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Teil 1  -  Das Problem

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Eines Nachmittags vor ein paar Jahren erfuhren meine Frau und ich, dass ein riesiger Taifun auf unser Wohngebiet zusteuerte. In den vorangegangenen 24 Stunden hatte der Sturm an Stärke gewonnen und war nur mehr wenige Hundert Kilometer entfernt.

Beim Blick aus dem Fenster sah alles jedoch normal aus. Der Himmel war ein wenig verhangen, und es regnete, aber nichts deutete darauf hin, dass eine enorme Naturgewalt im Anmarsch war, die nahezu alles rund um uns herum zerstören könnte. Es gab nichts, woran wir hätten erkennen können, dass dieser Taifun in kürzester Zeit einfallen würde und uns nur sehr wenig Zeit blieb, um uns darauf vorzubereiten. Es war zu spät, um uns anderswo in Sicherheit zu bringen oder unsere Vorräte aufzustocken. Der Flughafen hatte bereits geschlossen, und unsere Nachbarn waren damit beschäftigt, ihre Fenster mit dicken braunen Klebebändern zu versehen, damit sie im Sturm nicht zerbersten würden.

Die heftigen Windböen und die sintflutartigen Regenfälle im Gefolge des Taifuns hielten kaum mehr als einen Tag an. Häuser

wurden zerstört, und viele Menschen starben. Eine nahe gelegene Stadt wurde besonders hart getroffen, hier waren Hunderte Wohnhäuser zerstört worden, und zahlreiche Bürogebäude standen unter Wasser. Es dauerte Monate, bis die Infrastrukturen wieder instand gesetzt waren, und Millionen von Menschen litten unter großen Entbehrungen. Psychisch werden sie noch Jahre brauchen, um über die Folgen des Taifuns hinwegzukommen.

Statt eines Taifuns, der nur einen Tag andauert, ist der Klimawandel ein Sturm, der Jahrhunderte anhalten wird. So, wie jener Taifun für uns im Vorfeld nicht erkennbar war, ist der Klimawandel eine immer noch kaum sichtbare, dennoch aus nächster Nähe lauernde Gefahr mit enormer Zerstörungskraft. Genauso wie die Menschheit diesen Taifun nicht verhindern konnte, kann sie auch den Klimawandel nicht mehr verhindern, und es bleibt nur mehr sehr wenig Zeit zur Vorbereitung.

Doch die meisten Menschen scheinen diese Botschaft nicht zu verstehen. Jede Woche treffe ich intelligente, engagierte Menschen, die glauben, dass Investitionen in Elektroautos und erneuerbare Energien das Klimaproblem lösen werden. Sie meinen, dass die Menschheit sich bloß auf eine wärmere Welt einstellen müsse und der Übergang zu einer nachhaltigeren Gesellschaft relativ unkompliziert erfolgen könne. Manche scheinen sogar zu glauben, dass die Erwärmung aufgehalten werden könne.

In alledem liegen sie leider falsch.

Wenn man das Verstehen des Klimawandels in 5 Stadien einteilt, bleiben die meisten in Stadium 3 stehen, so auch die meisten Politiker. Sie wissen, dass sich das Klima der Erde verändert und die Ursache dafür menschliches Handeln ist. Sie glauben aber weiterhin, dass nachhaltige Weiterentwicklung möglich ist.

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Der Klimawandel: Die 5 Stadien des Verstehens

Der Klimawandel:

Die 5 Stadien des Verstehens

1. Der Klimawandel ist ein Mythos.

2. Das Klima verändert sich, doch das ist Teil eines natürlichen Kreislaufs.

3. Das Klima verändert sich, und schuld daran ist menschliches Handeln. Die Menschheit muss sich anpassen und auf einen nachhaltigeren Lebensstil umstellen.

4. Das Klima verändert sich und gerät zusehends außer Kontrolle.

5. Wie geht es mit der Menschheit weiter?

Die Welt befindet sich derzeit in Stadium 4. Die Erderwärmung nimmt immer mehr an Fahrt auf, die Treibhausgasemissionen sind so hoch wie nie. Und sie steigen weiter: Die Konzentration der Treibhausgase in der Atmosphäre ist mittlerweile so hoch, dass sich die Geografie der Erde verändert. Eis schmilzt und Wälder sterben, und das wiederum heizt die Erderwärmung weiter an.

In Stadium 4 gibt es drei Optionen:

1. Wir tun nichts und nehmen die Konsequenzen in Kauf.

2. Wir ergreifen radikale Maßnahmen.

3. Wir probieren Geoengineering.

Von diesen drei Optionen ist nur die zweite sinnvoll. Doch trotz der Gefahren unternimmt die Menschheit: nichts. Trotz der unzähligen internationalen Abkommen, der milliardenschweren Investitionen in erneuerbare Energien und der Abertausenden von Menschen, die

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demonstrierend durch die Straßen gezogen sind, ist der Klimawandel bedrohlicher als je zuvor.

Oberflächlich betrachtet sind die Treibhausgase das Hauptproblem. Doch sie sind bloß ein Symptom. Das zentrale Problem ist die menschliche Gesellschaft. Sie zieht es vor, die Klimaproblematik nicht zu lösen. Stattdessen stößt sie noch mehr Gase aus.

Und genau da, bei diesem Verhalten, müssen wir ansetzen. Die Welt muss mit dem Ausstoß dieser Gase aufhören und einen weniger destruktiven Weg wählen. Und hier gibt es eine gute Nachricht: Wenn die Menschheit nämlich bald damit aufhört, bleibt möglicherweise noch genug Zeit, um den fortschreitenden Klimawandel rasch genug zu bremsen und eine unkontrollierbare Kettenreaktion zu verhindern. Anders ausgedrückt: Der Klimawandel kann noch eingedämmt werden. Auch wenn die Auswirkungen dessen, was bereits geschehen ist, noch viele Jahrzehnte lang spürbar sein werden.

Die schlechte Nachricht ist, dass es für einfache Lösungen, die uns wenig abverlangen, bereits zu spät ist. Die Erdatmosphäre verändert sich rasch, und das hat für alle Lebensformen radikale Folgen, ganz gleich, welche Hebel wir jetzt in Bewegung setzen. Eine so tief greifende, dauerhafte Veränderung erfordert Maßnahmen in derselben Größenordnung. Andernfalls können wir es gleich bleiben lassen.

Die Menschheit hat bisher nichts Sinnvolles getan, da sie – wie ich noch erklären werde – aufgrund ihrer Weltsicht in der Gegenwart verhaftet ist. Das Erforderliche zu tun ist undenkbar für all jene, die nur aus der Gegenwart extrapolieren und sich weigern, eine Zukunft in Betracht zu ziehen, die anders ist als all das, was sie bis jetzt gekannt haben.

Wie die Menschheit von diesem Pfad der Selbstzerstörung abkommen kann, ist Gegenstand dieses Buches. Der erste Teil beschäftigt sich mit der Klimakrise. Er erklärt, was passieren wird,

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Der Klimawandel: Die 5 Stadien des Verstehens

wenn sich nichts ändert. Der zweite Teil befasst sich damit, was die Menschheit daran hindert zu reagieren und Maßnahmen zu ergreifen. Der Hauptgrund liegt in den Glaubensgrundsätzen und Überzeugungen, die jegliches Handeln im langfristigen Interesse der Menschheit blockieren. Teil drei geht darauf ein, wie sich die menschliche Gesellschaft neu ausrichten kann. Der vierte und letzte Teil setzt sich mit den politischen Maßnahmen auseinander, die erforderlich sind, um die Erderwärmung zu verlangsamen.

Nach dem dritten sowie dem letzten Teil fließen jeweils zwei Essays von der Neurowissenschaftlerin und Professorin für Medienpsychologie Maren Urner und dem Physiker Felix Austen ein. Maren Urner ist Mitgründerin von Perspective Daily, dem ersten werbefreien Online-Magazin für Konstruktiven Journalismus. Felix Austen schreibt bei Perspective Daily zu den Themen Klima, Landwirtschaft, Energie und Umwelt.

Die beiden Essays »In 5 Jahren ist der Notstand der einzige Weg in Deutschland« und »Wie weit würdest du gehen, um dich zu retten?« sind bereits 2016 und 2017 in leicht geänderter Form bei Per-spective Daily erschienen und wurden für dieses Buchprojekt aktualisiert. Sie zeigen weitere Perspektiven und Denkansätze auf, die es sich lohnt, zu Ende zu denken. Sie beleuchten das Thema Notstand mit allen Chancen und Gefahren.

Die letzten beiden Essays »Die Dinge werden sich ändern, ob durch Design oder Desaster« (Felix Austen) und »›Das geht nicht‹ ist ein schlechter Berater« (Maren Urner) wurden für dieses Buch verfasst und enden mit der Überzeugung, dass wir den Kampf gegen den Klimawandel nicht aufgeben dürfen – da dies einer Kapitulation gegenüber einer Zukunft der Menschheit gleichkäme.

Ich weise aber ausdrücklich darauf hin, dass wir den fortschreitenden Klimawandel nicht verhindern werden, indem wir in der westlichen Welt plötzlich alle vegan leben oder nicht mehr fliegen.

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Zunächst also eine Erklärung des Klimaproblems, beginnend mit vier ziemlich schwer verdaulichen Fakten:

1. Der Klimawandel ist eine Krise, die wir uns selbst zuzuschreiben haben. Wenn es keine Menschen gäbe, gäbe es in der Geschichte der Erde keine globale Erwärmung. Das hat auch seine positive Seite: Wir Menschen sind fähig, unser Verhalten zu ändern und zu versuchen, Geschehenes wiedergutzumachen.

2. Wir können das, was jetzt geschieht, nicht innerhalb eines Zeitraums aufhalten, der für die meisten von uns vorstellbar ist. Wir können lediglich versuchen, das immer schnellere Tempo der Erwärmung zu bremsen und dafür zu sorgen, dass sie nicht vollends außer Kontrolle gerät.

3. Individuelle Veränderungen in der Lebensweise des Einzelnen bringen nicht viel. Müll zu trennen, weniger Flüge zu buchen und den Fleischkonsum zu reduzieren wird den aktuellen Kurs der Menschheit nicht messbar verändern. Auch wenn alle Bewohner Deutschlands, Österreichs und der Schweiz beschließen würden, so nachhaltig wie möglich zu leben, würde sich die Erde unaufhaltsam und immer schneller erwärmen.

4. Auch wenn das rasche Bevölkerungswachstum in den letzten 60 Jahren die Klimaproblematik verschärft hat, werden die größte Sorge der Menschheit in Zukunft die vielen Toten sein.

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Wie konnte es nur so weit kommen?

Dafür ist die Zeit viel zu weit fortgeschritten. Wir brauchen einen radikalen Wandel, der unser ganzes System verändert.

Und trotzdem – was hilft es, wenn die Menschen denken: »Ich allein kann ja eh nichts ändern.« Dieser Fatalismus darf nicht als Konsequenz daraus resultieren. Der Sinn dieses Buches ist vielmehr, Ihnen Hoffnung zu geben. Ja, wir können es schaffen, die Welt auch für unsere Kinder und deren Kinder in einer lebenswerten Form zu erhalten. Aber dazu müssen wir groß denken, nicht in Minischritten.

Wie konnte es nur so weit kommen?

Wie konnte das alles geschehen? Die Antwort lautet: langsam, zumindest bis vor Kurzem. Viele Jahrhunderte lang waren es nur die Handlungen einer winzigen Minderheit von Menschen, die der Erde messbaren und dauerhaften Schaden zufügte. In den letzten 50 Jahren hat sich das Tempo der Zerstörung jedoch beschleunigt. Sie ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass das Überleben der Menschheit in einer auch nur annähernd ähnlichen Form wie heute unmöglich ist. Ohne ein radikales Umdenken läuft die Menschheit Gefahr, sich selbst und die meisten anderen Arten zu vernichten – und das vielleicht schon in den nächsten Jahrzehnten.

Diese menschengemachte Zerstörung nimmt viele Formen an. Zu den sichtbarsten gehört das Artensterben. Dieses liegt zurzeit beim 10.000-Fachen dessen, was der natürlichen Rate entsprä-che.1 Millionen von Tieren, Pflanzen, Insekten, Fischen und Vögeln sterben jedes Jahr durch den Verlust ihres Lebensraums, durch Verschmutzung und Klimaveränderung – und dieses Artensterben nimmt immer weiter zu.

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Laut den Vereinten Nationen sind mittlerweile »rund 1 Million Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht, viele innerhalb von Jahrzehnten. Das ist mehr als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Die natürliche Vielfalt an einheimischen Arten ist in den meisten Festlandlebensräumen um mindestens 20 Prozent gesunken, großteils seit 1990. Mehr als 40 Prozent der Amphibienarten, knapp 33 Prozent aller riffbildenden Korallen sowie mehr als ein Drittel aller Meeressäugetiere sind vom Aussterben bedroht. Bei den Insektenarten ist das Bild weniger klar, der verfügbaren Datenlage zufolge sind tentativ geschätzt rund 10 Prozent bedroht. Mindestens 680 Wirbeltierarten sind (Stand 2016) seit dem 16. Jahrhundert ausgestorben, ebenso mehr als 9 Prozent aller domestizierten Säugetierrassen, die als Nahrungsmittel und in der Landwirtschaft eingesetzt werden, wobei mindestens 1.000 weitere Arten bedroht sind.«2

Arten sterben immer schneller aus3

• Drei Viertel der Festlandsräume und rund 66 Prozent der Meere haben sich aufgrund menschlicher Aktivitäten sig-nifkant verändert. In Gebieten, die sich im Besitz oder unter der Verwaltung indigener Völker und Gemeinschaften befnden, sind diese Entwicklungen im Schnitt weniger gravierend ausgefallen oder gar nicht erst aufgetreten.

• Mehr als ein Drittel der weltweiten Landfäche und knapp 75 Prozent der Süßwasserressourcen werden heute für Ackerbau oder Viehzucht genutzt.

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Ist das Artensterben ein Problem?

• Der Wert der landwirtschaftlichen Produktion ist seit 1970 um rund 300 Prozent gestiegen. Die Rohholzernte hat sich um 45 Prozent erhöht, und rund 60 Milliarden Tonnen nachwachsende und nicht nachwachsende Rohstoffe werden heute jedes Jahr weltweit abgebaut – eine Zahl, die sich seit 1980 fast verdoppelt hat.

• 23 Prozent der globalen Landfäche haben aufgrund von Bodendegradation4 an Produktivität verloren; jährliche Ernten im Wert von bis zu 577 Milliarden US-Dollar sind weltweit dadurch gefährdet, dass Nutzpfanzen ihre Bestäuber verlieren, und 100 bis 300 Millionen Menschen sind durch den Verlust von schützenden Küstenlebensräumen verstärkt Überschwemmungen und Wirbelstürmen ausgesetzt.

• 2015 waren 33 Prozent der Meeresfschbestände über-fscht, 60 Prozent galten als an der maximalen Nachhal-tigkeitsgrenze befscht, und nur 7 Prozent des Fischfangs erfolgten unter der Belastungsgrenze.

• Urbane Flächen haben sich seit 1992 mehr als verdoppelt.

Ist das Artensterben ein Problem?

Ist das wichtig? Wissenschaftlern zufolge sind 99 Prozent aller Arten, die jemals auf der Erde gelebt haben, bereits ausgestorben. Man könnte das Artensterben daher durchaus als Teil eines natürlichen

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