Jeffrey M. Masson

Was hat man dir,

du armes Kind, getan?

Sigmund Freuds Unterdrückung
der Verführungstheorie

«The Assault on Truth. Freud's Suppression of the Seduction Theory»
1984 by J. M. Masson & Verlag Farrar, Straus and Giroux, New York 

1984 bei Rowohlt Verlag  # Deutsch von Barbara Brumm 
1986 bei Rowohlt Taschenbuch Verlag 

Jeffrey M. Masson   Was hat man dir, du armes Kind, getan?   Sigmund Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie  -   

1984  (*1941)  

220+17 Seiten 

DNB.Buch

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detopia: 

Masson Start   Psychobuch

Hört ihr die Kinder weinen?  deMause  

S.Freud  

 

 

Inhalt   ISBN 3-499-18087-1
 Umschlag: Christian Noch + Manfred Waller

Einleitung  (9)

Dem Andenken an Elenore Fließ

Anmerkungen  ...222
Anhang A  Freud und Emma Eckstein 263 
Anhang B  Freuds Aufsatz «Zur Atiologie der Hysterie» (1896) 284 
Anhang C  Ferenczis Vortrag  «Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind» (1932) 317  

Dank 331   #   Register 333   #   Bildquellenverzeichnis 336


Der Abdruck von Zitaten aus den Werken sowie aus veröffentlichten und unveröffentlichten Briefen Freuds, aus den Protokollen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, aus den «Psychoanalytischen Studien» von Karl Abraham sowie den Briefen Sandor Ferenczis an Freud erfolgt mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages, Frankfurt am Main.

«Zur Atiologie der Hysterie»  (19) 

2  Freud an der Pariser Morgue  (30) 

3  Freud, Fließ und Emma Eckstein  (76)  

4  Freuds Preisgabe der Verführungstheorie  (129) 

5  Die seltsamen Ereignisse um Ferenczis letzten Vortrag  (170) 

Was daraus folgt  (217) 

 

 

 

Jeffrey M. Masson, 1941 geboren, lehrte als Professor für Sanskrit in Toronto und Berkeley, bevor er sich 1970 bis 1978 zum Psychoanalytiker ausbilden ließ. Dr. Masson hat als Herausgeber und Übersetzer die vollständige Ausgabe des Briefwechsels zwischen Sigmund Freud und Wilhelm Fließ betreut. 

Beruht die Psychoanalyse auf falschen Voraussetzungen? Muß sie in ihren Grundlagen revidiert werden? Der Psychoanalytiker Masson meint dazu: 

«Ich bin der Überzeugung, daß Freud seine Entdeckung aus dem Jahre 1896, daß Kinder in vielen Fällen in ihren eigenen Familien sexuellem Mißbrauch ausgesetzt sind ... als so belastend empfand, daß er sie buchstäblich aus seinem Bewußtsein tilgen mußte. Freuds neue Interpretation, derzufolge die sexuelle Gewalt, von der seine Patientinnen berichteten... ein reines Phantasieprodukt ist, war keine Bedrohung für die bestehende Gesellschaftsordnung mehr.  Die Therapeuten konnten dadurch auf der Seite der ... Mächtigen bleiben.» 

Auf der Grundlage bisher noch nicht veröffentlichter Dokumente aus dem Freud-Nachlaß kann Prof. Masson den Beweis für die Richtigkeit einer neuen psychoanalyse-kritischen Sehweise liefern. Masson schreibt:

«Ich bin der Überzeugung, daß Freud seine Entdeckung aus dem Jahre 1896 - daß Kinder in vielen Fällen in ihren eigenen Familien sexueller Gewalt und sexuellem Mißbrauch ausgesetzt sind — als so belastend empfand, daß er sie buchstäblich aus seinem Bewußtsein tilgen mußte. Die psychoanalytische Bewegung, die auf Grund von Freuds Anpassung an die Ansichten seiner akademischen Kollegen entstand, besteht dagegen auch heute noch darauf, daß Freuds frühere Position bloß ein Irrweg war. Freud mußte, so lautet die anerkannte Lehrmeinung, seinen Irrglauben an die Verführung aufgeben, um die Wahrheit von der Macht der inneren Phantasie und der spontanen kindlichen Sexualität entdecken zu können. 

Die vorherrschende Meinung der Psychotherapeuten lautete, das Opfer habe sich seine Qualen ausgedacht. Damit ließen sich insbesondere Sexualverbrechen der Vorstellungskraft der Opfer anlasten, eine Position, die der Freud-Schüler Karl Abraham vertrat und die Freud selbst begeistert annahm. Für die Gesellschaft war dies eine tröstliche Ansicht, denn Freuds Interpretation — derzufolge die sexuelle Gewalt, von der seine Patientinnen in ihrem Leben so betroffen waren, ein reines Phantasieprodukt ist — war keine Bedrohung für die bestehende Gesellschaftsordnung. Die Therapeuten konnten dadurch auf der Seite der Erfolgreichen und Mächtigen bleiben, statt sich auf die Seite der elenden Opfer familiärer Gewalt zu stellen. Daß ich die Grundlage dieser Anpassung in Frage stellte, sieht man eher als eine Erschütterung der Psychoanalyse an und nicht nur als eine bloße historische Untersuchung.»  

 


  

 

Einleitung

9

Im Jahre 1970 begann ich, mich für die Anfänge der Psychoanalyse zu interessieren, vor allem für Freuds Beziehung zu Wilhelm Fließ, einem Hals-, Nasen- und Ohrenarzt, mit dem er während der Jahre, in denen er seine neuen Theorien entwickelte, eng befreundet war.

Ich korrespondierte eine Zeitlang mit Anna Freud über die Möglichkeit einer vollständigen Ausgabe von Freuds Briefen an Fließ, die in einer gekürzten Fassung 1950 auf deutsch unter dem Titel <Aus den Anfängen der Psychoanalyse> und 1954 auf englisch erschienen waren. Dieser Band war von Anna Freud, Ernst Kris und Marie Bonaparte herausgegeben worden. 1980 traf ich mich dann mit Dr. Kurt R. Eissler, dem Direktor des Freud-Archivs und Freund und Ratgeber Anna Freuds, und mit dieser selbst in London. Zu meiner Freude erklärte sich Miss Freud einverstanden mit einer Neuausgabe der Briefe ihres Vaters an Fließ. Ich erhielt Zugang zu der versiegelten Korrespondenz (die Originale befinden sich in der Library of Congress), der wichtigsten Informations­quelle über die Anfänge der Psychoanalyse.

In die Neuausgabe wollte ich nicht nur all die Briefe und Passagen einfügen, die man bei der ersten Edition weggelassen hatte (sie machen mehr als die Hälfte des Textes aus), ich hielt es darüber hinaus für notwendig, den ganzen Text mit Anmerkungen zu versehen. Zu diesem Zweck brauchte ich Zugang zu weiterem einschlägigem Material. Anna Freud bot mir ihre volle Unter­stützung an, und so durfte ich mich nach Belieben in Maresfield Gardens umsehen, in jenem Haus, in dem Freud seine letzten Lebensjahre verbracht hat.


Dort befindet sich Freuds imposante Bibliothek. Viele Bände, vor allem die aus den frühen Jahren, sind mit seinen Anmerkungen versehen. In Freuds Schreibtisch entdeckte ich ein Notizbuch von Marie Bonaparte, das sie in der Zeit nach dem Kauf von Freuds Briefen an Fließ im Jahre 1936 geführt hat. In ihm sind Freuds Reaktionen auf die Jahrzehnte zuvor verfaßten Briefe festgehalten. Ich fand auch eine Reihe von Briefen, die Sandor Ferenczi betrafen, der in späteren Jahren Freuds engster Freund aus dem Kreis der Analytiker gewesen war, und darunter auch den letzten Vortrag, den Ferenczi vor dem 12. Kongreß der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in Wiesbaden gehalten hatte. Er handelt von der sexuellen Verführung von Kindern, einem Thema, mit dem sich Freud während der Jahre seiner Freundschaft mit Fließ intensiv beschäftigt hat.

In einem großen schwarzen Schrank vor Anna Freuds Schlafzimmer fand ich viele bislang unbekannte Briefe an und von Freud aus derselben Zeit — einen Brief von Fließ an Freud, mehrere Briefe von Jean Martin Charcot an Freud und von Freud an Joseph Breuer, an seine Schwägerin Minna Bernays, seine Frau Martha und ehemalige Patienten.

Kurze Zeit später fragte mich Dr. Eissler, ob ich als sein Nachfolger Direktor des Freud-Archivs werden wolle. Ich nahm das Angebot gern an und wurde daraufhin zunächst zum Projekt-Direktor ernannt. Das Archiv hatte Freuds Haus in Maresfield Gardens gekauft, und ich sollte dort ein Museum und Forschungs­zentrum einrichten. Anna Freud verschaffte mir Zugang zu dem versiegelten Material, das sie der Library of Congress gestiftet hatte, damit ich ein Verzeichnis aller dort untergebrachten Materialien von und über Freud (die meisten stammten aus dem Archiv) erstellen konnte. Meine Aufstellung umfaßte am Ende nahezu 75.000 Dokumente.  

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Die Library erklärte sich bereit, dem geplanten Museum Kopien dieser Dokumente zu überlassen. Ich wurde auch einer der vier Direktoren der Sigmund Freud Copyrights und konnte in dieser Funktion mit der Harvard University Press über die Veröffentlichung einer vollständigen, textkritischen Ausgabe von Freuds Briefen verhandeln.

Als ich für den ersten Band die Briefe Freuds an Fließ durchlas und die Anmerkungen vorbereitete, erschien es mir, als ob die Auslassungen von Anna Freud in der gekürzten Erstausgabe einer gewissen Absicht folgten. In den nach dem September 1897 geschriebenen Briefen (zu diesem Zeitpunkt soll Freud seine «Verführungs»theorie aufgegeben haben), waren alle Fallgeschichten getilgt, die von der sexuellen Verführung von Kindern handelten. Darüber hinaus war jede Erwähnung von Emma Eckstein, einer frühen Patientin von Freud und Fließ, die in einem bestimmten Zusammenhang mit der Verführungstheorie zu stehen schien, gestrichen. Besonders beeindruckt war ich von einem Abschnitt in einem Brief vom Dezember 1897, der zwei bislang unbekannte Tatsachen zutage fördert: Erstens analysierte Emma Eckstein selbst Patienten (wahrscheinlich unter Freuds Supervision), und zweitens neigte Freud erneut dazu, der Verführungstheorie Glauben zu schenken.

Ich fragte Anna Freud, warum sie diesen Abschnitt aus dem Brief von Dezember 1897 ausgelassen hatte. Sie wisse den Grund nicht mehr, antwortete sie. Als ich ihr dann einen unveröffentlichten Brief von Freud an Emma Eckstein zeigte, sagte sie, sie könne mein Interesse an diesem Gegenstand gut verstehen, da Emma Eckstein in der frühen Geschichte der Psychoanalyse eine bedeutende Rolle gespielt habe; trotzdem solle der Brief nicht veröffentlicht werden. In den darauffolgenden Gesprächen ging Miss Freud näher auf ihre Haltung ein: Da ihr Vater die Verführungstheorie schließlich aufgegeben habe, fürchte sie, es könnte die Leser verwirren, wenn man sie mit den Bedenken und Zweifeln des frühen Freud konfrontiere. 

Für mich waren diese Passagen aber nicht nur von großer Bedeutung für die Geschichte der Psychoanalyse. Ein Gefühl beschlich mich, daß in ihnen womöglich die Wahrheit zum Ausdruck kam.

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Meines Erachtens hat niemand das Recht, anderen die Entscheidung darüber abzunehmen, was wahr und was falsch ist, indem er die Überlieferung zensiert. Darüber hinaus sprachen, unabhängig von Freuds letztendlicher Entscheidung, alle Anzeichen dafür, daß diese Theorie ihn sein ganzes Leben lang beschäftigt hat.

Ich zeigte Miss Freud die von mir im Schreibtisch ihres Vaters entdeckte Korrespondenz aus dem Jahre 1932 über den letzten Vortrag seines engsten Freundes Sándor Ferenczi, eine Untersuchung, die sich mit demselben Thema befaßt. Ich war mir sicher, daß Freuds anhaltende Beschäftigung mit der Verführungs­theorie der Grund für seine aus anderen Motiven heraus kaum erklärliche Abwendung von Ferenczi gewesen war. Anna Freud, die sehr viel von Ferenczi hielt, fand die Lektüre dieser Briefe peinlich und bat mich, sie nicht zu veröffentlichen. Ich bestand aber auf meinem Eindruck, daß Freud nicht leichtfertig diese Theorie als einen frühen und unbedeutenden Irrtum verworfen hat, wie man uns bislang glauben gemacht hatte.

Anna Freud drängte mich, mein Interesse in eine andere Richtung zu lenken. In Gesprächen mit anderen Analytikern, die der Familie Freud nahestehen, signalisierte man mir, daß ich auf etwas gestoßen war, das man besser auf sich beruhen lassen sollte. Wenn die Verführungstheorie wirklich nur eine Sackgasse auf dem langen Weg zur Wahrheit gewesen wäre, wie dies so viele Psychoanalytiker glauben, hätte ich meine Aufmerksamkeit wirklich anderen Dingen widmen können. Doch war gerade diese Theorie in meinen Augen der wichtigste Eckpfeiler der Psychoanalyse. 

In den Jahren 1895 und 1896 hatte Freud aus den Gesprächen mit seinen weiblichen Patienten erfahren, daß sie in ihrer Kindheit etwas Schreckliches, Gewaltvolles erlebt hatten. Die Nervenärzte vor Freud hatten ihre Patientinnen für hysterische Lügnerinnen gehalten und ihre Erinnerungen als Phantasieprodukte abgetan, wenn sie diese Geschichten zu hören bekamen. Freud war der erste Psychiater, der davon ausging, daß seine Patienten ihm die Wahrheit erzählten.  

Für ihn waren diese Frauen krank, und zwar nicht deswegen, weil sie aus erblich vorbelasteten Familien stammten, sondern weil man ihnen in ihrer Kindheit im Verborgenen etwas Schreckliches angetan hatte.

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Freud stellte diese seine Entdeckung im April 1896 im Wiener Verein für Psychiatrie und Neurologie in einem Vortrag vor, der sein erster größerer Auftritt vor seinesgleichen war. Dieser Vortrag — in meinen Augen der brillanteste Freuds — wurde totgeschwiegen. Man drängte ihn dazu, ihn niemals zu veröffent­lichen, wenn er sich seine Karriere nicht hoffnungslos ruinieren wolle. Eisiges Schweigen umgab ihn, und er vereinsamte zusehends. Doch Freud mißachtete die Ratschläge seiner Kollegen und veröffentlichte «Zur Ätiologie der Hysterie». Ein mutiger Akt. Doch schließlich hat sich Freud — aus Gründen, die ich in diesem Buch zu erhellen versuche — für die Ansicht entschieden, daß es ein Fehler gewesen war, seinen Patientinnen Glauben zu schenken. Dies war — wie Freud später behauptete — der Anfang der Psychoanalyse als Wissenschaft, als Therapie und als berufliche Laufbahn.

Schon als Student erschien es mir unfaßbar, daß Freud den Berichten seiner Patientinnen über ihre frühen Traumen keinen Glauben geschenkt hatte. Ich konnte nicht einsehen, warum die als Erinnerungen dargestellten Verführungsszenen bloße Phantasieprodukte oder erinnerte Phantasien sein sollten. Doch kam ich damals nicht auf die Idee, Freuds (in seinen Schriften oftmals wiederholte) historische Darstellung seiner Motive für seinen Gesinnungswandel anzuzweifeln. Als ich jedoch seine Briefe an Fließ in ungekürzter Form las, erzählten sie von einer ganz anderen, qualvollen Geschichte. Darüber hinaus stieß ich in allen Schriften Freuds, auch in seinen späteren, auf Fälle, in denen die Verführung oder der Mißbrauch von Kindern eine Rolle spielen.

Die Psychoanalytikerin Muriel Gardiner, eine Vertraute Anna Freuds und Kurt Eisslers, unterstützte meine Arbeit finanziell und sprach mir auch sonst, wo immer es möglich war, Mut zu. Sie bat mich, das von ihr gesammelte, bislang unveröffentlichte Material über den Wolfsmann durchzusehen, einen der berühmtesten (inzwischen verstorbenen) Patienten Freuds, der von Dr. Gardiner und Dr. Eissler finanziell unterstützt wurde. 

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Dabei fand ich eine Skizze von Ruth Mack Brunswick zu einem Aufsatz, den sie nie veröffentlicht hatte. Auf Freuds Wunsch hin, las ich, hatte sie den Wolfsmann noch einmal analysiert und dabei festgestellt, daß er als Kind von einem Mitglied seiner Familie zum Analverkehr verführt worden war. Sie war darüber sehr erstaunt - Freud schien nichts davon zu wissen. Sie hat es ihm nie erzählt. Warum nicht? Wußte Freud nichts davon, weil er es nicht wissen wollte? Hat Ruth Mack Brunswick es ihm womöglich deshalb nicht erzählt, weil sie das ahnte?

Auf meiner Suche nach weiteren Anhaltspunkten fuhr ich nach Paris, um mehr über Freuds Aufenthalt in dieser Stadt in den Jahren 1885 und 1886 in Erfahrung zu bringen. Ich begab mich zunächst in die Bibliothek seines Lehrers Charcot in der Salpetriere. Dort stieß ich auf eine Spur, die mich in die Pariser Morgue führte: Ich erfuhr, daß Freud dort den Autopsien beigewohnt hatte, die Charcots Freund und Mitarbeiter Paul Brouardel vorzunehmen pflegte. Ein paar Hinweise von Freud deuten darauf hin, daß er in der Morgue etwas gesehen hat, «wovon die Wissenschaft keine Notiz zu nehmen beliebte» (G. W. X, S. 453). In der Morgue erfuhr ich, daß es damals eine ganze Kategorie von französischen gerichts­medizinischen Publikationen gegeben hat, die sich mit dem Thema Kindesmiß-brauch (insbesondere Vergewaltigung) befaßten. Freud verfügte über dieses Material in seiner Bibliothek, nahm jedoch in seinen Schriften nie darauf Bezug. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist er in der Morgue auch Zeuge von Autopsien gewesen, die an den Leichen vergewaltigter und ermordeter Kinder vorgenommen wurden.

Ich befand mich in einer merkwürdigen Situation. Als ich Psychoanalytiker wurde, glaubte ich, Freud habe sich furchtlos für die Wahrheit eingesetzt, er habe seinen Patienten helfen wollen, ihre Lebensgeschichte und die ihnen angetanen Übel zu verarbeiten, wie unerfreulich auch immer diese gewesen sein mögen.

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In meiner analytischen Ausbildung lernte ich jedoch frühzeitig, daß die meisten Psychoanalytiker diese Ideale nicht teilen. Ich glaubte aber, daß sie zumindest aus der Wissenschaft noch nicht völlig verschwunden waren; es gab sicher noch Menschen, die kompromißlos nach der Wahrheit suchten. Darum, so sagte ich mir, hat man mich in meiner Forschung unterstützt und mir darin keinerlei Beschränkungen auferlegt.

Das Geheimnis, das ich zu enthüllen im Begriff war, stellte meines Erachtens eine unabdingbare Voraus­setzung dar, um die Entwicklung der Psychoanalyse verstehen zu können, und daher teilte ich meine Forschungsergebnisse denen mit, die in erster Linie dafür verantwortlich waren: Anna Freud, Kurt Eissler und Muriel Gardiner. Ich dachte, sie würden die Bedeutung meiner Entdeckungen nicht unter­schätzen, wenn sie sich auch mit meinen Interpretationen wahrscheinlich nicht einverstanden erklären konnten.

Es war wohlbekannt, daß ich von der Psychoanalyse, wie ich sie kennengelernt hatte, enttäuscht war, und dieses Gefühl teilen viele meiner Kollegen. In diesem Zusammenhang halte ich ein Treffen mit Anna Freud für wichtig genug, um davon zu berichten. Meine Beziehungen zu ihr waren im allgemeinen formeller Natur und beschränkten sich auf Diskussionen über Forschungsangelegenheiten. Eines Nachmittags wurde unser Gespräch jedoch persönlicher. Ich erzählte ihr, wie enttäuschend meine Lehranalyse in Toronto für mich verlaufen sei, sagte, in San Francisco sei es nicht viel besser gewesen, und zweifelte daran, ob es überhaupt irgendwo anders sei. Ich fragte sie, ob ihr Vater, wenn er heute noch lebte, der psycho­analytischen Bewegung angehören, ob er Analytiker sein würde. «Nein ... wohl nicht», antwortete sie. Damals verstand Anna Freud meine Kritik an der heutigen Praxis der Psychoanalyse und schien mich in meiner skeptischen Haltung zu unterstützen. Doch als ich bei meiner Forschungsarbeit tiefer zu schürfen begann und als auch Freud nicht mehr von meiner Kritik verschont blieb, entzog sie mir ihre Unterstützung.

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Meine Entdeckungen verwiesen mich nämlich auf Freuds Frühphase — die Jahre 1897 bis 1903 als die Zeit, in der die grundlegenden Veränderungen, die die Psychoanalyse meines Erachtens unterminiert haben, ihren Anfang nahmen. Äußerst widerwillig kam ich allmählich zu der Einsicht, daß Freud nur deshalb von der Verführungshypothese abgerückt war, weil er nicht genügend Mut gehabt hatte. Wenn meine Ansichten falsch sind, glaubte ich naiverweise, würde man meine Interpretation der Dokumente mit ernsthaften Argumenten kritisieren und schlüssig widerlegen. Man müsse, dachte ich, der Wahrheit ins Auge sehen, wie immer sie auch ausfalle. Die Dokumente, die ich gefunden hatte, mußten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Auf Einladung von Anna Freud stellte ich ein vorläufiges Fazit meiner Entdeckungen 1981 auf einer Psychoanalytiker-Tagung in der Hampstead Clinic in London vor. Die Konferenzteilnehmer waren von Anna Freud zum Thema «Einsichten in die Psychoanalyse» geladen worden, und es waren führende Analytiker aus aller Welt anwesend. Die negative Reaktion auf meinen Vortrag machte mich auf die politischen Implikationen meiner Forschung aufmerksam, auf die Möglichkeit, daß sie den Psycho­analytikern schaden könnte. Doch ließ ich derlei Überlegungen außer acht, weil sie eines ernsthaften Forschers unwürdig sind.

Im Juni 1981 bat man mich um eine eingehendere Darstellung der Dokumente und ihrer Implikationen auf einer geschlossenen Veranstaltung der Western New England Psychoanalytical Society in New Haven. Der Titel meines Vortrags lautete «Die Verführungshypothese im Lichte neuer Dokumente». Die ärgerlichen Reaktionen, die dieser Vortrag verursachte, galten dabei mehr meiner Person als den Dokumenten, die ich entdeckt hatte. 

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Diese Beobachtung führte mich zu der Einsicht, daß meine Auffassungen nicht einfach als Versuch behandelt werden, die historische Wahrheit über Freuds Preisgabe der Verführungstheorie zu ergründen. Die Wahrheit oder Falschheit meiner Forschungsergebnisse stand gar nicht zur Debatte. Man fragte sich lediglich, ob es klug sei, das Material zu veröffentlichen. Die Kritiker waren der Meinung, daß meine Interpretationen den innersten Kern der Psychoanalyse in Frage stellen.

 

Ich bin nach wie vor der Überzeugung, daß Freud seine eigene Entdeckung aus dem Jahre 1896 — daß Kinder in vielen Fällen in ihren eigenen Familien sexueller Gewalt und sexuellem Mißbrauch ausgesetzt sind — als so belastend empfand, daß er sie buchstäblich aus seinem Bewußtsein tilgen mußte. Die psycho-analytische Bewegung, die auf Grund von Freuds Anpassung an die Ansichten seiner akademischen Kollegen entstand, besteht dagegen auch heute noch darauf, daß Freuds frühere Position bloß ein Irrweg war. Freud mußte, so lautet die anerkannte Lehrmeinung, seinen Irrglauben an die Verführung aufgeben, um die Wahrheit von der Macht der inneren Phantasie und der spontanen kindlichen Sexualität entdecken zu können.

Jeder angehende Psychoanalytiker im ersten Ausbildungsjahr kennt diese einfache Tatsache. Ich schien der einzige zu sein, der unfähig war, sie zu begreifen. Und dazu behauptete ich nun noch, diese anerkannte Ansicht stelle eine Verzerrung der Wahrheit dar. Die vorherrschende Meinung der Psychotherapeuten lautete, das Opfer habe sich seine Qualen ausgedacht. Damit ließen sich insbesondere Sexualverbrechen der Vorstellungskraft des Opfers anlasten, eine Position, die der Freud-Schüler Karl Abraham vertrat und die Freud selbst begeistert annahm. Für die Gesellschaft war dies eine tröstliche Ansicht, denn Freuds Interpretation — derzufolge die sexuelle Gewalt, die sich so schwerwiegend auf das Leben seiner Patientinnen ausgewirkt hatte, ein reines Phantasieprodukt ist — war keine Bedrohung für die bestehende Gesellschaftsordnung. Die Therapeuten konnten dadurch auf der Seite der Erfolgreichen und Mächtigen bleiben, statt sich auf die Seite der Opfer familiärer Gewalt zu stellen. Daß ich die Grundlage dieser Anpassung in Frage stellte, sieht man eher als eine Erschütterung der Psychoanalyse an und nicht nur als eine bloße historische Unter­suchung.

Als dann im August 1981 die New York Times in einer Artikelserie über meine Entdeckungen berichtete, rollte eine Welle des Protestes über mich hinweg, die in der Forderung kulminierte, man möge mich doch endlich aus dem Direktorium des Freud-Archivs entfernen. Zur offenkundigen Erleichterung der Analytiker-Gemeinde wurde ich entlassen. Die Begründung lautete, ich hätte «mangelndes Urteils­vermögen» bewiesen, indem ich mit meinen Ansichten vor ein nichtprofessionelles Publikum getreten sei.

Hier ist sie nun, die Geschichte von Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie, einschließlich der Dokumente und meiner Interpretationen.

Meine pessimistischen Schlußfolgerungen mögen falsch sein. Vielleicht erlauben die Dokumente in der Tat eine andere Interpretation. Wie immer man sie auch bewerten mag, ich glaube jedenfalls, daß jeder, der sie liest, zu einem neuen Verständnis der Psychoanalyse gelangen wird.

Es könnte für den Leser hilfreich sein, Freuds Aufsatz «Zur Ätiologie der Hysterie» (1896) zu lesen, bevor er zum ersten Kapitel übergeht, denn auf den folgenden Seiten wird davon oft die Rede sein. Der Aufsatz ist in Anhang B abgedruckt.

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