet, ihn wenigstens ab und zu zu treffen.

Das katastrophische Leben der Gabriele K. geht unterdessen weiter. Der Amerikaner, den sie demnächst zu heiraten hoffte, betrügt sie seit langem, wie sie jetzt erfährt. Sie trennt sich, wird krank. Im Frühsommer 1977 gibt sie in einer auch in Deutschland erscheinenden amerikanischen Zeitung eine Heiratsannonce auf. Sie sucht einen amerikanischen oder kanadischen Ehemann, mit dem sie dann in den USA oder in Kanada leben will. Es melden sich 44 Kandidaten, und sie lernt viele davon kennen. In Kürze will sie ihre Wahl treffen.

Jetzt ist in Ostberlin höchster Handlungsbedarf angesagt. Die Zeit drängt. Man hat inzwischen einen brauchbaren Romeo gefunden. Er ist wohlinformiert und einsatzbereit.

Es handelt sich um Dr. Rudolf Hack. Bei der HVA wird er unter dem Decknamen »Dahmer« geführt. Aparterweise hat er vor wenigen Wochen, kurz vor seinem Romeo-Einsatz bei Gabriele K., in der DDR ein zweites Mal geheiratet. Später wird er aussagen, daß seine Ehefrau nichts von seinem Einsatz wußte, den er immerhin über sieben Jahre ausübte. Das kann man sich durchaus vorstellen. Kurz vor seinem Tod wird er auch aussagen, er sei zu diesem Einsatz mehr oder weniger erpreßt worden. 1974 habe man ihn nämlich beim Versuch der »Republikflucht« ertappt. Nun, drei Jahre später, sei das MfS auf ihn zugekommen und habe ihm nahegelegt, sich durch einen IM-Einsatz in Westdeutschland zu rehabilitieren, zu beweisen, daß er etwas für den Staat zu tun bereit sei.

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Es ist sehr unwahrscheinlich, daß das MfS einem so unsicheren Kantonisten nun auch noch einen Freifahrt­schein in den Westen gegeben und ihn obendrein mit einem brisanten Auftrag versehen hätte, an dessen Kenntnis das Bundesamt für Verfassungsschutz äußerst interessiert gewesen wäre und sich einem möglichen Informanten oder Überläufer gegenüber erkenntlich gezeigt hätte. Die Version, zu diesem Einsatz gezwungen worden zu sein, kann man getrost als reine Schutzbehauptung betrachten. Denn diese Aussage machte er im Jahr 1991, nachdem er und seine »Quelle« Gabriele K. von einem westdeutschen Gericht wegen geheimdienstlicher Tätigkeit unter Anklage gestellt worden waren.

Denn tatsächlich hat Rudolf Hack eine sehr erfolgreiche und regimetreue Berufslaufbahn und dann die gängige Ausbildung zum DDR-Agenten absolviert: Promotion im Studienfach Chemie an der Universität Rostock 1970. Laborleiter an einer orthopädischen Klinik. 1971 Parteisekretär für den Bereich Orthopädie. Zwei Jahre später wird er zum Außenhandelsministerium delegiert — ein beachtlicher Aufstieg. Dann schickt man ihn für einige Zeit nach Bournemouth, um Englisch zu lernen. Das ist oft die Stufe eins der Ausbildung zum Westagenten. Die IMs sollten sich international verständigen und auch englische Texte lesen können. Doch der Sprachunterricht hatte noch einen anderen Grund. Männer wie Dr. Hack würden in entsprechenden westdeutschen Kreisen sehr auffallen, wenn sie — vor allem als Naturwissenschaftler — kein Wort Englisch könnten. Westbildung als konspirative Tarnung also. Dann wird Hack in Westdeutschland auf Reisen geschickt. Das ist Teil zwei der klassischen Schulung, wie sie viele andere Agenten auch durchlaufen. Er hat den Auftrag, Land und Leute kennenzulernen, sich »Regimekenntnisse« anzueignen.

All das sagte Rudolf Hack im März 1991 den BKA-Beamten gegenüber aus. Die Aussage ist schriftlich nieder­gelegt. Eine Passage in seinem Lebenslauf läßt aufhorchen: »Anläßlich eines Urlaubs in Bulgarien habe ich eine Stuttgarterin kennengelernt. Diese Stuttgarterin habe ich anläßlich meiner West-Reisen zweimal in ihrer Wohnung in Stuttgart besucht.« Sie soll der Grund für seine versuchte »Republikflucht« gewesen sein.

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Man ist geneigt, eine andere Lesart zu entwickeln. Die Vermutung liegt nahe, daß die Stuttgarterin sein erster, möglicherweise mißglückter Romeo-Versuch war. Bulgarien kennt man inzwischen als attraktiven Fundort für weibliches »operatives Ausgangsmaterial«, als Spielwiese für DDR-Agenten mit entsprechendem Auftrag. Und Besuche im Westen mußten von ganz oben abgesegnet sein. Es wurden stets umfangreiche Testläufe veranstaltet, bevor man einem IM so sehr vertraute, daß man ihn nach Westdeutschland reisen ließ. Hack ist vermutlich zielgerichtet ausgebildet worden, wahrscheinlich von vornherein mit der Absicht, ihn als Romeo einzusetzen.

 

Im Frühsommer 1977 hat er in der »Ostseegaststätte« in Rostock ein entscheidendes Treffen mit zwei MfS-Angehörigen, die ihm nun seinen Auftrag mitteilen: Unter der Legende eines »Frank Dietzel«, Physiker aus Norddeutschland, soll er eine Beziehung zu der in Bonn lebenden Botschaftssekretärin und Übersetzerin Gabriele K. eingehen mit dem Ziel, sie von ihrer Auswanderung nach Kanada abzuhalten und dann Geheimmaterial und Informationen aus der amerikanischen Botschaft zu verraten.

Das Spiel beginnt. Ort: Das Lokal »Rhein-Pavillon« in Königswinter bei Bonn; ein grüner Gartentisch und zwei Stühle. Zeit: Der 7. Juli 1977, früher Nachmittag. Handlung: Sehr gut aussehender Mann spricht junge Frau an und entschuldigt seinen Kollegen, der die Verabredung nicht einhalten konnte und an dessen Stelle er gekommen ist. Er läßt ihre Zahnschmerzen nicht gelten, überredet sie zu einem gemeinsamen chinesischen Essen.

Daß sich die junge Frau Hals über Kopf in den offenbar außergewöhnlich attraktiven Mann verliebt, hat vermutlich weder ihn noch seinen Führungsoffizier in der Zentrale überrascht. Das Spiel war viel zu gut vorbereitet, das Opfer hervorragend ausgesucht, der Romeo handverlesen. Gabriele K. hat später berichtet, daß viele Frauen auf die erotische Ausstrahlung dieses Mannes reagierten und — selbst in ihrer Anwesenheit — sehr direkte Annäherungsversuche unternahmen.

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Gabriele K. scheint endlich ihr Lebensglück gefunden zu haben. Sie erzählt überall von ihrem neuen Freund »Frank Dietzel«, Physiker, gebürtig aus Norddeutschland. Sie kann es nicht fassen, daß er sich ausgerechnet in sie verliebt hat. Alle Qualen, die sie durchlebt hat, scheinen endgültig vorbei zu sein. Sie verleben mehrere Wochenenden in Düsseldorf, wohin er sie einlädt, weil er vorgeblich hier beruflich zu tun hat. Die meiste Zeit verbringen sie im Hotelzimmer im Bett, wo er sich alle Mühe gibt, ihr erotische Erfüllung zu bieten. Er ist zärtlich, er ist potent, er erfüllt ihre heimlichsten Wünsche. Ein phantastischer Liebhaber, neben dem sie sich aber, auch in erotischer Hinsicht, klein und unattraktiv vorkommt. Als sie ihm sagt, wie glücklich sie sei, antwortet er, er habe bisher alle Frauen zum Orgasmus gebracht, und eine hätte sogar gemeint, er sei der absolute Hexenmeister. Allmählich gerät sie, wie beabsichtigt und wie so viele andere Romeo-Opfer auch, in eine tiefe sexuelle Hörigkeit.

Sie können sich nur selten sehen, nur alle vier bis sechs Wochen. »Dietzel« erzählt ihr, er arbeite bei einem internationalen Friedensforschungsinstitut, das dem Bundeskanzleramt angegliedert sei, mit Hauptsitz in München. Das Institut beschäftige sich mit der Erhaltung und Erforschung des Weltfriedens, und er sei sehr viel auf Reisen, vor allem im saudiarabischen Raum, so daß er sie leider nicht öfter sehen könne. Er kommt nur selten nach Bonn. Meist bestellt er sie in andere Städte, verstreut über ganz Deutschland, wo er angeblich beruflich zu tun hat. Sie treffen sich nur in Hotels, das ist ungewöhnlich, aber auch aufregend für sie.

Dann aber ist sie wieder wochenlang allein, wartet auf ihn. Sie hat keine Adresse, keine Telefonnummer, wo sie ihn erreichen könnte. Sieben Jahre lang ist er während seiner Abwesenheit unerreichbar für sie, sie kann ihn nicht anrufen, sie kann ihm nicht schreiben. Daran wird sich bis zum Schluß nie etwas ändern. Er sagt stets, er sei zuviel unterwegs für eine feste Anlaufadresse. Sieben Jahre lang wird sie ihm das glauben.

Man kann davon ausgehen, daß er sich in der Zeit, wenn er Gabriele K. nicht einschlägig betreut, bei seiner Ehefrau in Rostock aufhält und ganz normal seinem Beruf als Laborleiter einer Klinik nachgeht. Seine Familie dürfte nichts von seinen Nebenaktivitäten gewußt haben.

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Alle Agenten standen, zu ihrer eigenen Sicherheit, unter dem Verdikt absoluter Verschwiegenheit. Und solch pikante Einsätze waren besonders heikel, denn wenn eine Ehefrau erfuhr, welchen Auftrag ihr Mann nebenher erledigt, konnte sie durch Eifersucht den Erfolg der Mission gefährden.

Das neue Glück der Gabriele K. ist von Anfang an auch bitter. Sie leidet unter der wochenlangen Abwesenheit des Mannes, denkt an nichts anderes mehr als an ihn. Sie kennt nur noch zwei Zustände: Entweder er ist bei ihr, oder sie wartet auf ihn. Jede andere Wirklichkeit ist für sie ausgelöscht. Wenn er kommt, sagt er, er hätte mit keiner anderen Frau geschlafen und sich vor Sehnsucht nach ihr verzehrt. Und dann beschert er ihr wieder Stunden voller Zärtlichkeit und Erotik.

Einmal sagt sie ihm, daß sie ja eigentlich nach Kanada zurückkehren wolle. Da antwortet er: »Wenn du den Plan gemacht hast, dann kannst du ihn auch wieder umwerfen.« Und sie vergißt Kanada.

Der Romeo dringt immer tiefer in ihr Leben ein. Er teilt die Rollen auf, jede andere Wahrnehmung der Realität geht ihr verloren. Sich selber präsentiert er als überlegenen Logiker und behandelt Gabriele K. als verspieltes, rein gefühlsmäßig reagierendes Kind, das noch viel lernen müsse. Manchmal hält er ihr lange, komplizierte Vorträge über Physik und Chemie, wovon sie gar nichts versteht. Er redet so lange auf sie ein, bis sie völlig verwirrt ist und sich dumm und unterlegen fühlt. Dann nimmt er sie in den Arm und meint, er liebe sie gerade deswegen so sehr, weil sie diese Dinge nicht verstehe und wie ein Kind sei, das geführt werden müsse. Er nimmt ihre Hand in die seine und sagt, er werde sie schon führen. In ihm verschmelzen Liebhaber und Vaterfigur. Alles erfüllt sich.

Wenn sie klagt, daß sie sich so selten sehen können, dann sagt er ihr, ihr Lamento beweise, wie unreif sie doch in Wirklichkeit sei. Wenn sie sich ein Foto von ihm wünscht, lehnt er ab, wenn sie ihn fotografieren möchte, wird er wütend und verbietet ihr das. Einmal versucht sie es heimlich, aber das Foto ist falsch belichtet, und man kann nichts erkennen.

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Obwohl sie so oft allein ist, schaut sie keinen anderen Mann mehr an. Ihr allergrößter Wunsch ist, ihn zu heiraten. Sie bettelt förmlich darum. Aber er sagt, sie müsse erst noch viele Prüfungen durchlaufen, bevor er sie heirate. Sie müsse noch eine lange Zeit der Einsamkeit und Selbstfindung durchleben, dann erst könne er sie ernst nehmen. Er fragt sie, wie sie sich eine Ehe vorstelle. Aber alle ihre Antworten sind ihm nicht gut, nicht reif, nicht erwachsen genug. Ihr ist, als schicke er sie zurück in ihre Ecke, damit sie sich alles noch einmal überlegt und dazulernt. Je größer ihre Liebe zu ihm wird, desto kleiner und unbedeutender fühlt sie sich. Oft, wenn sie sich mit ihm in einem Spiegel oder in einem Schaufenster erblickt, kann sie es gar nicht fassen, daß er mit ihr zusammen ist. Sie hat alle anderen Kontakte aufgegeben, sieht niemanden mehr und interessiert sich auch für nichts anderes. »Frank« ist ihr ganzes Leben.

In einer psychologischen Selbstanalyse viele Jahre später hat Gabriele K. das so ausgedrückt: 

»Ich war von diesem Mann absolut fasziniert. Er strahlte eine innere Stärke aus, nach der ich mich immer gesehnt habe, und er erinnerte mich an präraphaelitische Darstellungen, auf denen eine gefesselte Dame nun endlich von einem Ritter auf dem weißen Pferd gerettet wird. Er war einfach mein Traum. Durch ihn hoffte ich, endlich ein inneres Zuhause zu finden und Ruhe und Geborgenheit, durch ihn hoffte ich, endlich leben zu können. Ich wollte nur für ihn leben, und es war, als hätte ich durch ihn erst meine Seele gefunden, als wäre ich nichts als eine leere Schale ohne ihn, und erst er erfüllte mich mit Licht und Lebensfähigkeit. Vielleicht war das alles eine Form von Wahnsinn. Es war ein schlimmer Wahnsinn, der mich immer handlungsunfähiger ohne seine Hilfe machte, immer abhängiger, immer kleiner. Ich hörte auf zu existieren und lebte innerlich nur noch durch ihn. Er sagte immer: <Wir haben eine Beziehung wie das Kaninchen und die Schlange.> Und ich, die ich doch nun 32 Jahre alt war und auch schon mal verheiratet und bestimmt nicht dumm war, existierte nun eigentlich gar nicht mehr, sondern ER existierte. Das war wirklich so: Wenn ich über ihn schrieb, dann schrieb ich <ER> immer groß, wie eine Gleichsetzung mit Gott. Es war eine Form von Verherrlichung, von Hörigkeit auf allen Gebieten, die ich zwar irgendwie liebte und genoß, die aber zunehmend gefährlich wurde. Denn so etwas geht nur gut, wenn eine Beziehung hält. Hält sie nicht, dann geht der, der sich total aufgibt, kaputt und hört auf zu existieren.«

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Gabriele K. 1977, 
kurz nachdem sie im Alter von 32 Jahren 
Rudolf Hack 
alias »Frank Dietzel« 
kennenlernte 

 

Die erste Etappe hat der IM Rudolf Hack fulminant gemeistert. In wenigen Wochen hat er aus Gabriele K. eine depersonalisierte, abhängige, in Liebe hörige Frau gemacht.

Da sie sich sehnlichst wünscht, mit ihm verheiratet zu sein, und weil das MfS diesen Wunsch durchaus für sich arbeiten lassen kann, verspricht ihr der Agent, sich bald mit ihr zu verloben. Sie ist selig. Die Verlobung wird tatsächlich ein halbes Jahr später, am 9. Juni 1978 stattfinden, nicht in Bonn, sondern in Bournemouth in England. Man erinnere sich: Hier hat Hack in seiner Schulungsphase den von Ostberlin verordneten Sprachkurs absolviert. Er kennt den Ort und drängt Gabriele, hierher zu fahren und hier zu feiern. Dadurch umschifft er eine schwierige Klippe, die ständig Anlaß zur Unzufriedenheit bei der jungen Frau gibt: Sie möchte ihn ihren Freunden vorstellen, vor allem ihrer Mutter, die vor kurzem nach Bonn übersiedelt ist.

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Sie will ein geselligeres Leben mit ihm führen, auch einmal zusammen mit Bekannten ausgehen. Das hintertreibt er regelmäßig. Sie bittet ihn, sie seiner Familie vorzustellen, seiner Schwester, von der er öfter erzählt hat, seiner Tochter aus erster Ehe, die in Hamburg lebt. Da sagt er, seine Schwester, die Arztin sei, lehne es ab, sie kennenzulernen. Sie sei der Ansicht, da Gabriele K. keine Akademikerin sei, passe sie nicht zu ihrem Bruder und in die Familie. Dasselbe gelte für seinen besten Freund, einen Orthopäden. Auch der lege keinen Wert auf ihre Bekanntschaft.

Wieder eine Kränkung, von der er hoffen mag, daß sie tief genug ist, damit sie ihren Wunsch begräbt. Hinter diesem Vorgehen verbirgt sich die Strategie, so anonym wie möglich zu bleiben. Daher die vielen Treffpunkte, die er in weit von Bonn entfernte Orte verlegt, daher seine Weigerung, ihr Umfeld kennenzulernen. Je einsamer sie außerdem ist, je isolierter sie miteinander leben, desto größer ist sein Einfluß auf sie. Doch mit der Verlobungsfeier ist es schwieriger. Wie soll er ihre Freunde und Verwandten abwehren und rechtfertigen, daß niemand aus seinem Kreis anwesend ist? Da kommt er auf die Idee, die »Verlobung« im Ausland zu feiern, ganz intim, nur zu zweit. Gabriele K. stimmt schließlich zu.

Jetzt ist aller Voraussicht nach der Punkt erreicht, den ein ganzer Apparat von HVA-Offizieren und psychologischen Beratern zur Unterstützung des Agenten vor Ort avisiert hat: die geheimdienstliche Verstrickung der Gabriele K.

Im Frühling 1978, kurz vor der Verlobung, sagt er, es falle ihm schwer, weiterhin die Flüge zu ihr zu bezahlen. Er verdiene zwar gut, aber er müsse einmal im Monat nach Hamburg zu seiner Tochter fliegen. Mit seinem Besuch bei Gabriele K. seien das zwei Flüge pro Monat nach Deutschland, da kämen leicht 4000 Mark zusammen alle vier Wochen. Auf Dauer könne er das nicht finanzieren. Außerdem wolle er ja auch für ihre Hochzeit sparen, denn eine Ehe, das sei seine Ansicht, könne nur dann gutgehen, wenn sie auch den nötigen finanziellen Rahmen habe, also ein schönes Haus, eine gehobene Ausstattung. Er wolle keine alltägliche Ehe.

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Gabriele K. zermartert sich das Hirn über eine Lösung. Sie hat furchtbare Angst, ihn zu verlieren, und schlägt ihm vor, sie könne doch nach Hamburg ziehen und ihm so ermöglichen, den Besuch der Tochter mit dem ihren zu verbinden. Er erzählt ihr eine lange, komplizierte Familiengeschichte und lehnt ab. Dann unterbreitet er seinen Vorschlag. Es gebe nur einen einzigen Ausweg, so sagt er, wenn sie sich weiter sehen wollten: Gabriele K. müsse Mitarbeiterin an seinem Institut werden. Sie findet das großartig und schlägt vor, gleich nach München, wo das vermeintliche Friedensforschungsinstitut seinen Sitz hat, zu ziehen. Aber so hat er das nicht gemeint. Das Institut, sagt er weiter, sei angewiesen auf einen großen Kreis freier, »inoffizieller« Mitarbeiter in aller Welt, die sich für die Friedensforschung engagierten. Sogar ein Kollege in ihrer Botschaft sei darunter. Und so könne auch sie dafür tätig werden. Das Institut sammle Informationen aus allen Bereichen und Institutionen, um mit seinen Forschungen dazu beizutragen, den Weltfrieden zu erhalten. Interessant wären auch Informationen aus ihrem Arbeitsbereich. Alles sei wertvoll. Für diese Tätigkeit würde sie auch Geld bekommen, und das könnten sie ja dann mit seinen Flügen verrechnen.

»Frank Dietzel« alias Rudolf Hack schlägt ihr vor, ein paar Papiere oder Unterlagen aus ihrem Büro mitzubringen. Die wolle er dann seinem Institut zeigen. Dann würde entschieden, ob sie mitmachen dürfe oder nicht. Sie hat Bedenken, denn sie weiß, daß es streng verboten ist, Papiere aus der Botschaft mitzunehmen. Aber längst vertraut sie ihm mehr als sich selbst. Außerdem scheint diese Mitarbeit tatsächlich der einzige Weg zu sein, ihn nicht zu verlieren. Und das wäre das Allerschlimmste, was ihr zustoßen könnte. So beginnt sie, Unterlagen aus dem Büro mitzubringen. Als sie ihn fragt, warum sie das heimlich tun muß, wo sein Institut doch mit dem Kanzleramt zusammenarbeitet, sagt er, es gehe um große globale Dinge, die sie nicht verstehen würde. Bestimmte »Querverbindungen« müßten in aller Heimlichkeit stattfinden, wenn sie dem Weltfrieden nützlich sein sollten.

Für den Transport der Unterlagen hat ihr »Frank« zwei »Container« geschenkt, große Taschen mit einem Geheimfach. Doch er kann sie nicht bewegen, sie auch zu benutzen.

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Sie sind ihr zu unmodisch, zu häßlich. So stopft sie die Geheimpapiere lieber zwischen die Seiten von Modezeitschriften. Zu Hause fotografiert sie das Material dann mit einer Kamera, die ihr »Frank« geschenkt hat, und bringt die Unterlagen am nächsten Morgen wieder ins Büro zurück.

Als er ihr Geld bringt, ist sie überrascht. Sie findet, daß es ihr nicht zusteht. Das findet »Frank« offenbar auch. Jetzt rechnet er ihr vor, wie teuer seine Besuche bei ihr sind, die Flüge, die Hotels, das Essen. Er besteht darauf, daß sie die Hälfte aller seiner Ausgaben übernimmt, wenn er sie besucht. Sie rechnen nun jedes Mal auf Heller und Pfennig ab.

Es ist unwahrscheinlich, daß sein Führungsoffizier weiß, welche Zusatzgeschäfte der Agent mit dieser Frau machte. Denn in der Regel ist die HVA finanziell sehr großzügig, wenn es um Investitionen und Geld für die jeweiligen Frauen geht. Es scheint, als habe Dr. Rudolf Hack die junge Frau auch noch um Geld betrogen und seinen eigenen Arbeitgeber ebenfalls.

In ihrem Bestreben, ihm zu gefallen, macht sie ihm wertvolle Geschenke, elektrisches Gerät, eine Bohrmaschine, was man eben so brauchen kann, zumal in einem DDR-Haushalt. Ihre Geschenke erstaunen ihn nicht. Vielmehr gibt er ihr zu verstehen, daß alle seine Freundinnen ihm wertvolle Geschenke gemacht hätten. Fortan nennt er ihr seine konkreten Wünsche, die sie ihm, wenn irgend möglich, erfüllt. (Aufgrund der Aussagen von Hacks Ehefrau im Zuge der spateren Ermittlungen gegen Gabriele K. wurde errechnet, daß der Wert der »Mitbringsel« sich auf mindestens 12.000 DM belief.)

Manchmal sagt er, er wolle sich seinerseits mit einem Geschenk revanchieren. Dabei besteht er darauf, daß sie sich die Dinge, die sie sich wünscht, aus einem Versandhauskatalog bestellt. Die Lieferung kommt stets per Nachnahme an ihre Adresse -und so bezahlt sie auch noch ihre eigenen Geschenke. Doch wenn das Gespräch darauf kommt, reagiert er beleidigt und behauptet, er habe ihr das Geld dafür längst gegeben. Ihre Selbstzweifel und ihre Unterwerfung haben inzwischen ein so großes Ausmaß angenommen, daß sie ihrem eigenen Erinnerungsvermögen mißtraut und ihm schließlich recht gibt.

Nach langem Drängen hat sich Rudolf Hack endlich auf einen Termin für die Hochzeit festgelegt. Im Herbst 1982, also in vier Jahren, soll sie stattfinden. Erst dann sei das finanzielle Polster, das er für nötig hält, zusammengespart.

Gabriele erscheint die Zeit bis dahin endlos. Noch vier Jahre Einsamkeit und Isolation, noch vier Jahre die Angst vor Entdeckung aushalten, wenn sie mit den Modezeitschriften unter dem Arm, in denen die Geheimdokumente verborgen sind, die Treppe in der Botschaft hinuntergeht, immer in Panik, sie könnte sie fallen lassen und die Papiere würden in alle Himmelsrichtungen flattern und sie verraten. Tage zählen, Wochen zählen. Seine seltenen Besuche.

Doch sie ist sicher: 1982 wird ihr Lebenstraum in Erfüllung gehen.

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