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I.7.  Emigration als Makel

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Nach dem klinischen geben wir jetzt ein Beispiel aus dem Alltag, das die Manipulierbarkeit unserer Vorstellungen im Dienste der Schuldabwehr zeigt.

Menschen erinnern nicht objektiv. Sie färben Geschichte immer zu ihren Gunsten. Sie leben in einer stilisierten Welt. Es ist nur die Frage, ob die subjektive Wirklichkeit zu fahrlässig, zu gewaltsam entstellend mit den Fakten umgeht. Wir haben gesehen, wie bei zu großer Schuldlast Zuflucht zu ausgedehnten Verleugnungen genommen wird. 

Sosehr sich dieses politische Weltbild einem distanzierten Beobachter als dem Wunschdenken verfallen darbieten mag, unwirklich ist es deshalb nicht. Vielmehr regeneriert sich mit der Entwicklung des Wohlstandes ein Selbstgefühl, das sich von den Wertvorstellungen des Dritten Reiches oft nicht distanziert. 

Zum Beleg ließen sich zahllose Beispiele finden. Wir wählen eines, das uns besonders eindrucksvoll erscheint.

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Während des Wahlkampfes vor der Bundestagswahl 1965 wurden hinter vorgehaltener Hand »Nachrichten« über den oppositionellen Bewerber um das Amt des Bundeskanzlers, Willy Brandt, verbreitet, die sehr bereitwillig aufgenommen wurden. Es hieß, Brandt sei Emigrant gewesen, habe in der norwegischen Armee gedient — und vielleicht auf uns geschossen.(1)

Das erwies sich als ein vortrefflich gezieltes Argument, denn fast jedermann, den man damals fragte, gestand zwar zu, daß dieser Mann eine angenehme Persönlichkeit und ein loyaler Demokrat sei, aber mit dieser Vergangenheit könne er nicht deutscher Bundeskanzler werden. Es mag ein unfaires Argument gewesen sein, das da in den politischen Kampf eingeführt wurde, überaus aufschlußreich war aber, daß die Partei Brandts selbst nicht den Spieß umzudrehen vermochte und das Argument als solches enthüllte. So stark muß von ihr die Übereinstimmung der öffentlichen Meinung und so schwach ihre Möglichkeit, diese Meinung zu beeinflussen, eingeschätzt worden sein.

Von der Sache her gesehen ist es gleichgültig, ob Brandt geschossen hat oder nicht und was immer er zu seiner »Entlastung« vorgebracht haben mag. Kein einziger der in diesem Zusammenhang gegen ihn vorgebrachten Vorwürfe ist ehrenrührig. Im Gegenteil, jeder einzelne charakterisiert ein lobenswertes Verhalten. Wer emigriert, um die Freiheit seines Vaterlandes, das in die Hände seines größten Feindes gefallen ist, wieder­herzustellen, tut nichts Verwerfliches. Wer sich um der Freiheit seines Landes willen mit denen verbündete, die sich dem Terror unserer Mißachtung der nationalen Freiheit anderer Länder widersetzten, und in dieser Sache sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen bereit war, hätte Grund, den Dank seines Vaterlandes zu erwarten. 

1)  Vgl. Egon Bahr Emigration — ein Makel? Die Zeit, Nr. 44, 29. Okt. 1965.

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Bei einem politisch erfahreneren Volk hätte es durchaus geschehen können, daß rein deutsches Emigrantenkorps gegen die Armee einer Terrorherrschaft kämpfte; es wäre das ein auf den internationalen Schauplatz verlegter Bürgerkrieg gewesen — der deutsche Bürgerkrieg in dem seit den Bauernkriegen wichtigsten historischen Augenblick. »Im vertrauten Kreise pflegte Max Weber öfter zu sagen: das nationale Unglück Deutschlands sei, daß man noch nie einen Hohenzollern geköpft hat.«(1) Man hat bis heute auch nicht Hitler, weder in Wirklichkeit noch bildlich, geköpft, wie es auch dieses deutsche Resistance-Armeekorps nicht gab.

 

Man muß sich nur die folgende, willkürlich herausgegriffene dpa-Meldung vergegenwärtigen, um die Bestätigung dafür zu erhalten, daß der Gedanke eines deutschen Widerstandes gegen einen deutschen Führer bis heute nicht gedacht werden darf. Von einem deutschen Professor berichtet diese Meldung anläßlich seines 60. Geburtstags unter anderem: »Nach dreijähriger Assistenzzeit wurde er 1935 aktiver Soldat. Während des Zweiten Weltkrieges hoch dekoriert — darunter mit dem Eichenlaub zum Ritterkreuz — habilitierte er sich ...« Dieser Hochschullehrer hatte dann rasche Karriere gemacht und auch die Bundesregierung in wichtigen Fragen zu vertreten gehabt.

Kein Schatten eines Makels fällt auf ihn, daß er sich in den Tagen, in denen sein Vaterland in die Hände seines ärgsten Feindes gefallen war, für diesen Herrscher und seine Lehre besonders hervorgetan hat. Es wird vielmehr — und das ist ein Anzeichen dieser desorientierten Welt, in der wir leben — ein abstraktes Heldentum konstruiert, so, als hätte dieser gezeigte Mut — so lobenswert Mut an sich sein mag — nicht der Vernichtung der Freiheit anderer Völker, nicht den finstersten Verbrechen unmittelbar gedient. Eine der unheilvollen Formeln des imperialistischen 19. Jahrhunderts, die Formel der damaligen Sieger, wird erneuert: Right or wrong — my country.

Was unter »Entnazifizierung« verstanden wird, wie weit sie reicht und wo sie aufhört, ist gut daran zu erkennen, daß man die Orden des Dritten Reiches wieder trägt, nachdem man aus ihnen das damalige Hoheitszeichen, das Hakenkreuz, entfernt hat. Statt retrospektiv die Situation, vielleicht seine eigene Naivität zu überprüfen, sein damaliges Verhalten mit den gesamten Informationen, die ihm jetzt zugänglich sind, in Zusammenhang zu bringen, gibt sich der vom »Führer« Dekorierte ohne solche kritische Besinnung seinem Stolz hin: Er isoliert seine als solche möglicherweise honorige Leistung, er isoliert und setzt [sie;deto-2022] nicht zu dem in Beziehung, was gewesen ist.

1)  Georg Lukacs Von Nietzsche bis Hitler. Frankfurt (Fischer-Bücherei) 1966,16.

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Die Betrachtung unserer stilisierten Vergangenheit wird also nicht zu einer Erschütterung unserer nationalen Identität, die tiefer gehen würde, führen. Wir erkennen unsere Vergangenheit besser im Ritterkreuzträger als im deutschen Emigranten. Das hat offenbar Willy Brandt, wenn man der vox populi trauen darf, den Sieg gekostet. Er sollte schon 1933 mehr gesehen, richtiger entschieden haben als wir alle? Falls der Gedanke überhaupt zugelassen wird, weckt er Neid auf die größere Schuldlosigkeit, beweist er überhaupt, daß es zu der angeblich unausweichlichen Wehrpflicht, zum Zwang der Diktatur eine Alternative gegeben hat. Sie wird sofort abgewertet: Emigration war Feigheit; Fahnenflucht ist unentschuldbar etc. Zunächst bleibt es von geringem Wert, daß wir den Scheincharakter dieser Argumente erkennen und sie als »Rationalisierungen« ansprechen. Im Kollektiv der deutschen Öffentlichkeit ist ihre Überzeugungs­kraft offensichtlich wenig erschüttert.

Es ist dann auch nicht verwunderlich, daß zum Beispiel das Aufzeichnen der »sehr differenzierten Geistesgeschichte der deutschen Exilanten« Schwierig­keiten bereitet; »die westdeutsche Germanistik ist diesem Thema bisher so bemüht wie erfolgreich ausgewichen«.1) Die besten, weil durch das Berührungstabu unbehinderten Arbeiten zur neueren deutschen Geschichte wurden in England und Amerika geschrieben.2) Die stärkste Traditionslinie in unserer Geschichtsschreibung knüpft an das Treitschkesche Verständnis geschichtlicher Kräfte an. Überall dort, wo es darum ginge, Motivations­zusammen­hänge seelischer Art als die Voraussetzung von Handlungen und Entscheidungen zu verstehen, versichert man sich in dieser Historiker-Schule allgemeinster Begriffsbildungen. 

1)  Hans-AIbert Walter Schwierigkeiten beim Schreiben einer Geschichte der deutschen Exil-Literatur. FAZ, Nr. 264, 12. 11. 1965.
2) »Es ist eine beklagenswerte Tatsache, daß wir 20 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft noch immer keine Gesamtdarstellung der Jahre 1933 bis 1945 aus der Feder eines deutschen Autors oder eines deutschen Autorenteams besitzen.« (W. J. Mommsen. Die Zeit, Nr. 13, 25. 3. 1966.)

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Was bei Treitschke »die Natur der Dinge« hieß, die zwangsläufig irgendwohin führte, war dann ganz folgerichtig bei Adolf Hitler zu der ihm dienstbaren »Vorsehung« geworden. Der Irrationalismus ist aber gar nicht so irrational, so metaphysisch, er ist vielmehr eine Technik, sich in einer Wirklichkeit zu bewegen, in der man an viele Dinge nicht anstoßen darf — an jene nämlich, die verleugnet werden, die da sind, aber nicht gesehen werden dürfen, um die man sich herumbewegen muß. 

Und außerdem deckt der Irrationalismus mit seiner Berufung auf Urkräfte die Fragwürdigkeit von Projektionen unserer eigenen Triebbedürfnisse. Der »Praeceptor Germaniae« Treitschke hatte in den Preußischen Jahrbüchern »ein Wort über das Judentum« veröffentlicht, das in den Jahren 1879 bis 1880 den »Berliner Antisemitismusstreit« ausgelöst hat.1) In Treitschkes Ausführungen hieß es: »Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf .... ertönt es heute wie aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück!« Diese Urschau bestätigte im Leser »Ahnungen«; verknüpft mit der Würde des großen Mannes, aus dessen Munde die Meinung stammt, wird sie im Nu zu einer Aussage über historische Fakten. Sie wird so widerspruchslos hingenommen, weil sie unserer aggressiven Projektion auf die Juden das geistige Alibi verschafft.

Treitschke und sein Wort, daß die Juden unser Unglück seien, haben an der Herstellung eines falschen Bewußtseins in unserem Lande kräftigst mitgewirkt. So kann es nicht verwundern, daß die zum Teil sehr aufschlußreichen Studien jüngerer Historiker über die Periode des Dritten Reiches2) so gut wie keinen Einfluß auf die politische Bewußtseinsbildung erringen konnten — in welcher parlamentarischen Debatte hätte sich ihr Einfluß gezeigt? —, daß aber der Treitschkismus eine vertraute Lehre geblieben ist.

Hier ist unserer begrenzten Fähigkeit zur Diskussion zu gedenken, die eine Konsequenz unserer enthusiastisch verteidigten »Ahnungen« ist. Die Derealisierung dessen, was wir uns nicht zumuten wollen, schneidet auch den Gesprächsfaden ab. Die DDR ist ein Staat, der noch weniger als die Bundesrepublik mit Rücksicht auf die Bewohner gegründet wurde. Er ist eine Schöpfung im politisch-taktischen Vorfeld der Sowjetunion.

 

1)  Walter Boehlich Der Berliner Antisemitismusstreit. Frankfurt (Sammlung Insel) 1965.
2)  Zum Beispiel J. C. Fest Das Gesicht des Dritten Reiches. München (Piper) 1963 oder Ernst Nolte Der Faschismus in seiner Epoche. Action francaise, italienischer Faschismus, Nationalsozialismus. München (Piper) 1963.

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Damit sind die dort lebenden Deutschen zunächst in eine schwierige Situation geraten: Woran sollen sie ihre Identität orientieren? Am Dritten Reich, am Deutschen Reich, an der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die von ihren politischen Machthabern verworfen wird? Jedenfalls wird ihre Lage um so schwieriger, je weniger sie sich mit der Philosophie und Ideologie derer auseinandersetzen, die nun einmal in der DDR die Macht innehaben. Wir im Westen, denen die Erhaltung der geistigen Einheit Deutschlands so wichtig ist — und das vielleicht nicht nur als ein Lippenbekenntnis, um unsererseits Machtansprüche aufrechtzuerhalten —, bedenken aber diese Aufgabe unserer Mitbürger im anderen Teil Deutschlands, die erhebliche geistige Anstrengungen erfordert, so gut wie nie. 

Verfügten wir über die Technik dialektischen Denkens, dann könnten wir uns zunächst auf ein Verständnis uns fremder Lehren wie des Marxismus einstellen, sie kennenlernen und unsere eigenen Auffassungen in der Auseinandersetzung mit ihnen überprüfen.

Mehr als durch sonstige »Liebesbeweise« würde den Bewohnern in der DDR damit Realhilfe geleistet, weil wir aus einem Spielraum etwas größerer Liberalität denken können und nicht unter rein machtpolitisch bis demagogischen Gesichtspunkten Denkanweisungen auszuführen haben. Wir haben uns statt dessen nie um eine ernstliche Auseinandersetzung mit dem Marxismus bemüht, und zwar in der politischen Öffentlichkeit, dort, wo unsere Meinungen gebildet werden.

Unter dem Diktat der Verleugnung ist der Kommunismus nichts als eine Irrlehre für uns geblieben wie einst der Mohammedanismus oder der Protestantismus; uns als Rechtgläubige braucht das nicht zu interessieren, es genügt, wenn wir verabscheuen.

Die Derealisation steht im Dienst einer Selbstgerechtigkeit, die ihrerseits bereits eine Reaktionsbildung darstellt gegen Einflüsse, die unser inneres Gleichgewicht stören und Zweifel säen könnten. Wiederum handelt es sich um eine Anfälligkeit, die alle Menschen auszeichnet. Es sind die kleinen Gradunterschiede in der Heftigkeit, mit der Vorurteile verteidigt, unvertrautes Denken abgewehrt wird, und nicht grelle Differenzen, die über die Sterilität oder Produktivität einer Gesellschaft entscheiden.

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Wir erinnern uns daran, daß es um die Abwehr von Schuld in einer Größenordnung geht, die nur mit Melancholie der Massen zu beantworten gewesen wäre. Mag diese Gefahr durch die Zeitläufte gemildert sein, die Abwehrhaltung hat sich nicht entkrampft. Und damit bleibt es schwierig, sich für neue Konzepte aufnahmebereit zu stimmen oder gar sich dafür zu begeistern, anderen neue Denkmöglichkeiten beizubringen. Damit mag zusammenhängen, daß es für junge Menschen heutzutage nicht überaus anziehend ist, den Beruf des Lehrers zu ergreifen, was dann zu dem häufig beklagten, aber doch in seinen Motiven ungenügend verstandenen Mangel an Lehrern führt. Aber ist das nicht wiederum ein recht signifikanter Mangel? Wo die Gesellschaft als ganze der Konfrontation mit sich selbst aus dem Wege geht, wird es schwierig, an Schulen aller Grade zum Beispiel in einer Weise Zeitgeschichte zu vermitteln, daß sich der Lernende persönlich betroffen fühlt. Der plakatierte »Bildungsnotstand« ist nicht allein im Lehrermangel begründet, sondern auch in unserer unbewußt gesteuerten Unwilligkeit, mehr über uns selbst zu erfahren, die dann rückläufig überhaupt ein »engagiertes« Denken hemmt.

   

 

1.8.  Die Verliebtheit in den Führer  

 

Mit allen vorangegangenen Beispielen wurde versucht, anzudeuten, in wie feinen Kanälen sich die Abwehr der schuldhaften und schambeladenen Vergangenheit verzweigt. Es bleibt aber die wichtige Aufgabe, jene Motive herauszufinden, die zur Zeit Hitlers die Menschen sich ihm so grenzenlos gläubig anvertrauen ließen, was sie dann auch über die Grenzen des Verantwortbaren hinaustrug. Auch dieser Zustand der Exaltation, die Erinnerung an die Verliebtheit in den Führer, muß in der Wiederbegegnung Scham erwecken. In Massenpsychologie und Ich-Analyse hat Sigmund Freud in Fortsetzung älterer Beobachtungen, besonders derer von Le Bon, die Dynamik des psychischen Geschehens bei der Machtübernahme durch einen Massenführer geschildert. 

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Dieser tritt an die Stelle des Ich-Ideals jedes einzelnen, jenes seelischen Selbstbildnisses, das von den kühnsten Phantasien über eigene Bedeutung, Vollkommenheit und Überlegenheit, aber auch von den natürlichen Hoffnungen des menschlichen Lebens, wie und was man sein oder werden möchte, gezeichnet wird. Indem ich dem Führer folge, ihm Verehrung zolle, verwirkliche ich ein Stück dieses phantasierten Ich-Ideals. Ich nehme an diesem bedeutungsvollen Leben des Führers, an dessen historisch einmaligen Plänen unmittelbar teil, der Führer und seine Bedeutung werden zu einem Teil von mir.

Die ausschweifende eigene Phantasie und die Versprechungen des Massenführers gehen also eine Verschmelzung ein. Die Begabung des von Max Weber so genannten »charismatischen Führers« liegt recht eigentlich darin, die am schmerzlichsten durch eine gegenwärtige Notlage getroffenen Idealvorstellungen seiner Anhänger anzusprechen und hier Abhilfe in Aussicht zu stellen, und zwar mit einer Sicherheit, die seine unerschütterliche Kraft erkennen läßt, überspannte, wahnhafte, auf Vernichtung von Mitmenschen zielende Forderungen des Führers müssen die Massenglieder früher oder später aber auch zu schweren Konflikten mit ihrem eigenen Gewissen führen. Dabei ist besonders an solche Anhänger zu denken, die den Versprechungen erst als Erwachsene erliegen. 

Der Führer verlangt nun geradezu, daß das alte Gewissen der neuen, faszinierenden Aufgabe geopfert wirdwas wir in Anlehnung an den Geheim­dienst­jargon die »Umkehrung« des Gewissens nannten. Der psychologische Mechanismus, der einen Massenführer zum Sieg führt, ist dadurch gekennzeichnet, daß im Streit zwischen diesem alten Gewissen und dem fetischhaft geschmeichelten Ich-Ideal das Gewissen unterliegt. Die oben zitierte Rede Himmlers zeigte die Taktik, mit der, was gestern noch Verbrechen war, zum Ausdruck heroischer Gesinnung, zur Vollstreckung des »Willens der Vorsehung« umgewertet wurde. Diese Befreiung von alten Strafandrohungen, mit denen man sich herumzuplagen hatte, die wohltätigen Hochachtungs­bezeugungen des Führers für die Massen, die das Ich-Ideal jedes einzelnen ansprechen, werden ausgekostet: »Es kommt immerzu einer Empfindung von Triumph, wenn etwas im Ich mit dem Ich-Ideal zusammenfällt.«1)

1)  S. Freud Massenpsychologie und Ich-Analyse. Ges. Werke XIII, 147.

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Im Führer selbst bewirken die Massen, die ihm zujubeln, eine gewaltige Inflation seiner Machterlebnisse. Auch er kostet den Triumph des Zusammenfalls von Ich und Ich-Ideal aus. Für die Massenglieder ist der so idealisierte Führer das sichtbar existierende eigene Ich-Ideal; sie haben das Objekt »Führer« an »die Stelle des Ich-Ideales eingesetzt«, (ib. S. 145) Gleichzeitig fühlen sich die Menschen brüderlich geeinigt, die bisher in rivalisierenden Gruppen und Klassen einander gegenüberstanden. Sie können sich plötzlich miteinander identifiziert erleben, weil sie ein gemeinsames Ideal mit so großer Leidenschaft besetzt halten; sie sind alle mit dem Führer identifiziert.1)

Die Rivalität innerhalb einer so geeinten Gesellschaft ist nun zwar stark gemindert, aber die bisher in ihr gebundene Aggression macht sich bald wieder bemerkbar, indem nun regelhaft nach »außen«, auf eine Fremdgruppe, sei es ein Volk oder eine Minorität, aggressiv projiziert wird. Es ist geradezu ein signifikanter Zug an hochgestimmten Massenbewegungen, daß Aggression aus ihrem Binnenraum verschwindet und in der Verfolgung von Sündenböcken wieder auftaucht. Ein jeder wird automatisch als Feind empfunden, der diese Idealbildung und diese feindselige Haltung festgelegten Aggressionsobjekten gegenüber nicht mitmacht. Das hat nicht nur die Nazibewegung bewiesen, das ist weiterhin gültig geblieben.

Schon Le Bon hatte gesehen, daß die leidenschaftliche Verschmelzung mit dem Führer die Masse auch zu Leistungen befähigen kann, die ihre normalen Kräfte weit übersteigen. Man muß sich dabei erinnern, daß die verführerische Entlastung vom unbequemen Gewissen, die der Massenführer durch das Glaubensangebot an ihn erreicht hat, den Enthusiasmus seiner Anhänger steigern muß. Sie fühlen einen Druck von sich genommen und beobachten, wie es anderen ebenso geht. In diesem Sturm der Gefühle steigt ihre Unternehmungslust. Für die innere Befreiung aus erstickender Enge, aus altem Zopf und kleinlichen Quälereien sind sie — gewiß nicht grundlos — den großen charismatischen Führern dankbar, und das beflügelt sie zu großen Taten. In diesem Grundton der Zuneigung waren sich die Armeen Hitlers mit denen Napoleons und Maos nahe verwandt.

 

1)  Selbst politische Führer weniger großer Begabung, etwa Wilhelm II. bei Ausbruch des Weltkrieges 1914, nützen diese Identifikationsbereitschaft intuitiv aus: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche« war die psychologische Aufforderung, sich mit ihm zu identifizieren und sich dadurch »familiär« näherzurücken.

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Wird der Führer durch die Wirklichkeit widerlegt, verliert er im weltpolitischen Spiel der Kräfte, dann geht nicht nur er unter, sondern mit ihm die Inkarnation des Ich-Ideals der von ihm faszinierten Massen. Metaphorisch spricht man dann von einem »Erwachen« aus einem Rausch. Aber auch Adolf Hitler hatte verlangt: »Deutschland erwache!« Offenbar bedeutet derselbe Begriff hier einmal das Erwachen zur Realität und ein anderes Mal das Stabilisieren eines falschen Bewußtseins. Denn das Erwachen, das Hitler forderte, war doch ein paradoxes. Gemeint war ein Abdanken der bewußten Kritik zugunsten der Urahnungen von Blut und Boden. 

Das falsche Bewußtsein ist unter anderem durch den Abwehrmechanismus der »Darstellung durch das Gegenteil« gekennzeichnet. Es stellt sich zum Führer ein Hörigkeitsverhältnis, das heißt ein Verhältnis eines hohen Grades von Unfreiheit her. Im falschen Bewußtsein wird es aber als Selbstgefühl, als ein Gefühl der Befreiung erlebt. Dann vollzieht sich etwas Paradoxes: Im Zustand ihrer Hörigkeit erniedrigen sich Massen vor Führerfiguren, um neues Selbstgefühl zu erlangen. Das macht deutlich, daß zwei psychische Instanzen eine unnatürliche Beziehung zueinander eingegangen sein müssen. Einem Ideal nachzugehen wird zur Obsession und dieser Zwang selbst wiederum zum Ideal.1) 

Was die deutsche Szene betrifft, so leistet die hier übliche Gehorsamskultur solcher Verdrehung Vorschub. Die Durchtränkung des Zwanges mit Lust, seine Libidinisierung, gehört zum sado-masochistischen Aspekt der Gehorsamskultur. Die akute Verliebtheit in den Führer steigert die masochistische Lustbereitschaft ebenso wie die Neigung zum aggressiven Ausagieren gegen die Feinde des Führers.

 

1)  J. Lampl-de Groot Superego, Ego-Ideal and Masochistic Fantasies. In: The Development of the Mind. New York (Int. Univ.-Press) 1963. 
S. auch: Ich-Ideal und Über-lch. Psyche, 17, 1963/64, 321.

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Ohne reale Frustrationen, ohne eine langdauernde Enttäuschung an der sozialen Ordnung, die bisher geherrscht hat, ohne allgemeine Entwertungsgefühle ist die Macht der Hoffnung, die in den charismatischen Führer gesetzt wird, jedoch nicht zu verstehen. Was ihm die Liebe einträgt, ist die Ermunterung an das frustrierte Ich, wieder die Spannung zu einem neuen Ideal seiner selbst herzustellen. In diesem Überschwang sind die Massen zunächst fähig, die größten Strapazen zu ertragen, was wiederum die Selbstachtung steigert. Nach dem Kriege Hitlers blieben deshalb für das Erlebnis der meisten Soldaten — wie am Beispiel des Ritterkreuzträgers dargetan — die Leistungen, die sie vollbrachten, das eigentlich Rühmenswerte, so, als wären sie unter einem gänzlich unbescholtenen obersten Befehlshaber erfolgt. In beiden Phasen, im Aufstieg wie im Niedergang eines charismatischen Führers, wird, mit Freud zu sprechen, »der Konstitution unseres Ich« : nicht Geringes zugemutet. In jedem Fall werden große Zensurleistungen am Bewußtsein verlangt: zunächst in der Anpassung der Realitätsauslegung an den Führer und am Ende in der Derealisierung der durch diese Anpassung an ihn geschichtlich entstandenen Szenerie.

 

Mit dem Aufstieg Adolf Hitlers vollzog sich abermals eine Restauration — die wievielte? — der deutschen Irrationalitätsbedürfnisse. Wir haben diese realitätsabgewandte Phantasie, die Welt nach den eigenen Selbstidealisierungsbedürfnissen auszulegen, bereits als einen Abwehrmechanismus eines in Wirklichkeit bedrängten Selbstgefühls beschrieben. Der Vorgang beruht auf einer Regression auf die Ebene der seelischen Primärprozesse, jener Phantasien, welche von Triebbedürfnissen entzündet sind und deren Erfüllung unter dem Schutz der magisch empfundenen Macht des Führers halluzinatorisch erlebt wird. Hitler reaktivierte das deutsche Sendungsbewußtsein, das in unserer Nationalgeschichte so tiefe Wurzeln hatte. Die Weimarer Republik hatte nicht in dieser Tradition gestanden. Vom Elend der Wirtschaftskrise getroffen, offenbarte sie im Erleben ihrer Bürger die Ohnmacht der Rationalität; daran, sie als politisches Instrument zu benutzen, hatte man sich noch gar nicht gewöhnt. Wie stark die Abneigung gegen rationales Denken und die Zuneigung zum irrationalen Sendungsbewußtsein war, zeigte der Zulauf aus allen Ebenen der Gesellschaft zur Hakenkreuzfahne.

 

1)  S. Freud Trauer und Melancholie. Ges. Werke X, 433.

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Die Wahl Hitlers zum Liebesobjekt erfolgte also auf narzißtischer Grundlage, das heißt auf der Grundlage der Selbstliebe. Die Redewendung »Liebe macht blind« hebt das charakteristische Moment der Realitätsvergessenheit narzißtischer Objektwahl hervor. Alles, was das vergottete Objekt, der Führer, befiehlt, wird ipso facto zur Wahrheit, zum Gesetz: »Das Gewissen findet keine Anwendung auf alles, was zu Gunsten des Objektes geschieht; in der Liebesverblendung wird man reuelos zum Verbrecher. Die ganze Situation läßt sich restlos in eine Formel zusammenfassen: das Objekt hat sich an die Stelle eines Ich-Ideals gesetzt.« ' Wenn sich dieser Vorgang millionenfach gleichzeitig wiederholt, sind nach statistischer Wahrscheinlichkeit genügend Extremvarianten von Anbetern darunter, die bedenkenlos agieren, was der Führer befiehlt.

Diese Form der hörigen Liebe unterscheidet sich wesentlich von einer reiferen, in der das kritische Ich seine Funktionen aufrechterhält. In dieser identifiziert sich der Liebende nur teilweise mit dem Liebesobjekt, sein Ich wird zwar um bestimmte Eigenschaften des Objektes bereichert, verändert sich partiell nach seinem Vorbild, setzt aber nicht, wie in der Hörigkeit oder auch vielen Formen der Verliebtheit, ein fremdes Objekt geradezu an die Stelle des Ichs oder Ich-Ideals. Im Unterschied zur einfühlenden, sich teilweise identifizierenden Liebe muß das Ich im Zustand solcher Verliebtheit verarmen. Zum Wesen der Hörigkeit gehört also, daß das Ich sich blindlings überantwortet. Die Möglichkeit der Distanzierung zum Objekt geht verloren, die Person wird im wahrsten Sinn des Wortes akut überfremdet. 

In diesem Zustand der Exaltation fließt alle Libido dem maßlos überschätzten Führer zu. Er besetzt mehr oder weniger alle Zugänge zum Verhalten und setzt sich über die Einsprüche des alten Über-Ichs und die Realitätsorientierung des Ichs hinweg. Nach dem Erlöschen dieses symbiotischen Zustandes können sich Millionen aus der Faszination entlassene Subjekte um so weniger erinnern, als sie den Führer eben nicht ihrem Ich assimiliert hatten, wie man sich etwa das Vorbild eines Lehrers einverleibt, sondern ihr Ich zugunsten des Objektes, des Führers, aufgegeben hatten. So verschwindet, der narzißtischen Objektbesetzung entsprechend, der Führer wie ein »Fremdkörper« aus dem psychischen Haushalt.

 

1)  S. Freud Massenpsychologie und Ich-Analyse. Ges. Werke XIII, 125.

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Es bleibt keine Erinnerung an ihn selbst zurück, und auch die Verbrechen, die in seinem Namen begangen wurden, entwirklichen sich hinter einem Schleier der Verleugnung. Der Titel dieser Abhandlung, der unsere Unfähigkeit zu trauern mit solcher Art zu lieben in Zusammenhang bringt, findet in dem soeben beschriebenen Vorgang seine Erklärung.

Der Tod des Führers brachte für die Massen eine Entblößung von Schutz. Vom Führer verlachte Mächte konnten ihn vernichten. Da seine Imago das Ich-Ideal seiner Anhänger ersetzt hatte, waren sie in seinen Untergang mit hineingezogen, der Schande preisgegeben. Mit diesem Zusammenbruch des Ich-Ideals hörte notwendigerweise die Möglichkeit der gegenseitigen Identifizierung im Führerglauben auf. Auch wenn man nicht reuelos gemordet, sondern nur indirekt an diesen Untaten mitgewirkt hatte, die bedingungslose Kapitulation nach so viel Hochmut mußte ein intensives Schamgefühl auslösen. Das Ich der Verlassenen fühlte sich betrogen; jedermann versuchte, dieses gescheiterte und gefährliche Ideal wieder »auszuspucken«, zu externalisieren. Jetzt hieß es: Die Nazis waren an allem schuld. Diese Verdrehungen der Wirklichkeit dienten, wie wir sahen, dem Schutz des eigenen Ichs, des eigenen Selbstgefühls, vor schroffen Entwertungen.1)

   

1.9.  Noch eine Möglichkeit für Trauer ?  

 

Stellen wir zum Schluß noch eine alternative Frage: Was geht eigentlich in uns vor, wenn wir um einen Menschen trauern, den wir seiner eigenen Qualitäten wegen geliebt haben, also nicht unter der Voraussetzung, daß er uns unsere Selbstverliebtheit zu bestätigen habe?

1)  Vgl. Ch. T. Lipson Dental and Mourning. Int. J. Psycho-Analysis, 44, 1963, 104.

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»Die Realitätsprüfung hat gezeigt, daß das geliebte Objekt nicht mehr besteht, und erläßt nun die Aufforderung, alle Libido aus ihren Verknüpfungen mit diesem Objekt abzuziehen. Dagegen erhebt sich ein begreifliches Sträuben. — Es ist allgemein zu beobachten, daß der Mensch eine Libido-Position nicht gerne verläßt, selbst dann nicht, wenn ihm Ersatz winkt. Dieses Sträuben kann so intensiv sein, daß eine Abwendung von der Realität und ein Festhalten des Objektes durch eine halluzinatorische Wunschpsychose zustande kommt...«1)

In der Trauer wird das verlorene Objekt introjiziert. Bis hin zu der phantasierten Vorstellung, man könne mit ihm noch umgehen wie in den Tagen seines Lebens, muß nun in einer innerlichen Auseinandersetzung die Einwilligung in die Realität des Verlustes gelernt und vollzogen werden. Wir sprechen deshalb in der Psychoanalyse von »Trauerarbeit«. »Die Trauerarbeit ist das auffallendste Beispiel für die mit der Erinnerungsarbeit verbundenen Schmerzen ... So wird das Erinnern ein stückweises, fortgesetztes Zerreißen der Bindung an das geliebte Objekt und damit ein Erlebnis von Rissen und Wunden im Selbst des Trauernden.«2)

Trauer ist also mit den Abwehrvorgängen, die uns in dieser Abhandlung beschäftigt haben, nicht zu vereinen, da es gerade deren Aufgabe ist, Realitäts­einsicht und die damit verbundenen Schmerzen zu vermeiden. Trauer um einen geliebten Menschen, dem unsere »Objektlibido« sich zugewandt hatte, ist ein lange sich hinziehender Vorgang der Ablösung; vom Objekt, das der Befriedigung unserer »narzißtischen Libido« gedient hat, können wir uns unter Umständen rasch lösen, denn es diente nur als Werkzeug unserer Selbstliebe. Wir geben es nicht zögernd auf, jederzeit bereit, es in unserer Erinnerung wieder zu beleben, wir lassen es vielmehr fallen, ohne noch viel Gedanken daran zu verschwenden. Aber die Folgen dieser Untreue sind bedeutungsvoller, als diese kalte Abwendung zunächst erwarten läßt.

In der Trauer um ein verlorenes Objekt versuchen wir, auch den Idealen dieses Menschen, der uns genommen wurde, nachzueifern. Erst langsam, mit dem Ende der Trauerarbeit, werden Kräfte für neue Objekt­besetzungen, neue Identifizierungen, neue Liebes- und Interessenzuwendungen frei. Anders in der Trauer, wenn das Objekt auf narzißtischer Basis geliebt wurde. Mit seinem Verlust ist stets ein Verlust an Selbstwert verbunden. 

1)  S. Freud Trauer und Melancholie. Ges. Werke X, 430.
2)  Paula Heimann Bemerkungen zum Arbeitsbegriff in der Psychoanalyse. Psyche, 20, 1966, 321.

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Der Objektverlust bewirkt einen psychischen Energieverlust, führt zu einer »großartigen Ich-Verarmung«. Es kommt nicht zum Schmerz in der Trauer um das verlorene Objekt, sondern zur Trauer über einen selbst und in der Verbindung mit ausgeprägter Gefühlsambivalenz zum Selbsthaß der Melancholie. Immer aber ist der Schmerz dadurch charakterisiert, daß er nicht das Ende einer Beziehung meint, sondern daß er einen Teilverlust des Selbst betrifft, als sei es amputiert worden. Der Trauerklage um das verlorene Objekt steht die melancholische Selbstanklage gegenüber. Die Selbstzerfleischung der Melancholie ist im Grunde eine Anklage gegen das Objekt, das dem eigenen Selbst einen solchen Verlust zugefügt hat.

Hätten, so war unser Gedankengang, nicht die Abwehrmechanismen der Verleugnung, der Isolierung, der Verkehrung ins Gegenteil, des Aufmerksamkeits- und Affektentzugs vor allem, also der Derealisation, der ganzen Periode des Dritten Reiches gegenüber eingesetzt, so wäre im Nachkriegsdeutschland der Zustand schwerer Melancholie für eine große Zahl von Menschen die unausweichliche Konsequenz gewesen, als Konsequenz ihrer narzißtischen Liebe zum Führer und der in ihrem Dienst gewissenlos verübten Verbrechen. In der narzißtischen Identifikation mit dem Führer war sein Scheitern ein Scheitern des eigenen Ichs. Zwar hat die Derealisation und haben die übrigen" Abwehrvorgänge den Ausbruch der Melancholie verhindert, aber sie haben nur unvollständig die »großartige Ich-Verarmung« abwenden können. Dies scheint uns die Brücke zum Verständnis des psychischen Immobilismus, der Unfähigkeit, in sozial fortschrittlicher Weise die Probleme unserer Gesellschaft in Angriff zu nehmen.

Der Unfähigkeit zu trauern ist also unsere weniger einfühlende als auf Selbstwertbestätigung erpichte Art zu lieben vorangegangen. Die Anfälligkeit für diese Liebesform ist ein kollektives Merkmal unseres Charakters. Die Struktur der Liebesbeziehung der Deutschen zu ihren Idealen oder deren Inkarnationen scheint uns eine lange Geschichte des Unglücks zu sein. Zumindest im politischen Feld dient unser Sendungsbewußtsein der Kompensation von Kleinheits­ängsten, der Bekämpfung unseres Gefühls der Wertlosigkeit. Ebenso wichtig ist, daß wir durch Idealisierung die unvermeidbare Ambivalenz unserer Gefühle zu verleugnen suchen, um sie dann projizieren zu müssen.

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Menschen oder gar Kollektive wie »das Vaterland« sind keine eindeutigen Ideale, wir machen sie höchstens dazu. Zu den Reifungsaufgaben gehört es, daß man die Ambivalenzspannungen mildern, verstehen und integrieren kann. Wir sollten nicht in eine Art multiple Persönlichkeit zerfallen, deren Teile nur idealisieren, hassen oder durch abgewehrten Haß sich verfolgt fühlen können. Einfühlung hilft bei diesem Ausgleich am entschiedensten. Eine solche Beziehung, die sich Ambivalenz bewußt macht, verarbeitet und erträgt, eine solche reife Beziehung zu uns selbst, zu unseren Mitmenschen und zum Lauf der Welt haben wir im Verhaltensstil unserer Kultur, vor allem in den politischen Affekten, bisher nur in Ansätzen gezeigt; wir schwanken nur allzu oft wie weiland in den Duodezfürstentümern zwischen Provinzialismus und imperialen Größenträumen, zwischen Überheblichkeit und Selbsterniedrigung, die aber weniger die Züge der Demut als der Melancholie trägt und sich in der geheimen Anklage äußert, daß die anderen an unserer Erniedrigung, an unserer Niederlage, daran, daß es uns so schlecht ergangen ist, daß man uns so mißversteht, schuld sind.

Die Trauerarbeit ist nicht auf Restitution schlechthin aus, sie bringt uns langsam dazu, die definitive Veränderung der Realität durch den Verlust des Objektes zu akzeptieren. In dieser Arbeit kann auch die Ambivalenz der Beziehung nacherlebt und anerkannt werden. Das hat zur Folge, daß am Ende der Trauerarbeit das Individuum verändert, das heißt gereift, mit einer größeren Fähigkeit, die Realität zu ertragen, aus ihr hervorgeht. Gerade das Eingeständnis der ambivalenten Beziehung kann aus der narzißtischen Position heraus nie geleistet werden. Das narzißtisch geliebte Objekt, so dramatisch dieser Ablauf höriger Idealisierung sein mag, verschwindet ziemlich spurlos, wenn nicht sein Verlust zu starker Selbstentwertung führt und diese zu einer melancholischen Reaktion, wie beschrieben wurde. Wenn die Phase solches symbiotischen Einheitserlebnisses abgeschlossen ist, kann sich der gleiche Vorgang mit neuen Partnern noch ein- oder mehrmals wiederholen. 

So versuchen wir mit einer unveränderten Grundeinstellung, die wir mit dem Nationalsozialismus vereinigen konnten, nun auch die Geschäfte unserer Bundes­republik zu betreiben, wobei wir wesentlich heftigere Idealisierungen unserer politischen Vormünder in West und Ost vornehmen, als es durch die objektive Lage gefordert würde. 

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Wir richten unser arg lädiertes Selbstbewußtsein durch diese Identifikationen auf. Uns vermittelt das subjektiv ein Gefühl der Sicherheit, während in unserer Umgebung gerade die Folgenlosigkeit der Verbrechen der Dritten Reiches auf unser Verhalten, auf unseren Charakter Befremden und Angst hervorrufen mögen.

Wir haben keine kleinliche Wiedergutmachungsleistung an jenen Überrest europäischer Juden bezahlt, die wir verfolgten und noch nicht töten konnten. Aber die wirklichen Menschen, die wir da unserer Herrenrasse zu opfern bereit waren, sind immer noch nicht vor unserer sinnlichen Wahrnehmung aufgetaucht. Sie sind ein Teil der derealisierten Wirklichkeit geblieben. Liest man zum Beispiel in manchen ärztlichen Gutachten, die wegen körperlicher oder seelischer Verfolgungsschäden erstattet werden, so begegnet man einem erschreckenden Ausmaß von Einfühlungslosigkeit. Der Gutachter ist durchaus befangen und unbewußt mit der Seite der Verfolger identifiziert geblieben. 

Er kann sich nicht vorstellen, was es heißt, wenn eine vierzehnjährige Tochter eines Textilhändlers einer badischen Landstadt von der Macht eines Polizeistaates, von uniformierten, wohlgenährten, selbstbewußten Männern ergriffen und in der Art eines Ungeziefers behandelt wird. Er kann sich nicht vorstellen, daß das auch seiner vierzehnjährigen Tochter hätte widerfahren können. Er kann sich nicht in ein Mädchen hineindenken, dessen Eltern im gleichen Lager, in dem es selbst gewesen ist, vergast wurden und in dem es dann allein zurückblieb und schließlich nur durch Zufall der Vernichtung entging. Sollten solche Schrecken keine Narben hinterlassen? 

Kurt R. Eißler1) hat die für uns beschämende Frage gestellt, die Ermordung von wie vielen seiner Kinder ein Mensch symptomfrei ertragen müsse, damit ihm unsere Gutachter eine normale Konstitution zubilligen. Zwischen dieser Form administrierter Wiedergutmachung und den Formen administrierter Tötung einer ganzen Volksgruppe ist kein prinzipieller Unterschied. 

 

1)  K.R. Eißler Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muß ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben? Psyche, 17, 1963/64, 241.

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Zunächst verhinderte die emphatische Selbsthingabe und Auflösung des eigenen Ichs in den Ideen und Ansprüchen des Führers eine Einfühlung in die Verfolgten als Menschen. Schuldgefühle über Unmenschlichkeiten, über Morde in einer Zahl, die wir nur objektiv wissen, aber nicht erlebend nachzuvoll­ziehen vermögen, sind ebensowenig aus der unbewußten Wahrnehmung zu entfernen wie die Scham darüber, daß wir unser Gesicht als zivilisierte Nation verloren haben. Als Konsequenz der Abwehr fehlen uns in unserer psychischen Ökonomie ständig die Energien, die wir im Dienste unseres Selbstgefühls darauf verwenden, die Vergangenheit zu entwirklichen, um Schuld und Scham zu vermeiden.

Die Getöteten können wir nicht zum Leben erwecken. Solange es uns aber nicht gelingen mag, den Lebenden gegenüber aus den Vorurteilsstereotypen unserer Geschichte uns zu lösen — das Dritte Reich stellte nur eine letzte Epoche dar —, werden wir an unseren psychosozialen Immobilismus wie an eine Krankheit mit schweren Lähmungserscheinungen gekettet bleiben. »Die kollektive Verantwortung einer Nation für einen Abschnitt ihrer Entwicklung«, schreibt Georg Lukacs

»ist etwas derart Abstraktes und Ungreifbares, daß sie an den Widersinn streift. Und doch kann ein solcher Abschnitt wie die Hitlerzeit nur dann im eigenen Gedächtnis als abgetan und erledigt betrachtet werden, wenn die intellektuelle und moralische Einstellung, die ihn erfüllte, ihm Bewegung, Richtung und Gestalt gab, radikal überwunden wurde. Erst dann ist es für andere — für andere Völker — möglich, auf die Umkehr zu vertrauen, die Vergangenheit als wirklich Vergangenes zu erleben.«1) 

Man kann aber nur auf Grund eines zuverlässig im Bewußtsein verankerten Wissens, auch eines solchen, das zunächst peinigen muß, »radikal überwinden«, da das, was geschah, nur geschehen konnte, weil dieses Bewußtsein korrumpiert war. Was unter einer über zwei Jahrzehnte andauernden Zensur unseres Bewußtseins nicht als schmerzliche Erinnerung eingelassen wird, kann ungebeten aus der Vergangenheit zurückkehren, denn es ist nicht »bewältigte« Vergangenheit geworden: Vergangenheit, um deren Verständnis man sich bemüht hat. 

1)  G. Lukacs, 1. c, 21. 82

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Trauerarbeit kann nur geleistet werden, wenn wir wissen, wovon wir uns lösen müssen; und nur durch ein langsames Ablösen von verlorenen Objekt­beziehungen — solchen zu Menschen oder zu Idealen — kann die Beziehung zur Realität wie zur Vergangenheit in einer sinnvollen Weise aufrechterhalten werden. Ohne eine schmerzliche Erinnerungsarbeit wird dies nicht gelingen können, und ohne sie wirken unbewußt die alten Ideale weiter, die im Nationalsozialismus die fatale Wendung der deutschen Geschichte herbeigeführt haben.

Aber fordern wir nicht Unerfüllbares? Unser Ich war in dieser Vergangenheit unserem Narzißmus zu Diensten. Das narzißtische Objekt, das wir verloren haben, war in der Vorstellung von uns selbst als Herrenmenschen zentriert. Nicht der geschichtlichen Belehrung, daß dem nicht so ist, wäre also nachzutrauern. Vielmehr müßten wir die Einfühlung in uns selbst erweitern, so daß wir uns in jenen Szenen wiedererkennen wie der des deutschen Offiziers im dänischen Cafe und in den entsetzlichen, in denen 100, 500 oder 1000 Leichen vor uns lagen — Leichen von uns Getöteter. Das würde eine einfühlende, nachfühlende Anerkennung der Opfer lange nach den Schreckenszeiten bedeuten.

Psychologisch wäre es keine Unmöglichkeit, nach der Tat einzusehen, was wir im Dritten Reich taten, uns also von der narzißtischen Liebesform zur Anerkennung von Mitmenschen als Lebewesen mit gleichen Rechten weiterzuentwickeln. Diese Korrektur unseres falschen und eingeengten Bewußtseins, das Auffinden unserer Fähigkeit des Mitleidens für Menschen, die wir hinter unseren entstellenden Projektionen zuvor nie wahrgenommen haben, würde uns die Fähigkeit zu trauern zurückgeben.

    

 

10.  Nachbemerkung  

 

Wir fordern Einfühlung Ereignissen gegenüber, die schon durch ihre quantitative Dimension Einfühlung unmöglich machen. Es kann sich also gar nicht um ein totales, sondern nur um ein wenigstens schrittweise erweitertes Verständnis der Tatsache handeln, daß mit dem Dritten Reich eine Art der Diktatur der Menschenverachtung mitten in unseren Kulturbereich zurückgekehrt ist, die wir überwunden glaubten, die aber statt dessen an vielen Stellen der Welt Nachahmung gefunden hat.

Wir haben versucht, Vorgänge, die sich in großen Teilen unserer Bevölkerung im Zusammenhang mit dieser hemmungslosen Menschenverachtung vollzogen haben, einer psychologischen Analyse zu unterwerfen. Dabei wollten wir die Hypothese stützen, daß zwischen einem intensiven Zur-Wehr-Setzen gegen Tatsachen aus dem versunkenen Dritten Reich und einem psychosozialen Immobilismus in unserer augenblicklichen Gegenwart direkte und nachweisbare Beziehungen bestehen. Das eröffnet die Hoffnung, ein Wiedergewinnen von Erinnerungen könne uns helfen, aus dem Geschehenen zu lernen, statt erneut agieren zu müssen, was wir nicht als Inhalt unseres Bewußtseins über uns selbst ertragen: unsere Fähigkeit zu ebenso törichtem wie tödlichem Haß.

Unsere Hoffnung ist schwach, weil der antipsychologische Affekt in Deutschland sich auf eine tiefe psychologische Unbildung stützen und einer weiten Zustimmung spontaner Art sicher sein kann. Wahrscheinlich werden unsere Kritiker uns Einseitigkeit vorwerfen, obgleich es uns darauf ankam, durch entschiedene Einseitigkeit eine historische Linie von Motivationen herauszuarbeiten, die ohne solche Hartnäckigkeit gar nicht aufzufinden und zu verfolgen ist. Unser Verfahren kann man sicher kritisieren, aber erst, nachdem man das zur Kenntnis genommen hat, was ohne die Anwendung psychoanalytischer Hypothesen nie zu fassen wäre.

Diese Studie ist ein Fragment. Sie versucht, die Wirkung unbewußter Prozesse in einer Gruppe sichtbar zu machen, die durch gemeinsame seelische Anstrengungen zur Aufrechterhaltung ihres Selbstbewußtseins gekennzeichnet ist. Es kann gar nicht ausbleiben, daß unsere Ergebnisse attackiert werden, weil unsere Methode attackiert; und wenn wir uns auch bemüht haben, Verhältnisse, mit denen wir seit unserer Kindheit affektiv verbunden sind, sine ira et studio zu beschreiben, so mag uns doch manches Zeichen affektiver Anteilnahme entschlüpft sein. 

Denn natürlich sind auch wir, wie so viele unserer Mitbürger, geneigt, irgendwohin »nach oben«, an andere Mitbürger, Anklagen zu richten, Anklagen, die in Umkehr der Richtung sich nur wenig von der Selbstanklage, von der Pathologie der Trauer, der Melancholie, unterscheiden. Die Arbeit bedient sich der Kenntnisse der psychoanalytischen Theorie. Die Affekte, die sie erwecken mag, sollten aber auf die Autoren gerichtet werden und nicht auf das kostbarste Instrument der Menschenkenntnis, das wir besitzen, die Psychoanalyse.

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wikipedia  Sine_ira_et_studio  

Sine ira et studio (lat. ohne Zorn und Eifer) lautet die Maxime, gemäß welcher der römische Historiograph Tacitus (ca. 58–120) in seinem Werk vorgehen wollte. Diese Redewendung stammt aus dem Proömium der „Annalen“[1].

Dieser Sentenz entspricht im „Agricola“-Proömium der Satz sine gratia aut ambitione[2] („ohne Dankbarkeit und Ehrgeiz“), ebenso verspricht Tacitus zu Beginn der Historien, dass er neque amore quisquam et sine odio („über niemanden mit Zuneigung und von jedem ohne Hass“) sprechen werde.[3]

Ziel der Geschichtsschreibung sollte demgemäß sein, möglichst ohne Parteilichkeit über geschichtliche Ereignisse und Personen zu berichten. Nach Tacitus’ Ansicht loben die Historiker in ihren Büchern einen Herrscher zu dessen Lebzeiten aus Furcht vor Bestrafung. Schreiben sie aber im Rückblick über einen verstorbenen Tyrannen, so schreiben sie oft aus Zorn und verunglimpfen den Herrscher – teilweise auch zu Unrecht.

Sine ira et studio wird vielfach als Aufforderung an eine wertfreie Geschichtsschreibung – oder an die Wissenschaft allgemein – zitiert. Dieser Grundsatz wurde jedoch von Tacitus selbst, der durchaus oft Partei ergriff, keinesfalls eingehalten.

Seine Kritiker hielten diese Sentenz eher für die in Einleitungen nicht unübliche captatio benevolentiae (Gewinnung des Wohlwollens der Leser). Derartige Beteuerungen waren so zahlreich, dass sie auch ironisch verwendet wurden: So heißt es in der Einleitung zur – Seneca zugeschriebenen – Apocolocyntosis: nihil nec offensae nec gratiae dabitur („Nichts, weder Hass noch Sympathie, soll mich dabei auch nur im geringsten lenken.“).[4]

 

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