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7.  Der post-historische Mensch   

Mumford-1956 

 

  § 1  

140-159

Wir haben die Gegenwart erreicht, und wenn wir weiter fortschreiten wollen, geraten wir in den Bereich des Mythos und des WunschdenkensSelbst diejenigen, die keine Alternativen zu den schaurigen Aussichten sehen, die die Gegenwart zu bieten scheint, lassen sich in ihren »objektiven« Beobachtungen wahrscheinlich von ihren unbewußten Wünschen und Ängsten leiten, indem sie zeitbedingte soziale Institutionen und Konvent­ionen als naturgegebene Notwendigkeiten betrachten.

Denn es gibt viele Alternativen, und die Behauptung, daß eine bestimmte Möglichkeit sich durchsetzen wird, setzt voraus, daß man alle andern untersucht hat. Daher muß die Haltung der sogenannten »objektiven Beobachter« als naiv und fahrlässig bezeichnet werden, denn sie unterläßt es, die latenten Lebenskräfte und die Überraschungen in Rechnung zu stellen, die alle Entwicklungsprozesse charakterisieren, und vergißt, daß es eine der Aufgaben der Intelligenz ist, die Gefahren zu berücksichtigen, denen man sich aussetzt, wenn man sich nur auf seine Intelligenz verläßt.

Im Bereich der anorganischen Entropie sind zuverlässige Voraussagen möglich, doch nicht bei schöpferischen Prozessen und organischen Entwicklungs­vorgängen.

Die Linie der Entwicklung des Menschen, die ich nun als spekulative Möglichkeit aufzuzeigen versuchen werde, beruht auf der Annahme, daß unsere Zivilisation immer ausschließlicher der Ideologie der Neuen Welt folgen wird, daß sie sich in steigendem Maße der Methoden bedienen wird, die der Kapitalismus, die Maschinentechnik, die Naturwissenschaften, die bürokratische Verwaltung und der totalitäre Staat eingeführt haben. Diese Mächte des modernen Lebens werden sich ihrerseits vereinigen, um ein noch vollkommeneres, perfektionierteres, narrensicheres System zu schaffen, das von einer bewußt und absichtlich entpersönlichten Intelligenz gehandhabt wird. 

Hiermit würde zwangsläufig verbunden sein eine Vernachlässigung oder Unterdrückung älterer menschlicher Wesenszüge und Institutionen, die ihren Ursprung in den früheren Entwicklungsstadien des Menschen haben. In einer solchen Welt würden alle menschlichen Regungen erstickt werden durch einen mechanischen Prozeß, der immun ist gegen alle menschlichen Bestrebungen, die seinen Leerlauf stören. Und damit würde ein neues Geschöpf, der posthistorische Mensch, auf den Plan treten.

Die Bezeichnung »posthistorischer Mensch« wurde von Mr. Roderick Seidenberg in seinem unter dem gleichen Titel veröffent­lichten Buch geprägt.

Seine These, im Grundriß gesehen, besagt, daß der Instinkt des Menschen, der ihn auf dem dunklen Weg durch seine lange tierische Vergangenheit leitete, im Verlauf seiner menschlichen Entwicklung seinen bestimmenden Einfluß verlor, während sein Verstand eine seiner Tätigkeiten nach der andern unter Kontrolle nahm.

Indem er diese bewußte Kontrolle ausübte, übertrug der Mensch die Autorität vom Organismus auf den Prozeß, den der Verstand analysiert und steuert, d.h. auf den kausalen Vorgang, in dem der handelnde Mensch die gleiche Funktion hat wie der nichtmenschliche Faktor. Durch Emanzipierung vom Instinktiven, Zweckgerichteten und Organischen und durch Assoziierung mit dem Kausalen und mit dem Mechanischen hat der Verstand immer mehr Bezirke des Lebens erobert und stößt jetzt aus dem Bereich des »Physischen« vor in die Bereiche des Biologischen und Sozialen, und dieser Teil der menschlichen Natur, der sich dem Intellekt nicht willig unterordnet, wird mit der Zeit ausgeschaltet oder vernichtet werden.

  §  02   03  

Seidenberg auf detopia     Roderick Seidenberg   

Mumford-1970 - Fortschritt als Science-Fiction    

 

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Im Lichte dieser Annahme gesehen, hat die menschliche Natur in unserer Zeit begonnen, eine entscheid­ende endgültige Verwandlung zu erfahren.

Mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden und entpersönlichter Verfahren der modernen Technik beherrscht der kalte Verstand, dem es wie nie zuvor gelungen ist, die Naturkräfte zu mechanisieren, bereits weitgehend alle menschliche Aktivität. Um in dieser Welt zu überleben, muß der Mensch sich vollkommen der Maschine anpassen. Nichtanpassungsfähige Typen, wie der Künstler, der Dichter, der Heilige und der Bauer, werden entweder übergangen oder durch die soziale Auslese zum Aussterben gebracht. Alle schöpferischen Fähigkeiten, die von der Religion und der Kultur der Alten Welt inspiriert sind, werden verkümmern. Menschlicher zu werden, die menschliche Natur tiefer zu erforschen und nach dem Göttlichen zu streben, sind keine angemessenen Ziele für den zur Maschine gewordenen Menschen.

Wir wollen diese Hypothese bis zu ihrem Ende durchdenken.

Unter dem Primat des Verstandes und mit den Methoden der Wissenschaft würde der Mensch auf alle lebenden Organismen, vor allem auf sich selbst, die gleichen Prinzipien anwenden, nach denen er mit der physikalischen Welt verfährt. In seinem Streben nach Wirtschaftlichkeit und Macht würde er eine Gesellschaft organisieren, die keine anderen Attribute besäße als jene, die das Wesen der Maschine ausmachen. Die Maschine ist der Teil des Organismus, der vom Verstand allein entworfen und kontrolliert werden kann. Indem er ihre Organisation und ihr Verhalten im Entwurf festlegt, wird der Verstand eine Gesellschaft konstruieren, ähnlich jenen Insektenstaaten, die sich seit sechzig Millionen Jahren in ihrer Struktur nicht verändert haben; denn wenn der Verstand glaubt, eine perfekte Lösung gefunden zu haben, erlaubt er keine Abweichung von der zur Norm erhobenen Form.

An diesem Punkt wird es unmöglich, länger einen Unterschied zu machen zwischen dem Automatismus des Instinkts und dem des Verstandes; keiner von beiden läßt Veränderungen zu, und schließlich wird auch der Verstand aus Mangel an Opposition und Alternativen unbewußt. Wenn der Verstand diktiert, daß es nur ein richtiges Verhalten gibt in einer bestimmten Situation, nur eine logische Antwort auf eine Frage, dann muß jede Abweichung, ja jedes Zögern und jede Unsicherheit als ein Versagen des Mechanismus oder als Sabotage des Mechanikers angesehen werden. »Die Parteilinie muß eingehalten werden«, und wenn die wissenschaftliche Intelligenz einmal an der Macht ist, wird sich auch die Parteilinie nicht mehr ändern.

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Schließlich wird das Leben mit seinen unerschöpflichen Möglichkeiten erstarren in einer einzigen vom Verstand allein entworfenen Form.*

Der posthistorische Mensch ist der Phantasie der modernen Welt seit langem vertraut. In einer Reihe von utopischen, wissenschaftlichen Romanen, die künftige Welten schildern, haben Jules Verne und sein Nachfolger H.G. Wells die Merkmale einer Gesellschaftsform aufgezeigt, die von einem solchen übermech­anisierten Geschöpf geschaffen und benutzt werden könnte.

In einem seiner späteren Bücher <The shape of things to come> (1933) äußerte Wells eine Art Verehrung für diese Rasse fliegender Technokraten, die Ordnung schaffen würden in dem nach einem Atomkrieg übriggebliebenen Chaos. Man könnte, ohne zu übertreiben, sagen, daß in der einseitigen Theorie des technischen Fortschritts, wie ihre führenden Exponenten sie im 19. Jahrhundert aufstellten, der posthistorische Mensch das Ziel war, das sie durch ihre institutionellen Reformpläne erstrebten. 

Aus ihrer These, daß technische Erfindungen sowohl die Hauptfaktoren als auch der letzte Lohn des Fortschritts seien — eine These, die auf Francis Bacon, doch kaum weiter, zurückgeht —, spricht auch die Anschauung, daß die nichttechnischen, durch die Künste und die Geisteswissenschaften inspirierten Reformen der Kindheit der menschlichen Rasse angehören.

Die Existenz des posthistorischen Menschen wird ganz auf die äußere Welt und die Inganghaltung ihrer Mechanismen ausgerichtet sein; sowohl die ursprünglichen Neigungen des Menschen als auch sein historisches Selbst werden als »undenkbar« abgeschrieben sein. An mehr als einer Stelle spricht H.G. Wells, selbst ein sensitiver und sinnlicher, »allzumenschlicher« Mann, von Beruf Vertreter der alten Sekte der Seher und Träumer, verächtlich über jede Art von Innenleben oder Subjektivität und verspottet die Gaben des Gemüts und der Phantasie, die ihn zur Literatur geführt hatten.

 

* Obwohl ich großzügig Gebrauch gemacht habe von Mr. Seidenbergs klassischer Analyse, ist er in keiner Weise weder für meine Darstellung noch für meine Schlußfolgerungen verantwortlich. (Sein eigener Posthistorischer Mensch ist in der University of North Carolina Press, Chapell Hill, im Jahre 1950 erschienen.) Seidenberg stellt den posthistorischen Menschen in einen zeitlich größeren Bereich, als ich es tue, und betrachtet sein Kommen als unvermeidlich aus wesentlich biologischen Gründen.

Seidenbergs Haltung ist die eines Menschheitsarztes, der eine ihm als unheilbar erscheinende Krankheit objektiv diagnostiziert. Seine Anschauung darf nicht verwechselt werden mit der jener, die entweder ahnungslos oder unter starkem neurotischem Zwang bereits eifrig den Bazillus züchten, der den historischen Menschen vernichten soll.

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Die Beherrschung der Naturkräfte und die Beherrschung des menschlichen Lebens durch den Besitz dieser Kräfte ist der einzige Daseinszweck des posthistorischen Menschen. Daß die Kontrolltätigkeit des Gehirns nur eine intermediäre Funktion in der autonomen menschlichen Gesamt­persönlichkeit ist und einem höheren Zweck, dienen sollte als ihrer eigenen Ausweitung, kommt ihm nicht in den Sinn; sonst hätten Wells und seine modernen Schüler sich die alte römische Frage stellen müssen: Quis custodiet ipsos custodes?, was in ihre Sprache übersetzt lauten würde: Wer aber kontrolliert den Kontrolleur? 

Der posthistorische Mensch wüßte keine Antwort auf diese Frage, denn sein Begriff vom Leben erschöpft sich in der Zurschaustellung von »natürlichen Zauberkräften«, wie z.B. durch Momentan-Kommunikation über große Entfernungen, Fortbewegung im Raum mit immer größerer Geschwindigkeit, Auslösung von kompliziertesten automatischen Vorgängen durch einfaches Knopfdrücken, und als höchstes Ziel erstrebt er die möglichst vollständige Reduzierung aller differenzierten organischen Lebensfunktionen mit ihrem Widerspiel von Wünschen und Befriedigungen auf ihre uniformen primitiven Mechanismen.

Welches ist der Wunschtraum all derer, die den posthistorischen Menschen in ihrer Phantasie vorwegnehmen? Über die Antwort auf diese Frage kann es keinen Zweifel geben; es ist der alte Traum der Neuen Welt von der Erforschung der Erde, erweitert zum Traum von der Eroberung des Raums. Dieser Traum beherrschte Jules Vernes Reise zum Mond, H. G. Wells' Schreckens­bild von der Invasion der Marsbewohner auf unserem Planeten und beherrscht die Hochflut der immer mehr zur Kolportage entartenden science-fiction-Literatur unserer Tage.

Selbst die Phantasien von C.S. Lewis, die vorgeblich humanistisch oder gar religiös inspiriert sind, stellen das Leben dar als einen ewigen Kriegszustand zwischen planetarischen Geschöpfen, die ihren Herrschaftsbereich in astronomische Weiten ausgedehnt haben, von ihrem Verstand jedoch keinen andern Gebrauch machen als bisher, außer ihn zu perfektionieren.

Wenn wir das Reich der Phantasie verlassen und betrachten, was der Mensch von diesem Wunschtraum bereits verwirklicht hat und noch zu verwirklichen plant, dann sehen wir höchstes wissenschaftliches Denken und technisches Können im Dienst einer infantilen Lebensauffassung, die durch monströse Supermechanismen den Problemen zu entfliehen sucht, denen reife Menschen und eine reife Gesellschaft sich stellen würden.

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Frühere Fluchtträume von der Erforschung und Kolonisierung ferner Länder hatten wenigstens die erfreuliche Wirkung, daß Abenteurer Bezirke erschlossen, die das Leben wirklich bereicherten. Die Schätze des Fernen Ostens, von denen Marco Polo berichtete, waren kein leerer Traum, und der nie entdeckte Jungbrunnen versprach weniger als die wirklichen Wunder, die Amerika enthüllte.

Doch niemand kann, ohne alle Tatsachen zu verkehren, behaupten, daß ein Dasein auf einem Raumsatelliten oder auf der toten Oberfläche des Mondes auch nur die geringste Ähnlichkeit hätte mit einem menschlichen Leben. Diejenigen, die glauben, das Leben fände seinen Sinn nur in steter Fortbewegung durch den Raum, enthüllen selbst die Grenzen einer entpersönlichten Intelligenz.

In unserer Zeit haben diese dem Unbewußten entsprungenen Phantasien aufgehört, nur Prophezeiungen zu sein; sie sind technische Wirklichkeiten oder zumindest technische Möglichkeiten geworden und haben ihren Weg in die zerstörerischste und leider langlebigste menschlichste Institution, den Krieg, gefunden. Inzwischen hatte sich der Krieg, dem existentiellen Nihilismus des posthistorischen Menschen entgegenkommend, aus einem begrenzten Mittel gewalttätiger Zerstörung zu begrenzten Zwecken in einen autonomen Apparat unbegrenzter Vernichtung, mit andern Worten, in potentiellen sinnlosen Völkermord oder Menschheits­selbstmord verwandelt.

Ist es wirklich Zufall, daß alle Triumphe, die auf das Kommen des posthistorischen Menschen hindeuten, Triumphe des Todes sind? 

Diese Ideologie ist beherrscht von dem Willen, die Lebendigkeit des Lebens zu leugnen, vor allem, die Möglichkeit seiner Entwicklung, und ihr Endziel ist Massenmord oder kollektiver Selbstmord, nicht offen eingestanden, doch nicht immer ganz verhehlt. Die Entwicklung zum posthistorischen Menschen setzte harmlos ein mit der Ausmerzung fehlbarer menschlicher Elemente in der Wissenschaft; sie wird enden mit der Ausmerzung der menschlichen Natur in der gesamten Welt der Wirklichkeit. In der posthistorischen Kultur ist das Leben reduziert auf vorausgeplante, maschinell programmierte und kontrollierte Vorgänge, in denen jedes unberechenbare, d. h. jedes schöpferische Moment peinlichst vermieden ist.

Die höchste Leistung der mathematischen und naturwissenschaftlichen Pioniere unserer Zeit war zweifellos jene Kette von Entdeckungen, die zur modernen Auffassung vom Atom und zu der Gleichung führten, die Masse mit Energie gleichsetzt; nur Intelligenzen von höchster Präzision und Methodik konnten diese kosmischen Geheimnisse enträtseln.

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Doch zu welchem Zweck wurde diese Großtat des Verstandes vollbracht? Was veranlaßte die letzte Entscheidung, die es dem Menschen ermöglichte, die Idee der Atomspaltung zu verwirklichen? Wir wissen es alle nur allzu gut; es war die Absicht, ein Instrument apokalyptischer Zerstörungs­gewalt herzustellen.

Im Verlauf eines Jahrzehnts großzügigster Entwicklung dieser neuen Energiequelle haben die Regierungen Sowjetrußlands und der Vereinigten Staaten genügend atomare und thermonukleare Waffen produziert, die es möglich machen, auch bei bescheidenster Schätzung, alles menschliche Leben auf unserem Planeten zu vernichten, wenn nicht mit einem Schlag, dann durch langsame Vergiftung. Während diese tödlichen Kräfte unter Aufbietung aller verfügbaren Mittel vervielfältigt wurden, war der Gedankenaufwand zur Schaffung moralischer und politischer Instanzen, die fähig wären, diese Energien wahrhaft menschlichen Zwecken nutzbar zu machen, vergleichsweise stecknadelkopfgroß.

So hat die wissenschaftliche Intelligenz, die sich ihrer Freiheit von moralischer, politischer und persönlicher Verantwortung rühmte, einen Weg beschritten, der zu ihrem eigenen Grab führt. Die Wissenschaftler, die dazu erzogen waren, systematische Forschung als ein Absolutum zu betrachten, ignorierten die wiederholten Warnungen wachsamer Geister, wie Jacob Burckhardt und Henry Adams, Warnungen, die die jüngsten Experimente mit radioaktiven Elementen vorwegnahmen oder begleiteten. Und trotz der drohenden Gefahr universaler Vernichtung durch nukleare Waffen im Kriege haben die Nationen einen Wettlauf in der Verwertung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken begonnen, obwohl noch keine sichere Methode zur Unschädlichmachung des sogenannten Atommülls gefunden wurde, und obwohl die wenigen bereits bestehenden Versuchsanlagen ernsthafte Verunreinigungen der Natur verursachen, die auf die Dauer zu einer nicht wieder rückgängigzumachenden radioaktiven Verseuchung führen können. Die gedankenlose Verwendung der Atomenergie in der Industrie und in der Medizin droht nach einer Warnung der Nationalen Akademie der Wissenschaften, innerhalb von wenigen Jahren ernsthafte biologische Störungen zu verursachen.

Wir können über den posthistorischen Menschen, der sich selbst und seine Erde in die Vernichtung treibt, das gleiche sagen, was Kapitän Ahab in Melvilles prophetischem Roman Moby Dick in einem lichten Augenblick zu sich selbst sagt: »Alle meine Mittel sind gesund, doch meine Motive und Ziele sind krank.«

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Die Einstellung des posthistorischen Menschen gegenüber dem Leben ist in ihrer letzten Konsequenz, daran ist kaum noch zu zweifeln, negativ. Auf Grund dieser Lebensverneinung, die seiner bewußten Selbsterniedrigung und seinem unbewußten Selbsthaß entspringt, wird er wahrscheinlich seiner Laufbahn ein Ende bereiten, bevor sie begonnen hat. Diese Möglichkeit soll erst näher betrachtet werden nach einer genaueren Untersuchung seiner Philosophie und ihrer praktischen Aspekte und Perspektiven.

 

  § 2  

 

Um zu verstehen, wie nahe der posthistorische Mensch bereits ist, muß man bedenken, daß er nur Tendenzen zu ihrem logischen Ende treibt, die schon in der Kultur der Neuen Welt wirksam waren. In seiner Haltung gegenüber der Natur verschwindet das Gefühl für Einheit und Harmonie, das den primitiven Menschen veranlaßte, seine eigene Lebenskraft auf Holz und Steine zu übertragen, vollständig; die Natur wird für ihn zum toten Material, das er zerlegt, von neuem synthetisiert und durch ein mit der Maschine hergestelltes Erzeugnis ersetzt. Ähnlich verfährt er mit der menschlichen Natur; ein Teil von ihr, der rationale Verstand, wird zu übermenschlicher Bedeutung erhoben, alle ändern Funktionen werden reduziert oder ersetzt.

Was an Leben für den Menschen übrigbleibt, ist ein Minimum, das nötig ist, um den Verstand und mit ihm die Maschine in Gang zu halten. Die Hoffnung des Menschen, Leben durch synthetische Stoffe ersetzen zu können, ist eine Illusion und muß selbst bei einfachsten Formen scheitern. So ist es der Wissenschaft zwar gelungen. Meerwasser chemisch zu analysieren, doch alle Laboratoriumsversuche, es synthetisch herzustellen, haben noch kein Element geschaffen, in dem Meerestiere leben können. 

Doch trotz solcher Rückschläge glaubt der posthistorische Mensch, in absehbarer Zukunft nicht nur komplizierte Eiweißmoleküle aufbauen, sondern auch niedere Lebensvorgänge künstlich in der Retorte erzeugen zu können. Und seine Erfolge in der Fabrikation von Kunststoffen haben ihn ermutigt, ähnliche Triumphe in der Herstellung von Nahrung aus anorganischen Stoffen vorauszusagen. Sollte ihm dies gelingen, dann wird er zweifellos eine neue Rasse züchten, die dieses Kunstfutter mit Genuß essen oder nicht mehr wissen wird, daß man einmal das Zusichnehmen von Nahrung genossen hat.

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Mit der Zeit wird er die zur Inbetriebhaltung der posthistorischen Kultur nötigen menschlichen Lebewesen bei der Geburt mit eingebauten Reflexautomaten versehen, die nur von außen gesteuert werden können, eine wirtschaftlichere und zuverlässigere Lösung als die heutigen kostspieligen Methoden der Erziehung durch Pädagogen, der Überwachung durch politische Kommissare und der Beeinflussung durch Reklamestrategen. Die posthistorische Medizin wird außerdem die Lobotomie, die operative Veränderung des Gehirns, zur Sicherung der Gelehrigkeit und Unterdrückung eigener Impulse an Kindern ebenso routinemäßig durchführen wie heute Mandeloperationen.

In diesem Trend zu einer nur durch den Verstand zur Ausübung seiner Macht gelenkten Welt werden alle Bemühungen des posthistorischen Menschen zwangsläufig auf Uniformität gerichtet sein. Er wird bestrebt sein, alle ursprüngliche und vom Menschen im Laufe seiner Geschichte bereicherte Vielgestaltigkeit in der Natur auszumerzen und seine Umgebung nach dem Muster der Autostraßennetze so einheitlich und übersichtlich zu gestalten, daß eine flüssige Bewegung der uniformen Massen menschlicher Einheiten gewährleistet ist. Selbst heute schon ist die Landschaft um so eintöniger, je schneller man fährt, und um so geringer sind die Unterschiede, die man bei der Ankunft am Ziel antrifft; Bewegung um der Bewegung willen und Schnelligkeit um der Schnelligkeit willen erzeugen das Höchstmaß an Monotonie.

Von diesem Streben nach Uniformität wird kein Aspekt der Natur und des Menschen verschont bleiben.

 

Warum sollte der posthistorische Mensch den Reichtum charakteristischer Landschaften erhalten wollen, der immer noch auf der Erde vorhanden ist in der Gestalt von Wiesen, Heiden, Wäldern, Weingärten, Wüsten, Bergen, Wasserfällen und Seen?

Warum sollte er nicht aus guten posthistorischen Vernunftgründen die Berge abtragen, entweder um Steine, Sand, Uranium und zusätzliche Atomenergie zu gewinnen oder nur reinem Vergnügen am Planieren, bis die Erdoberfläche zu einer gesichtslosen Ebene geworden ist?

Warum sollte er nicht aus Gründen der Gleichschaltung ein einheitliches Klima schaffen für die ganze Erde, ohne Tages- und Jahres­zeiten, damit der Mensch von allen seelischen Einflüssen der Witterungsschwankungen befreit ist?

Wenn der posthistorische Mensch auch keinen mechanischen Ersatz für die Bäume schaffen kann, so wird er sie gewiß auf wenige standardisierte, marktgängige Typen reduzieren, so wie wir die nach U.P. Hedrick über neunhundert zählenden Arten von Birnbäumen, die vor einem Jahrhundert in den Vereinigten Staaten noch existierten, auf wenige Dutzend reduziert haben.

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Sowohl zu seiner eigenen Sicherheit als auch zur Sicherung des Glaubens an seinen Gott, die Maschine, muß der posthistorische Mensch jede Erinnerung an alles Wilde und Unzähmbare, Bunte und Gescheckte, Einmalige und einstmals Teure tilgen, wie z.B. Berge, die zum Erklettern verlocken könnten.

Wüsten, in denen einer Einsamkeit und inneren Frieden suchen könnte. Dschungel­wälder, deren Flora und Fauna einen überlebenden, unverbesserlichen Forscher daran erinnern könnte, welche verschwenderische Vielfalt an Lebensformen und Daseinsmöglichkeiten die Natur aus dem Urgestein und dem Protoplasma schuf, als sie, ungestört durch den Menschen, ihr Werk begann.

Schon zeichnen sich in den großen Metropolen und in den wuchernden Mittelstädten die ersten Merkmale der posthistorischen Umwelt ab; das Leben des Führers eines Expreß-Lifts in einem großen Geschäftsgebäude ist fast ebenso leer und eintönig wie das Leben aller sein wird, wenn einmal die posthistorische Kultur jede Erinnerung an eine reichere Vergangenheit ausgelöscht haben wird. Bei dem augenblicklichen Tempo der Verstädterung, der Zerstörung aller natürlichen Lebensräume oder, richtiger gesagt, ihrer Umwandlung in niedere Stadtformen, wird kaum ein Jahrhundert vergehen, bis jede Alternative zum posthistorischen Leben aufgehört hat zu existieren.

Wenn das Ziel der menschlichen Geschichte ein menschlicher Einheitstyp ist, der sich in gleichmäßigem Tempo in einer gleichbleibenden Umgebung fortpflanzt, bei konstanter Temperatur, konstantem Luftdruck und konstanter Luftfeuchtigkeit ein gleichförmiges, mechanisiertes Leben führt, seine normierten physischen Bedürfnisse durch normierte Produkte befriedigt, dessen Seelenleben durch hypnotische oder pharmazeutische Mittel oder durch operative Eingriffe gleichgeschaltet ist, eine Kreatur, die vom Brutapparat bis zum Krematorium mechanisch gesteuert wird, dann wären alle Probleme der Menschheits­entwicklung illusorisch. Nur eine Frage bliebe dann noch offen: Warum sollte irgend jemand, selbst eine Maschine, noch ein Interesse daran haben, eine solche Kreatur am Leben zu erhalten?

Die Uniform, die wie der Drill ein Produkt des ältesten Systems straffer Organisierung, nämlich des Heeres, ist, wird bereits zum unsichtbaren Kostüm einer ganzen Gesellschaft. Um der Uniformität willen ist jede Möglichkeit freier Wahl beseitigt bis zur trivialen Entscheidung, ob einer eine dicke oder dünne Scheibe Brot vorzieht.

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Sobald die kollektive Entscheidung getroffen ist, wird jede individuelle Abweichung oder Änderung auf Grund persönlicher Vorliebe oder Abneigung unmöglich. Es ist billiger und wirksamer, die menschliche Individualität zu unterdrücken als die unberechenbaren Elemente des Lebens in ein mechanisches Kollektiv einzuordnen. Einer der Faktoren, die der Entwicklung der posthistorischen Kultur automatisch eine Grenze setzen, ist die Tatsache, daß sie auf Grund ihrer eigenen Prinzipien Automatenhirne schaffen muß, die nur nach Einwurf der vorge­schriebenen Münze das kollektiv approbierte Einheitsprodukt ausstoßen. Wie einige große Geschäfts­unternehmen bereits besorgt festgestellt haben, bringen solche uniformen Organisationen keine Hirne mehr hervor, die fähig sind, sie zu leiten, da sklavische Konformisten und seelenlose Routiniers versagen, wenn sie in kritischen Situationen selbständige Entscheidungen treffen sollen.

Der posthistorische Mensch reduziert alle spezifisch menschliche Aktivität auf eine einzige Arbeit, nämlich auf die Umwandlung von Energie oder einen Denkprozeß, der die Umwandlung von Energie fördert. Doch bei einer solchen Auffassung liegt der Lohn der Arbeit nicht im Arbeitsprozeß, sondern im Produkt; anstatt den Arbeitsvorgang so zu gestalten, daß der Ausführende durch persönliche Anteilnahme unmittelbare Befriedigung in ihm finden kann, sucht die Maschinentechnik gemäß der posthistorischen Ideologie, das menschliche Element auszuschalten. Soweit es sich um abstoßende und unwürdige Arbeiten handelt, bedeutet dies einen menschlichen Gewinn; die Übertragung solcher Arbeiten auf Automaten ist, wie schon Aristoteles bemerkte, die erste Voraussetzung zur Abschaffung der Sklaverei, und sie allein macht es möglich, allen Menschen die Muße zu geben, die sie brauchen, um ihre Bürgerpflichten zu erfüllen und ein Privatleben zu führen.

Doch der posthistorische Mensch geht weiter; er sucht alle Arbeit zu automatisieren, sei sie erzwungen oder freiwillig, angenehm oder widerlich. Selbst Spiel und Sport werden organisiert und reglementiert nach dem Prinzip der geringsten Anstrengung. Anstatt die Arbeit als ein wertvolles Mittel zur Entwicklung der individuellen Persönlichkeit zu betrachten, entpersönlicht der posthistorische Mensch den Arbeiter, indem er ihn umformt und abrichtet, bis er sich reibungslos in den unpersönlichen Apparat der Produktion einpaßt. Die Maschine erzwingt totalitäre Konformität in allen Bereichen, die sie erfaßt; der standardisierte Reiz löst standardisierte Reflexe aus. Dies trifft nicht nur zu für eindeutig totalitäre Staaten.

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So wird der Mensch in der posthistorischen Welt zur Maschine, zu einem Bündel bedingter Reflexe, abgerichtet in der Erziehungs­fabrik, um den Bedürfnissen anderer Maschinen zu entsprechen. Zu diesem Zweck muß seine ursprüngliche tierische Natur, ganz zu schweigen von den Eigenschaften, die ihn zum Menschen machten, eliminiert werden. Alle seine früheren Leistungen und alten Erinnerungen, seine Triebe und Hoffnungen, seine Ängste und Ideale stehen dieser Umwandlung im Wege. Deshalb sind nur diejenigen, denen es gelungen ist, ihren menschlichen Charakter und ihre menschliche Würde abzulegen, Kandidaten für die höchsten Ämter in der posthistorischen Gesellschaft, die Ämter der Abrichter und Kontrolleure.

Mitgefühl und Einfühlung, die Fähigkeit und Neigung, mit Phantasie und Liebe am Leben anderer Menschen teilzunehmen, haben keinen Platz in der posthistorischen Gesellschaft; denn die posthistorische Gesellschaft verlangt, daß alle Menschen als Dinge behandelt werden.

Menschlich gesehen, ist dieses posthistorische »Ding« ein Schwachsinniger, wenn nicht ein Verbrecher, auf jeden Fall aber ein potentielles Ungeheuer.

Sein moralischer Defekt wird nur durch eine hohe Intelligenz verdeckt. Bekleidet mit uniformen Konfektionsanzügen, scheinbar nur in Gemeinplätzen redend und Allerweltsanschauungen äußernd, sind diese Ungeheuer bereits in unserer heutigen Gesellschaft am Werk. Ihre typischen Beschäftigungen, wie z.B. die Vorbereitungen zur »ABC«-Kriegsführung, sind ebenso irrational wie ihre Einzelhandlungen zwangsläufig und automatisch sind. 

Die Tatsache, daß weder der moralische Irrsinn noch die praktische Sinnlosigkeit dieser Vorbereitungen bisher ein allgemeines menschliches Schaudern ausgelöst haben, ist ein Zeichen dafür, wie weit die Entwicklung der posthistorischen Gesellschaft bereits fortgeschritten ist.

Keine dieser charakteristischen Betätigungen des posthistorischen Menschen, ausgenommen vielleicht der Gebrauch des reinen Verstandes, hat etwas mit dem Dienst am Leben oder mit der Pflege von etwas wahrhaft Menschlichem zu tun. Der post­historische Mensch hat theoretisch bereits alle Menschlichkeit abgestreift. Was von seinem Geburtsrecht übriggeblieben zu sein scheint, ist ein Unbehagen, das er jedoch mit der Zeit durch seine Kontrolle der Fortpflanzung ausmerzen wird, so wie er jetzt die unerwünschten Eigenschaften von Schweinen oder Rindern eliminiert.

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Entweder durch psychologische Abrichtung, oder biologische Züchtung, oder Liquidierung Unverbesserlicher wird er alles auslöschen, was noch der Mensch­lichkeit verdächtig ist.

Bereits beherrschen diese wahnsinnigen Träume das Leben von Millionen menschlicher Lebewesen und bedrohen auch in Wirklichkeit ihre Zukunft.

In den Plänen zur Massenvernichtung in einem Krieg, der die posthistorische Epoche einleiten und zugleich beschließen würde, ist das Angriffsziel die Menschlichkeit des Menschen selbst. Indem er sich entschlösse, den »Feind« als Ungeziefer zu betrachten, etwa als soundso viele Millionen zu vertilgender Ratten oder Wanzen, würde der posthistorische Mensch den Täter wie das Opfer zum Tier erniedrigen, bevor er die gemeinsame Vernichtung vollziehen könnte.

   

  § 3  

 

Gibt es keine positive Alternative zu dem Schicksal des posthistorischen Menschen, das ich aufgezeigt habe? Wird die Gesellschaft, die er erstrebt, wenn sie einmal verwirklicht ist, vielleicht doch bejahenswerter sein als ihre bereits bestehenden Ansätze? Zur Beantwortung dieser Frage mag es nützlich erscheinen, sich die Utopien in Erinnerung zu bringen, in denen die heutige Mechanisierung des Lebens theoretisch vorweg­genommen wurde.

Obwohl ihre Autoren von ihren Zeitgenossen nicht ernst genommen wurden, haben sich die seit dem 17. Jahrhundert entstandenen klassischen Utopien, wie so viele ideelle Konstruktionen, als geradezu hellsichtiges Vorausschauen auf heute im Gang befindliche Prozesse erwiesen. Seit Thomas Morus sind die klassischen Utopien vornehmlich beherrscht von zwei Vorstellungen, einer antiken und einer modernen. Die antike Vorstellung geht zurück auf Platos Republik und auf Lykurgs Gesetzgebung für Sparta; sie entspringt dem Bestreben, einer ganzen Gemeinschaft eine einheitliche militärische Ordnung aufzuzwingen, ihr die dionysische Freude an Speise, Trank und Liebesgenuß auszutreiben, den Dichter und den Künstler zu verbannen und nur den Wächtern des Staates den vollen Gebrauch des Verstandes zu erlauben.

In einer solchen Ordnung wird jede Form von Individualität unterdrückt oder auf ein Mindestmaß beschränkt; zärtliche Gefühle sind verboten. Das Endziel ist eine uniforme, zentral gelenkte, in kollektivem Reflex einem einzigen Befehl gehorchende Gesellschaft, die zwar von Angst, Unsicherheit, Zufall und Irrtum befreit, aber auch aller Möglichkeiten des Wachstums und der Entfaltung beraubt ist.

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In der Utopie, die diese Tendenzen zu Ende denkt, in seinem 1984, sagt George Orwell: »Den richtigen Glauben haben bedeutet ... nicht zu denken brauchen. Rechtgläubigkeit ist Unbewußtheit.« In dieser Gesellschaft gibt es keine Freiheit außer jener, die Karl Marx meint, wenn er sagt: »Freiheit ist die bewußte Anerkennung der Notwendigkeit.«

Zum Ausgleich für den vollständigen Verzicht auf die Attribute der Persönlichkeit, man könnte sogar sagen, auf die Attribute eines lebendigen Organismus, haben die Utopisten ihre Zukunftsschauen um eine neue Vorstellung bereichert; sie forderten die Wissenschaftler und Erfinder auf, die physische und die soziale Umwelt zu verändern. Bacons unvollendete Utopie Das neue Atlantis beschreibt den Geist, dem Wissenschaft und Technik verfielen, mit bemerkenswerter Einsicht und Genauigkeit. Er legte gewissermaßen den Plan des technischen Fortschritts für die nächsten drei Jahrhunderte im voraus fest, erbaute in seiner Phantasie ein wissenschaftliches Mammutinstitut von der Höhe einer halben Meile, sah die künstliche Mutation voraus, die Beschleunigung natürlicher Prozesse, die Verbesserung der Zerstörungsinstrumente, die Gründung internationaler wissen­schaft­licher Stiftungen, die Luftfahrt, das Kino und sogar die Klimaanlage.

Obwohl Bacon die Möglichkeiten der reinen Wissenschaft unterschätzte, ist eine seiner ihm selbst allzu kühn erscheinenden Prophezeiungen, die Degradierung der Wissenschaft zu Handlangerdiensten, heute in gewissen Laboratorien traurige Wirklichkeit geworden.

Die posthistorische Gesellschaft ist im Grunde nichts anderes als die Vervollkommnung der von ihren utopischen Erfindern als Wohltaten gedachten Instrumente zur Organisierung des Menschen durch weitaus raffiniertere technische Methoden, als die Einbildung sich vorzustellen wagte. Alle diese Utopien schlugen eine Ersetzung des Menschen durch ein mechanisches Kollektiv vor. Nicht nur soll jede menschliche Tätigkeit an die Maschine gebunden sein, das Leben ist so organisiert, daß es schwer wird, der Maschine zu entrinnen, so wie sie uns heute im Krächzen des Radios und Flimmern des Fernsehschirms bis in die entlegenste Wildnis verfolgt. Das Resultat sollten physische Sicherheit und physischer Komfort über jedes bisher erträumte Maß hinaus sein; doch der Preis für diese Segnungen war eine zunehmend erbärmlicher werdende Abhängigkeit vom mechanisierten Kollektiv.

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Doch es gab zwei heimtückische Möglichkeiten, die selbst die lebhafteste Phantasie der Utopisten nicht voraussah. Die eine war eine dem System selbst innewohnende Schwäche, nämlich die Tatsache, daß der Prozeß als Ganzes der menschlichen Kontrolle zu entgleiten beginnt, wenn seine einzelnen Teilfunktionen immer mehr mechanisiert und rationalisiert werden, so daß selbst diejenigen, die den Gang der Maschine steuern sollen, passive Teile in ihr und schließlich ihre Opfer werden. Dann wird der Mensch, wie Samuel Butler in Erewhon sarkastisch prophezeite, am Ende zu einer Maschine, die dazu bestimmt ist, andere Maschinen zu erzeugen.

Der moderne Mensch hat sich bereits so gründlich entpersönlicht, daß er nicht mehr Mensch genug ist, um Herr seiner Maschinen zu bleiben. Der primitive Mensch, der sich im Bunde fühlte mit magischen Mächten, besaß Vertrauen in seine Fähigkeit, die Naturkräfte zu bändigen und zu beherrschen. Der posthistorische Mensch, obwohl die mächtige Wissenschaft in seinem Dienst steht, hat so wenig Selbstvertrauen, daß er im voraus seiner eigenen Ablösung, seiner eigenen Vernichtung zustimmt, wenn der Preis des Überlebens darin besteht, daß er die Maschine anhalten oder auch nur langsamer laufen lassen soll. Indem er wissenschaftliche Erkenntnisse und technisches Können als absolute Dinge betrachtet, hat er die physische Macht in menschliche Ohnmacht verwandelt; er würde eher universalen Selbstmord begehen durch Beschleunigung des Prozesses wissenschaftlicher Entdeckungen, als die menschliche Rasse zu retten, indem er ihn auch nur vorübergehend abbremst.

Nie zuvor war der Mensch so frei von den Beschränkungen durch die Natur, doch nie zuvor war er in größerem Maße das Opfer seines Unvermögens, seine spezifisch menschlichen Züge zu entwickeln; in gewissem Sinne hat er, wie ich bereits sagte, das Geheimnis verloren, sich selbst menschlich zu machen. Die letzte Phase des posthistorischen Rationalismus wird, so dürfen wir zuversichtlich erwarten, das bereits sichtbare Paradoxon noch deutlicher werden lassen; nicht nur wird das Leben der Kontrolle des Menschen um so mehr entgleiten, je automatischer seine Lebensweise wird, sondern im gleichen Maße, wie er seine Produktionsprozesse rationalisiert, wird auch das Endprodukt, er selbst, irrationaler.

Macht und Ordnung, auf die Spitze getrieben, führen zu ihrer selbstzerstörerischen Umkehrung, zu Desorganisation, Gewalttätigkeit, geistiger Verwirrung, subjektivem Chaos. Diese Tendenz wirkt sich in Amerika bereits aus durch die Medien des Films, des Fernsehens und der Comic-books für Kinder.

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Diese Formen der Unterhaltung verführen in steigendem Maße zur Verübung von brutalen, kaltblütigen Gewalttaten; sie sind pädagogische Vorbereitungen zum Mord und Massenmord, so wie Robinson Crusoe Vorbild des Überlebens in einem unbewohnten Land war. Solche üblen Phantasieprodukte nehmen grausige Realitäten vorweg, die schon allzu nahe sind.

Hieraus ergibt sich die zweite, von den Utopisten nicht vorausgesehene Möglichkeit, nämlich die zwangsläufige Reaktion dessen, der Gegenstand mutwilliger Zerstörung ist. Da der Mensch mit den Anlagen und Fähigkeiten, menschlich zu werden, geboren ist, wird er früher oder später gegen die posthistorische Lebensform revoltieren; wenn er seine Befehle von einer Maschine entgegennehmen muß, bleibt ihm nur eine Form des Widerstandes. Da er sich nicht als autonomes Wesen in den mechanischen Prozeß wiedereinschalten kann, entschließt er sich vielleicht, zum Sand in seinem Getriebe zu werden, und wenn nötig, wird er die Maschine benutzen, um die Gesellschaft zu zerstören, die sie geschaffen hat. 

Diese Prophezeiung in Dostojewskys Aufzeichnungen aus dem Untergrund ist der Erfüllung nahe. Der weinerliche Held dieser Briefe, der die Ordnung und den Komfort des 19. Jahrhunderts ablehnt, erinnert sich, daß ihm eine Form der Freiheit geblieben ist, die des Verbrechers. Dostojewsky hat das Kommen eines neuen, Hitler seltsam ähnelnden Menschentyps vorausgesagt, der diesen ganzen vermeintlichen Fortschritt durchschauen und sich entschließen wird, ihn mit einem Fußtritt zu zertrümmern.

Der Mensch ist so veranlagt, daß er, wenn schöpferische Betätigung nicht mehr möglich ist, Befriedigung in negativer Betätigung, in der Zerstörung sucht. Er wird die menschliche Initiative wieder übernehmen, indem er zur Gewalt greift, wird, um sich zu rächen, sadistische Grausamkeiten begehen und seine Macht nur benutzen, um zu foltern, zu verstümmeln, zu vernichten. War es nicht ein durch Militarismus und Absolutismus zum sturen Gehorsam erzogenes und in den Naturwissenschaften so tüchtiges Land, in dem systematische Folterungen in Form von »wissenschaftlichen Experimenten« durchgeführt wurden? Hat nicht Deutschland das Grauen der Vernichtungslager in die Welt gebracht? In der Kombination von kaltem wissenschaftlichem Rationalismus und kriminellem Irrationalismus erzeugte das Gift sein ebenso tödliches Gegengift.

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Je weiter wir auf dem posthistorischen Weg vorstoßen, um so zahlreicher und ironischer werden die Bestätigungen für seine Widersinnigkeit im Hinblick auf die Entfaltung des Menschen. Seit zwei Jahrhunderten bemühen sich Wissenschaft und Technik, das Leben zu einem mechanischen Vorgang zu machen, der automatisch und mit dem geringsten Aufwand an menschlicher Initiative abläuft. 

In der ursprünglichen Ordnung der Zivilisation war die überragende Persönlichkeit unentbehrlich als treibende und steuernde Kraft, doch das posthistorische System funktioniert am besten unter der anonymen kollektiven Leitung von Durchschnittsmenschen, die auswechselbar sind wie Maschinenteile, von einheitlich geschulten Technikern und Bürokraten, die Experten auf ihrem eigenen engen Fachgebiet, doch unfähige Stümper in jenen Funktionen des Lebens sind, die das Menschliche im Menschen ausmachen und jene Eigenschaften und Fähigkeiten erfordern, die sie systematisch unterdrückt haben.

Mit der Entwicklung von kybernetischen Kontrollautomaten, die Entscheidungen treffen sollen in Prozessen, die das bewußte menschliche Urteilsvermögen und die menschliche Geduld wegen ihrer Kompliziertheit und der astronomischen Größenordnung der in ihnen vorkommenden Zahlen übersteigen, ist der posthistorische Mensch im Begriff, das einzige Organ der menschlichen Anatomie, dessen Wert er bis jetzt noch zu schätzen wußte, den Stirnlappen des Gehirns, außer Dienst zu setzen.

Indem er das Elektronenhirn schuf, hat der Mensch den letzten Schritt in seiner Unterwerfung unter die Maschine selbst getan, und dieser Verzicht auf seine Anatomie zugunsten dieses Produktes seiner eigenen Erfindungsgabe hat ihm zugleich ein neues Objekt der Verehrung beschert, einen kybernetischen Gott. Diese neue Religion erfordert einen stärkeren Glauben als den an den Gott des axialen Menschen, nämlich den Glauben, daß dieser mechanische Halbgott, dessen Berechnungen sich menschlicher Kontrolle entziehen, nur richtige Antworten geben wird ...

 

Wir wollen aus diesem traurigen Erfolg die Schlüsse ziehen und sehen, wohin er führt. Durch die Perfektionierung des Automaten wird der Mensch am Ende dieser Welt vollkommen entfremdet werden und in ihr zu einer Null zusammenschrumpfen. Das Reich, die Macht und die Herrlichkeit werden auf die Maschine übergehen. Anstatt in maßvoller Nutzung der Gaben der Natur durch sinnvolle Arbeit sein tägliches Brot zu verdienen, hat er sich zu einem Leben mühelosen Komforts verdammt, vorausgesetzt, daß er sich mit den Produkten und Ersatzprodukten begnügt, die ihm die Maschine liefert.

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Doch auf die Dauer wird auch dieser Komfort aufhören, mühelos zu sein, denn er zwingt ihn, die Güter, die seine Maschinen ausstoßen, zu verzehren, wie übersättigt er auch sein mag. Und schließlich erlischt in ihm jeder Anreiz zum Denken, zum Fühlen und zum Handeln, bis auch der Wille zum Leben abstirbt.

In Amerika hat der Mensch bereits begonnen, den Gebrauch der Beine zu verlernen, weil er sich zu sehr abhängig gemacht hat von seinem Auto. Bald wird sich die physiologische Existenz des Menschen auf den Bereich zwischen Magen und Unterleib beschränken, und es besteht Grund zur Annahme, daß er das Prinzip der geringsten Anstrengung auch auf die letzten animalischen Funktionen anwenden wird. Werden amerikanische Mütter nicht von vielen Ärzten ermuntert, ihre neugeborenen Kinder, auch wenn sie es könnten, nicht zu stillen? 

Vom posthistorischen Standpunkt betrachtet, ist die »Formula«, die synthetische, in Flaschen abgefüllte Säuglingsnahrung, weitaus bekömmlicher als das psychosomatische Erlebnis der kreatürlichen Zärtlichkeit beim Trinken an der Mutterbrust. Wird die Wissenschaft nicht zur Perfektionierung der künstlichen Befruchtung die Methode des mühelosen, mechanischen Orgasmus entwickeln, um die Menschheit von den Ungewißheiten der Leidenschaft und dem Zwang des körperlichen Kontaktes zu befreien? Die Verachtung für organische Vorgänge, verbunden mit dem bewußten Bemühen, sie durch mechanische Prozesse zu ersetzen, hat erst angefangen, ihr Gesicht zu zeigen.

Um das Endziel des prohistorischen Menschen zu begreifen, wollen wir das charakteristischste, bereits existierende Exemplar dieser Spezies betrachten, nicht ein Zukunftsgespenst, wie eine der Kreaturen aus Orwells 1984, sondern seine leibhaftige Verkörperung. Es ist der Pilot eines Überschall-Flugzeuges. Er ist der Prototyp des vollmechanisierten Menschen, wenn er, für seinen Beruf sorgfältig ausgewählt und abgerichtet, in vollkommener Isolation, ausgerüstet C, mit seinem elektrisch geheizten unförmigen Anzug und seinem glotzäugigen Sauerstoffhelm, auf seinem Katapultsitz in seiner Kabine kauert. Er sieht aus wie ein monströses Schuppentier, mehr wie eine riesige Ameise als wie ein prähistorischer Mensch, gewiß nicht wie ein nackter Gott. Wenn er durch die leeren Himmelsräume rast, ist sein Leben nur noch eine Funktion von Masse und Bewegung, denn sein Können, sein Mut, seine ganze Existenz sind auf eine einzige Empfindung konzentriert durch den Zwang, seine Reaktionen mit dem komplizierten Mechanismus zu koordinieren, von dem sein Überleben abhängt.

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Bewußtlosigkeit, Erstickungsgefahr, Erfrieren und Verbrennen bedrohen ihn gefährlicher als säbelzähnige Tiger und behaarte Mammute seine steinzeitlichen Vorfahren. Neben dieser punktuellen Existenz, für die er nur ein meist durch künstliche Mittel reguliertes Mindestmaß seiner Fähigkeiten braucht, um die Maschine zu kontrollieren, hat sein Arbeitsleben keine andere Dimension.

Kann man dies noch Leben nennen? Nein, es ist ein mechanisch verlängertes Koma. Dies ist ein nur selten vorkommendes, aber treffendes Beispiel für den Status des Menschen, den die totale Verwirklichung des posthistorischen Ideals zur Folge haben würde. Der nächste Schritt in dieser Entwicklung wird sein, alle menschlichen Betätigungen nach dem gleichen Muster zu entmenschlichen. Schon schickt man uns mechanische Tagträume und vorfabrizierte Gedanken ins Haus, mit einer Eindringlichkeit und Aufdringlichkeit, deren sich der normale Mensch kaum noch erwehren kann. Man braucht nur noch die wenigen noch privaten Bezirke des Lebens der gleichen hypnotischen Beeinflussung zu unterwerfen, und der posthistorische Mensch hat gesiegt.

Seine letzte Vollendung und Entmenschlichung würde der posthistorische Mensch erreichen in der interplanetarischen Raumfahrt und Errichtung von bemannten Weltraum-Außenstationen. Bezeichnenderweise wird als Zweck der heutigen Bemühungen auf diesem Wege die wissenschaftliche Erforschung des Weltalls angegeben, doch die astronomischen Beträge, die dabei aufgewendet werden, belassen keinen Zweifel darüber, daß man insgeheim hofft, Vorteile gewinnen zu können im Gebrauch der Gewalt gegen mögliche menschliche Feinde auf der Erde, in der Verwendung übermenschlicher Kräfte zu untermenschlichen Zwecken. 

Was der Mensch wirklich braucht, ist tiefere Einsicht in sein eigenes Inneres, um zu erkennen, daß es selbst­mörderische Vermessenheit ist, das All erobern zu wollen in einem Augenblick, da er in Gefahr ist, sich selbst zu verlieren. In einem Zeitalter der Raumfahrt würde das Leben noch weiter reduziert werden auf die rein physiologischen Funktionen des Atmens, Essens und Ausscheidens, und selbst diese Funktionen müßten in einem Raumschiff auf ein Minimum beschränkt werden. Doch es scheint das letzte Ziel des posthistorischen Menschen zu sein, sich in einen künstlichen Homunkulus "zu verwandeln, der in einer Rakete eingeschlossen durch den Raum rast unter Verzicht auf alle Gaben, die ihm die Natur geschenkt hat, um Mensch zu werden.

 

Der Triumph des posthistorischen Menschen würde - daran ist kaum zu zweifeln - den letzten vernünftigen Grund zum Weiter­lebenwollen beseitigen. Nur diejenigen, die ihren Verstand bereits vollkommen aufgegeben haben, könnten dieses sinnlose Leben ertragen; nur diejenigen, die auf alle Attribute des Lebens verzichtet haben, würden sich nicht weigern, als Leichname weiterzuleben. Mit einem solchen Dasein verglichen, war der Totenkult der Ägypter lebensnaher; eine Mumie in ihrem Grab strahlt mehr Menschlichkeit aus als ein Raumfahrer in seiner Rakete.

Schon hat der posthistorische Mensch sowohl in seinen übermenschlichen Raumfahrt-Projekten als auch in seinen unter­mensch­lichen Kriegsplänen den letzten Sinn für die lebendige Wirklichkeit verloren; er ist das freiwillige Opfer innerer Kräfte, die ihn in den Tod treiben. Selbst wenn es ihm gelingen sollte, auch nur vorübergehend sein Ideal zu verwirklichen, so würde sein Triumph den letzten Akt der menschlichen Tragödie einleiten. Denn was posthistorisch ist, ist zugleich posthuman.

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Lewis Mumford 1956 Der posthistorische Mensch