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2.14 - Der neue Gleichklang  

 

Pflanzen, Säuger und der Mensch (767). Das organische Weltbild (774). Von der Macht zur Fülle (784).
Aufforderung zur Fülle (792). Neue Perspektiven der Kultur (797). Wenn die Schläfer erwachen (802) 

Mumford-1970

 

  Pflanzen, Säuger und der Mensch 

767-807

Am Anfang des zweiten Teiles war die Rede von den beiden parallelen Wegen der Forschung, die der moderne Mensch beschritt: Der eine war die Erforsch­ung der Erde, die bis dahin nie in ihrer Gesamtheit bekannt gewesen war, der andere die Erforschung des Himmels und all der physikalischen Phänomene, des Kosmos und der Erde, die ohne direkten Bezug auf das biologische und kulturelle Vorleben des Menschen interpretiert und kontrolliert werden konnten.

Wir haben gesehen, wie die Periode der Entdeckungen und der Kolonisierung den Lebenskräften des westlichen Menschen neuen Spielraum gab, gerade in dem Augenblick, da die neue mechanische Ordnung sie mehr denn je zu hemmen und zu fesseln begann.

Doch ich will hier nicht nur betonen, wieviel die moderne Technologie von Beginn an der Erforschung der Erde verdankte, sondern wie diese ihrerseits die Grundlage für eine Wandlung schuf, die erst jetzt von der Anfangsphase der Ideenbildung, der Konkretisierung und der rationalen Formulierung in das Stadium der allgemeinen Organisierung und Verkörperung einer neuen, von jener des Machtsystems grundverschiedenen Lebensweise übergeht.

Die menschliche Unzulänglichkeit dieses Systems ist im gleichen Maße gewachsen wie seine technische Effizienz, während der Umstand, daß es heute alles organische Leben auf dieser Erde bedroht, als das paradoxe Ergebnis seiner unbegrenzten Erfolge in der Beherrschung aller Naturkräfte — mit Ausnahme jener dämonischen, irrationalen Kräfte im Menschen, die den technologischen Geist aus dem Gleichgewicht brachten — erscheint.

Die Erforschung der Erde setzte eine gewaltige quantitative und qualitative Revolution in Gang. Sie stellte zwischen allen Völkern der Erde Verbindungen her, bewirkte eine Zunahme der Energiequellen sowie eine Zirkulation von Gütern, Pflanzen, Menschen und Ideen im Weltmaßstab und hob Anpassungen auf, wie die der negroiden Rassen an das tropische Afrika, die Hundert­tausende Jahre erfordert hatten.

Die Verpflanzung des Negers aus dem Kontinent, an den er sich völlig angepaßt hatte, und die Verpflanzung des Europäers nach Amerika und Afrika waren nur der Beginn einer Reihe von mutwilligen Verschiebungen, in denen das Profit- und Machtstreben der herrschenden Klassen biologische Einsicht und soziale Vorsicht verdrängte.

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Nie wurde das ökologische Gleichgewicht der Natur und mehr noch die Integrität der Kulturen so gewaltsam gestört wie in den letzten zwei Jahrhunderten.

Jetzt hat diese Erforschung einen natürlichen Endpunkt erreicht; die letzte Grenze ist geschlossen. Die Landung der ersten Astronauten auf dem Mond war nicht der Anfang, sondern das Ende eines neuen Zeitalters kosmischer Forschung. Die wissenschaftlich-technische Revolution, die im sechzehnten Jahrhundert begann, erreichte damit das ihr gemäße sterile Ende: einen Satelliten, so unbewohnbar, wie die Erde es nur zu bald sein wird — wenn die Völker dieser Welt nicht mit viel Phantasie und mutigem politischen Einsatz den alten Machtkomplex herausfordern.

Ohne eine Gegenbewegung, die diesen automatischen Prozeß bremst oder umkehrt, gerät die Menschheit mit jedem Jahr tiefer in die Sackgasse.

Obwohl die Erforschung der Erde nur vorübergehend eine Lockerung der technischen Zwänge bewirkte, legte sie das Fundament für eine neue Weltordnung: eine Ordnung, die das ursprüngliche mechanische Weltbild verändern sollte, indem sie es mit einem komplexeren Modell überlagerte, das sich nicht nur aus Materie und Energie in ihrem präorganischen Zustand, sondern aus dem lebenden Organismus ableitet.

Die geographischen Grenzen sind heute geschlossen, aber es ist ein tiefergehender Entdeckungs­prozeß im Gang, ein Prozeß, der sich nicht nur auf den Raum, sondern auch auf die Zeit und ebenso auf subjektive wie auf objektive Phänomene erstreckt. Es geht dabei nicht nur um Ursache und Wirkung, sondern um Strukturen von fast unentwirrbarer und unbeschreibbarer Komplexität, die sich in ständiger Wechselwirkung durch die Zeit bewegen.

In einem Bereich nach dem anderen entfaltet sich bereits dieses organische Weltbild. In seiner Einführung zu Darwins Entstehung der Arten weist George Gaylord Simpson auf diesen kommenden Wandel hin: »Die Revolutionen in der Astronomie und in der Physik waren im frühen neunzehnten Jahrhundert bereits weit fortgeschritten, aber die biologische Revolution, die die Welt sogar noch grundlegender verändern sollte, stand noch bevor.«

wikipedia  George_Gaylord_Simpson *1902 in Chikago bis 1984

Leider wurde diese biologische Revolution von den Exponenten des Machtsystems bereits als nächster Schritt in der einseitigen technokratischen Kontrolle erkannt und lebhaft begrüßt.

Würde diese Revolution nach den spezifischen Vorstellungen jener Leute durchgeführt, dann hätte sie keine vollere Entfaltung des Menschen zur Folge, sondern dessen Verwandlung in eine völlig andere Art Organismus oder einer Reihe von Organismen, im Laboratorium genetisch transformiert oder in einer künstlichen Gebärmutter modifiziert.

Der Mensch im historischen Sinn würde zum alten Eisen geworfen werden. 

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Diese Veränderungen würden dem Machtsystem, das selber ein abgesondertes, zeitgebundenes Produkt des menschlichen Geistes ist, eine Autorität verleihen, die der Mensch, kraft seiner Veranlagung, der Natur nie zugestanden hat. Zu welchem vernünftigen Zweck?

Zu diesem Thema hat ein Dichter unserer Zeit weise und zeitgemäße Worte gesprochen — eine Mahnung, die speziell an die Priester der Megamaschine gerichtet sein könnte, die heute sozusagen ihre Mikronadeln schärfen, als Vorbereitung für eine dauernde Veränderung der menschlichen Natur.

»Umgestaltung des Daseins!« ruft Boris Pasternak in Doktor Schiwago aus.

»So können nur Menschen reden, die vielleicht allerlei in ihrem Leben gesehen haben, die aber kein einziges Mal das Leben wirklich begriffen, den Geist des Lebens, seine Seele empfunden haben. Für sie ist das Dasein nur roher Stoff, der durch nichts veredelt wird und leblos daliegt, um von ihnen bearbeitet zu werden. Das Leben aber ist in Wirklichkeit niemals wesenlose Materie. Es ist, wenn ich es Ihnen sagen soll, das eine sich immer aus sich selbst erneuernde und umgestaltende Prinzip, das ohne unser Dazutun wirken wird bis in alle Ewigkeit.«

Zum Vorteil der Entwicklung des Frühmenschen scheint sein eigener Geist weit größeren Eindruck auf ihn gemacht zu haben als seine physikalische Umwelt; und selbst in dieser Umwelt beachtete er mehr die Eßbarkeit von Pflanzen, die Gewohnheiten von Vögeln und Tieren als die rein physikalischen Naturerscheinungen, außer solchen wie Stürme, Überschwemmungen und Vulkanausbrüche.

Die Natur sprach zu ihm wie ein beseeltes Wesen, bald feindlich, bald freundlich; Steine mochten gleichsam lebendig sein, Organismen jedoch nie zu Stein werden. Selbst nachdem die Menschen mit den neolithischen Schleif- und Poliertechniken zu regelrechten Handwerkern geworden waren, blieb die Umwelt doch hauptsächlich von den lebenden Organismen bestimmt, wenngleich sie von Göttern, Dämonen und Kobolden überlaufen war, die lebendiger waren, als der Mensch es damals zu sein wagte.

Obwohl schon die Frühzivilisationen organisierte Zwangsarbeit einführten, geriet der Großteil der Menschheit nicht in völlige Abhängigkeit vom Machtsystem. In der vorherrschenden Ackerbau- und Jagdwirtschaft lebte die Mehrheit der Menschen in verstreuten Dörfern außerhalb des Machtbereichs der Megamaschine, ohne jemals deren Höhen in der Umgestaltung des Lebensraumes und der Erweiterung des geistigen Horizonts zu erreichen, doch auch ohne in deren Tiefen zu sinken, außer unter dem unheilvollen äußeren Druck des zivilisierten Krieges.

Bis zu unserer Zeit entwickelte sich die menschliche Kultur in einer organischen, subjektiv modifizierten Umwelt und nicht in einem sterilen, maschinell hergestellten Gehege. In wirrer, ungeordneter Form herrschten überall die Kriterien des Lebens vor, und der Mensch gedieh in dem Maße, als ein lebensförderndes Gleichgewicht zwischen den Organismen erhalten blieb.

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Nur in der schlimmsten, entwürdigendsten Form der antiken Sklaverei — nämlich im Bergbau — konnte man sich menschliches Dasein in einer jedes Lebens beraubten Umwelt vorstellen.

Der Mensch hatte ganze geologische Perioden hindurch in aktiver Partnerschaft mit Pflanzen und Tieren gelebt, bevor er Maschinen baute. Sein geistiges Engagement in der Welt des Lebens begann damit, daß er sich seiner eigenen Existenz bewußt wurde. Er hat viele Grundeigenschaften mit anderen Tieren gemein: verlängerte sexuelle Paarung und Aufzucht der Jungen, Geselligkeit und erotische Lust, Verspieltheit und Freude.

Seine tiefe Liebe zum Leben wurde dadurch verstärkt, daß er sich in einer Umwelt fand, die ihm nicht nur physische Nahrung bot, sondern auch seine unablässige Selbstumwandlung förderte. In dieser Hinsicht haben selbst die einfachsten Organismen uns etwas Wesentliches zu sagen, das weit über den Horizont unserer raffiniertesten Technologie hinausgeht. Wären wir in bezug auf Erfahrungen und materielle Subsistenz ganz auf die Maschine angewiesen, so wäre die Menschheit schon längst an Unterernährung, Langeweile und hoffnungsloser Verzweiflung gestorben.

Erinnern wir uns an Loren Eiseleys Feststellung in The Immense Journey über jenen Wendepunkt in der organischen Entwicklung, als das Zeitalter der Reptilien dem Zeitalter der Säugetiere wich, jener warmblütigen Tiere, die ihre Jungen stillen. Eiseley wies darauf hin, daß das Zeitalter der Säuger von einer explosionsartigen Vermehrung der blühenden Pflanzen begleitet war, und daß das Fortpflanzungssystem der Angiospermen nicht nur bewirkte, daß die ganze Erde sich mit einem grünen Teppich von mehr als viertausend Grasarten überzog, sondern auch eine Intensivierung aller Formen von Lebenstätigkeit zur Folge hatte; denn ihr Nektar, ihre Pollen, Samen, Früchte und saftigen Blätter erweiterten die Sinne, erhöhten den Appetit, erheiterten den Geist und vergrößerten die gesamte Nahrungsversorgung.

 wikipedia  Liste_der_Mitglieder_der_American_Academy_of_Arts_and_Sciences/1967

Diese Blumenexplosion war nicht nur ein erfolgreiches Fortpflanzungsmittel, sondern die Blumen erlangten zudem eine Vielfalt an Farben und Formen, die man in den meisten Fällen nicht einfach damit erklären kann, daß sie einen Überlebenswert im Kampf ums Dasein haben. Es mag zur Anziehungskraft einer Lilie beitragen, daß sie alle ihre Sexualorgane zwischen verführerisch geöffneten Blütenblättern zur Schau trägt; aber der große Erfolg vieler Korbblütler, wie etwa des Gänseblümchens mit seinen bescheidenen kleinen Blüten, zeigt, daß biologisches Gedeihen auch ohne solche verschwenderische Blütenpracht möglich ist.

Der Blütenreichtum ist ein archetypisches Beispiel für die ungehemmte Kreativität der Natur; und die Tatsache, daß diese Blütenpracht nicht mit rein utilitaristischen Argumenten erklärt oder begründet werden kann, ist genau das, was diese Explosion so wundervoll macht — und so typisch für andere Lebensprozesse.

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Biologische Üppigkeit und die damit so oft verbundene ästhetische Kreativität existieren um ihrer selbst willen und überschreiten die früheren Begrenzungen des Organismus. Käme es nur aufs Überleben an, hätte das Leben im Urschlamm verharren können oder sich nicht höher als bis zu den Flechten zu entwickeln brauchen. Obgleich man sich abstrakt eine Welt ohne Farben und ohne jeden Reichtum an lebenden Formen vorstellen kann, wäre eine solche stumme Welt doch nicht die wirkliche Welt des Lebens.

Lange bevor der Mensch sich selbst der Schönheit bewußt wurde und sie /u kultivieren trachtete, existierte Schönheit in unendlicher Formenfülle bei den Blütenpflanzen; und das Wesen des Menschen änderte sich fortschreitend, mit der wachsenden Empfindlichkeit seiner Sinne und mit der Entwicklung seiner Fähigkeit, sich in den schönen Formen seiner Ornamente, seiner Kosmetik, seiner Kleidung, seiner gemalten oder geschnitzten Bilder symbolisch auszudrücken — alles Nebenprodukte seines bereicherten Sozial- und Sexuallebens. In diesem Sinne sind wir alle Blumenkinder.

Mindestens zwölftausend Jahre lang, vielleicht noch viel länger, beruhte die Existenz der Menschheit auf der engen symbiotischen Partnerschaft zwischen Mensch und Pflanze; sie wurzelte in Tausenden kleinen Dorfgemeinschaften, die über die ganze Erde verstreut waren. Alle höheren Errungenschaften der Zivilisation gründen sich auf diese Partnerschaft, die der konstruktiven Verbesserung des Lebensraums und der liebenden und wissenden Pflanzenzucht gewidmet war: der Auswahl, Pflege und Veredelung von Pflanzen in einem Lebensablauf, der die Freuden der menschlichen Sexualität unterstrich und steigerte. Diese Kultur machte, wie Edgar Anderson meint, einige ihrer wertvollsten Entdeckungen in der Pflanzenzucht, indem sie an Farbe, Geruch, Geschmack, Blüten- und Blattformen ebenso interessiert war wie am Nährwert der Pflanzen und diese nicht nur als Nahrungs- und Heilmittel schätzte, sondern auch als ästhetischen Genuß.

In unserer von Maschinen beherrschten Welt gibt es viele Menschen, die in wissenschaftlichen Laboratorien arbeiten und dennoch, obwohl sie sich immer noch Biologen nennen können, keine enge Beziehung zu jener organischen Kultur und keinerlei Achtung vor deren Errungenschaften haben. Sie haben bereits begonnen, den schöpferischen Prozeß im Einklang mit den Markterfordernissen des Machtkomplexes zu regulieren. Einer der jüngsten Triumphe in der Pflanzenzucht war beispielsweise die Entwicklung einer Tomatensorte, die nicht nur in einheitlicher Größe wächst, sondern in Massen zur gleichen Zeit reift, so daß die Ernte mit automatischen Pflück- und Verpackungsmaschinen eingebracht werden kann.

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Aus solchen Auffassungen entspringen weitere Träume von einer noch straffer geordneten Welt, aus der alle ursprünglichen oder unprofitablen Spezies und Spielarten eliminiert werden — obgleich doch die Urrassen für kreative Kreuzungen notwendig bleiben. Wahrscheinlich wird der dem Menschen verbliebene Rest von Wildheit, der immer noch sein Traumleben bewegt, ihn vor der Unterwerfung unter solch eine tödliche Einförmigkeit retten.

Zugegeben, in den früheren Stadien der menschlichen Entwicklung war die Beziehung zwischen Mensch und Pflanze einseitig und hatte daher nicht die Wirkung gegenseitiger Hilfe. Wenngleich Pflanzen, Vögel und Insekten während des Großteils der menschlichen Geschichte sowohl aktive Partner als auch Nahrung des Menschen waren, so tat er anfangs nur wenig dazu, die natürliche Vegetation zu verändern, und noch weniger, das Gedeihen bevorzugter Pflanzen zu fördern. Die Beziehung des Menschen zum vorhandenen Pflanzenwuchs war eher parasitär als symbiotisch. Doch als die letzte Eiszeit zu Ende war, sah der Mensch, anfangs durch Schutz und Selektion, später durch aktive Kultivierung, sich imstande, seine eigene Umwelt wohnlicher, genießbarer und — was nicht weniger wichtig ist — anregender und liebenswerter zu machen. Gerade indem er den Pflanzen eine neue Rolle zuteilte, schlug der Mensch tiefere Wurzeln in der Landschaft und gewann zugleich mehr Freizeit und Sicherheit. Im Garten war der Mensch, hauptsächlich dank den Bemühungen der Frau, ganz zu Hause, im Frieden mit seiner Umwelt, wenn auch nur zeitweilig und nicht ungefährdet.

Die systematische Pflanzung begann mit Obst- und Nußbäumen, der Mango- und der Zibetfrucht, der Olive, der Walnuß und der Palme, der Orange und nicht zuletzt, wenn Henry Bailey Stevens recht hat, dem Apfel. Hier im Garten, in einer Welt, in der das Leben ohne übermäßige Anstrengung oder systematische Zerstörung gedieh, überkam den Menschen vielleicht die erste Ahnung vom Paradies, denn Paradies ist nichts anderes als die altpersische Bezeichnung für einen umzäunten Garten.

Bezeichnenderweise war es der Fabel zufolge ein Garten, der Garten Eden, wo der Mensch, indem er einen Apfel aß, die Unschuld des Tieres verlor und die Erkenntnis von Gut und Böse, von Leben und Tod gewann. All jene selektiven Unter­scheidungen, die darauf abzielen, das Leben zu fördern und die Kräfte, die es schwächen könnten, zu beschränken oder zu bekämpfen, müssen auf der Hut sein vor der Gegenwart des Bösen in seinen vielen Formen, von Fixierung bis zu mutwilliger Gewalt und Zerstörung. Wenngleich Walt Whitman in seinem Song of Myself die Unschuld der Tiere pries, war er sich der Realitäten des menschlichen Daseins doch genügend bewußt, um sich als Dichter des Guten wie auch des Bösen zu bekennen — und er kannte den Unterschied.

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Die Fähigkeit zu Wachstum, Ausdruck und Wandlung, ästhetisch wie sexuell in den blühenden Pflanzen symbolisiert — das ist das höchste Geschenk des Lebens; und im Menschen entfaltet sie sich am besten, wenn lebendige Geschöpfe und ebenso lebendige Symbole ihn umgeben, die seine Phantasie anregen und ihn ermutigen, neue Ausdrucksformen zu erfinden, sowohl im Geist als auch in seinen täglichen lebenserhaltenden, Leben erzeugenden Tätigkeiten. Liebe erzeugt Liebe, so wie Leben wieder Leben zeugt; und schließlich müßte jeder Teil der Umwelt für Liebe empfänglich sein, auch wenn man ihr, im Namen der Liebe, manchmal am besten dient, indem man sich zurückzieht und etwa einen Rotholzwald oder ein antikes Monument so läßt, wie sie sind, einfach im Geist widergespiegelt, ohne mehr als ein leises Anzeichen der Gegenwart des Menschen. Ein Tag ohne solche Kontakte und Gefühlsregungen — ohne den Duft von Blumen oder Krautern, ohne den Flug oder den Gesang eines Vogels, ohne das Lächeln eines Menschen oder die warme Berührung einer menschlichen Hand — ein Tag also, wie ihn Millionen in Fabriken, in Büros und auf Straßen verbringen, ist ein Tag ohne organischen Inhalt und ohne menschliche Freuden.

Es gibt keine mechanischen, elektronischen oder chemischen Substitute für ganze lebende Organismen, obwohl man häufig das Bedürfnis nach symbolischer Erweiterung und Verstärkung tatsächlicher Erlebnisse empfinden mag. Für längere Zeit in eine Großstadtwüste verbannt zu sein, wo die Menschen nicht nur voneinander, sondern auch von allen anderen lebenden Organismen isoliert sind und es ihnen manchmal sogar durch die Hausordnung verboten ist, sich einen Hund oder eine Katze zu halten, widerspricht all dem, was drei Milliarden Jahre organischen Zusammenlebens lehren und was der Mensch in den letzten hunderttausend Jahren gelernt hat. »Wir leben, indem wir einander helfen«, schrieb ein Soldat von der Front. Dies gilt für alle Lebewesen zu allen Zeiten; und es gilt nicht nur für das Überleben, sondern auch für die weitere Entwicklung des Menschen.

Es wäre für den Menschen eine Art kollektiven Selbstmordes, wenn er seine gesellschaftliche Tätigkeit und seine persönliche Erfüllung nur auf das beschränkte, was den äußeren Erfordernissen der Megatechnik entspricht; und dieser Selbstmord — oder genauer Biomord — findet tatsächlich vor unseren Augen statt. Unsere hochentwickelte mechanische Ausstattung mag eine nützliche Ergänzung der organischen Existenz sein; sie ist jedoch, außer in Notfällen — etwa in Gestalt einer künstlichen Niere — keine brauchbare dauernde Alternative. Die Elemente der Weiterentwicklung müssen aus der organischen Welt in ihrer Gesamtheit kommen, nicht bloß aus einem überschätzten Bruchstück des menschlichen Geistes, aus der Technik der Handhabung abstrakter Symbole.

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Wird das neue organische Weltbild erst verständlich und akzeptabel, dann wird der alte Mythos der Maschine, von dem unsere zwanghaften techno­kratischen Irrtümer und Fehlhandlungen größtenteils herrühren, den modernen Menschen nicht länger beherrschen.

 

Das organische Weltbild 

Auf die Gefahr hin, eine Analogie aus dem alten Ägypten zu weit zu treiben, möchte ich darauf verweisen, daß die Wiederkehr des Sonnengottes symbolisch von der Auferstehung des Osiris begleitet war, des Vegetationsgottes, der die Menschen die Kunst und das Handwerk lehrte und im Gegensatz zum Sonnengott durch die Erfahrung von Geburt und Tod hindurch mußte wie die Menschen. Als das Wirken der Megamaschine die ägyptische Gesellschaft stärker erfaßte — hier ist noch eine Parallele zu unserer Zeit —, verschob sich der Schwerpunkt des Osiriskults vom Diesseits zum Jenseits; der Kult betonte das Drama des Todes und bemühte sich um die Erhaltung des Körpers in mumifizierter Form, mit magischen Zaubersprüchen und Gebeten, die alle ihren Preis hatten, je nach Rang und Einkommen des Verstorbenen. Dies verwandelte den Gott des Lebens, das auch den Tod einschließt, in einen Gott des Todes, ein Scheinleben gewährend — ein Leben ohne die spezifischen Merkmale des Erdendaseins: Zerbrechlichkeit, Labilität, permanente Selbstumwandlung, Möglichkeit der Selbstüberschreitung.

In der Biologie ging eine ähnliche Fehlentwicklung vor sich, die im sechzehnten Jahrhundert noch kaum erkennbar war, heute jedoch klar zutage tritt. Den entscheidenden Schritt, mit dem die Biologie eine wissenschaftliche Basis erhielt, etwa der Leistung von Kopernikus vergleichbar, tat Andreas Vesalius in einer systematischen Beschreibung des menschlichen Körpers, wie er sich in der Leichensektion darstellt. Damit wurden viele lebenswichtige Wahrheiten über den Aufbau, die Zusammensetzung und sogar über die funktionalen Zusammenhänge der lebenden Organe bekannt; und mit der Zeit wurde dieses Wissen durch weitere mikroskopische und chemische Untersuchungen an ebenfalls toten Geweben erhärtet. Die Mediziner waren nach diesem Wissen so begierig, daß sie, als das Gesetz eingriff, zum Sezieren Leichen aus Gräbern raubten.

Vesalius selber war, wie sein Biograph berichtet, so versessen auf Wissen aus erster Hand, daß er der Räderung und Vierteilung eines Verbrechers beiwohnte, um aus dem geöffneten Körper das noch schlagende Herz herausreißen und seine Beschreibung vervollständigen zu können. Im Denken ersetzte also der Leichnam den lebenden Organismus, da er sich für eine genauere, objektive Beschreibung eignete. Der dynamische, multifunktionale lebende Organismus war mit dieser Methode jedoch nicht zu beschreiben.

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Die Erkenntnis, daß organische Formen ein unvergleichlich besseres Modell der Entwicklung des Menschen liefern, als das mechanische Weltbild zu bieten vermag, ist wahrscheinlich die größte Leistung der Wissenschaft — eine größere als jedwede Entdeckung in der Physik, von Archimedes bis Newton und Einstein, obgleich sie zum Teil erst durch diese Entdeckungen möglich geworden war. Die verspätete Entwicklung der Biologie — die Erforschung der Organismen erhielt diesen Namen erst 1813 — war, so glaubten Auguste Comte und andere, auf die Tatsache zurückzuführen, daß die Wissenschaften in einer bestimmten logischen Reihenfolge auftraten: zuerst die abstrakten Grundwissenschaften, Logik und Mathematik, dann nacheinander Physik, Chemie, Biologie, Psychologie und Soziologie, mit aufsteigender Stufenleiter an Komplexität und Reichhaltigkeit zunehmend. Dies ist ein logisch sauberes und plausibles Schema; aber die Geschichte zeigt, daß das biologische Wissen, das zur Pflanzen- und Tierdomestizierung notwendig war, vor astronomischen Messungen und dem Kalender da war, der später jenem Wissen diente; und dasselbe gilt auch für die Medizin.

Tatsache ist, daß die organischen Modelle zur Erklärung von Lebensphänomenen hauptsächlich aus zwei Gründen mechanischen Modellen Platz machten: Organismen konnten nicht mit dem Machtkomplex verbunden werden, ehe sie, im Denken noch mehr als in der Praxis, auf rein mechanische Einheiten reduziert waren; und nur dank der Verbindung mit dem Machtsystem, die, wie Comte bemerkte, durch die Einstellung von Technikern als Schlüsselfiguren in fortgeschrittenen Industriezweigen zustandekam, waren die physikalischen Wissenschaften vom sechzehnten Jahrhundert an aufgeblüht.

Eines Tages wird ein Buch geschrieben werden, in dem nachgewiesen wird, daß Mechanizismus und Vitalismus vom sechzehnten Jahrhundert an als gegensätzliche religiöse Strömungen wirkten. Dieses Buch wird zeigen, daß der mechanische Komplex selbst in der Zeit, da er seine Macht konsolidierte, nolens volens durch die zunehmende Würdigung der organischen Natur in jedem Bereich modifiziert wurde: Man denke an die Fortschritte auf dem Gebiet der Kinderpflege, der Hygiene und der Ernährung, die durch die romantische Bewegung, hauptsächlich durch Rousseaus Schriften, wenn nicht durch seine Praxis, initiiert wurden; man denke an das wachsende Interesse für Spiel und Sport, das die von Calvinismus und Utilitarismus herkommende Ablehnung solcher Vergnügungen überwand; man denke an die liebevolle Lernpraxis, die in Froebels Kindergarten eingeführt wurde — die genaue Antithese zu Comenius' als Massen­organisation konzipierte Pauk-Schule;

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zugleich fand die wachsende Liebe zur Natur Ausdruck in eifriger in Amateur-Gartenarbeit, in Landschaftszeichnen und Freiluftsport-Jagd, Fischfang, Wandern und Bergsteigen. Diese Aktivitäten milderten die Auswirkungen der Mechanisierung ein wenig und halten seit mehr als hundert Jahren den Weg zu einer organischeren Kultur offen.

Wenn jenes Buch einmal geschrieben ist, dann wird es ferner zeigen, wie die zunehmende Würdigung all dessen, was die Welt der Organismen von der Welt der Maschinen unterscheidet, an einem bestimmten Punkt im neunzehnten Jahrhundert eine neue Auffassung vom gesamten kosmischen Prozeß entstehen ließ. Diese Auffassung unterscheidet sich grundlegend von dem mechanischen Weltbild, in dem die wesentlichen qualitativen Attribute des Lebens fehlen: Erwartung, innerer Schwung, Auflehnung, Kreativität und die Fähigkeit, in bestimmten Momenten physikalische oder organische Grenzen zu überwinden.

Diese neue Auffassung vom Leben blieb lange namenlos und erhielt ihren Namen erst, als man sich systematisch mit ihr zu befassen begann; heute kennt man sie als Ökologie. Doch zunächst wurde sie nur mit dem Prinzip der organischen Evolution identifiziert und auf einen einzigen Aspekt dieser Evolution beschränkt: auf Anpassung und Überleben durch natürliche Auslese. Dieser Vorgang wird zu Recht mit dem Werk Charles Darwins verbunden, obwohl sich schon aus dem Wesen der organischen Veränderung auch ohne andere Beweise schließen läßt, daß er nicht der einzige war.

Die Bedeutung dieser neuen Auffassung und das Wesen von Darwins Beitrag wurden lange dadurch verhüllt, daß Darwin seine eigene Rolle mißverstand. Er glaubte nämlich, seine Originalität und Priorität bestehe in der Entdeckung der organischen Evolution. Als Die Entstehung der Arten erschein, ärgerte es ihn, von Lyell an seinen Vorläufer Lamarck erinnert zu werden; doch sein eigener Großvater, Erasmus Darwin, hatte ähnliche evolutionäre Ansichten; und nur mit einigem Zögern fügte Charles Darwin in einer späteren Ausgabe ein Kapitel über seine vielen Vorläufer hinzu.

Wenn Darwin den Ehrenplatz neben Kopernikus und Newton verdient, den ihm seine Zeitgenossen einmütig zugesprochen haben, so nicht deswegen, weil er das Prinzip der Evolution oder das der natürlichen Auslese entdeckt hat. Die letztgenannte Idee leiteten sowohl er als auch Alfred Russel Wallace direkt von Malthus' Theorie ab, wonach die Bevölkerungszahl in geometrischer Progression, die Nahrungsmittelproduktion aber nur in arithmetischer Progression zunimmt; so daß, wenn das Bevölkerungs­wachstum nicht eingeschränkt wird, ein wilder Existenzkampf ausbricht, der mit der physischen Ausrottung der Schwächeren endet. Tatsächlich unterstellte Darwin der Natur die häßlichen Charakteristika des viktorianischen Kapitalismus und Kolonialismus.

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Diese Doktrin wirkte keineswegs dem mechanischen Weltbild entgegen, sondern fügte ihm unglücklicherweise noch eine neue Nuance kaltblütiger Brutalität hinzu; sie rechtfertigte nämlich, in Darwins eigenen Worten, die »Ausrottung der weniger intelligenten niedrigeren Rassen durch die intelligenteren höheren Rassen« (Brief an Lyell vom 11. Oktober 1859).

Was der Entstehung der Arten und der späteren Abstammung des Menschen schließlich so gewaltige Autorität verlieh, war etwas weit Wichtigeres. Darwin hatte auf der Basis seiner persönlichen Erfahrungen während der Reise auf der Beagle eine große Menge von Daten gesammelt, die auf die ständige Veränderung der Arten, angefangen von den einfachsten Organismen, hinwies. Nicht zufrieden mit einem subjektiven Bild großer evolutionärer Veränderungen, ging Darwin daran, mit viel Geduld aus verschiedenen Quellen alles erdenkliche Beweismaterial, ja auch vage Hinweise zu sammeln. Die Königsidee von der organischen Einheit war mehr als ein Jahrhundert lang in der Luft gelegen, sie findet sich im Denken Buffons, Diderots, Lamarcks, Goethes, Saint-Hilaires, Chambers' und Herbert Spencers. Darwin bestätigte diese hellsichtigen Intuitionen, indem er in seiner Person alles verfügbare Wissen — außer Mathematik und den exakten Wissenschaften — vereinte, das erforderlich war, um organische Existenz, organische Veränderung und organische Entwicklung zu erklären.

Indem er sich zu diesem großen ökologischen Beitrag anschickte, hatte Darwin sich nicht nur aus dem mechanischen Weltbild herausbegeben, was noch durch sein Untalent für Mathematik sanft gefördert wurde; er war auch jener einseitigen beruflichen Spezialisierung entgangen, die einem vollen Verständnis organischer Phänomene so abträglich ist. Für die neue Rolle erwies sich gerade der Dilettantismus seiner Vorbereitungen als glänzend geeignet. Obzwar er für die Beagle als Naturforscher bestellt war, hatte er keine spezialisierte Hochschulbildung; als Biologe hatte er überhaupt keine Vorbildung, außer als leidenschaftlicher Jäger und Käfersammler. Da ihm gelehrte Vorurteile und Hemmungen fehlten, konnte ihn nichts daran hindern, allen Erscheinungen der lebendigen Umwelt aufgeschlossen gegenüberzutreten: den geologischen Formationen, den Korallenriffen, den von Leben wimmelnden Meeren, der Mannigfaltigkeit der Arten, von den niedersten Entenmuscheln bis zu den Schildkröten, den Vögeln und den Affen. Die stetig zunehmenden Erfahrungen nahmen sein ganzes Leben in Anspruch, Tag und Nacht, und wirbelten in ihm Gedanken auf, die er nicht einmal loswerden konnte, wenn er schlafen wollte.

Indem er jedem neuen Hinweis, woher er auch kommen mochte, nachspürte, wurde Darwin zu einem Wissenschaftler neuer Art; sogar die Bezeichnung Biologe ist fast zu eng für ihn, außer in dem von ihm selbst geschaffenen Sinn. Er war Entomologe, Geologe, Botaniker, praktischer Tierzüchter und sogar, als natürliche Ergänzung, Tierpsychologe und Proto-Anthropologe.

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 In der Entwicklung dieser ökologischen Interpretation des Lebens sind Darwins Eigenschaften als Mensch, Gatte, Vater von zehn Kindern und Freund untrennbar mit seinen neuen Ideen verbunden; und selbst wenn er versuchte, seine Person aus der Gleichung zu eliminieren, weil er sich seiner Eitelkeit oder Eifersucht bewußt wurde, gelang ihm dies nie völlig.

In Darwins ganzem Denken steckte seine Person: nicht bloß als abstrakter Intellekt, sondern als sensibles, verständnisvolles menschliches Wesen. Darwin studierte die Organismen nicht nur objektiv: Er liebte die lebende Kreatur fast ebensosehr wie der heilige Franziskus, er war bekümmert über die grausame Dressur von Vorführhunden und nahm heftig gegen die damals übliche Praxis der Vivisektion Stellung. In seiner Verbundenheit mit allen Lebensformen steht Darwin in einer Reihe mit ähnlich gesinnten Naturforschern, von Gilbert White und Linne bis Humboldt und Audubon.

Darwin selbst, als Mensch, lieferte einen weit wichtigeren Beitrag zum organischen Weltbild als der Darwinismus mit seiner Hypothese, der Kampf ums Dasein und die natürliche Auslese der Tüchtigsten seien die Ursachen der Entwicklung der Arten. Nicht in seinem Versuch, den Evolutionsprozeß theoretisch zu erklären, liegt seine ganze Größe: Noch wichtiger war sein lebendiges Beispiel als erster und vielleicht größter Ökologe. Kein anderer hat das konstante, unlösliche Zusammenspiel zwischen Organismus, Funktion und Umwelt so gründlich beschrieben wie er. In der Person Charles Darwins war das post­mechanistische Weltbild, das auf dem beobachteten Wesen der lebenden Organismen beruht, symbolisch verkörpert; durch ihn trat es ins allgemeine Bewußtsein, um genauer formuliert und aktiviert zu werden.

In diesem Lichte besehen, ist es kaum ein Zufall, daß Darwin sich nicht im geringsten für Mechanik interessierte und es überdies auch verschmähte, mechanische Hilfsmittel zu benutzen. Obwohl es ihm nicht an Geld fehlte, lehnte er es ab, ein Mikroskop zu kaufen, und verwendete weiterhin sein einfaches, altmodisches Vergrößerungsglas; und er lachte über seine anfängliche Ungeschicklichkeit in der Anfertigung mikroskopischer Schnitte, als er schließlich ein Mikrotom erwarb. Darwin schreckte auch davor zurück. Tauben, die er züchtete, zu töten und zu sezieren; wie wäre er erst vor den heutigen Biologiekursen an Mittelschulen zurückgeschreckt, wo die erste Lektion darin besteht, daß man einen Frosch töten lernt. Als er merkte, daß er seine frühere Freude an Poesie und Malerei verlor, beklagte er dies als einen Verlust an Glück und meinte, dies sei »möglicher­weise schädlich für den Intellekt und wahrscheinlich noch mehr für den moralischen Charakter, da es den emotionellen Bereich unserer Natur schwächt«.

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Darwin war also besonders begabt, jene überaus wichtigen Reaktionen zu erkennen, die organisches Verhalten von präorganischen Veränderungen durch Temperatur, Druck sowie durch chemische und elektrische Prozesse unterscheiden. In seiner Abhandlung über den Gefühlsausdruck bei Tieren führte er zur wissenschaftlichen Beschreibung von Organismen die subjektiven Faktoren wieder ein, die Galilei und spätere Wissenschaftler als außerhalb des Bereichs objektiver Feststellung liegend eliminiert hatten. Darwin selbst blieb, obwohl er sich zunehmend auf systematische intellektuelle Studien verlegte, bis ans Ende von allem Lebendigen fasziniert; mein Lehrer Patrick Geddes berichtete von ihm, er habe einmal über einen Abstrich unter seinem Mikroskop, in dem Infusorien schwammen, einen Freudentanz aufgeführt — er ahnte vielleicht, wie später Herbert Spencer Jennings, daß es sich hier nicht bloß um eine Urform des Lebens, sondern auch um eine Urform des Geistes handelte. Indem Darwin Formen, Farben und ornamentale Gebilde als Faktoren der geschlechtlichen Zuchtwahl deutete, anerkannte er den ästhetischen Ausdruck — unabhängig von dessen Sinn — als einen organischen Wesenszug. Wallace, Darwins Freund und Rivale, teilte dessen Entzücken; er beobachtete Paradiesvögel und farbenprächtige tropische Schmetterlinge auf den Inseln des Korallenmeers.

Schon vor Darwin hatte die Idee der organischen Evolution viele Denker beschäftigt. Was Darwins Beitrag so überzeugend machte, waren nicht seine spezifischen Theorien über die Entstehung und Entwicklung der Arten, sondern seine einzigartige Fähigkeit, eine große Zahl von Beobachtungen bestimmter Ereignisse verschiedenster Art zusammenzufassen. Obwohl keine einzelne Reihe von Beobachtungen zur Erklärung der Evolution des Lebens ausreichte, enthüllte die Gesamtheit, als Darwin sie zusammenfügte, ein konkretes Muster von äußerster Komplexität, in dem jeder Aspekt des Ganzen in bezug auf Raum und Zeit theoretisch notwendig war, um den kleinsten Teil oder das flüchtigste Ereignis zu erklären. Zum ersten Mal gab es eine rationale Betrachtungsweise, in der die Natur nicht bloß als zufällige Ansammlung von Atomen, sondern als ein sich selbst organisierendes System erschien, aus dem schließlich der Mensch hervorgegangen war, dank einer einzigartigen neuralen Entwicklung, die Bilder und Symbole für bewußtes Verständnis lieferte.

Im klassischen wissenschaftlichen Denken ist das Ganze aus den Teilen zu erklären, die bewußt isoliert, sorgfältig beobachtet und genau gemessen werden. Aber in Darwins komplementärem ökologischen Ansatz ist es das Ganze, das Charakter, Funktion und Zweck des Teiles enthüllt. Obwohl mit dem Auftauchen neuer Beweise einzelne Fäden in dem Muster vielleicht ausgetauscht und Teile des Musters geändert oder gänzlich umgezeichnet werden müssen, ist es wichtig, das Ganze zu sehen, selbst wenn die Genauigkeit der Definition darunter leidet, und dieses Ganze im zeitlichen Ablauf zu erfassen, da manche von der Zeit bewirkte Veränderungen nur erfahren und nicht gemessen werden können.

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Die Grundzüge dieses verwickelten ökologischen Musters zusammengesetzt zu haben, war Darwins großartiges Verdienst. Und da er bereit war, jeden neuen Faden und jede neue Farbe, die in weiteren Untersuchungen zutagetreten mochten, in Betracht zu ziehen, war er selbst in späteren Ausgaben der Entstehung der Arten gelegentlich gezwungen, die Lamarcksche Erklärung, die er zuerst abgelehnt hatte, zu übernehmen — sehr zum Leidwesen der orthodoxen Darwinisten. Und so konnte Darwin, gerade weil er kein streng systematischer, geometrisierender Denker war. Beweise anerkennen, die seiner ursprünglichen Ansicht über die schöpferische Rolle der Eliminierung oder natürlichen Zuchtwahl widersprachen oder sie zumindest modifizierten.

Dank der Evolutionstheorie begann der westliche Mensch sich endlich als oberste zarte Spitze eines weitverzweigten, hoch­aufstrebenden Stammbaumes zu sehen, nicht mehr als ein auserwähltes Wesen mit einein göttlichen Adelspatent, verliehen vor rund sechstausend Jahren, als er und seine Mitgeschöpfe durch einen einzigen Willensakt Gottes erschaffen wurden. Wie sich zeigte, war diese neue Version der Genesis nicht nur wirklichkeitstreuer, sondern auch ebenso wunderbar wie ein vermeintlicher Schöpfungsakt. Die wichtigste Lehre der neuen Naturgeschichte war die Lehre der Geschichte an sich: die Lehre vom kumulativen Sieg des Lebens über das Nichtleben. Hatte die Erforschung des Himmels und der Erde neue Welten im Raum eröffnet, so enthüllte die Erforschung der Evolution eine noch bedeutsamere Welt in der Zeit. Lawrence J. Hendersons Analyse The Fitness of the Environment vervollständigte diese evolutionäre Interpretation, indem sie zeigte, daß die physikalische Natur an sich keineswegs lebensfeindlich, sondern im Gegenteil auf Grund der chemischen und physikalischen Eigenschaften der Erde für die Entstehung des Lebens prädisponiert war.

Diese neue Zeitperspektive stand in solchem Gegensatz zu den wenigen Jahrtausenden der biblischen Geschichte und zur leeren, statischen Ewigkeit, welche die christliche Theologie dem Jenseits zuschrieb, daß selbst die kühnsten Denker des neunzehnten Jahrhunderts davor zurückscheuten. So behauptete Hegel, dem oft evolutionäre Ansichten zugeschrieben werden, Veränderung sei einzig ein Attribut des Geistes, und die Welt der Natur sei nur ein sich stets wiederholender Zyklus, so daß das formenreiche Spiel ihrer Phänomene ein Gefühl der Langeweile erwecke.

Ausgerechnet Langeweile! Gerade das Gegenteil ist der Fall; Dank den Erkenntnissen der Evolutions­theoretiker entdeckte man in der gesamten Welt der Lebewesen Freiheit und Neuerung, zweckvolle Anpassung und

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Neubildungen, nicht als Folge eines einheitlichen göttlichen Plans, sondern als Resultat einer unendlichen Reihe begrenzter Versuche und Improvisationen, die einander im Ablauf der Zeit verstärkten und kohärenter und zweckmäßiger wurden. Obgleich der Evolutionsprozeß Behinderungen und Abweichungen, Regressionen und Rückschlägen unterworfen ist, enthält er das Versprechen einer freundlicheren Leitung durch den Menschen, nicht bloß dank dessen Intelligenz, sondern dank dessen sensiblen Gefühlsreaktionen und seiner zunehmenden Fähigkeit, seine objektiven und subjektiven Erfahrungen sowohl symbolisch als auch im Handeln zu verbinden, ohne die einen den anderen zu opfern. Eine solche Verbindung müßte manche der peinlichen Verirrungen und der entmutigenden Fehlschläge, die die Aufwärtsentwicklung des Lebens begleiteten, korrigieren.

In diesem organischen Weltbild gewann die Zeit eine neue Bedeutung; sie wurde nun nicht mehr ausschließlich mit Bewegung und Reihenfolge in Verbindung gebracht, sondern auch mit dem organischen Wachstum der Art und des Einzelwesens. Die Vergangenheit geht nicht verloren, sondern bleibt im individuellen Gedächtnis, im genetischen Erbe und in der gesamten Struktur des Organismus lebhaft präsent; zugleich zeigte sich auch ein vorwegnehmender, richtungweisender Vorwärtsdrang, der in jeder organischen Funktion fest verwurzelt ist und die einer Weiterentwicklung fähigen Arten in neue Situationen trägt, die neue Strategien erfordern, neue Funktionen bedingen und neue Wachstumsmöglichkeiten eröffnen. Damit enthüllte sich die Grundidee des fortschrittlichen oder avantgardistischen Denkens — die Vergangenheit muß zerstört werden! — als perverse Vorstellung, aus Ignoranz oder Gleichgültigkeit dem Phänomen des Lebens gegenüber geboren. »Die Vergangenheit hinter sich lassen« heißt das Leben hinter sich lassen — damit jede erstrebenswerte oder dauerhafte Zukunft.

Das vielleicht größte Hindernis für die menschliche Entwicklung war die Verdrängung der Vergangenheit ins Unbewußte, ohne den geringsten Versuch einer Neubewertung und Selektion, die für die Gestaltung der Zukunft erforderlich sind. Diese pauschale Verdrängung der Vergangenheit erklärt, wieso die Traumata, die mindestens vom vierten Jahrtausend vor Christus an die Entwicklung der Zivilisation verzerrt haben, von Jahrhundert zu Jahrhundert und von Kultur zu Kultur fortbestanden: Krieg, Sklaverei, organisierte kollektive Zerstörung und Ausrottung.

Die Auffassung der Zeit als Fluß organischer Kontinuität, erlebt als Dauer, Gedächtnis, geschriebene Geschichte, Möglichkeit und bevorstehende Erfüllung, steht in diametralem Gegensatz zum mechanistischen Begriff der Zeit als bloße Funktion der Bewegung von Körpern im Raum — verbunden mit dem falschen Gebot, »Zeit zu sparen«, indem man die Bewegung beschleunigt und diese Beschleunigung in jedem erdenklichen Bereich zum höchsten Triumph des Machtsystems erhebt.

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Lassen wir uns von den noch fortlebenden mechanistischen Illusionen nicht täuschen. Von der Empfängnis und der Schwanger­schaft bis zum Tod haben alle Lebensfunktionen ihre vorgeschriebene Zeit; nur die destruktiven Prozesse sind schnell, nur die Entropie kommt ohne Mühe. Versteht man die Zeit so, im Sinn organischer Erfahrung, dann sind die Formulierungen von C. Lloyd Morgan, Bergson, Geddes und Whitehead für die biologische Revolution ebenso entscheidend, wie jene von Kopernikus, Galilei und Newton es für die mechanische Revolution waren.

Darwin selbst hat bei all seiner Klarheit vielleicht nie erkannt, daß seine Verbindung von evolutionärer Perspektive und ökologischer Methode entscheidende Bedeutung für das gesamte tägliche Leben hatte — und sei es nur deshalb, weil sie die Begriffsstruktur des herrschenden Machtsystems untergrub. Darwin hatte nicht bloß das statische Bild vom einmaligen Schöpfungsakt, mit unveränderlichen Arten, unveränderlichen Grenzen und einem von Anfang an vorherbestimmten unabänderlichen Ende zerschlagen. Er hatte etwas weit Wunderbareres enthüllt — daß der Schöpfungsprozeß nicht vorbei ist, sondern fortwährend weitergeht und auf eine kosmische Evolution zurückreicht, die, wie Physiker es heute interpretieren, mit der Differenzierung der Elemente aus einem Ur-Wasserstoffatom begonnen hat. Die Form der Evolution ist weder zufällig noch prädeterminiert; doch bestimmt eine Grundtendenz zu selbständiger Organisierung, die erst nach Milliarden Jahren erkennbar wurde, in zunehmendem Maß die Richtung des Prozesses.

In dem Grade, als der Organismus die nötigen Voraussetzungen für Stabilität, Kontinuität, dynamisches Gleichgewicht und Selbstergänzung erlangt, wird zusätzliche Kreativität möglich; und es entwickelt sich die Fähigkeit, diese Bedingungen — in äußerst großen Intervallen — zu überschreiten. In diesen Augenblicken und in den Persönlichkeiten, durch die das Göttliche so blitzartig aufleuchtet, erreicht die organische Existenz einen kurzen, aber zutiefst befriedigenden Höhepunkt. Wenn anderseits zufällige Ereignisse sich mehren und eine enthumanisierte soziale Reglementierung für organische Entwicklung keinen Raum läßt, gewinnen Zersetzung und mutwillige Zerstörung die Oberhand, wie es heute der Fall ist.

Leider siegte der Darwinismus in der Form, in der Thomas Henry Huxley, der heilige Paulus des Darwinismus, ihn mit seinem Bild von der »grausamen Natur mit Zähnen und Klauen« popularisierte, über Darwins tiefere Anschauung vom Leben und entstellte so lange Zeit das im Entstehen begriffene organische Weltbild. Aus Gründen, die zu komplex sind, um hier analysiert zu werden, hatte Darwins Denken von Anfang an die Färbung seiner viktorianischen Umgebung angenommen, in der die industriell-imperialistische Ausbeutungsweise vorherrschte.

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Schon der Untertitel der Entstehung der Arten, nämlich Die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampf ums Dasein, verrät diese Mentalität. Der Darwinismus in diesem vergröberten Sinn verbannte nicht nur Wert und Zweck aus der organischen Evolution, er entzog seinen Exponenten auch Darwins beste Eigenschaften — Sensibilität, Zartgefühl, emotionale Empfindlichkeit für jede Manifestation organischer Aktivität.

Darwins Beitrag zur Evolutionslehre und zur ökologischen Einsicht gab der Entwicklung der Biologie gewaltigen Auftrieb, um so mehr, als gleichzeitige Entwicklungen in der Chemie es ermöglichten, die spezifische Kombination der Elemente — vor allem Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff —, aus denen das Protoplasma im wesentlichen besteht, zu identifizieren. Wie kommt es also, daß das organische Weltbild so langsam entstand und sich noch immer nicht durchgesetzt hat? Hauptsächlich wohl aus zwei Gründen. Die organische Evolution, die keineswegs einheitlich, automatisch oder konsequent ist, wurde fälschlich dem mechanischen Fortschritt gleichgesetzt. Diese Fehlbestimmung machte es leicht, den Kampf ums Dasein in ein unmensch­liches Hilfsmittel des Mythos der Maschine zu verwandeln. Anderseits hielt man mechanische Prozesse für objektiver als organisches Verhalten; so blieb das Maschinenmodell ein Kriterium für wissenschaftliche Genauigkeit und Richtigkeit, selbst dort, wo es um subjektiv bedingte Organismen ging.

Dennoch war der optimistische Glaube an einen fortgesetzten evolutionären Fortschritt vor fünfzig Jahren noch sehr lebendig. Sowohl John Dewey als auch Woodrow Wilson priesen das darwinistische Denken im Gegensatz zur unhistorischen Newtonschen Denkweise. Doch die folgenden fünfzig Jahre verzögerten die Entwicklung eines organischen Weltbildes. Die allzu offensichtlichen nationalen Kämpfe ums Dasein, von zwei Weltkriegen und einer Unmenge zivilisierter Massaker schaurig illustriert, zerstörten die hoffnungsvolle Botschaft der Evolution; und abgesehen von Spezialisten der Phylogenie oder von einigen wenigen philosophischen Denkern wie Henri Bergson und Leonard Hobhouse, kam die Idee der Evolution als altmodisch, wenn nicht gar als falsch, in allgemeinen Verruf — obwohl mittlerweile die Prinzipien der Ökologie in viele Bereiche übertragen worden waren. Patrick Geddes versuchte sie in seinem. Studium der Städte sogar auf das höhere Geistesleben anzuwenden.

Mit dem hundertjährigen Jubiläum der Entstehung der Arten hörte die Vernachlässigung der Evolution auf; und nun ist wieder ein umfassenderes Bild des gesamten Prozesses in Entstehung begriffen. Julian Huxley, der Enkel von Darwins altem Verbündeten, zählte zu jenen, die die Gegenkräfte des biologischen Humanismus mobilisierten.

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Nicht zufällig macht man den Isolationismus und Reduktionismus der orthodoxen Wissenschaft, die allzu bereitwillig den Bedingungen des Machtsystems gehorcht, verantwortlich für die katastrophalen Folgen der Anwendung solcher antiorganischer Konzepte zur Ausbeutung und Beherrschung lebender Arten. Jedes Denken, das diese Bezeichnung verdient, muß heute ökologisch sein, in dem Sinne, daß es die organische Vielfalt anerkennt und nutzt und jede Veränderung nicht nur den Bedürfnissen des Menschen oder einer einzelnen Generation, sondern auch denen all seiner organischen Partner und aller Teile seines Lebensraums anpaßt.

Wenn es innerhalb der nächsten Generation gelingt, die von der Wissenschaft entfesselten Destruktionskräfte unter Kontrolle zu bringen, ehe sie den Planeten völlig zerstört haben, so nur deshalb, weil das neue organische Modell des ökologischen Zusammen­hangs und Selbstaufbaus (Unabhängigkeit und Zweckmäßigkeit), das erstmals von Darwin aufgestellt wurde, schließlich die Oberhand gewinnen wird.

 

Von der Macht zur Fülle 

Nach dem Stand des gegenwärtigen Wissens über die organische Evolution, den Aufstieg des Menschen, die Entwicklung der Kultur und der Persönlichkeit — so ungenügend und unvollständig diese neuen Einblicke auch noch sind — ist es nun offenkundig, daß sowohl das mechanische Weltbild als auch seine technologischen Komponenten in bezug auf den Menschen hoffnungslos rückständig sind. Je stärker wir mit dem Machtsystem verbunden sind, desto mehr entfremden wir uns jenen Lebensquellen, von denen die weitere menschliche Entwicklung abhängt.

Das kollektive Unvermögen, diese alten traumatischen Fixierungen zu erkennen und die daraus entspringenden Verirrungen zu korrigieren, hat eine Zivilisation nach der anderen dazu geführt, die gleichen Fehler bis zur Erschöpfung zu wiederholen. In dem Maße, in dem sich der Einflußbereich des Machtsystems ausweitet, verringert sich jedoch die Wahrscheinlichkeit, daß an einem anderen Ort, mit anderen Menschen und in einer anderen Kultur ein neuer Anfang gemacht werden kann; denn gerade der Erfolg der Massenproduktion und der Massenmedien hat die alten Irrtümer der Zivilisation noch stärker verbreitet und verfestigt.

Die große Revolution, die wir brauchen, um die Menschheit vor den drohenden Angriffen der Beherrscher der Megamaschine auf das Leben zu schützen, verlangt vor allem eine Ersetzung des mechanischen Weltbilds durch ein organisches, in dessen Mittelpunkt der Mensch steht — »kühl und gefaßt einer Million Welten gegenüber«, wie Whitman sagt.

Nimmt man ein organisches Modell an, dann muß man auf die paranoiden Ansprüche und die verrückten Hoffnungen des Machtkomplexes verzichten und Endlichkeit, Begrenztheit, Unvollständigkeit, Ungewißheit und schließlich den Tod

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als notwendige Lebensattribute, ja als Voraussetzungen für die Erlangung von Ganzheit, Autonomie und Kreativität akzeptieren. Vielleicht lassen sich die Implikationen eines solchen Übergangs von einem kosmischmechanischen zu einem geozentrischen, organischen und menschlichen Modell am deutlichsten an der Technik erkennen.

Wenngleich noch lange nicht vollendet und allgemein anerkannt, ist das organische Modell doch schon zum Teil vorhanden und so etabliert, daß es bereits seit mehr als hundert Jahren wirksam ist — sogar im Bereich der Technik. So beharrlich ist jedoch das mechanische Stereotyp, daß selbst in einer ansonsten hervorragenden Geschichte der Technik die Erfindung des Telephons ohne Hinweis' auf die Tatsache geschildert wird, daß dieses seinen Ursprung im Versuch der Schaffung eines Sprechautomaten hatte und daß Alexander Graham Bell den Hörer bewußt der Anatomie des menschlichen Ohrs nachbildete.

Doch dies war nur die erste verblüffende Erfindung, die auf einem organischen Modell beruhte und einen Lebensvorgang simulierte, nicht wie Vaucansons Uhrwerk-Ente oder sein Flötenspieler durch Herstellung grober mechanischer Äquivalente, sondern durch Anwendung einer vorgegebenen biologischen Lösung. So machte auch das sorgfältige Studium des Vogelflugs, von Borelli und Pettigrew bis zu den Brüdern Wright, die mechanische Nachahmung geflügelter Lebewesen möglich. Bei einer noch komplizierteren Maschine, dem Computer, wurde kein Fortschritt erzielt, ehe die mechanischen Komponenten durch elektrische Ladungen ersetzt waren, so wie es bei der Informationsübermittlung im Nervensystem der Fall ist — ein Schritt, zu dem bereits Galvanis Experimente mit den Reflexen eines Frosches den Ansatz geliefert hatten. Die Bedeutung organischer Phänomene für die Kybernetik ist heute so klar, daß moderne Computer-Forschungsteams nicht nur Mathematiker, Elektrophysiker und Techniker, sondern auch Physiologen, Gehirnspezialisten und Linguisten umfassen.

Helmholtz machte einst geringschätzige Bemerkungen über das menschliche Auge und schlug spezifische mechanische Verbesserungen vor; aber im Vergleich mit einem lebenden Wirbeltier ist die beste existierende Maschine nur eine unbeholfene Attrappe, um nichts lebensähnlicher — abgesehen von der Bewegung — als eine Mumie. Das gilt noch viel mehr für höhere menschliche Funktionen, bei denen Sensibilität, Phantasie, Gefühl, Empfindung, sexuelle Leidenschaft, Liebe, mit allen dazugehörenden Symbolen eine anders nicht zu erlangende Bereicherung darstellen, die keine Maschine nutzen oder kopieren kann.

Vor allem haben nur Organismen, die sich selbst reproduzieren und erneuern können, die Probe der Zeit bestanden, indem sie Kontinuität bewahrten, schöpferische Kraft bewiesen und zeitweilig die Entropie umkehrten.

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Was die Automation und die Kybernetik betrifft, die die Technologen jetzt als das höchste Produkt ihrer Kunst preisen, so entsprechen sie den ältesten organischen Mitteln, nicht den jüngsten — den Reflexen, nicht der Großhirnrinde. In diesem evolutionären Sinne wäre die Automation, als Ziel menschlicher Entwicklung betrachtet, ein Schritt zurück — was sie in mancher Hinsicht auch tatsächlich bereits ist.

An diesen Beobachtungen ist nichts grundlegend Neues, aber die Lehre daraus muß noch gezogen werden. Nicht nur waren die ersten Werkzeuge des Menschen von den Körperorganen abgeleitet — der Hammer: eine Faust, der Schaber: Fingernägel, der Stock, mit dem man Früchte herunterschlug, ein verlängerter Arm; noch viel erstaunlicher ist, daß das komplizierteste Instrument des Frühmenschen — das jedes mechanische System an Kompliziertheit und Flexibilität weit übertrifft — die symbolische Struktur der Sprache war, nur aus Gesten, Tönen, Bildern zusammengestellt, deren Teile Stabilität als Einheiten und zugleich praktisch unbegrenzte Möglichkeiten der Kombination zu einzigartigen, aber verständlichen Strukturen besitzen.

Sowohl in ihrer dynamischen Kontinuität als auch in ihrer Produktivität ist die Sprache faktisch ein viel vollkommenerer Prototyp für eine Überflußökonomie als irgendein nach einem mathematischen Modell konstruiertes System, einfach weil sie eine Vielfalt menschlicher Erfahrungen speichert, für die es kein mathematisches oder logisches Gegenstück gibt.

Da ein organisches Modell sich dem Wesen nach auf alle menschlichen Tätigkeiten erstreckt, wenn es nicht aus praktischen Gründen durch ein einfacheres, enger begrenztes Schema ersetzt wird, hat es die Mechanisierung vor vielen Schwierigkeiten bewahrt, so wie alte Dorfbräuche und -traditionen und noch ältere instinktive Bindungen in vielen Fällen harte Gesetzes­bestimmungen, die keine Lücken offenließen, gemildert haben. Wenn die Technik in Zukunft organischen Kriterien zugänglicher sein wird, dann wird die fixe Idee der quantitativen Produktivität einem anderen Ziel Platz machen: der Vermehrung der Mannigfaltigkeit und der Herstellung von Fülle.

Wir kommen auf den Grundgedanken dieses Buches zurück. Wenn wir die Megamaschine daran hindern wollen, weiterhin jeden Aspekt der menschlichen Kultur zu kontrollieren und zu deformieren, dann werden wir dazu nur mit Hilfe eines völlig anderen Modells imstande sein, das nicht von Maschinen, sondern unmittelbar von lebenden Organismen und organischen Komplexen (Ökosystemen) abgeleitet ist. Die beobachtbaren, abstrahierbaren, meßbaren Aspekte müssen ergänzt werden durch jene Lebensfakten, die nur im Lebensprozeß selbst erkannt werden können — und somit Teil der Erfahrung auch der niedrigsten Organismen bilden.

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Dieses neue Modell wird mit der Zeit die Megatechnik durch die Biotechnik ersetzen; und das ist der erste Schritt zum Übergang von der Macht zur Fülle. Wenn ein organisches Weltbild sich durchsetzt, dann wird das praktische Ziel einer Ökonomie der Fülle nicht darin bestehen, die Maschine mit noch mehr menschlichen Funktionen zu füttern, sondern darin, die unermeßlichen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und Selbst­transzendierung des Menschen weiterzuentwickeln, indem der Mensch bewußt viele der Aufgaben wieder auf sich nimmt, die er allzu sorglos dem mechanischen System übergeben hat.

Im Rahmen des Machtkomplexes dient das rein quantitative Konzept eines unbegrenzten Überflusses, nicht nur eines materiellen, sondern auch eines symbolischen Überflusses, als Leitprinzip. Im Gegensatz dazu zielt ein organisches System auf qualitativen Reichtum, Größe und Weite ab, frei von quantitativem Druck und Gedränge, da Selbstregulierung, Selbstkorrektur und Selbstantrieb ebenso integrale Eigenschaften der Organismen sind wie Ernährung, Fortpflanzung, Wachstum und Wieder­herstellung. Gleichgewicht, Ganzheit, Vollständigkeit, ständige Wechselwirkung zwischen inneren und äußeren, subjektiven und objektiven Aspekten des Lebens sind die Bestimmungsmerkmale des organischen Modells; und die allgemeine Bezeichnung für eine Ökonomie, die auf einem solchen Modell basiert, ist Ökonomie der Fülle. Fülle ist etwas anderes als rein quantitativer Reichtum oder unbegrenzter Überfluß.

Sobald dieser organische Maßstab vorherrscht, kann das Kleine, quantitativ Unbedeutende oder Unwiederholbare sich als ungemein wichtig und wertvoll erweisen, so wie ein winziges Spurenelement im Boden oder in der Nahrung, wenn es in dem nur den Kaloriengehalt berücksichtigenden Ernährungsplan fehlt, den Unterschied zwischen Gesundheit und Krankheit ausmachen kann. In diesem Sinne wird das alte Sprichwort »Genug ist reichlich« zur Weisheit. Das wird auch von Blakes prägnantem Aphorismus bekräftigt: »Mehr! Mehr! ist der Ruf einer im Irrtum befangenen Seele; weniger als alles befriedigt den Menschen nicht.« (Aber »alles« heißt hier das Ganze, nicht alle Dinge.)

Nun war der Begriff der Fülle, als notwendige Voraussetzung günstiger organischer Entwicklung und vor allem als unerläßliche Bedingung eines guten Lebens, allgemein bekannt, noch lange bevor er durch die Erforschung der organischen Evolution und des ökologischen Gleichgewichts wissenschaftlich definiert werden konnte. Wie Arthur Lovejoy in The Great Chain of Being aufzeigte, gibt es viele traditionelle Versionen des Prinzips der Fülle; wie es scheint, wurde es erstmals von religiösen Denkern formuliert, die über den verwirrenden Überfluß der Natur und die unaufhörliche Schöpferkraft Gottes nachsannen.

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Selbst als man die Arten noch für statisch und endgültig hielt, für das Ergebnis eines einmaligen obersten Machtspruchs, wurde nicht nur der Überfluß an Arten oder deren Abstufung von den niedrigsten Organismen bis hinauf zum Menschen als bester Beweis für die weise Ordnung alles Seins angesehen. Fülle bedeutet mehr als Überfluß: Sie ist die Voraussetzung für organische Mannigfaltigkeit, Veränderung, Auslese, mit einem Wort, für Freiheit, die ihren Gipfel im Menschen erreicht.

Obgleich ein Teil des biologischen Prinzips der natürlichen Fülle in der Lehre von der natürlichen Auslese enthalten war, wies die zu Darwins Zeit vorherrschende viktorianische Machtideologie den negativen Prozessen eine zweideutige Rolle zu, wobei man Ausrottung mit Auslese und Überleben mit Entwicklung verwechselte und so das Prinzip der Fülle als Grundbedingung autonomer Aktivität und selbstgesteuerter Transformation aus den Augen verlor.

Zum Glück hat Walter Cannon die Lehre von der organischen Fülle in seiner Abhandlung The Wisdom of the Body neu formuliert. Seine Schlußfolgerungen gehen von einer genauen experimentellen Untersuchung der Organe und Funktionen des menschlichen Körpers aus, insbesondere von jenen autonomen Prozessen, die mit Gefühlen und Emotionen zusammenhängen; er führte somit die Untersuchungen Claude Bernards, John Scott Haldanes und Charles Sherringtons weiter, von Darwin selbst ganz zu schweigen.

Cannons Studium des Körpers konzentrierte sich auf jene wunderbare Ausstattung, die der tierische Organismus entwickelt, um das dynamische Gleichgewicht aufrechtzuerhalten: besonders auf die koordinierten Wechselwirkungen von Information und Reaktion, die beispielsweise in der Wahrung des lebenswichtigen Gleichgewichts zwischen Säuren- und Basengehalt des Blutes mit äußerster Empfindlichkeit und Promptheit ablaufen. Dieses homöostatische Gleichgewicht bewahrt den Organismus vor jeder Schädigung seiner Ganzheit, sei es durch Übermaß oder durch Mangel; denn eben diese Ganzheit ist beinahe eine Definition organischer Lebensfähigkeit und Gesundheit.

Bei den elementaren Gefühlen von Angst und Wut, die mit den ältesten Teilen des Gehirns verbunden sind, ist diese schnelle Reaktion, ohne bewußte Intervention oder Steuerung, eine Voraussetzung des Überlebens. Aber sie bewirkt mehr als bloßes Überleben; denn eben diese Automatik macht das wachsende Gehirn und das sich verzweigende Nervensystem frei für wichtigere Aufgaben, die über die Notwendigkeiten des unmittelbaren Überlegens hinausgehen und vom neuen Teil des Gehirns ausgeführt werden. Hier schuf sich der Mensch, mittels seiner bewußten symbolischen Handlungen, ein zweites Reich, das seinen höheren persönlichen und sozialen Bedürfnissen besser entspricht.

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Wahrung der Ganzheit inmitten fortwährender Veränderung, maximaler Spielraum für Variabilität und abenteuerliche Versuche, Hinausgehen über die unmittelbaren Bedürfnisse und Reize unter Beibehaltung einer genügend konstanten Struktur und eines dynamischen Gesamt­musters » das ist das Wesen lebender Organismen im Gegensatz zu zufälligen Anhäufungen von Molekülen. Und es kennzeichnet auch den Unterschied zwischen höheren und niedrigeren Organismen. Obgleich alle Organismen sich unaufhörlich verändern, gehen diese Veränderungen innerhalb mehr oder minder bestimmbarer Grenzen von Zeit und Raum vor sich, denn die zeitliche Ausdehnung ist durch die erbliche Lebensdauer des Organismus begrenzt wie auch durch den ökologischen Komplex, von dem er nolens volens ein integraler Teil ist.

Darum sind die Hauptattribute einer Machtökonomie — die ausschließliche Vergrößerung und Erweiterung der Macht und das Fehlen von Differenzierungen, Begrenzungen und Einschränkungen — das Gegenteil derer eines organischen Systems. In Organismen steht Macht immer in einem bestimmten Verhältnis zu Funktion und Zweck. Leben kann sich nicht in einem System zwanghafter Dynamik entwickeln, wo ungehinderte Veränderung — Veränderung nur um weiterer Veränderung willen, wie die Megatechnik sie erfordert — die Möglichkeit eines dynamischen Gleichgewichts und einer autonomen Entwicklung eliminiert.

Was für die Organismen im allgemeinen gilt, trifft noch mehr auf den Menschen im besonderen zu. Nur im Hinblick auf seine Zukunft, die sein gegenwärtiges Ich überschreitet und überdauert, haben alle vergangenen Errungenschaften seines Geistes und seiner kollektiven Kultur einen Sinn; ist er von dieser Zukunft abgeschnitten, dann gerät er in Not, so als wäre er von der Wasser- und Luftzufuhr abgeschnitten. Das Gedeihen des Menschen beruht auf der Herstellung eines Gleichgewichts zwischen Selbsterhaltung und Wachstum, äußeren Reizen und inneren Reaktionen, Tätigkeit und Erholung; doch immer ist ein Überschuß notwendig, der ausreicht, Schwund zu ersetzen, unerwarteten Anforderungen zu begegnen und freie Entscheidungen zu treffen. Erhaltung der Identität als Gattungs-, Gruppen- und Einzelwesen, Wahrung des spezifischen Charakters, Herstellung der Minimalbedingungen für das Durchlaufen eines ganzen Lebenszyklus — das sind die Grundvoraussetzungen für Organismen, Gemeinschaften, Kulturen — und vor allem für den Menschen.

Walter Cannons besondere Leistung bestand darin, eine experimentelle physiologische Basis für die grundlegende Lehre der griechischen paideia — der Idee des Gleichgewichts oder des goldenen Mittelwegs — geschaffen zu haben. Cannon wies nach, daß die automatische Gleichgewichtsorganisation des menschlichen Körpers — die ich, wohlgemerkt, nicht als Mechanismus bezeichne — dessen zweckperichtete Selbststeuerung hei wachsender Freiheit von äußerem Druck ermöglicht. Dieses Gleich­gewicht ist nicht einfach eine Frage der Quantität: Es erfordert nicht nur das richtige Maß, sondern auch die richtige Mischung von Eigenschaften und die richtige Organisationsstruktur.

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Wie Cannon feststellte, sind wir, »sofern unsere innere Umwelt unverändert bleibt, frei von Beschränkungen durch innere und äußere Faktoren oder Umstände, die störend sein könnten«. Freiheit wofür? Cannon antwortet: »Freiheit für die Tätigkeit des höheren Nervensystems und der Muskeln, die von den Nerven gesteuert werden ... Kurz, der Organismus ist frei für komplizierte, sozial wichtige Aufgaben, weil er in einem elastischen Rahmen lebt, der automatisch in gleichbleibendem Zustand gehalten wird.« Wir werden auf diese wichtigen Aufgaben sogleich zurückkommen.

Cannon erkannte nicht nur die Notwendigkeit eines dynamischen inneren Gleichgewichts, sondern verwies auch auf ein weiteres Charakteristikum, das für das Funktionieren des Körpers unerläßlich ist: den organisierten Überschuß. Dem Körper steht ein viel größerer Energievorrat und eine größere Zahl von Organen zur Verfügung, als er benötigt, um sich unter normalen Bedingungen am Leben zu erhalten. Viele wichtige Organe — Augen, Ohren, Lunge, Nieren, Arme, Beine, Hände und Hoden — sind paarweise vorhanden. Wird eines dieser Organe verletzt oder zerstört, dann funktioniert das andere weiter und ist imstande, den ganzen Körper zu erhalten, wenn auch vielleicht nicht mit voller Kapazität. Nun gibt es ein weiteres wichtiges Hilfsmittel, um mit plötzlich auftretenden Notfällen, die besondere Muskelanstrengung erfordern, fertig zu werden. Es besteht in der Zufuhr von Zucker, die bei Angst oder Wut von den Nebennierendrüsen automatisch verstärkt wird, wenn zusätzliche Energie für Flucht oder Angriff erforderlich ist. Diese Freigebigkeit steht im Gegensatz zum Ökonomieprinzip, auf dem Konstruktion und Funktionsweise einer Maschine beruhen — obgleich auch hier kluge Konstrukteure gelernt haben, für zusätzliche Energie oder Festigkeit — den sogenannten Sicherheitsfaktor — zu sorgen, um außerordentlichen Anforderungen zu entsprechen, und manche Brücke, manches Gebäude oder Flugzeug ist in Stücke gebrochen, wenn dieses Prinzip außer acht gelassen wurde.

Cannons Ausführungen in The Wisdom of the Body gelten natürlich nicht gleichermaßen für alle organischen Funktionen. Vor allem dient das Prinzip der Homöostase hauptsächlich der Selbsterhaltung und den damit zusammenhängenden Prozessen; es erstreckt sich nicht auf die Erfordernisse des Körperwachstums, das oft das Gesamtgleichgewicht vorübergehend in Unordnung bringt; es erklärt auch nicht alle jene überflüssigen Aktivitäten von Spiel, Arbeit, Denken, ohne die selbst das Tierleben auf rein vegetativem Niveau bleiben würde. Cannons Untersuchung hat vor allem gezeigt, daß die Natur Millionen Jahre vor unserer heutigen Technik ihre eigene Überflußökonomie und ihr eigenes Automationssystem hervorgebracht hat.

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 Aber er war sich völlig klar darüber, daß die größte Bedeutung seiner Forschungen darin bestand, zu erklären, wie das innere Gleichgewicht des Körpers es dem Menschen ermöglichte, seine höheren Funktionen zu entwickeln.

Zugleich enthüllt Cannons Beschreibung der organischen Homöostase, daß jedes automatische System, wenn es sich der Vollendung nähert, eine innere Schwäche aufweist. Darauf habe ich schon im Zusammenhang mit der Massenproduktion und der Automation hingewiesen: Das System neigt dazu, starr und statisch zu werden, wenn es keinen Spielraum für Faktoren außerhalb seiner läßt und nicht für weiteres Wachstum sorgt, indem es aus einer größeren Umwelt und einem reicheren Erfahrungsschatz schöpft, als in das automatische System einprogrammiert wurde.

Cannon erkannte — zum Unterschied von unseren zeitgenössischen Technokraten —, daß die Automation am Anfang und nicht am Ende der menschlichen Evolution steht; daß das Bestreben, dieser niedrigen Stufe organischer Perfektion zu entkommen, sich in der bemerkenswerten neuralen Entwicklung der Primaten ausdrückt, besonders in dem ständigen, weit über alle unmittelbaren Erfordernisse hinausgehenden Wachstum des Gehirns, das die Vorfahren des Menschen von den anderen Anthropoiden unterschied.

Cannons Untersuchung liefert nicht nur eine biologische Bestätigung für das Automationsprinzip, sondern zeigt auch die Schwächen einer Ökonomie, die versucht, die höheren Funktionen des Menschen auf ein automatisches System zu übertragen, daß letztlich imstande wäre, Entscheidungen zu treffen und Aktionspläne zu machen, ohne sich auf voraus- oder rückblickende Denkprozesse zu stützen außer solchen, die in einem Computer programmiert werden können. Der Weg des menschlichen Fortschritts führt nicht zu kollektiver Automation, sondern zur Erweiterung der persönlichen und der gemeinschaftlichen Autonomie; und jedes System, das diese Entwicklung umkehrt, macht nicht nur das höchstentwickelte Organ des Menschen, sein Gehirn, faktisch überflüssig, sondern beraubt sich der wertvollsten Produkte des menschlichen Geistes: der riesigen Vorrats- und Energiespeicher von Bildern, Formen, Gedanken, Institutionen und Strukturen, mit deren Hilfe der Mensch sich über die Bedingungen seiner unmittelbaren Umwelt erhebt. Dieses Erbe zu schmälern oder zu zerstören, heißt das Gehirn der Menschheit verstümmeln.

Anstatt also die totale Automation als einzig möglichen Endpunkt einer entwickelten Ökonomie zu akzeptieren, müssen wir quantitative Macht durch qualitative Fülle ersetzen; und um dies zu tun, muß man bei den höheren Funktionen des Menschen beginnen, besonders bei denen, die es ihm gestatten, sich sowohl von seinen biologischen als auch von seinen institutionellen Fixierungen zu befreien.

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Mit der natürlichen Vorsicht des Wissenschaftlers, der sich über sein Fachgebiet hinauswagt, beschloß Cannon The Wisdom of the Body mit dem Gedanken, daß es nützlich sein könnte, das Modell des lebenden Organismus auf eine größere menschliche Gemeinschaft zu übertragen. Da Technologien und Wirtschaftssysteme selber Produkte des Lebens sind, ist es nicht verwunderlich, daß sie, sofern sie überhaupt funktionieren, viele organische Elemente in sich aufgenommen haben, die ihren abstrakt ideologischen oder institutionellen Prämissen nicht entsprechen.

Da jedoch Cannon sich für Gehirnphysiologie, Traumforschung und Sprachanalyse nicht zuständig fühlte, befaßte er sich nie mit dem Hauptproblem, das vermutlich schon sehr früh entstand, als der Mensch durch die Erweiterung seiner neuralen Funktionen die Möglichkeit erhielt, der Automatik seiner Reflexe und Hormone zu entkommen. Wie kann unter diesen Umständen das Gehirn daran gehindert werden, seiner eigenen ungeordneten Hyperaktivität, zum Opfer zu fallen, wenn es einmal von den Körperfunktionen, den Umweltkontakten und dem sozialen Druck befreit ist, die für seine Existenz notwendig sind? Die Notwendigkeit, diese spezifische Quelle der Labilität, die sich aus den außerordentlichen Kräften des Geistes ergibt, zu erkennen und Maßnahmen zu ihrer Überwindung zu treffen, ist nicht die geringste der Lehren, die sich aus der historischen Entwicklung des Menschen ziehen lassen.

Insofern die automatischen Systeme nicht nur mächtiger, sondern auch lebensähnlicher werden, bringen sie die Gefahr wachsender menschlicher Irrationalität auf höheren Stufen mit sich. Will man also einem organischen Modell folgen, muß man nicht nur das System als Ganzes im Auge haben, sondern jeden einzelnen Teil in Alarmbereitschaft halten, um jederzeit in den Prozeß eingreifen und die Lenkung übernehmen zu können.

 

Aufforderung zur Fülle

Die Tendenz des gegenwärtigen Machtsystems geht ganz offensichtlich nicht zum Ideal der Fülle, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Mit der Vervollkommnung der Automation und der Kybernetik werden immer mehr der höheren Funktionen des Menschen in ein automatisches System einbezogen; dadurch verliert er seine Fähigkeit, die Automatik unter Kontrolle zu halten, die die Entwicklung seines überreichen Nervensystems ihm verliehen hat. In einer organischen Ökonomie, welche die Vorzüge der Fülle anstrebt, würden mehr und mehr automatische Funktionen wieder der bewußten Kontrolle unterstellt, dezentralisiert und, oft zum ersten Mal, unter den vollen Einfluß der ganzen Persönlichkeit gebracht werden, verstärkt durch eine Kultur, die nicht mehr auf eine versteinerte Vergangenheit oder auf ein flüchtiges Hier und Jetzt beschränkt ist.

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Bisher wurden die Vorzüge, die die Fülle dem Menschen bietet, durch zwangsweise Enteignung des ökonomischen Überschusses zugunsten einer privilegierten Minderheit erprobt — und dies nur sporadisch und in egoistischer Weise. Den größten Teil der Geschichte hindurch haben die persönliche Freiheit und die kulturellen Anreize, die diesen Gruppen zur Verfügung standen, sowohl die Vorteile der Fülle als auch die Möglichkeiten der Korruption bloßgelegt, die eine Ökonomie profitbedingten Überflusses — häufig mit Fülle verwechselt — mit sich bringt. Die Vorteile eines solchen Lebens waren oft unbestreitbar: Der Überfluß brachte selbstbewußte Vollblutpersönlichkeiten hervor, wohlgenährt und voller Lebenskraft, bereit, phantasievolle Pläne zu akzeptieren und durchzuführen, sei es in der Architektur, in der Politik oder in der Religion; ihre Erfolge wären bei den beschränkten Möglichkeiten und dem begrenzten Horizont einer kleinen Gemeinde unmöglich, ja unvorstellbar gewesen.

Doch abgesehen von dem Reichtum, der durch solchen Zwang erzielt wurde, bieten ganz primitive Gemeinschaften die besten Beispiele von Fülle. In vielen Gebieten hatte man, ehe der neolithische Garten- und Ackerbau unter die zentralisierte Zwangs­herrschaft geriet, die Steuern und Zwangsarbeit einführte, auch ohne Enteignung ein bescheidenes Maß an Fülle erreicht. In diesen bescheidenen Gemeinschaften gab es weder malthusianischen Kampf ums Dasein noch Marxschen Klassenkampf. Dies traf besonders für die tropischen Siedlungsgebiete mit ihren günstigen klimatischen Bedingungen zu, wo viele dieser Gemein­schaften noch existierten, als sie im neunzehnten Jahrhundert entdeckt wurden.

Die Anfälligkeit einer solchen Ökonomie ist offenkundig: Die Gaben der Natur sind zu ungewiß, der Spielraum ist zu eng, das Gleichgewicht zu labil. Darum neigen primitive Kulturen, um ihre Kontinuität zu sichern, zu Beschränkung und Sparsamkeit und sind nicht aufgeschlossen für Neuerungen oder Risken, ja oft nicht einmal bereit, vom Vorhandensein ihrer Nachbarn zu profitieren.

Diese Schwäche hat Lao-tse in einem Passus zusammengefaßt, der sonderbarerweise die Vorzüge einer solchen Ökonomie preisen sollte: 

»Es könnte noch mehr Boote und Wagen geben, und niemand würde damit fahren ... Der nächste Ort könnte so nahe sein, daß man die Hähne krähen und die Hunde bellen hörte, aber die Leute würden alt werden und sterben, ohne jemals dort gewesen zu sein.«

Für die Überwindung dieser Art von Versteinerung schulden wir dem Machtkomplex Dank. Fülle auf solch vereinzelter, magerer, ereignisloser Basis versinkt allzu leicht in stumpfe Ärmlichkeit und dumpfes Dahinvegetieren.

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Thoreau erprobte diese Möglichkeit selber in seinen zwei Jahren in Walden; doch er erkannte, daß dies weder gut noch anziehend war für ein ganzes Leben, gerade nur für einen Urlaub von einer Wirtschaft, die ihm zuviel abverlangte und ihm die Muße versagte, die er für sein wahres Leben als fühlender, denkender, überlegender Beobachter brauchte.

Nicht rückwärts zu jener primitiven Fülle, sondern vorwärts zu einer großzügigeren Lebensweise, einer weit großzügigeren als die der höchstentwickelten Überflußgesellschaft von heute, muß die neue Generation ihre Pläne richten. Viele der wünschens­wertesten Züge einer Ökonomie der Fülle — einschließlich des Luxus, trügerischen Luxusgütern den Rücken zu kehren — fehlen dem Machtsystem fast per definitionem. Wenn wir es wagen, der häßlichen Zukunft, wie die Propheten der Megatechnik sie verkünden, vorzubeugen, wenn wir deren sterile bürokratische Utopien verwerfen, dann deshalb, weil wir unsere andersgeartete Ökonomie auf ein adäquateres Modell stützen wollen, auf eines, das nicht vom Sonnensystem oder von dessen mechanischen Derivaten abgeleitet ist, sondern aus dem Wesen seines vorläufig höchsten Produkts, des Lebens selbst, wie es in den lebenden Organismen verkörpert ist und im Geist des Menschen reflektiert, vergrößert und gesteigert wird. Das Ideal eines organischen Systems, das Fülle anstrebt, nicht nur materiellen oder symbolischen Überfluß, ist die Freisetzung menschlicher Lebenskräfte und die Erfüllung jeder Phase des Seins mit neuem Sinn und Wert.

Man beachte den Unterschied zwischen dem Ideal einer quantitativen Vergrößerung — der Massenproduktion von Erfindungen, Gütern, Geld, Wissen, Botschaften, Vergnügungen — und dem Ideal organischer Fülle. Er besteht nicht zuletzt darin, daß eine Ordnung, die Fülle schaffen will, ebenso für Zusammenziehung wie für Ausdehnung sorgen muß, für einschränkende Disziplin wie für Befreiung, für Zurückhaltung wie für schöpferischen Ausdruck, für Kontinuität wie für Veränderung. Organische Fülle ist daher in keinem Sinne als rein quantitativer Überfluß zu definieren, noch weniger als ungezügelte Produktivität, ungehemmter Aufwand und gedankenloser Konsum.

In einer Ordnung der Fülle gibt es Überfluß an manchem, aber nicht an allem: Sie gestattet sehr hohe Ausgaben zur Befriedigung der höheren Bedürfnisse des Menschen nach Wissen, Schönheit oder Liebe — wie in der Parabel vom öl, mit dem Jesus gesalbt wurde —, während sie äußerste Sparsamkeit bei Ausgaben für weniger wertvolle Zwecke erfordert. Emersons Ratschlag, auf niedriger Ebene zu sparen und auf hoher mehr auszugeben, ist genau der Kern dieser Auffassung. Doch paradoxerweise werden wir nur durch ein Machtsystem, wie es in den letzten drei Jahrhunderten entstand, in die Lage versetzt, die Segnungen der Fülle nicht auf kleine Minderheiten und einige bevorzugte Länder zu beschränken, sondern sie auf die ganze Menschheit auszudehnen, von der Milliarden noch nahe am Verhungern sind.

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Diese heilsame Transformation kann nur unter einer Bedingung erfolgen, und zwar einer harten: nämlich, daß die lebens­verneinenden Ideen und Methoden des Machtsystems aufgegeben werden und eine bewußte Anstrengung gemacht wird, auf allen Ebenen und in jeder Art von Gemeinschaft nicht für die Steigerung der Macht zu leben, sondern dazu, unsere Welt durch gegenseitige Hilfe, liebevolle Vereinigung und biotechnische Höherentwicklung für das Leben zurückzugewinnen. Nicht wissenschaftlicher Fortschritt oder Förderung der Macht, sondern Förderung des Lebens und des Geistes ist das Ziel.

Dieses organische Ideal hat in vielen Kulturen Wurzel geschlagen und wurde doch im gesamten Lauf der geschriebenen zivilisierten Geschichte immer wieder verhöhnt, verachtet und geschmäht; und es gibt keine Garantie, daß es nicht wieder unterdrückt und verworfen werden wird. Die Verheißung der Fülle ist also nicht leicht einzulösen; mit viel größerer Sicherheit könnte man prophezeien, daß die destruktiven Kräfte, die jetzt wirksam sind, bis zu ihrer unvermeidlichen Selbstzerstörung unbeirrbar weiterwirken werden. Doch eine rettende Gnade könnte es für die Menschheit noch geben: Denn gerade unter der Drohung völliger Ausrottung haben die unbewußten Kräfte des Lebens sich stets wieder gesammelt und totale Niederlage in einen teilweisen Sieg verwandelt. Dies könnte noch einmal geschehen.

Offenbar kann die Möglichkeit, zur Fülle — dieser höchsten ökonomischen Gabe des Machtkomplexes — zu gelangen, nicht unter den Bedingungen realisiert werden, die in diesem System herrschen. Solange uneingeschränkte Macht als Ideal gilt, das die Handlungen derer, die das System zu verändern suchen, ebenso beeinflußt wie das Handeln jener, die sich stolz mit ihm verbinden, ist eine organische Transformation unmöglich. Dennoch wäre es ein Irrtum, zu glauben, daß der Schwung dieses Systems nicht aufzuhalten ist, weil er eine kosmische Kraft repräsentiert, die man weder aufhalten noch zügeln kann.

Welches Naturgesetz hat den erhöhten Energieaufwand zum Gesetz des organischen Lebens erkoren? Die Antwort lautet: Es gibt kein solches Gesetz. In den komplexen Wechselwirkungen, die das Leben auf der Erde ermöglicht haben, ist Energie in allen ihren Formen natürlich eine unerläßliche Komponente, aber nicht der einzige Faktor. Organismen könnten fast als Vorrichtungen zur Regulierung von Energie definiert werden, die deren Tendenz zur Zerstreuung umkehren und sie innerhalb der für die Bedürfnisse und Zwecke des Organismus geeigneten Grenzen halten. Dieser Prozeß begann, bevor noch Organismen entstehen konnten, in der atmosphärischen Hülle, welche die direkte Sonnenstrahlung mildert und die tödlichen Strahlen herausfiltert.

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Zuviel Energie ist für das Leben ebenso gefährlich wie zuwenig; daher ist die Regelung des Inputs und Outputs von Energie, nicht deren unbegrenzte Ausdehnung, tatsächlich eines der wichtigsten Lebensgesetze. Dagegen muß jede übermäßige Energiekonzentration, selbst für scheinbar legitime Zwecke, sehr genau überprüft und häufig als Gefahr für das ökologische Gleichgewicht abgelehnt werden.

Die Auffassung, die Megamaschine sei wahrhaft allmächtig und unbesiegbar, ging, wie wir gesehen haben, mit dem Kult des Gottkönigtums einher — mit dem Mythos der Maschine in seiner ersten Gestalt. An den Toren der großen Paläste in Mesopotamien und Ägypten, von denen aus das antike System regiert wurde, standen gigantische Löwen oder Stiere, deren Hauptzweck es war, jene, die sich der königlichen Gegenwart näherten, mit einem lähmenden Gefühl der Nichtigkeit und Ohnmacht zu erfüllen. Eine Grabinschrift aus dem vierzehnten bis zwölften Jahrhundert vor Christus sagt über die Absichten des Sonnengottes Re: »Ich werde als König über sie herrschen und sie gering machen.« In noch abwegigerer Symbolik stehen die gleichen furchteinflößenden Geschöpfe vor den Portalen des heutigen Macht-Pentagons, wenngleich der Gott, den sie repräsentieren, dessen Geheimwissen nicht anfechtbar ist und dessen göttliche Anordnungen nicht in Frage gestellt werden können, sich letztlich, reißt man den Vorhang weg, nur als das neueste IBM-Computermodell herausstellt, eifrig programmiert von Dr. Strangelove und seinen Assistenten.

Doch es gibt einen anderen Irrtum, das Gegenteil der Machtverherrlichung, der sich als ebenso verhängnisvoll erweisen könnte — ein Irrtum, der jetzt trügerisch die junge Generation in Versuchung führt: nämlich die Auffassung, man müsse, um das vorhersehbare Unheil, das der Machtkomplex heraufbeschwört, abzuwenden, die gesamte historische Zivilisation zerstören und auf einer ganz neuen Grundlage wieder von vorne beginnen. Leider schließt die neue Grundlage, wie solche revolutionäre Gruppen sie sich vorstellen, alle Formen der Massenkommunikation, des Massentransports und zwangsweiser Massen­indoktrinierung ein, die nicht die Befreiung des Menschen, sondern eine Diktatur der Massen begünstigen, welche womöglich noch menschenfeindlicher wäre als die gegenwärtige Überfluß­gesellschaft, da sie unseren unermeßlichen Kulturschatz als wertlos und unerheblich abtut. Als wären Ignoranz und Unfähigkeit brauchbare Lösungen! Als könnten menschliche Institutionen über Nacht improvisiert werden!

Was für die Zivilisation des Bronzezeitalters galt und ihren Machtmißbrauch zum Teil wettmachte, trifft gleichermaßen auf unsere modernen Äquivalente zu. »Die negativen Institutionen ... hätten sich nicht so lange halten können, hätten sie nicht auch positive Leistungen hervorgebracht, die, obwohl der herrschenden Minorität zugedacht, schließlich für die ganze Gemeinschaft von Nutzen waren und die Entstehung einer universalen Gesellschaft förderten, welche dank ihrer Größe und Mannigfaltigkeit viel höhere Entwicklungsmöglichkeiten besaß.«.

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 Wenn diese Bemerkung am Anfang richtig war, dann ist sie es heute, da die Technik sich über den ganzen Planeten ausgebreitet hat, um so mehr. Der einzig gangbare Weg zur Überwindung des Machtsystems ist die Übertragung seiner positiven Elemente auf einen organischen Komplex. Und die Aufforderung zur Fülle geht von der menschlichen Persönlichkeit aus und ist an diese gerichtet.

 

Neue Perspektiven der Kultur

Die Aufgabe, die ökonomischen und sozialen Implikationen einer Gesellschaft der Fülle im Detail auszuführen, geht weit über den Rahmen dieses Buches und die Kraft eines einzelnen Menschen hinaus. Da jedoch das Prinzip der Fülle, zum Unterschied von Überfluß, Reichtum oder Wohlstand, nicht allgemein verstanden wird, will ich auf einige seiner möglichen Konsequenzen näher eingehen. Es handelt sich um Resultate, die spätere Generationen, wenn einmal ein organisches Weltbild vorherrschen wird, auf ihre Weise interpretieren werden.

Ahnungsweise haben die besten Köpfe des neunzehnten Jahrhunderts einige dieser Entwicklungen vorausgesehen — so verschieden geartete Denker wie Comte, Marx, Mill, Thoreau, Kropotkin, William Morris und Patrick Geddes. Und ein paar von ihnen haben manche der grundlegendsten Veränderungen, die ich bereits in meinen Ausführungen über Leonardo da Vinci berührt habe, in ihrer Lebenspraxis verwirklicht: Gleichgültigkeit gegenüber materiellen Anreizen, Verzicht auf Selbstreklame, vielseitige Interessen, bewußte Verlangsamung des Produktionstempos, des industriellen wie des intellektuellen, neuerliche Konzentration auf die höheren Funktionen des Menschen und auf kulturelle Werte, und nicht zuletzt aktive Bekämpfung der Macht.

Eines der günstigsten Ergebnisse der Fülle, das nur dank einem potentiellen Überschuß an Energie und Gütern möglich ist, wäre die Aufhebung der lebenslangen Bindung an eine einzige Beschäftigung oder Aufgabe, selbst wenn diese Bindung so wertvolle und haltbare Güter hervorbringt wie den von mir angeführten persischen Teppich; denn eine solche Beschränkung ist faktisch Sklaverei, unwürdig eines voll entwickelten Menschen. Ausübung mehrerer Berufe bedeutet jedoch nicht, daß besondere Talente ungenützt bleiben oder vernachlässigt werden müssen; ganz im Gegenteil. Es bedeutet, daß in der Verfolgung der täglichen Routine und mehr noch der ganzen Lebenslaufbahn kein Interesse als voll entwickelt gelten wird, solange es nicht von anderen Interessen und Aktivitäten begleitet ist, die für die Erhaltung des psychologischen und des ökologischen Gleichgewichts notwendig sind.

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Karl Marx sah dieses Ergebnis als den grundlegenden Wandel voraus, den der Sozialismus herbeiführen würde: nämlich, daß ein und derselbe Mensch Fische fangen könnte, ohne ein »Fischer«, oder literarische Kritiken schreiben, ohne »Literaturkritiker« zu sein; kurz. Berufskategorien würden in dem Maße an Bedeutung verlieren, als die »menschlichen Interessen« zum Brennpunkt aller Tätigkeit werden würden. In dieser Hinsicht war William Morris' Leben ebenso exemplarisch wie das Leonardos. Ein voll entfalteter Mensch zu werden, ist eine Lebensaufgabe. Im Unterschied zu anderen Ansichten von Marx war dies kein romantischer Jugendtraum, von dem er sich später lossagte.

Noch 1875 bezeichnete Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms es als Ziel des Kommunismus, »die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit« und damit auch den »Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit« abzuschaffen. Dann würde die Arbeit »nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis« sein. So würde kein Unterschied mehr bestehen zwischen dem Amateur, der aus Liebe, ohne materiellen Anreiz, arbeitet, und dem hingebungsvollen Handwerker, für den seine Arbeit die faszinierendste Beschäftigung ist. Aus meiner eigenen Lebenserfahrung heraus kann ich bezeugen, daß diese Kritik stimmt, denn es würde mir schwerfallen, zu sagen, woran ich mehr Freude habe: an den Stunden, die ich mit dem Schreiben, oder an jenen, die ich mit Gartenarbeit verbringe. Ohne die Möglichkeit abwechslungs­reicher Arbeit wäre ich unglücklich, wie William Morris es war.

Viele Beobachter haben in letzter Zeit darauf hingewiesen, daß die in Aussicht stehende allgemeine Freizeit bei Sechsstundentag und Fünftagewoche die Gefahr einer unerträglichen Leere und Langeweile mit sich bringt. Die von Julian Huxley und anderen geäußerte Hoffnung, diese Leere würde durch Weiterbildung an Schulen und Universitäten sinnvoll ausgefüllt werden, um die einst im Büro oder Fabrik verbrachte Zeit zu nutzen, beruht auf Überschätzung sowohl der Anziehungskraft als auch des Nährwerts einer solchen Kost und übersieht die ominöse Rebellion dagegen seitens jener Studenten, die kein Vergnügen daran finden, ihren Geist anzustrengen, und ihn lieber mit Drogen einschläfern oder mit heftigen Geräuschen betäuben.

Es gibt keinen Ersatz für Arbeit außer anderer ernster Arbeit. Nichts beweist dies besser als die Tatsache, daß die Arbeit der einen Kultur — die paläolithische Jagd zum Beispiel — gewöhnlich zum Lieblingssport der auf sie folgenden Kultur wird.

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Die Ökonomie der Fülle, die uns heute winkt, legt eine ganz andere Vorgangsweise nahe als die überkommene Arbeitsteilung oder gar die Freiheit der Oberschicht, Arbeit zu vermeiden. Diese neue Möglichkeit wurde vor mehr als einem Jahrhundert von dem ebenso einzigartigen wie verrückten Genie Charles Fourier dargestellt. Er nannte es das Schmetterlingsprinzip. Anstatt einen ganzen Tag lang, geschweige denn ein Leben lang, einer einzigen Beschäftigung nachzugehen, sollte der Arbeitstag, wie Fourier vorschlug, dadurch belebt werden, daß man in Intervallen die Aufgaben wechselte. Wie es oft bei ihm der Fall war, schwächte er eine gute Idee ab, indem er sie ad absurdum führte, und zwar, indem er die Arbeitsperioden zu kurz ansetzte.

Doch wiederum kann ich aus eigener Erfahrung bezeugen — erfreulicherweise werde ich darin von einem behavoristischen Gegner, Prof. B. F. Skinner, bestätigt —, daß eine vierstündige Arbeitsperiode, oder eine etwas kürzere beim Schreiben, die besten Ergebnisse bringt, und daß der Wechsel von geistiger Tätigkeit zu manuellen Arbeiten, wie Gartenarbeit, Holzhacken, Zimmern oder Basteln, den Tagesablauf belebt und neue Höhepunkte schafft.

Auf niedrigerem Niveau hat das Schmetterlingsprinzip lange Zeit das Leben der Bauern lohnend gemacht, außer wenn sie ausgebeutet wurden oder wenn ihre Umwelt zerstört wurde; dies war so stark ausgeprägt, daß ihre typischen Gepflogenheiten und ihre jahreszeitlichen Feste sich Tausende Jahre lang nicht wesentlich änderten. Zum Unterschied von den isolierten Arbeitsvorgängen der reglementierten Disziplin und der düsteren Umwelt der Fabrik brachte die Landarbeit Abwechslung von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag, von Jahreszeit zu Jahreszeit. Es war nicht reine Eitelkeit, wenn der Psychologe Stanley Hall sich in seiner Autobiographie rühmte, daß er als Bauernjunge in New England Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eine ganze Reihe verschiedener Berufe erlernt hatte und in vielen ein Meister war. Die Ökonomie der Fülle würde es mit der Einführung kürzerer Arbeitsperioden möglich machen, in vielen Berufen die freiwillige Initiative wiederherzustellen, die heute den unter Konsumzwang stehenden Nutznießern der Wohlstandsgesellschaft versagt ist.

Gerade die produktiven technischen Fortschritte der letzten zwei Jahrhunderte haben die lebenslange Arbeitsteilung irrelevant gemacht. Emile Durkheims klassische Abhandlung über die Vorteile der Arbeitsteilung, nicht zuletzt ihre geistigen Vorteile, ist in Anbetracht der Aufforderung zur Fülle zu einer Sammlung von Anweisungen dafür geworden, was man vermeiden soll. Insofern Durkheim die Arbeitsteilung als entscheidendes Kennzeichen der Zivilisation, das heißt, des Machtkomplexes ansah, hatte er recht; er hatte nicht nur recht, sondern fand sich in guter Gesellschaft, von Plato bis Adam Smith. Doch seltsamerweise erkannte keiner dieser Denker, daß mechanische Effizienz nicht unbedingt etwas mit Lebenstüchtigkeit zu tun hat, von Lebenserfüllung gar nicht zu reden.

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Die Kraftmaschinen haben die Zahl der mechanischen Sklaven sosehr vermehrt, daß es absurd wäre, die alte lebenslange Arbeitsteilung oder die gegenwärtige absolute Einteilung der Berufe sowie die damit verbundene Macht von Bürokratie und Polizei aufrechtzuerhalten. Doch die heute vorhandene Freizeit kann nicht einfach mit Sport, Fernsehen und Reisen ausgefüllt werden. Die erfreuliche Alternative, die uns offensteht, ist größere Abwechslung in privater und öffentlicher Tätigkeit. Diese Tätigkeit wird in zunehmendem Maße freiwillig und unentgeltlich sein, ohne den verführerischen Anreiz von Geld oder Prestige. Viele soziale Probleme, wie das der Alten- und Krankenfürsorge, werden wegen der steigenden Lohnkosten weiter anwachsen, bis menschliche Dienstleistungen und handgemachte Güter in immer größerem Maß entweder durch allgemeine Pflichtarbeit oder durch individuelle Nachbarschaftshilfe beigestellt werden. Etwas vom Geist einer Ökonomie der Fülle, mit seiner Gleichgültigkeit gegenüber finanziellen Anreizen, kommt bereits in einer spontanen, wenn auch etwas kraftlosen Gütergemeinschaft junger Menschen zum Ausdruck.

Seltsamerweise stammt eines der besten neuzeitlichen Beispiele für die Möglichkeit der Ausübung mehrerer Berufe und eines eher wechselvollen als spezialisierten Lebens aus der Unterbrechung der normalen Friedensroutine, wie sie in großem Maßstab im Ersten und abermals im Zweiten Weltkrieg erfolgte. In diesen Krisen haben Millionen Menschen nicht nur über Nacht den Beruf gewechselt, sondern sogar ihren Charakter geändert. Männer, die vorher sichere Posten gewählt hatten, nahmen nun die Gefahren des Widerstandskampfes auf sich; ungelernte Mädchen, die nie zuvor auch nur eine Nähmaschine bedient hatten, wurden tüchtige Arbeiterinnen an Drehbänken und Stanzmaschinen; Hausfrauen, die nie außer Haus gearbeitet hatten, wurden Krankenschwestern oder Hilfskräfte und kamen mit Leibschüsseln, abstoßenden Krankheiten und schweren Körperverletzungen zurecht; Männer mittleren Alters, die stets vor Gefahren zurückgeschreckt waren, wurden Luftschutzwarte und Kranken­wagen­fahrer, sprachen Verängstigten Mut zu und bargen Verletzte und Tote aus den Trümmern.

Nichts hätte die unnötige Abstumpfung durch eine lebenslange Spezialisierung besser zeigen können als diese schnellen Anpassungen. In vielen Fällen, soweit ich das auf Grund späteren Kontakts mit solchen Menschen beurteilen kann, hat dieser Rollenwechsel Selbstvertrauen und Lebenstüchtigkeit der Menschen gestärkt. Der Lohn war nicht Macht, Profit oder Prestige, sondern Intensivierung des Lebens. Dieses kollektive Erlebnis beseitigt alle kastenmäßigen Schichtungen und Fixierungen; es beweist, daß ein großes Reservoir menschlicher Kräfte existiert, von dem das Machtsystem, außer in Krisensituationen, nie Gebrauch macht.

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Das Hindernis, das der Entwicklung einer solchen Vielseitigkeit und allgemeinen Lebenstüchtigkeit entgegen­steht, liegt nicht im menschlichen Charakter, sondern in den vielen Beschränkungen der Bildungs- und Ausbildungs­möglichkeiten, die jede privilegierte Gruppe einführt, um ihren Sonderstatus, ihr Einkommen und ihre Vorrechte zu schützen. Obwohl der vorgebliche Zweck dieser Beschränkungen — Sicherung des Leistungsniveaus und Schutz der Qualifizierten vor minderqualifizierten Konkurrenten — lobenswert ist, ist das eigentliche Motiv doch der Wunsch, zu verhindern, daß neue Aktivitäten und neue Organisationen dem Machtsystem Konkurrenz machen. Infolgedessen wird der Bereich, in dem die Menschen unmittelbar Initiative entfalten können, eingeschränkt; heutzutage muß die geringste Neuerung ein Spießruten­laufen durch Lizenzgesetze, Berufsbestimmungen, Gewerkschaftsvorschriften, Lohnschemata, Beförderungs­prioritäten, bürokratische Beschränkungen und Prüfungen bestehen. Selbst die Erfordernisse des Krieges konnten diese Barrieren nur zum Teil niederreißen oder umgehen — denn wo wären sie stärker verwurzelt als in der Militärmaschinerie?

Das erklärt vielleicht, warum so wenig Aussicht besteht, die Mängel des Machtsystems durch Massen­organisationen und Massenpropaganda zu beseitigen; denn diese Massenmethoden nützen dem System, gegen das sie gerichtet sind. Die bisher erzielten, weitere Erfolge versprechenden Veränderungen sind das Werk mutiger Einzelpersonen, kleiner Gruppen und Gemeinden, die an den Rändern der Machtstruktur nagen, indem sie mit alten Gepflogenheiten brechen und gegen die Spielregeln verstoßen. Ein solcher Angriff sucht die Zitadelle der Macht nicht zu erobern, sondern zu umgehen, in aller Stille lahmzulegen. Wenn ein solches Vorgehen allgemein praktiziert wird, wofür es in letzter Zeit Anzeichen gibt, dann wird es die Macht und die Autorität wieder auf ihre eigentliche Quelle zurückführen: auf die menschliche Persönlichkeit und die kleine vertraute Gemeinschaft.

Nur durch Förderung dezentralisierter Gemeinschaften wird eine weltweite Organisation von der Art einer wirksam umgestalteten UNO die Massenunterstützung finden, die sie braucht, um alle Waffen des Völkermords und der Lebensvernichtung zu verbieten und Gerechtigkeit und gutes Einvernehmen unter ihren Mitgliedern zu sichern. Die Friedensmacht einer Weltregierung zu übertragen, ohne kleinere autonome Einheiten, die lokale und regionale Initiative entfalten können, wiederzubeleben, hieße eine weltweite Megamaschine schmieden.

Bevor das Machtsystem Fülle ermöglicht hat, hätte der wichtigste Einwand gegen eine Aufhebung der Berufsschranken gelautet, sie hemme die notwendige Güterversorgung, schmälere die Profite und bremse das Produktionstempo. Doch diese Bremsung würde hauptsächlich überflüssige Güter betreffen; genau das braucht eine Ökonomie der Fülle, wenn sie den selektiven Gebrauch von Gütern und die Ablehnung von Ungütern fördern soll.

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 In vielen Produktionszweigen ist eine Verlangsamung unerläßlich, um die Überstimulierung des Profit-Lust-Zentrums abzustellen. Nicht minder unerläßlich aber ist eine Verlangsamung, zuweilen sogar eine Stillegung, um die Freizeit zu sichern, die zur Herstellung engerer menschlicher Beziehungen notwendig ist.

Ich möchte den Unterschied an einem einzigen konkreten Beispiel demonstrieren. Ein Arzt, der die Zeit findet, seinem Patienten persönliche Aufmerksamkeit zu schenken und ihn anzuhören, sorgfältig dessen inneren Zustand zu erkunden, was unter Umständen wichtiger sein kann als Laboratoriumsbefunde, ist heute eine Seltenheit. Wo das Machtsystem vorherrscht, hat der Arztbesuch nicht" den Zweck, den Bedürfnissen des Patienten zu dienen, sondern vor allem die vorgesehene Reihe medizinischer Untersuchungen durchzuführen, auf Grund deren dann die Diagnose gestellt wird.

Gäbe es jedoch eine ausreichende Anzahl tüchtiger Ärzte, deren innere Kräfte ebenso verfügbar wären wie ihre Laboratoriumsgehilfen, dann wäre eine subtilere Diagnose möglich, und die subjektive Reaktion des Patienten könnte in vielen Fällen die Behandlung wirksam ergänzen. Thoreau brachte dies vollendet zum Ausdruck, als er in seinem Journal feststellte, daß »der wirklich tüchtige Arbeiter seinen Tag nicht mit Arbeit vollstopft, sondern seine Arbeit gemächlich verrichtet, in einer Atmosphäre von Gelassenheit und Ruhe«.

Ohne diese Verlangsamung des Tempos aller Aktivitäten könnten die Vorteile der Fülle nicht entsprechend genossen werden; denn Zeitdruck ist eine ebensolche Bedrohung des guten Lebens wie räumliche Überfüllung und erzeugt Belastungen und Spannungen, die gleichfalls die menschlichen Beziehungen untergraben. Die innere Stabilität, die durch eine solche Verlang­samung gewonnen wird, ist notwendig für die höchsten Funktionen des Geistes, indem sie jenes zweite Leben erschließt, das man in Überlegungen, Betrachtungen und Selbstprüfung verbringt. Die Möglichkeit, dem »lärmenden Treiben der Welt« zu entfliehen, war eine der entscheidenden Gaben der klassischen Religion; daher legte sie den Akzent nicht auf technologische Produktivität, sondern auf persönliche Gelassenheit. Der alte Ausspruch der New Yorker U-Bahn-Kontrolleure, wenn sie mit dem Gedränge der Passagiere fertig werden mußten, gilt heute in noch höherem Maße für das Tempo der megatechnischen Gesellschaft: »Wozu die Eile? ... Passen Sie auf, wo Sie hintreten!«

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Wenn die Schläfer erwachen

Die Pannen und Havarien, zu denen es gekommen ist, haben einen gewissen potentiellen Erziehungswert, denn sie enthüllen die Empfindlichkeit des ganzen Systems für menschliche Eingriffe, und seien es auch nur solche negativer Art. Ungehorsam ist der erste Schritt des Kindes zur Autonomie, und selbst die kindliche Destruktion kann vorübergehend das Vertrauen in die Fähigkeit eines einzelnen erwecken, seine Umwelt zu verändern. Doch weder die allgemein bekannten Verheerungen eines Weltkriegs noch die Gefahr einer Atomkatastrophe haben die Menschheit veranlaßt, ausreichende Schritte zu ihrem eigenen Schutz zu unternehmen; siehe den gegenwärtigen kümmerlichen Ersatz für eine verantwortungsvolle Weltorganisation, die Vereinten Nationen, die von den Großmächten von vornherein bewußt lahmgelegt wurden.

Die Erkenntnis, daß nun das gesamte System am Zusammenbrechen ist, wäre vielleicht früher gekommen, hätten die Fachleute, die über unsere Technologie wachen — die Ingenieure, die Biologen, die Ärzte — sich nicht so völlig mit den Zielen des Machtsystems identifiziert. So haben sie es bis vor kurzem sträflich vernachlässigt, vorauszublicken oder auch nur die gegenwärtige Entwicklung zu registrieren — und in bezug auf Atommüll und radioaktiven Niederschlag haben sie des öfteren absichtlich, im Einklang mit der Staatsräson, die Gefahren bagatellisiert.

Gewiß hat es gelegentlich warnende Stimmen gegeben, sogar schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt; ich habe bereits die Beispiele Henry Adams und Frederick Soddy angeführt, ganz zu schweigen von H. G. Wells. Aber als ein britischer Ingenieur, Sir Alfred Ewing, im Jahre 1933 vorschlug, ein Moratorium für Erfindungen einzuführen, um die schon vorhandene Menge der Erfindungen erst zu assimilieren und zu integrieren und weitere Vorschläge in Betracht zu ziehen, wurde er als komischer Kauz verspottet, der ein dummes und unmögliches Opfer fordere.

Nur wenige Zeitgenossen Ewings erkannten, daß ein rein mechanisches System, dessen Prozesse weder verzögert noch umgeleitet noch aufgehalten werden können, ein System, das keine eingebaute Vorrichtung zur Feststellung und Behebung von Defekten (Rückkopplung) besitzt und nur beschleunigt werden kann, eine Gefahr für die Menschheit darstellt, wie wir allzu spät entdeckt haben. Doch jeder, der mit der Geschichte der Erfindungen vertraut ist, weiß, daß die großen Industrieunternehmungen oft Patente aufgekauft haben — wie das alte Patent für ein automatisches Telephonsystem —, um diese Erfindungen zu unterdrücken, oder daß sie die Forschung von Bereichen ferngehalten haben, wo neue Erfindungen die Kapitalinvestitionen gefährden oder die Überprofite hätten vermindern können (siehe das ausgeprägte Desinteresse für die Entwicklung leistungsfähigerer Akkumulatoren, die für das Elektroauto und die Nutzung der Windkraft notwendig wären). Ewings Vorschlag war keineswegs unrealistisch — bis auf die Hoffnung, daß jene ihn ausführen würden, die immer noch im Banne des Mythos der Maschine stehen. Wäre Ewings Warnung allgemein beachtet worden, dann könnte die Welt heute ein gesünderer und sichererer Ort sein.

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In den letzten drei Jahrzehnten wurden die Fehlleistungen des Machtsystems immer lebensgefährlicher und ereigneten sich mit einer Häufigkeit und einer Wirkung, die der Dynamik der einzelnen Teile entsprechen. Wenn diese Fehlleistungen mit ihren verheerenden Folgen für die Menschen wie für die Umwelt sich fortsetzen, dann könnte eine solche Veränderung eintreten, wie sie in London zur Zeit der massiven deutschen Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg — einer Katastrophe ähnlicher Größenordnung — beobachtet wurde. Damals entdeckten Psychiater, daß ihre verängstigten, neurotischen Patienten angesichts einer Gefahr, vor der sie weder in Phantasien ausweichen und noch flüchten konnten, ihre Lebenstüchtigkeit wiedergewannen und endlich ihre Schwierigkeiten meistern lernten.

Die Situation, in der die Menschheit sich heute kollektiv befindet, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der eines einzelnen, der an einer Neurose leidet. Ehe seine Störung sich äußert, haben verschiedene Ereignisse, die dem Patienten nicht bewußt sind, seiner Krankheit den Weg bereitet. Doch solange er seinen Zustand vor sich selbst zu verhehlen vermag und imstande ist, seinen täglichen Pflichten nachzugehen, ohne selbstmörderische Depressionen oder unkontrollierbare Feindseligkeit gegen die Menschen in seiner Umgebung an den Tag zu legen, hält er es nicht für nötig, einen Arzt aufzusuchen oder sein Leben zu überprüfen. Der erste Anstoß dazu, seinen Zustand zu erkennen und Hilfe zu suchen, kommt gewöhnlich von einem Zusammenbruch, einem körperlichen oder einem geistigen, manchmal von beidem zugleich.

An diesem Punkt bietet die psychoanalytische Methode einen Zugang, der zur Behandlung des gegenwärtigen kollektiven Zusammenbruchs von Wert sein kann: Er liegt in dem Versuch, die gegenwärtigen Symptome auf frühere Konflikte oder Traumata zurückzuverfolgen, die tief in der Psyche vergraben und schwer aufzudecken sind und den Organismus von seinem normalen Wachstumsverlauf abgelenkt haben. Wenn der Patient sich dieser Traumata bewußt wird, kann er sein eigenes Wesen besser kennenlernen und sich besseren Einblick in die Umstände verschaffen, unter denen er durch eigene Anstrengung am besten die Möglichkeiten nutzen kann, die sein persönliches Leben und sein Kulturniveau ihm gewähren.

Die Erforschung der historischen Vergangenheit des Menschen in den letzten zweihundert Jahren könnte für sein Überleben sehr wohl wichtiger sein als alle anderen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Diese Wiedererweckung der menschlichen Geschichte bringt es, wie Erich Neumann unterstrichen hat, mit sich, daß dem Menschen auch all die Übel bewußt werden, die, blieben sie unerkannt und unbewußt, ihn weiter hemmen würden.

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Unsere megatechnische Kultur, die sich auf die seltsame Annahme stützt, das subjektive Böse sei nicht real, und Übel existierten nur im Sinne reparabler mechanischer Defekte, hat sich als unfähig erwiesen, eine solche Verantwortung zu tragen.

Die Erkenntnis, daß die physischen Zusammenbrüche und die subjektive Demoralisierung der westlichen Zivilisation von dem gleichen ideologischen Versagen herrühren, setzt sich endlich durch. Doch damit es zu einem dynamischen Reagieren auf diese Situation kommt, bedarf es einer Art allgemeinen Erwachens, weitgehend genug, um eine innere Bereitschaft zu einer tieferen Umwandlung zu bewirken. Gewiß, eine solche Reaktion bloß als Folge rationalen Denkens und erzieherischen Einflusses ist in der Geschichte noch nicht dagewesen; es ist auch nicht wahrscheinlich, daß sie diesmal auf solche Weise erfolgen wird — zumindest nicht so kurzfristig, wie es notwendig wäre, wenn größere Zusammenbrüche und schlimmere Demoralisierung vermieden werden sollen.

Vor einem halben Jahrhundert bemerkte H. G. Wells sehr richtig, die Menschheit stehe vor einem Wettlauf zwischen Erziehung und Katastrophe. Aber Wells erkannte nicht, daß eine Katastrophe zur Voraussetzung einer wirksamen Erziehung geworden ist. Dies könnte als eine schreckliche und hoffnungslose Schlußfolgerung erscheinen, wäre da nicht die Tatsache, daß das Macht­system sich als sehr fähig erwiesen hat, durch seine eigenen überwältigenden Erfolge Zusammenbrüche und Katastrophen herbeizuführen.

Die heutigen technologischen Zusammenbrüche sind nicht weniger unheilverkündend als der wachsende Widerstand der Menschen, die undankbare Arbeit auszuführen, die zur Aufrechterhaltung des Systems notwendig ist; doch sie mögen kompensierende Reaktion bewirken, indem sie der menschlichen Persönlichkeit eine Chance geben, in Aktion zu treten. Dies geschah in verblüffender Weise, als im November 1965 das Stromnetz von New York zusammenbrach. Plötzlich traten, wie in E. M. Forsters Fabel The Machine Stops, Millionen von Menschen in Eisenbahnzügen, Untergrundbahnen, Wolkenkratzern, Aufzügen spontan in Aktion, ohne darauf zu warten, daß das System sich erholte oder Weisungen von oben kamen. »Während die Stadt aus Ziegeln und Mörtel tot war«, berichtete The New Yorker, »waren die Menschen lebendiger denn je.«

Für viele war dieser Stromausfall ein heiteres Erlebnis: Autos, die ihre eigene Kraft- und Lichtquelle haben, fuhren weiter; Bürger halfen der Polizei bei der Regelung des Verkehrs; Lastautos nahmen Passagiere mit; Fremde standen einander bei; die Leute fanden heraus, daß ihre Beine sie sehr wohl trugen, als die Räder stillstanden; eine Gruppe junger Männer und Frauen formierten fröhlich einen Zug, hielten Kerzen in den Händen und sangen mit spöttischer Feierlichkeit: »Hark the Herald Angels Sing!«

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All die latenten Kräfte des Menschen, die von einer reibungslos ablaufenden mechanischen Organisation unterdrückt werden, begannen wieder zu funktionieren. Was als Unglück erschien, wurde zu einer günstigen Gelegenheit: Als die Maschinen zu arbeiten aufhörten, erwachte das Leben. Das durch eine solche Erfahrung bewirkte Selbstvertrauen ist es, was wir brauchen, um den Machtkomplex auf menschliches Maß zu reduzieren und unter Kontrolle zu bringen: »Der Mensch muß die Führung übernehmen!«

Zugegeben, die Katastrophen des Krieges, wenn auch nicht mehr örtlich beschränkt, sind den Menschen mit der Zeit zu vertraut geworden, um eine stärkere Reaktion heraufzubeschwören. Im letzten Jahrzehnt jedoch ist zum Glück ein plötzliches, ganz unvorhergesehenes Erwachen eingetreten, und die Menschen erkennen die Gefahr einer totalen Katastrophe. Das ungehemmte Bevölkerungswachstum, die übermäßige Ausbeutung megatechnischer Erfindungen, die chaotischen Vergeudungen des Zwangs­konsums und die konsequente Zerstörung der Umwelt durch allgemeine Verschmutzung, Vergiftung, Bodenverwüstung, gar nicht zu reden von der nicht wieder rückgängig zu machenden Verseuchung durch Atommüll, haben endlich begonnen, die Reaktion hervorzurufen, die zu ihrer Überwindung notwendig ist.

Dieses Erwachen hat die ganze Welt erfaßt. Übervölkerung, Umweltzerstörung und menschliche Demoralisierung gehören nun zum Erfahrungsbereich des Alltags. Selbst auf dem Land sind kleine Gemeinden gezwungen, zu politischen Aktionen gegen schlaue Unternehmer zu schreiten, die den Abfall aus weit entfernten Städten in ländlichen Gebieten abzuladen versuchen, wo man selber schon Schwierigkeiten hat, den eigenen Müll loszuwerden. Das Ausmaß der herannahenden Katastrophe, ihre greifbare Nähe und ihre entsetzliche Unvermeidlichkeit, falls nicht rasch Gegenmaßnahmen getroffen werden, haben, mehr als die grellen Prophezeiungen eines vernichtenden Atomschlags, zu einer angemessenen psychologischen Reaktion beigetragen. Je schneller die Umweltzerstörung erfolgt, desto wahrscheinlicher ist es, daß man nach wirksamen Gegenmaßnahmen sucht.

Doch selbst angenommen, daß im ersten Schock des Bewußtwerdens der drohenden Gefahr bislang unvorstellbare politische Maßnahmen vorgeschlagen werden, bleibt doch die Frage offen, ob es tatsächlich zu der notwendigen Massenbeteiligung kommen wird. Ein Programm, das geeignet ist, den destruktiven Erfolg des technologischen Überflusses umzukehren, wird nicht nur drastische Einschränkungen erfordern; es werden ökonomische und soziale Veränderungen notwendig sein, um Güter und Dienstleistungen, Arbeits-, Erziehungs- und Erholungsweisen hervorzubringen, die von denen des Machtkomplexes grundverschieden sind. 

Reformer, die den Feldzug gegen die Zerstörung der Umwelt und die Degradierung des Menschen im Sinn verbesserter technischer Vorrichtungen, wie beispielsweise der Entgiftung der Kraft­fahrzeug­abgase, betrachten, sehen nur einen kleinen Teil des Problems. Nur eine grundlegende Umorientierung unserer vielgerühmten technologischen Lebensweise wird diesen Planeten davor retten, zu einer toten Wüste zu werden. Und ohne eine solche weitreichende Veränderung der menschlichen Wünsche, Gewohnheiten und Ideale werden die notwendigen materiellen Maßnahmen zum Schutz der Menschheit — von deren weiterer Entwicklung ganz zu schweigen — nicht angewendet werden können.

Man darf in dieser Frage nicht allzu optimistisch sein, auch wenn die ersten Anzeichen eines Erwachens der Menschheit zu beobachten sind. Die Weigerung von Millionen Zigarettenrauchern, sich von ihrer Sucht zu befreien, trotz der unwiderlegbaren Beweise, daß Rauchen den Lungenkrebs fördert, läßt die Schwierigkeiten ermessen, denen wir gegenüberstehen, wenn wir die Erde — und uns selbst — für das Leben wiedergewinnen wollen. Unsere heutige Versessenheit auf das Privatauto als Transport­mittel erweist sich als ebenso schwer zu brechen, solange nicht jede Verkehrsader permanent verstopft und jede Stadt ruiniert ist.

Um zu ihrer Rettung zu gelangen, wird die Menschheit eine Art spontaner religiöser Bekehrung vollziehen müssen: eine Bekehrung vom mechanischen Weltbild zu einem organischen, in welchem die menschliche Persönlichkeit, als die höchste bekannte Erscheinungsform des Lebens, jenen Vorrang erhält, den jetzt Maschinen und Computer haben. 

Ein solcher Wandel ist für die meisten Menschen ebenso schwer vorstellbar, wie es der Übergang vom klassischen Machtkomplex des römischen Kaiserreichs zu dem des Christentums war, oder später der Übergang vom jenseitsgerichteten Christentum des Mittelalters zur mechanisierten Ideologie des siebzehnten Jahrhunderts. 

Doch solche Wandlungen sind in der Geschichte wiederholt vorge­kommen; und unter dem Druck drohender Katastrophen können sie wieder vorkommen. Nur einer Sache können wir gewiß sein: Wenn der Mensch seiner programmierten Selbstvernichtung entkommen soll, dann wird der Gott, der uns schützt, kein deus ex machina sein — er wird in der menschlichen Seele auferstehen.

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Der neue Gleichklang  - Mumford 1970