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12. Zu den Gipfeln

   Maximow    Woinowitsch 

 

222-239

Vor zehn Jahren - als der Samisdat eben erst dabei war, Kräfte zu sammeln - äußerte sich die Mehrzahl der westlichen Kritiker skeptisch: Die nichtoffizielle Literatur habe zwar abweichende Themen und Inhalte, aber in ihrem künstlerischen Niveau unterscheide sie sich kaum von den farblosen Produktionen des offiziellen sozialistischen Realismus. Peter Benno etwa sagte 1964 in dem Sammelband »Soviet Literature in the Sixties« (New York) mit Bestimmtheit voraus, daß der Samisdat in absehbarer Zeit wahrscheinlich kein einziges nennenswertes eigenständiges Werk hervorbringen werde. Seine Begründung war durchaus logisch und nachvollziehbar: Eine ganze Literatur kann nicht in einem Zeitraum von fünf bis zehn Jahren entstehen. 

Aber das Leben warf diese Kalkulationen über den Haufen. Rußland, das in der Vergangenheit der Welt eine der bedeutendsten Literaturen geschenkt hat, erwachte aus der Erstarrung und machte sich erneut daran, die Gipfel des künstlerischen Schaffens zu erklimmen. Das Land begann alles das, was es in fünfzig Jahren an Tragischem erlebt und erlitten hatte, zu begreifen und zu verarbeiten. Eine machtvolle geistige Gärung ergriff die ganze russische Gesellschaft. 

Wie stark dieses Verlangen, das Geschehene zu verstehen, einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden, wie stark der Drang nach bisher unbekannten, verbotenen geistigen und kulturellen Werten, nach anderen Ideen ist, wird an einem einzigen Beispiel deutlich: 

Auf dem schwarzen Markt in Moskau kostet ein Buch von Berdjajew oder Frank fünfzig bis achtzig Rubel (mehr als ein Oberarzt oder ein Ingenieur in einem halben Monat verdient), die in New York herausgegebene dreibändige Mandelstam-Ausgabe kostet 450 (vier Monatsgehälter), die Bibel hundert Rubel, usw.

Die russische Literatur hat erneut mit voller Stimme zu sprechen begonnen, hat wieder den Schwung und die Weite des Atems gewonnen, ist zu ihren alten, ewigen Themen zurückgekehrt der Sinn des Lebens, des Menschen Ort in der Welt und in der Gesellschaft, Sünde und Sühne, Verbrechen und Strafe, die Freiheit und ihr Preis, Gut und Böse als moralische und ontologische Kategorien. 

Natürlich können Bücher, die solche Themen aufgreifen und die entscheidenden Probleme, vor denen die russische Gesellschaft heute steht, wirklich tiefgründig und ernsthaft zu lösen versuchen, unter den Bedingungen eines alles ertötenden Dogmatismus und zahlloser unsinniger Tabus nicht offiziell im Druck erscheinen.

222/223

Als Pasternaks Roman <Doktor Schiwago> im Westen veröffentlicht wurde, erklärten die westlichen Kommunisten, um die Bedeutung dieses Buches herunter­zuspielen und um sich nicht mit den eigentlichen Problemen, die dort gestellt wurden, auseinandersetzen zu müssen, Pasternak zeige in seinem Roman nicht den einfachen russischen Menschen, den Arbeiter und Bauern, das Buch spiegele nicht die Erfahrungen des ganzen Volkes in ihrer Breite wider, sondern sei ausschließlich einem eng umgrenzten Problem gewidmet — dem Schicksal der russischen Intelligenz. 

Dabei wurde ganz außer acht gelassen, daß eine der Hauptfiguren des Romans, der bolschewistische Kommissar Antipow-Strelnikow, aus der Arbeiterschaft kommt, und zum anderen, daß der Untergang der russischen Intelligenz — die fast ein ganzes Jahrhundert lang die bewegende Kraft der russischen Gesellschaft und ihr Gewissen war — heute für Rußland eines der wichtigsten Themen (wenn nicht das wichtigste) darstellt. 

  *

  Maximow  

 

Gegen Wladimir Maximows Roman »Sem dnej tworenija« (dt. Die sieben Tage der Schöpfung)1) läßt sich der obige Vorwurf jedoch schon nicht mehr erheben, denn das ist ein Roman über das einfache Volk, geschrieben von einem Mann aus dem Volk, der die Erfahrungen des Volkes in sich aufgenommen und ihnen mit erstaunlich tiefer Einfühlungskraft Ausdruck verliehen hat. Maximow kennt das Leben des einfachen Volkes wie vielleicht kein anderer der heutigen Schriftsteller, und er versteht es, uns diese Welt der einfachen russischen Arbeiterleute vor Augen zu führen.

Maximow wurde in einer Arbeiterfamilie geboren, wuchs in einem Kinderheim auf, arbeitete als Maurer auf dem Bau, durchwanderte ganz Rußland vom Schwarzen Meer bis zum Eismeer. Das einfache Volk spricht in Maximows Romanen so, wie es in der Wirklichkeit redet; die Sitten und Gebräuche, die Denkweise dieser Menschen sind mit äußerstem Realismus dargestellt.

Auf Maximows Büchern, schreibt der Samisdat-Kritiker N. Antonow in einem interessanten Artikel über Maximows Werk, liegt »der Widerschein der Wahrheit, die alles Geschaffene unsichtbar erfüllt, das aus den Tiefen des Volkes heraus entstanden ist«.2) Antonow ist der Auffassung, daß Maximow in seinem Roman »Die sieben Tage der Schöpfung« die Tradition des polyphonen dialogischen Romans Dostojewskijs fortsetzt, die dem monologischen Prinzip Tolstojs zuwiderlaufe.

* (d.2009:)  Maximow bei Detopia 

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Maximow ist dabei nach Antonows Ansicht möglicherweise der erste, der diese Tradition wirklich aufnimmt, hat doch die russische Literatur in den vergangenen Jahrzehnten hauptsächlich die monologische Tradition entwickelt, in der »eine Vielzahl psychologischer und logischer Ebenen von einer einzigen sinngebenden Zielsetzung dominiert werden«. Bei Maximow aber, wie bei Dostojewskij, sehen wir, daß »der Stoff in einer anderen Weise organisiert wird, die eine Vielzahl von Bedeutungsschichten voraussetzt«. »In einem derartigen Roman«, sagt Antonow, »können weder die Ereignisse der Handlung noch die psychologischen Geschehnisse <allegorisiert> sein, weil Allegorien, wie auch immer geartet, in jedem Fall ein einheitliches Zentrum zur Voraussetzung haben. Ich denke, daß es Maximow gelungen ist, zu einem Bewußtseinsparallelismus zu kommen, der hier in der Tat das entscheidende Formprinzip ist.«

Uns scheint, daß Antonow nur zum Teil recht hat. 

Maximows Roman »Die sieben Tage der Schöpfung« beeindruckt in der Tat durch die Wucht und Weite des gestalteten Gemäldes; vor den Augen der Leser spielen sich die verschiedensten Schicksale ab; in den Bekenntnissen, die die Romangestalten ablegen, den Streitgesprächen, die sie untereinander führen, kommen sehr unterschiedliche, oft dramatisch entgegengesetzte Denkweisen und Einsichten zum Ausdruck. Doch obgleich das Bewußtsein der Personen — noch nicht fixiert, noch »ungehärtet«, sich schrittweise verändernd auf dem leidvollen Weg von der Blindheit zum Licht — die ganze Struktur des Buches offen, unvollendet macht, stellt der Roman dennoch auf einer anderen Ebene, nämlich hinsichtlich des Bewußtseins und der Absichten seines Autors, ein gänzlich geschlossenes System dar. 

Und das unterscheidet ihn von den Romanen Dostojewskijs mit ihrer vollkommen offenen Struktur. Bei Maximow ist da System nur offen, soweit es das Bewußtsein der einzelnen Personen betrifft, denn ihr Zentrum liegt außerhalb ihrer selbst: Sie können nur zu ihm hin streben, sie gleiten sozusagen auf verschiedenen Flächen, die sie in sich selber widerspiegeln, auf das Zentrum zu; jedoch liegt es noch innerhalb des Romans (bei Dostojewskij liegt es außerhalb): Dieses Zentrum ist das Bewußtsein des Autors, seine Zielsetzung, die prägnant und deutlich zum Ausdruck kommt und keine beliebige Anzahl von Interpretationen zuläßt. Deshalb ist in Maximows Roman das »Dialogprinzip« unbekannt. 

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Ein Dialog kommt nicht zustande, weil die Gegenseite nichts zu sagen hat; Menschen wie der Parteisekretär Worobuschkin, wie der habgierige Paramoschin, der die Revolution für seine eigenen Bedürfnisse ausnutzt und sich bei den neuen Machthabern anbiedert, oder der KGBler Nikischkin — sie haben keine Argumente. Maximow weigert sich, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und hat damit vielleicht nicht so unrecht: Wenn auch gilt, daß der große Künstler gehalten ist, mit der äußersten, ja mit einer schier übermenschlichen Objektivität aufzuzeigen, daß sich das Handeln jedes Menschen auf der Welt erklären und begreifen läßt, so sprechen doch gleichwohl die furchtbaren Prüfungen, die Rußland im Verlauf eines halben Jahrhunderts durchzumachen hatte, eine so beredte und deutliche Sprache, daß der Schriftsteller schwerlich umhin kann, diese Wahrheit anzuerkennen, die sich aufgrund der tragischen Erfahrungen des Volkes als die einzige große und allgemeinverbindliche aufdrängt. Die Bedeutung von Maximows Roman liegt deshalb nicht darin, daß er versucht hat, die Problematik von Dialektik und Antinomie in ihrer Tiefe aufzudecken, sondern darin, daß er jene mit Leiden errungene Wahrheit eindrucksvoll künstlerisch gestaltet.

Der Roman erzählt vom Schicksal einer Arbeiterfamilie. Die Geschichte der Laschkows, die an der Revolution teilnehmen, dann im Kampf gegen zahllose »Feinde« die »revolutionären Errungenschaften« verteidigen und am Ende enttäuscht zu der Überzeugung gelangen, daß die Revolution ein Fehler war, ihr Bestreben irrig und der grausame Kampf unnötig und sinnlos, und jetzt auf der schmerzvollen Suche nach neuen Idealen und nach der wirklichen Wahrheit sind — diese Geschichte spiegelt gleichsam en miniature den Weg, den das russische Volk im Verlauf der vergangenen fünfzig Jahre zurückgelegt hat. 

Und aus diesem Grunde gewinnen viele Episoden des Romans symbolische Bedeutung (entgegen Antonows Behauptung erweist sich die »Allegorik« hier bei monologischer Erzählstruktur als möglich). Symbolisch ist etwa die Szene mit dem Pappschinken: Während der Revolution 1905 dringt der junge Pjotr Laschkow, von Kugeln umschwirrt, sein Leben aufs Spiel setzend, durch das zertrümmerte Schaufenster in einen Laden ein, um eines verlockenden Räucherschinkens habhaft zu werden — der sich zu seiner größten Enttäuschung als Attrappe entpuppt. Im Verlauf des Romans kommt Pjotr Wassiljewitsch mehrmals auf dieses Erlebnis zurück, der falsche Schinken wird gleichsam zum Symbol für das verheißungsvolle, aber trügerische Prinzip des Mammons, der materiellen Güter, um derentwillen die Revolution doch nur gemacht worden ist.

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Dieses Prinzip hat alles übrige verdrängt und so die Seele verwüstet, das Leben trist und grau gemacht, es läßt die Menschen ohne Hoffnung, ohne Sinn dahinvegetieren, verzehrt von unwürdiger Sorge ums tägliche Stück Brot. »Diese Erleuchtung hat nur tödliche Instinkte in den Menschen bloßgelegt«, sagt Gupak zu Laschkow. »Den Wunsch nach dem ewigen Leben habt ihr durch das Versprechen von allgemeiner Völlerei und Müßiggang ersetzt.« (S. 85) Noch dazu war der Weg zu diesen materiellen Gütern der falsche: nicht der des Erwerbs und der Mehrung der Reichtümer, sondern der Weg der Expropriation und Umverteilung: »Das Erworbene zu vertun ist natürlich leichter, als es zu vermehren. Und zudem erfordert das Geduld und Arbeit. Aber Geduld, die gibt es ja nicht, und arbeiten will man auch nicht. Und deshalb heißt es dann: <Hau zu, mach alles kaputt, wir leben nur einmal!>« spricht Chramow zu Wassilij Laschkow (S. 227).

Allegorisch ist auch die Bedeutung jener großartig geschilderten Episode, wie das Kolchosvieh während des Krieges evakuiert wird. Andrej Laschkow erhält den Auftrag, alles Vieh ins Hinterland zu treiben, die Parteileitung ernennt ihn zum »guten Hirten« des ihm anvertrauten Viehs und der Menschen, die es betreuen. Und sowohl für die Vorgesetzten als auch für den in ihrem Auftrag handelnden Laschkow ist das »Staatseigentum« weit wichtiger als die »dazugehörigen« Menschen. Die Menschen werden von den neuen Führern, diesen neuen »Hirten«, als stumme Kreatur behandelt: »Die zählen doch in ganz anderen Dimensionen, nach Millionen« (S. 196). 

Tief symbolisch ist die Szene der Tempelschändung, als Laschkow den Befehl gibt, das Vieh vor dem herannahenden Unwetter in eine Kirche zu treiben, ohne zu beachten, was seine Untergebenen ihm vorhalten: »Das Gotteshaus ist für ewige Zeiten, es ist der Hort der Seele des ganzen Volkes.« (S. 130) Am Ende bringt Laschkow das Vieh ans Ziel, aber seine Leute hat er verloren. Und der Direktor des Sowchos sagt zu ihm: »Ohne Leute kann ich dein Vieh nicht gebrauchen. Vieh hab ich selber. Nur keine Leute.« (S. 145)

Symbolische Bedeutung gewinnt auch die Szene auf dem Bau in Mittelasien, als die Arbeiter plötzlich erkennen, daß sie die ganze Zeit nichts anderes als ein neues Gefängnis gebaut haben. Symbolisch ist die Gestalt der alten Schokolinist, der früheren Besitzerin des Hauses, in dem Wassilij Laschkow Hausmeister ist.

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»Hätte wohl vor dreißig Jahren irgendjemand im Hause gedacht, daß sie (...), die Erbauerin und Eigentümerin des Hauses, so viele überleben würde? Wassilij Wassiljewitsch wußte genau, daß sie auch ihn und vielleicht sogar das Haus überleben würde. Und all das hatte für den alten Mann einen gewissen, nahezu übernatürlichen Sinn.« (S. 156) Die unsterbliche Alte ist das Symbol für die Unerschütterlichkeit und Lebenskraft jener alten Grundpfeiler des Lebens, die keine Revolution zu zerstören vermag, weil die Revolution nur auf der Oberfläche dahingleitet und an die Tiefen des menschlichen Daseins überhaupt nicht rührt. Und das ganze Haus, in dem Laschkow wohnt, ist ein verkleinertes Abbild der russischen Gesellschaft und ihrer Schicksale: Hier leben Arbeiter neben Intelligenzlern, Diebe neben KGB-Mitarbeitern, der Offizier der alten Garde und der deutsche Kommunist; hier wird geheiratet, gestorben, verhaftet... Und über allem die Atmosphäre der »erdrückenden Einsamkeit« und Entfremdung (S. 155).

Von vielsagender Bedeutung ist auch der Kampf des redlichen Forstangestellten Andrej Laschkow mit den Waldfrevlern, die »niemandes Eigentum« plündern. Symbolisiert wird hier die ganze verantwortungslose, indifferente, barbarische Einstellung zu den staatlichen, »niemandem gehörenden« Reichtümern der sowjetischen Gesellschaft, einer Gesellschaft ohne Eigentümer.  

Symbolisch sind auch einige der Personen selbst. »Wo, wann, warum hatte er, Pjotr Wassiljewitsch, seine Wahrheit Leuten wie Gupak, Worobuschkin, Gusjew überlassen?« denkt Laschkow (S. 92). Für ihn, den Ritter der Revolution, der diese Revolution mit den lautersten Absichten mit getragen hat, ist Gupak der Inbegriff für die in Rußland wieder erwachende Religion, die selbst Menschen aus Laschkows engster Umgebung dem Marxismus und Kommunismus abspenstig macht, darunter seine eigene Tochter Antonina; Worobuschkin verkörpert die neue Parteielite, die neue Klasse, die, hermetisch abgeschirmt, das Volk aus dem verborgenen Kabinett heraus regiert und ausbeutet; und Gusjew ist der Inbegriff des prinzipienlosen Spießers — »Mir ist egal, welche Regierung am Ruder ist« (S. 89) —, der unter der neuen Macht mit demselben Geschick reüssiert wie unter der alten.

Natürlich ist keines dieser Sinnbilder Symbol oder Allegorie im vollen Wortsinne. Alle Gestalten sind bei Maximow blutvoll und lebendig gezeichnet, die Situationen glaubwürdig, die Handlungen realistisch geschildert, doch gerade weil er dabei nicht auf der Oberfläche verbleibt, nicht einfach isolierte Phänomene des heutigen russischen Lebens abfotografiert (wie das die »neorealistischen« Schriftsteller des »Nowyj mir« tun),

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sondern diese Phänomene in einer machtvollen zielgerichteten Anspannung seines rastlos analysierenden Verstandes bis aufs Mark seziert, gewinnen seine Darstellungen die tiefe Bedeutsamkeit und zusammenfassende Deutlichkeit von Symbolen. Der eine oder andere wird bei der Lektüre des Romans noch viele weitere Szenen und Bilder, die unserer Aufmerksamkeit entgangen sein mögen, als symbolisch empfinden, ist doch die gesamte Textur des Romans von dieser Vieldeutigkeit durchwoben.

Das entscheidende Fazit, das sich für Maximow aus der Beobachtung des russischen Volkes ergibt, ist die Enttäuschung über die praktischen Resultate der kommunistischen Revolution und der totale Zusammenbruch des Marxismus als Ideologie. »Nur die Aufseher haben gewechselt. Und die früheren Aufseher, Gott hab sie selig, verstanden ihre Sache. Aber jetzt reißen alle das Maul auf (...); ein Faulenzer — bei der Revolution der erste Mann, und ich, früher war ich nichts, und heute bin ich auch nichts, nur daß ich jetzt dreimal weniger bekomme. So viele Parasiten, wie es jetzt gibt, mehr kann's gar nicht geben«, sagt der Bergmann Machotkin zu Laschkow (S. 242). 

Pjotr Laschkow, die zentrale Gestalt des Romans, der sich ganz in den selbstlosen Dienst an der Revolution gestellt hat, blickt auf sein Leben zurück, »und die Bilanz dieses Rückblicks ergab, wie er sich mit nüchterner, ausgebrannter Seele eingestehen mußte, daß er sein Leben unnütz vertan hatte, auf der Jagd nach einem kläglichen, nicht greifbaren Phantom« (S. 442). Die Ideale haben sich als falsch entpuppt, und das Wesen der Revolution spricht, als diese Revolution erst wenige Jahre alt ist, mit nackter Offenheit der Vorsitzende der Bezirks-Tscheka Awanesjan aus: »Wer — wen: das ist die ganze Philosophie.«

Maximow besitzt Taktgefühl und Realismus genug, uns am Ende nicht einen völlig gewandelten und sehend gewordenen Laschkow vorzuführen. Der letzte, siebente Teil des Buches ist unvollendet gelassen. Nur der erste Satz steht da: »Und der siebente Tag begann — der Tag der Hoffnung und der Auferstehung.« Aus der Enttäuschung und dem Gefühl der Leere erwachsen bei Laschkow lediglich die ersten Vorahnungen anderer Ideale und anderer Hoffnungen. Er beginnt sich selbst als ein Teilchen einer höheren Einheit zu erkennen, die mehr ist als die bloße Summe materieller Zusammenhänge, und zu fühlen, wie ihm erst diese Zugehörigkeit innere Fülle verleiht.

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Jetzt verlockt ihn die Schönheit und die geheime Bedeutsamkeit der Welt, die er einst zerstören und umgestalten wollte: 

»Als er allein war, fand Pjotr Wassiljewitsch den Mut, sich einzugestehen, daß er sein Leben mit dem beendete, womit er es eigentlich hätte beginnen sollen. Die Ursachen und Zusammenhänge seiner Umwelt erschienen in ihrer ganzen Fülle auf einmal so klar, als hätte man vor ihm das Negativ einer Aufnahme entwickelt. Er war erstaunt von der geheimen Zweckmäßigkeit im Ablauf der Geschehnisse und sah sich selbst als das, was er wirklich war: nämlich als einen winzigen Teil des vielfältigen Organismus, ein Partikel, der zufällig auf einem der schmerzempfindlichsten Knotenpunkte dieses Organismus existierte. Die Erkenntnis seines >Ich< als Teil eines riesigen und vernünftigen Ganzen gab Pjotr Wassiljewitsch das Gefühl innerer Ausgeglichenheit und Ruhe.« (S. 447)

Das scharfe Bewußtsein von der Krise, die Rußland heute durchmacht, einer Krise, die Zweifel und Enttäuschung und suchendes Streben mit sich bringt, erlaubt es Maximow nicht, seinen Helden mit klarer Zielstrebigkeit und Festigkeit der Überzeugung auszustatten. »Der Glaube unseres Volkes beginnt im Grunde genommen erst«, nachdem es »durch große Zweifel« gegangen ist (S. 438). Doch welche Ideale Maximow selbst vertritt, worin für ihn der Weg der Wahrheit liegt, läßt sich gleichwohl aus dem Buch recht klar bestimmen. Der richtige Weg ist für ihn der Weg der inneren Umgestaltung und nicht der der sozialen Umwälzungen und Erschütterungen. Durch den Mund einer seiner Figuren spricht er ein hartes Urteil über jenen Teil der heutigen sowjetischen Dissidenten, der danach trachtet, die Ungerechtigkeit und das Joch der neuen Macht mit Gewalt zu zerbrechen, der eine neue Revolution anstrebt: »Nichts hat euch die Geschichte gelehrt (...) Ist es denn wirklich so schwer zu begreifen, daß das Blutvergießen niemals ein Ende nehmen wird, wenn es immer bei <Auge um Auge> bleibt? Versucht doch ein einziges Mal zu vergeben — es wird euch dabei gewiß selbst leichter ums Herz werden.« (S. 346)

 

Maximows zweiter Roman »Karantin« (dt. Die Quarantäne)3) ist nicht minder bedeutungsvoll angelegt, nur daß die Ausführung hier lange nicht so überzeugend gelungen ist. Dieser Roman ist nach dem Prinzip des Mosaiks aufgebaut: Stückchen von ganz verschiedener Form und Farbe sind nur durch die gemeinsame Idee des Ganzen miteinander verbunden. 

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Die Komplexität der Architektur beraubt den Roman der Harmonie und Verständlichkeit; es kostet den Leser erhebliche Mühe, einen Zusammenhang zwischen den Kapiteln zu erkennen, die auf den ersten Blick völlig unverbunden nebeneinander stehen. Um dieser unsicheren und brüchigen Konstruktion mehr Festigkeit zu verleihen, führt Maximow durchgehende Symbole ein, die jedoch hier im Unterschied zu den Symbolen des ersten Romans leblose Abstrakta bleiben. Selbst die zentrale Symbolgestalt des Buches, Iwan Iwanowitsch Iwanow, wirkt undeutlich und wenig überzeugend; sie soll offenbar die Lebensklugheit und Leidensfähigkeit des russischen Volkes verkörpern.

Das Thema des Romans ist der Aufstieg des Menschen vom dunklen unwissenden Dahinvegetieren auf der Stufe des Tieres zu vergeistigtem sinnerfüllten Dasein, und die reuige Erkenntnis und Überwindung der eigenen Sündhaftigkeit — dargestellt am Beispiel der beiden Helden Maria und Boris Chramow. Wie bei Pjotr Laschkow beginnt auch bei Boris Chramow dieser Aufstieg mit der Erkenntnis, daß er im tiefsten Inneren mit der ganzen übrigen Welt verbunden ist, und mit den »historischen Träumen«, in denen Boris seine Vorfahren sieht: von Ilja, dem Hofmeister des Kiewer Fürsten Wladimir, bis zu dem Revolutionär Walentin Chramow. Dieses Gefühl für die Gattung verhilft ihm dazu, die Welt nicht als das chaotische und sinnlose Aufeinandertreffen mechanischer Kräfte (und sich selbst als ein sinnloses Teilchen im sinnlosen Chaos) zu begreifen, sondern als einen mit geheimnisvollem Reiz und tiefer Bedeutung erfüllten Kosmos. 

Die Gegenüberstellung von Chaos und Kosmos in der »Quarantäne« fällt plastischer und tiefer aus als in den »Sieben Tagen der Schöpfung«. Gegen das Chaos niedriger Leidenschaften, materieller Interessen, verbrecherischer Handlungen steht die geistige Reinheit, selbstlose Liebe, ruhige Weisheit und helle arglose Freude, in denen die unerschütterlichen, unwandelbaren ewigen Urgründe des Daseins fühlbar werden. »Wahrscheinlich sind alle Menschen, wie viele es auch geben mag, in Wirklichkeit nur zwei — nämlich Adam und Eva, viele Male in Raum und Zeit wiedererschaffen.« (S. 196) Wenn er diese ewigen Urgründe des Seins berührt, gewinnt der Mensch ein Gefühl des inneren Friedens, der Daseinsfülle, doch der Abfall von der Wahrheit, der Verlust des lebensspendenden Quells führt zur inneren Leere, zu Bosheit und Niedertracht, zu dem »verbrecherischen Bacchanal« der Revolution.

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Diese Berührung mit den Urgründen des Daseins, so bemerkt Antonow zutreffend, kommt hier nicht durch Reflexion über das soziale Leben zustande, sondern durch Versenkung in die eigene Subjektivität. 

»Im Strom der äußeren Handlung saugen sich die Individuen (die Helden) gleichsam bis oben hin voll mit eigenem Schicksal; was in ihrem Leben sinnlos, zufällig, längst vergessen schien, kehrt wieder zu ihnen zurück und bereitet den Boden für die Buße; noch vermögen die Menschen nicht wirklich im Inneren zu spüren, daß die Sündhaftigkeit in ihrer Individualität liegt, weil das Gefühl für die eigene Persönlichkeit, für den Wert des eigenen Daseins in ihnen verdrängt und verlorengegangen war. Und so seltsam es klingen mag — zum <Bannerträger und Herold>, zum ersten Schritt auf dem langen Weg der Buße wird der Individualismus. Die Behauptung der eigenen Identität hilft den Personen, ihre unglücklichen Schicksale liebzugewinnen, von jener amor fati (Liebe zum Schicksal) erfüllt zu werden, die am Beginn eines religiösen Lebens stehen muß und den Menschen den Gegensatz zu der Absurdität, der Lasterhaftigkeit und der liebefernen drückenden Atmosphäre ihres bisherigen Daseins zu verdeutlichen hat«.4) 

Dieser Prozeß der Selbsterforschung und Einsicht wird an einigen Episoden mit großer Kraft gezeigt (etwa in der Erzählung vom Leben des bolschewist­ischen Funktionärs Walentin Chramow, dem vor seinem Tod die Begräbniskerzen der von ihm in den zwanziger Jahren erschossenen Bauern erscheinen, oder gar in einem — anfechtbaren, aber durchaus interessanten — »Apokryph« über Josef Stalin).

Der Roman zeigt den Prozeß der inneren Umgestaltung seiner Helden nicht in seinem Verlauf; Leser, die an die feingesponnenen psychologischen Herleitungen, die detaillierte Nachzeichnung seelischer Vorgänge in modernen Romanen gewöhnt sind, werden möglicherweise enttäuscht sein. Von Episoden und Szenen, die thematisch mit den Hauptfiguren Maria und Boris überhaupt nicht verbunden sind und die das Finale nicht auf der Ebene der Psychologie und der äußeren Handlung, sondern auf der Bedeutungsebene vorbereiten, indem sie die Grundidee in die Tiefe statt in die Breite verfolgen, geht der Autor unvermittelt über zu der inneren »Gesundung« der Helden und ihrer Entlassung aus der Quarantäne. Das hat jedoch seine Logik und künstlerische Legitimität, denn die Wiedergeburt der Helden ist nicht mit Psychologie zu fassen, sondern liegt auf einer anderen, viel tieferen Ebene. 

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Nicht die Psyche der Helden verändert sich, sondern der Blick, mit dem sie sich selbst und die Welt betrachten; das ist keine langsame Reifung und Evolution, sondern ein plötzlicher Übergang von der Verblendung zum Sehenkönnen, von gefesseltem zagen Dahindämmern zu freier Bewegung und hellem Licht. »Die durchsichtige, aber undurchdringliche Wand zwischen ihnen, die sie bisher zu Verständnislosigkeit und Stummheit verdammt hatte, war geschmolzen. Der eine war zum Teil des anderen geworden und war allein undenkbar« (S. 282), und an die Stelle von Feindschaft und Groll tritt innige Empfindsamkeit, begeistertes Staunen und die Liebe.

Nachdem seine beiden Romane durch den Samisdat in den Westen gelangt und dort veröffentlicht worden waren, wurde Maximow aus dem Schriftsteller­verband ausgeschlossen (26. Juni 1973) und bald darauf zur Emigration aus der Sowjetunion gezwungen. Man muß hinzufügen, daß die Herrschenden bis dahin Maximow gegenüber lange Zeit ungewöhnliche Toleranz bewiesen hatten; das dürfte dadurch zu erklären sein, daß Maximow ein Schriftsteller aus der Arbeiterklasse ist — kein »verfaulter Intelligenzler«, sondern einer, der mitten aus dem einfachen Volk stammt. Seine früher in der Sowjetunion veröffentlichten Erzählungen zeichnen sich durch eine für sowjetische Verhältnisse ungewöhnliche Thematik und Machart aus. Seine Heldeh — Ausgestoßene, Lagerflüchtlinge, Diebe —, die realistischen Schilderungen des beschwerlichen Alltags der einfachen Leute, die Kühnheit mancher Äußerungen — all das war ganz ungewohnt. All das wurde auch keinem anderen Schriftsteller gestattet. Und selbst als Maximow es endlich für richtig hielt, mit lauter Stimme zu reden, als sein erster Roman »Die sieben Tage der Schöpfung« schon im Samisdat zirkulierte, konnte man sich dennoch lange Zeit nicht zu Repressionen entschließen.

Gleich nach der Beendigung des Romans »Quarantäne«, noch in Rußland, machte sich Maximow an einen neuen Roman mit dem Titel »Proschtschanije is niotkuda« (dt. Abschied von Nirgendwo); diese Arbeit ist noch nicht beendet, denn die im Westen erschienenen ersten vier Teile des Romans bilden nach Maximows Plan nur den Anfang eines größeren Ganzen. »Abschied von Nirgendwo« ist ein autobiografischer Roman. Der Autor läßt uns an der wahrhaft beeindruckenden Überfülle seiner Erlebnisse und Erfahrungen teilhaben. Kindheit in Sokolniki, Krieg, Tod des Vaters, Flucht von zu Hause und Herumstreunen, Kinderheime, Irrenanstalt, Sibirien und hoher Norden, Menschen, die der Drang nach Abenteuer und nach »schnellem Geld« dorthin getrieben hat, Arbeit im Ziegelwerk am Kuban, Kulturarbeit in einem Sowchos, das Leben in den Redaktionen der Provinzzeitungen, ein ganzer Reigen der verschiedensten Menschen, Schicksale, die Bände sprechen, Geschichten, die einen nicht mehr loslassen — all das zieht vor dem Leser vorbei, ein farbenprächtiges Gemälde des heutigen Rußland.

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Woinowitsch 

Es ist in der Literatur schon oft vorgekommen, daß ein Schriftsteller sich mit ganz bescheidenen Absichten an den Schreibtisch setzte, um irgendein Buch mit dem Titel »Don Quijote« oder »Buddenbrooks« zu schreiben, und überhaupt nicht ahnte, zu welchen Gipfeln ihn seine ihm selbst noch gar nicht bewußte Begabung ganz unerwartet emportragen würde. So hat auch Wladimir Woinowitsch, als er seinem Buch vorsichtshalber den bescheidenen Untertitel »anekdotischer Roman« gab, ganz offensichtlich selber nicht geahnt, welch dauerhaftes Monument er sich damit errichten werde.

Woinowitsch zeigt uns in seinem Roman »Shisn i neobytschajnyje prikljutschenija soldata Iwana Tschonkina« (dt. Die denkwürdigen Abenteuer des Soldaten Iwan Tschonkin) das heutige russische Volk, das Volk in seiner unmittelbarsten Bedeutung: die, welche mit der Erde und von der Erde leben, die russischen Bauern, die Volksmassen, das Urelement Volk. Hier, im »Tschonkin«, sehen wir den russischen Menschen, wie er leibt und lebt, hier zeigt er sein Wesen, sein »wahres Gesicht«, hier spüren wir den Geist des Volkes selbst, doch vermittelt wird er uns nicht durch abgelauschten Volksmund, nicht durch abgeschaute Genrebildchen und Detailrealismus, sondern durch etwas, das sich mit Worten gar nicht ausdrücken läßt, durch ein ganz bestimmtes Aroma, das über das Buch gebreitet, eine bestimmte Beleuchtung, in die es getaucht ist — wir wollen es in Ermangelung einer besseren Definition als die Macht der Intuition des Autors bezeichnen, als das Maß seiner Fähigkeit, in das Wesen des Volkes einzutauchen.

Welche Höhe Woinowitsch mit seinem »Tschonkin« zu erreichen vermochte, kann man auch sehen, wenn man diesen Roman mit seiner später entstandenen Erzählung »Putjom wsaimnoj perepiski« (dt. Brieffreundschaften)6 vergleicht, die schon nicht mehr zum Druck zugelassen wurde und im Samisdat zirkulierte. In dieser bemerkenswerten Erzählung schildert Wojnowitsch uns ebenfalls das Leben des Dorfes, des einfachen Volkes, mit dem er ausgezeichnet vertraut ist. 

  wikipedia  Wladimir_Nikolajewitsch_Woinowitsch 1932-2018

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Er schildert es mit schonungslosem Realismus, aufgelockert durch ein paar groteske Girlanden, ohne dabei übrigens das Gefühl für Maß zu verlieren. Doch bei der Lektüre dieser Erzählung erfaßt uns ein Grauen, solche Finsternis tut sich vor uns auf, wenn wir das Volk, wie es heute ist, näher kennenlernen. Der massenhafte Terror und die billige Lügenpropaganda, die ihre Losungen von Fall zu Fall wechselt, die Lager, der Hunger, die gewissenlose Demagogie, die die Ungerechtigkeit mit schwülstigen Phrasen zudeckt, die jahrzehntelange grausame Diktatur sind nicht ohne Wirkung geblieben, und die Resultate sehen wir heute vor uns: bittere Armut, Unwissenheit, gegenseitiges Mißtrauen, Argwohn und Feindschaft, innere Verwüstung und den totalen Verlust allen Glaubens, aller Ideale, allen moralischen Halts, aller kulturellen Tradition.

Zuweilen empfindet man Mitleid — mal mit den Helden der Erzählung, dem Untersergeanten Iwan Altynnik (der durch Brieffreundschaften Mädchen zu angenehmem Zeitvertreib kennenlernen will, aber plötzlich in die Falle gerät, aus der er erst in den Fesseln der Ehe wieder herauskommt), mal mit der Heldin, der Dorfsanitäterin Ljudmila, die alle möglichen Anstrengungen unternehmen muß, um sich einen Mann zu angeln. Leid tut es uns um diese unglücklichen, unwissenden Menschen (erstaunlich eindringlich gibt Woinowitsch die Ignoranz, das Chaos und die Abstrusität ihres hoffnungslos zurückgebliebenen Bewußtseins wieder — in ihren Monologen, wo Nützliches und Nutzloses, Wichtiges und Nebensächliches, Wahres und Sinnloses, alles unterschiedslos und unbesehen, so wie es ist, herausrinnt in einem endlosen, trüben Strom). Doch als Fazit bleibt dem Leser der bedrückende Eindruck bitterer Hoffnungslosigkeit — wie furchtbar hat man die Seele des Volkes verunstaltet, welcher Grad der inneren Verwilderung ist erreicht!

Eine ganz andere Atmosphäre umgibt uns im »Tschonkin«. Es ist falsch, diesen Roman als Satire zu bezeichnen, wie das viele Kritiker getan haben, oder gar als eine Satire auf das russische Volk, eine Beschuldigung, die man im Schriftstellerverband schnell bei der Hand hatte. Das ist ebenso falsch, wie wenn man die »Toten Seelen« von Gogol als Satire bezeichnen wollte. Die treibende Emotion in der Satire ist böse Wut, die Satire ist erfüllt von Ablehnung, polemischer Kampflust, die Satire zeigt uns den behandelten Gegenstand als abstoßend und läßt ihm keine andere Farbe als die schwarze. Anders im »Tschonkin«. 

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Hier herrscht nicht das hämische und vernichtende Gelächter, auch kein unbekümmertes und spöttisches, sondern das Gogolsche »Lachen durch Tränen hindurch«; viel Trauer ist in diesem Lachen neben der Fröhlichkeit, viel Verwunderung, ja Begeisterung neben der Empörung und viel Liebe neben dem Haß. Oder vielmehr kein Haß, sondern Verurteilung, denn die kluge, abgeklärte Ruhe dieses Buches, seine wissende helle Güte und seine gereifte Nachsicht sind unvereinbar mit Haß. In den »Brieffreundschaften« herrscht der lieblose, düstere und kalte Blick des objektiven Beobachters; im »Tschonkin« ist es kein Blick, sondern ein Eindringen, kein Schauen, sondern ein Durchschauen, das jedoch nur im Mitfühlen und in der Liebe gelingen will.

Komik ist gewöhnlich das Ergebnis einer Abweichung von der Norm zum Absurden hin, wobei als Norm der gesunde Menschenverstand und die reale Wirklichkeit gelten. Im »Tschonkin« dagegen ist die Komik von ganz anderer Art. Deshalb übrigens erscheint uns die Parallele zwischen dem »Soldaten Tschonkin« und dem »Braven Soldaten Schwejk« so oberflächlich — deren ganze Ähnlichkeit erschöpft sich unseres Erachtens in dem Gleichklang der Titel. 

Im »Tschonkin« korreliert die Absurdität, die die Komik hervorbringt, nicht mit der Realität als Norm, sondern mit der Absurdität dieser Realität selbst: Das Absurde ist die Norm. Die unwahrscheinliche, unnatürliche (oder besser widernatürliche) sowjetische Wirklichkeit macht das absurde Verhalten zur einzig möglichen Verhaltensnorm. 

Schwejk, der Schlaukopf, der sich simpel stellt, tritt die Flucht in die Absurdität an, um den Spielregeln, um der normalen Realität zu entkommen. Tschonkin, der Simpel, der in seiner Einfalt nicht einmal versucht, sich schlau zu stellen, antwortet auf die absurde Realität mit normalem Verhalten, was sich nun aber in einer Welt, wo die Absurdität die Norm ist, als Verletzung der Spielregeln erweist. 

Wäre Schwejk an Tschonkins Stelle mitten in der Steppe neben dem abgestürzten Flugzeug als Posten zurückgelassen und dann von allen vergessen worden, hätte er schnell begriffen, was zu tun sei, und auf jeden Fall beim Auftauchen der Strafabteilung des KGB sofort die Flucht ergriffen, statt wie Tschonkin bis zur letzten Patrone zurückzuschießen, getreu seinem Fahneneid und seiner Dienstvorschrift. Schwejk ist eine autonome Figur, die jederzeit aus ihrer Umgebung in eine andere versetzt werden kann. Zudem ist Schwejk ein Zentrum, das selbst eine Handlung konstituiert. 

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Tschonkin dagegen ist untrennbarer Bestandteil eines einzigen unteilbaren Darstellungsganzen, eines einzigen Kraftfelds, mit gleicher Spannung und gleicher Verteilung, das kein Zentrum besitzt, er ist nur in diesem bestimmten Kontext denkbar. Er ist eine typisch russische Erscheinung, sein direktes Vorbild ist der Dummkopf Iwanuschka. Im russischen Märchen verkörpert diese Gestalt den Glauben daran, daß Schlichtheit und Geradsinn zu guter Letzt über Bosheit, List und alle schlau gesponnenen Ränke siegen werden. Bei Wojnowitsch erweist sich Tschonkins Schlichtheit und Geradheit als Stärke, die die sowjetische Absurdität besiegt. 

Das widernatürliche System des Absurden ist auf einmal machtlos vor der naiven Natürlichkeit und Schlichtheit — so wie der allmächtige Kapitän der Geheimpolizei Miljaga vor einer einfachen und scheinbar unbedeutenden Tatsache all seine Macht verliert: Der Alte, den er verhört und geprügelt hat und den er ins KZ abtransportieren lassen will, heißt, wie sich herausstellt, mit Nachnamen Stalin. Wenn man erfährt, daß der Kapitän Stalin verhaftet und verprügelt hat, auch wenn es nur ein Namensvetter war, ist ihm die Erschießung sicher. Das Absurde, das plötzlich auf die unvorhergesehene und unbotmäßige Geradheit eines Faktums stößt, wird zur doppelten Absurdität, und der furchterregende Kapitän Miljaga muß sich schmeichelnd und bittend vor dem armseligen Alten erniedrigen. 

Doch Geradheit und Offenheit kommen unter der Herrschaft der grausamen und düsteren Absurdität entweder nur heroischen und außergewöhnlichen Persönlichkeiten zu oder einer kindlich reinen und klaren Seele wie Tschonkin — also wiederum einer außergewöhnlichen Persönlichkeit. Tschonkin ist wie der Dummkopf Iwanuschka aus dem Märchen eher eine Verkörperung dieser Reinheit und Klarheit, die sich noch im russischen Volk erhalten hat, als eine reale Figur. 

Den wirklichen russischen Menschen aber, gewitzt und praktisch veranlagt, drängt es durchaus nicht, wider den Stachel zu locken und seinen Kopf zu riskieren, er zieht sich — in Übereinstimmung mit russischen Sprichwörtern wie »Nur Raben fliegen geradeaus«, »Du kannst nicht mit dem Kopf durch die Wand« etc. — lieber aus der Affäre, schlägt Haken, geht krumme Wege und antwortet auf die Absurdität des Lebens mit nicht minder absurdem Verhalten — selbst wenn dazu keine Notwendigkeit besteht, einfach aus dem Wunsch, »sich zu beweisen«, zu phantasieren, auf diese sinnlose und einzig mögliche Weise seine persönliche Freiheit und Unabhängigkeit zu demonstrieren. 

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Der wirkliche Held des Romans ist daher nicht Tschonkin — sondern es sind der Witzbold Pletschewoj, der Kolchosvorsitzende Golubew, der allseits Sympathie und gutmütiges Gelächter hervorruft, und die vielen, vielen Nebenfiguren des Romans, aus denen sich vor unseren Augen allmählich das lebendige Bild des heutigen Rußland zusammenfügt.

Man muß dazu sagen, daß das Absurde und Absonderliche als charakteristische Züge des russischen Menschen von heute nur die zum Extrem des Sowjet­absurdismus gesteigerte uralte Irrationalität der russischen Seele darstellt. Kljutschewskij, der geniale Erforscher Rußlands, findet diese Irrationalität und Seltsamkeit schon an den Quellen der großrussischen Nation, bei der Entstehung der nordöstlichen russischen Fürstentümer — nur daß damals diese Irrationalität nicht die Antwort auf die Grausamkeit der Macht, sondern auf die Grausamkeit der Natur war. 

»Der umsichtige Großrusse liebt es zuweilen, Hals über Kopf die alleraussichtslosesten und unvernünftigsten Entscheidungen zu fällen, den Launen der Natur den eigenen Übermut entgegenstellend. Diese Neigung, das Glück zu versuchen, auf Gewinn zu spielen, ist jenes großrussische <Mal sehen, ob ...>(...) Die Natur und das Schicksal haben den Großrussen gelehrt, wie man den geraden Weg auf Umwegen geht. Der Großrusse denkt und handelt so, wie er geht. Kann man sich etwas Schieferes und Verschlungeneres vorstellen als ein russisches Dorf? Wie eine Schlange ist es, die sich dahinwindet. Versucht man aber, sich ein wenig mehr geradeaus zu halten, gerät man nur in die Irre und kommt schließlich doch wieder auf den krummen Pfad heraus.«7)

Bei Maximow ist es so, daß er, indem er das einfache Arbeitsvolk darstellt, sich mit dem dargestellten Objekt identifiziert, er zeigt die Menschen in ihrem Inneren, als ihm Ebenbürtige, die über ihre eigene Individualität und ihr eigenes Innenleben verfügen. Anders Wojnowitsch: Obgleich (oder gerade weil) er so tief in das Wesen seines Objekts einzudringen vermag, kann er sich nicht mit ihm identifizieren, da ein so weitgehendes Verständnis, wie wir es im »Tschonkin« finden, nur möglich ist als Blick von außen auf das bewußtlose, naturhafte, bodenständige Leben des Volkes. 

Das Leben des Volkes ist das Urelement, es ist gleichsam eine Art Naturphänomen, und gerade in der Bewußtlosigkeit, Unmittelbarkeit und Naturhaftigkeit liegt sein Reiz. Woinowitsch beschreibt großartig die bewußtlosen anarchischen Lebensäußerungen dieses Elements, die manchmal monströs, manchmal zum Lachen sind. Das Volk lieben heißt nicht es idealisieren. Furchtlos und gerade der Wahrheit ins Auge zu blicken ist viel schwieriger, als dem Volk zu schmeicheln und es zu täuschen.

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Für seinen Mut und seine Aufrichtigkeit wurde Woinowitsch aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen (20. Februar 1974). Zu der Versammlung des Sekretariats des Verbandes, auf der die Frage seines Ausschlusses entschieden werden sollte, erschien er nicht. In einem Offenen Brief an das Sekretariat schrieb er: 

»Ich komme nicht zu eurer Versammlung, weil sie hinter verschlossenen Türen und vor der Öffentlichkeit verborgen abgehalten werden wird (...) Wir haben über nichts zu reden, über nichts zu debattieren, denn ich äußere meine eigene Meinung, und ihr sagt nur, was man euch befiehlt (...) Ich verlasse bereitwillig eine Organisation, die sich aus einem Verband von Schriftstellern in einen Verband von Beamten verwandelt hat, wo Zirkulare, die in Form von Romanen, Dramen und Poemen abgefaßt sind, für Musterbeispiele der Literatur ausgegeben werden und wo man ihre literarische Qualität nach der Stellung beurteilt, die ihr Autor einnimmt. 

Verteidiger des Vaterlands, Patrioten! Kommt das Vaterland euer Patriotismus nicht reichlich teuer zu stehen? Einige von euch bekommen doch für ihre grauen und langweiligen Werke so viel, wie der von euch besungene Landmann nie im Leben verdienen wird (...) Ich bin bereit, mit euch ein Streitgespräch zu führen: auf einer offenen Versammlung von Schriftstellern oder wenn ihr wollt auch von Arbeitern, in deren Namen ihr mich angreift. 

Im Unterschied zu den meisten von euch war ich selber Arbeiter. Mit vierzehn Jahren begann mein Arbeitsleben, als ich die Kälber des Kolchos hüten mußte. Ich habe die Erde gepflügt, auf dem Bau Mörtel gemischt, in der Fabrik an der Werkbank gestanden. Vier Jahre habe ich als einfacher Soldat in der Sowjetarmee gedient (...)«8)

1975 lud man Woinowitsch zweimal (am 4. und am 11. Mai) zu einem »Gespräch« beim KGB vor. Während der zweiten Unterredung drohte man ihm mit seinem »plötzlichen Tod«, und er kehrte mit einer schweren Vergiftung nach Hause zurück (er stand unter der Einwirkung eines Gases). Doch den Schriftsteller konnte das nicht schrecken und zerbrechen. »Mord — das ist auch eine beachtliche Wertschätzung der Arbeit des Schriftstellers«, schrieb er in einem Brief an das KGB. »Ich fürchte die Drohungen nicht — mich wird der Soldat Tschonkin rächen.« Diese Episode ist mit glänzendem Humor in der Skizze »Proisschestwije w Metropole. Byl, pochoshaja na detektiw« (Ein Vorfall im Metropol. Eine wahre Geschichte, die wie ein Krimi aussieht; »Kontinent« Nr. 5) von Woinowitsch geschildert.

Jede Art von Bedrückung, Verfolgung und Provokation seitens der Staatsmacht begann für den Schriftsteller zum Alltag zu gehören. Eine besonders üble Provokation beging die Miliz im Februar 1978: Den Eltern Woinowitschs, die in Ordshonikidse im Gebiet Dnepropetrowsk lebten, wurde mitgeteilt, ihr Sohn sei ermordet worden; daraufhin starb seine Mutter. Als der Vater vom Tode seiner Frau erfuhr, erlitt er von der Erschütterung in der Metro einen Herzanfall, der auch seinem Leben ein Ende setzte. 

Als die Lebensumstände für Woinowitsch vollends unerträglich wurden, entschloß er sich endlich, die UdSSR zu verlassen, und reichte den Antrag auf Ausreiseerlaubnis ein. Erwähnenswert ist auch Woinowitschs dokumentarische Erzählung »Iwankiada« (dt. Iwankiade), die einen typischen Repräsentanten der herrschenden »neuen Klasse« der Sowjetunion sehr plastisch und mit ätzendem Sarkasmus meisterlich schildert.

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Juri Malzew 1981