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4  Sinjawskij und Daniel

Juri Malzew 1981

 

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Der Prozeß gegen die beiden Schriftsteller Andrej Sinjawskij und Julij Daniel, der vom 10. bis 14. Februar 1966 in Moskau stattfand und in dem das Urteil auf fünf bzw. sieben Jahre Konzentrationslager strengen Regimes lautete, wurde zu einer großen Niederlage für seine Anstifter. 

Dieser beispiellose Prozeß (»Strafrechtlich«, sagte Sinjawskij in seinem Schlußwort, »wurde man bisher für künstlerische Arbeiten nicht verfolgt«),1) in dem die beiden Schriftsteller wegen »Herstellung« von Büchern (wie es im Urteil hieß) und deren Veröffentlichung im Ausland unter den Pseudonymen Abram Terz und Nikolaj Arshak verurteilt wurden; in dem man sie beschuldigte, sie hätten versucht, »die Leitsätze des Marxismus zu revidieren«, sie seien »gegen die führende Rolle der KPdSU in der sowjetischen Kultur aufgetreten«, sie hätten den Kommunismus als »neue Religion« bezeichnet, in der sowjetischen Gesellschaft eine »Vergewaltigung der Persönlichkeit« ausgemacht und »alle Errungenschaften der sowjetischen Literatur negiert«; ja in dem ihnen sogar ein so phantastisches Verbrechen wie »Verleumdung der zukünftigen Menschheit« zur Last gelegt wurde2) — dieser Prozeß hatte zum Ziel, die oppositionelle Intelligenz einzuschüchtern und den Schriftstellern zu zeigen, was sie für den Fall erwartete, daß sie es wagen sollten, staatsabträgliche Bücher »herzustellen«. 

Doch er führte zum genau entgegengesetzten Ergebnis: Eine beispiellose Woge der Empörung erhob sich in der Sowjetunion ebenso wie im Ausland (die sowjetische Regierung wurde mit Protestbriefen nur so überschüttet); und die Opposition in der Sowjetunion, bis dahin amorph, formierte sich zur »Demokratischen Bewegung zur Verteidigung der Menschenrechte in der Sowjetunion«.

In den folgenden Jahren verzichteten die Staatsorgane lieber darauf, derartige Prozesse zu inszenieren, und mißliebige Schriftsteller wurden entweder in die Heilanstalt eingewiesen oder unter irgendeinem Vorwand verhaftet (zum Beispiel wegen Verletzung des Paßgesetzes, wie Anatolij Martschenko), oder zur Emigration gezwungen, wie Alexander Solschenizyn, Wladimir Maximow, Alexander Galitsch, Naum Korshawin, Viktor Nekrassow, Jewgenij Kuschew und Sinjawskij selbst, nachdem er seine Zeit im Lager abgesessen hatte.

 *  wikipedia   Andrei Sinjawski  1925-1997      wikipedia    Juli Daniel  1925-1988


Andrej Sinjawskij (Abram Terz) ist unbestritten einer der bedeutendsten lebenden russischen Schriftsteller. Mit seinem feinen Stilempfinden, der souveränen Beherrschung einer breiten Palette sprachlicher Mittel, in der Klarheit seiner Gestalten und der Originalität und Tiefe seines Denkens nimmt er einen ganz eigenen Platz in der heutigen russischen Literatur ein. »Terz ist eine so wichtige Erscheinung«, schrieb Mihajlo Mihajlov, »daß sich seine Bedeutung nur mit jener vergleichen läßt, die Franz Kafka für die europäische Literatur der Jahrhundertmitte besaß.«3) 

Das stimmt so nicht ganz, denn vor Terz gab es in der russischen Literatur Alexej Remisow, Andrej Belyj und Jewgenij Samjatin, doch wenn man daran denkt, daß die russische Literatur mehrere Jahrzehnte lang keine Existenz besaß und dann gleichsam wieder ganz von vorn, vom Nullpunkt anfangen mußte, wird man Mihajlovs Behauptung den wahren Kern nicht absprechen können.

Schon in den ersten kurzen Erzählungen spürt der Leser die für Sinjawskij kennzeichnende Atmosphäre, ein intellektuelles Spannungsfeld. Solche scheinbar unbedeutenden Themen wie das Leben in der Gemeinschaftswohnung (»Kwartiranty«; dt. Die Mieter), die Qualen eines talent- und glücklosen sowjetischen Schriftstellers (»Grafomany«; dt. Die Graphomanen) oder das Verlangen nach sorglosem Wohlstand, das einen einfachen jungen Mann zum Dieb werden läßt (»W zirke«; dt. Im Zirkus) — Stoffe, die allenfalls für ein anspruchsloses Genrebildchen tauglich scheinen, gewinnen bei Sinjawskij plötzlich metaphysische Tiefe.

»Von irgendwelchen nichtssagenden >Tatsachen< ausgehend, zeichnet die Kunst — mit der Kraft der entflammten Phantasie — eine zweite Welt, in der sich die Ereignisse in beschleunigtem Tempo und in nackter Form abspielen. Der Künstler muß das Leben eifersüchtig lieben, das heißt, dem vor ihm liegenden Bild nicht glauben und, indem er es zurückdrängt, hinter den Menschen und hinter der Natur irgend etwas vermuten, dessen niemand anderes sie zu verdächtigen wagt.«4)  

Das heißt, der Schriftsteller muß, laut Sinjawskij, Möglichkeiten verwirklichen, die, tief im Innern angelegt, im Leben nicht verwirklicht worden sind, er muß eine andere Wirklichkeit gestalten, die sich von der sichtbaren unterscheidet. Und so füllt sich die Mehrfamilienwohnung mit dunklen seltsamen Mächten, versteckt hinter den gewöhnlichen Streitereien in der Gemeinschaftsküche (»Die Mieter«); 

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so erweist sich, daß die Graphomanie nicht nur jenen glücklosen Schriftsteller, sondern in gewisser Hinsicht alles menschliche Schaffen, ja überhaupt jede Lebensäußerung kennzeichnet:

»Plötzlich hatte ich das Gefühl, als ginge ich nicht selbst durch die Straßen, sondern als führte mich irgendeine Hand, wie man einen Bleistift führt. Meine Schritte waren wie eine kleine, ungleichmäßige Handschrift, ich eilte mit ganzer Kraft hinter der Bewegung der Hand her, die diese menschenleeren Straßen, diese Häuser, in denen hier und dort noch Licht brannte, mich selbst und mein langes, lange erfolgloses Leben gemacht und auf den Asphalt geschrieben hatte. Da (...) schielte ich zu dem dunklen Himmel hinauf, der tief über meiner Stirn hing. Dann rief ich leise, aber deutlich dort hinauf: >Ach, du alter Graphomane! Hör doch auf! Alles, was du schreibst, ist keinen roten Heller wert. Du hast kein Talent. Dich kann man nicht lesen ...« (»Die Graphomanen«)5)

Der Zirkus und die Welt der Diebe erstehen in solch ungewöhnlicher Beleuchtung (»Im Zirkus«), daß man glauben könnte, es sei »heute fast alles, was vom Märchen übriggeblieben ist, nur noch im Zirkus zu finden. Magier - Zauber­künstler - Dieb: die Evolution einer Gestalt«6, »ähnlich wie das Zauberkunststück oder der Zirkustrick, in denen die fehlende magische Kraft durch Schein und Fingerfertigkeit ersetzt wird, vom Wunder abgeleitet werden können«7. Der Zirkus und sogar die Taschendieberei (als Zauberkunststück) besitzen am Ende mehr Wirklichkeit als das normale Leben, sind näher an dessen Quellen, die sonst von der grauen Alltagsöde getrübt sind.

Welch ein Rätsel und welch ein Zauber die Welt ist, tritt vielleicht am deutlichsten in der Erzählung »Ty i ja« (dt. Du und ich) hervor; sie ist am schwersten zu entschlüsseln oder besser gesagt: Sie verliert bei der Entschlüsselung am meisten, denn verstandesmäßig in exakten Termini über die Beziehung zwischen Ich und Nicht-Ich, über die Abhängigkeit des Ich von äußeren Kräften (seien das die Kräfte der allmächtigen Geheimpolizei oder die Kräfte des Schöpfers) zu sprechen, heißt die Bedeutung der Erzählung verarmen und demnach zu entstellen. Schon in diesen kleinen Erzählungen verwirklichte Sinjawskij sein Prinzip: »Wenn wir uns vornehmen, über alltägliche Dinge zu schreiben, dann müssen sie in einer übernatürlichen Beleuchtung auferstehen.«8

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Weitaus klarer und umfassender sichtbar werden Sinjawskijs ästhetische und weltanschauliche Positionen in seiner Erzählung »Gololediza« (dt. Glatteis). Der phantastische Grundgedanke — der Held besitzt die ungewöhnliche Fähigkeit, in die Zukunft und in die ferne Vergangenheit zu schauen; er vermag hinter jedem einzelnen Menschen die lange Reihe seiner Ahnen, all seine Vergegenständlichungen und Verwandlungen zu sehen — ermöglicht es Sinjawskij, sein Lebensgefühl anschaulich zu verdeutlichen.  

Die menschliche Persönlichkeit und ebenso die gesamte Wirklichkeit, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, ist ephemer, trügerisch, ist bloß unwesentliche Hülle — unsere »Ichs« sind nichts als Grimassen des ewigen Seins, zitternde, kurzlebige Seifenblasen. Diese Gedanken finden wir bei Sinjawskij auch offen ausgesprochen: »Du bist bloße Form. Der Inhalt — der gehört dir nicht, das bist nicht du. Vergiß nicht: du bist bloße Form!«9 — »Du bist nicht da. Verstehst du, du bist nicht da!«10 — »Ich habe ein Gefühl, das dem solipsistischen Prinzip, demzufolge alles mich Umgebende weniger überzeugend ist als ich selbst, genau entgegengesetzt ist. Es fällt mir leichter anzunehmen, daß es mich nicht gibt und daß das Leben auf vollen Touren weiterläuft.«11 — »Eigentlich interessiert mich mein >Ich< gar nicht. Bloß ein Versuchskaninchen. Die im Blut, die im Kopf wandernden Gesetze und Ideen einfangen.«12 — »Die Grenzen des Menschen verschwimmen in der Berührung des Unendlichen. Überwinden der biografischen Methode und des Genres.«13 

Das ist für Sinjawskij auch der Grund dafür, daß in der modernen Literatur der Charakter (der vielbeschworene »typische Charakter in typischen Verhältnissen«) verschwindet und immer mehr vom Zustand ersetzt wird. »Was ist der Charakter in der künstlerischen Prosa, die im zwanzigsten Jahrhundert die deutliche Tendenz hat, aus dem Charakter-Roman in den Zustands-Roman überzugehen? Ist er eine festgelegte Figur, ein Gegenstück etwa zu den personifizierten Lastern und Tugenden, der Allegorie und ähnlichen Erscheinungen des Klassizismus? Bereits bei Tolstoj tritt der Charakter nicht mehr in den scharf umrissenen Grenzen eines Typus auf, die eine Person zum Gattungsnamen und zur Erkennungsmarke eines Standes, einer Geisteshaltung machten, wie etwa Petschorin oder Basarow.«14 — »Ich weiß nicht, was Charakter ist. Und in mir finde ich nicht eigentlich mich, sondern den Vater, die Mutter, dich, Egor, Puschkin, Gogol. Viele Menschen. Sie schieben sich vor die Wahrnehmungen, beteiligen sich am Schicksal (...)«15 

Und unisono mit Sinjawskij sagt der Held der Erzählung »Glatteis«: 

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»Die Luft kommt uns leer und durchsichtig vor, und die Menschen, die sich in der Luft bewegen, wirken sehr fest und kompakt. Diese gleichmäßige Dichte und diese festumrissene Silhouette übertragen wir fälschlich auf die innere Welt des Menschen und sprechen dann von <Charakter> oder von <Seele>. Aber in Wirklichkeit gibt es diese Seele gar nicht, sie ist nichts weiter als ein Loch in der Luft, und durch dieses Luftloch fegt ein nervöser Wirbelwind von psychischen Zuständen, die sich von Fall zu Fall und von Epoche zu Epoche ändern.«16)

Sinjawskijs Anschauung hat dabei jedoch nichts mit der augenblicklich aktuellen Tendenz der modernen Psychologie zu tun, das ganze Innenleben des Menschen auf überpersönliche, entindividualisierte psychische Zustände zu reduzieren. Sinjawski demontiert den Charakter nicht, um den Menschen zu erniedrigen, sondern um ihn im Gegenteil zu erhöhen, in seiner Tiefe etwas Größeres zu entdecken als das bloße Spiel der Emotionen und psychischen Zustände. So wie sich unter der äußerlich sichtbaren Hülle der Alltagsnormalität eine bedeutsamere Wirklichkeit verbirgt, so verbirgt sich hinter der empirischen Person des Menschen seine helle, schöne, unirdische, transzendente Seele. Der Held der Erzählung »Glatteis« sagt: »Wenn wir in den Spiegel schauen, hören wir nicht auf, uns zu wundern: So ein scheußliches Spiegelbild! Bin ich das wirklich? Nein, ausgeschlossen.«17) 

Die Diskrepanz zwischen der Schönheit und Bedeutsamkeit, die sich uns in unserem Inneren eröffnet, und unserer unvollkommenen Hülle macht uns betroffen. Natürlich ist diese innere Seele nicht bei allen gleichermaßen erweckt und sichtbar gemacht. 

»Vielleicht besteht das Leben im Heranbilden der Seele (...) Genauer gesagt, wächst die Seele nicht, entwickelt sich nicht, sondern hält sich im geheimen in dir auf, während du so weit heranreifst, daß du mit ihr in einen mehr oder weniger engen Kontakt trittst (...) Bei den Menschen gibt es wohl kaum schlechte Seelen. Die allerschlimmsten Tunichtgute sind davon überzeugt, daß sie >im Innersten ihrer Seele< gut sind. Und von einem ganz schlechten Menschen sagt man, daß er >keine Seele< habe. In der Tat bleibt die Seele vielleicht noch in ihm, aber sie verbirgt sich so tief, daß sie mit ihm keine Berührung mehr hat.«18) 

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Hier liegen auch die Wurzeln für Sinjawskijs Abwehr gegen »den Schmutz und die Gemeinheit, in denen die Menschen ihr Leben führen«, für seinen verächtlichen Widerwillen gegen den Schmutz des Sexus, die Physiologie der Paarung (was gelegentlich als übersteigertes Interesse an diesem Lebensbereich mißdeutet wurde und Anlaß zu etlichen tiefgründigen Reflexionen über Sinjawskijs Verhältnis zur westlichen Moderne gegeben hat, mit Analogieschlüssen einzig und allein aus diesem Thema). 

Die Ablehnung und der Widerwille gegen die Physiologie, gegen die Art, wie die Menschen leben, gipfelt in der Erzählung über den Besucher von einem anderen Stern, der unter unseren Existenzbedingungen leidet (»Pchenz«). Man muß allerdings sagen, daß es Sinjawskij zwar gelungen ist, die Realität zu dematerialisieren, zu zeigen, wie kurzlebig, häßlich und nichtswürdig sie ist, daß er sich bislang jedoch als außerstande erwies, die innere Seele, die verborgene Schönheit der Welt und des Menschen sichtbar zu machen. Aus Sinjawskijs Werken weht uns Trauer und Hoffnungslosigkeit an. Und es spricht mitleidlose Härte aus ihnen. Seine Furcht vor dem Pathos, seine schamhafte Verschlossenheit, eine Gehemmtheit, die hinter einer manchmal an Zynismus grenzenden Ironie Zuflucht sucht, machen die phantastische Welt seiner Bücher düster, tragisch, freudlos. 

Und als Sinjawskij seine Tagebuchaufzeichnungen veröffentlichte — »Mysle wrasploch« (dt. Gedanken hinter Gittern) —, waren viele, in Rußland wie im Westen19, über den Kontrast zwischen dem Menschen Sinjawskij, dem Gläubigen, Suchenden, Emporstrebenden, und dem Schriftsteller Sinjawskij mit seiner erbarmungslosen Ironie und seinem hoffnungslosen Pessimismus betroffen. In Sinjawskijs bislang letztem Buch (von dem unten noch die Rede sein wird) wird der Ausweg aus diesem Widerspruch angedeutet.

Unter den Frühwerken des Schriftstellers nimmt die Erzählung »Sud idjot« (dt. Der Prozeß beginnt) eine Sonderstellung ein: Anders als sonst bei Sinjawskij gibt es hier eine stringent und eindeutig durchgeführte Grundkonzeption und — auch das ungewöhnlich für den Schriftsteller — eine offene politische Aussage. Daß das hohe Ziel niedrige Mittel nicht heiligt, daß überhaupt das Ziel, der Zweck eine Abstraktion ist, während wir es in der Realität einzig mit den Mitteln zu tun haben — dieser Gedanke wird mit unnachgiebiger Konsequenz durch die Erzählung hindurch verfolgt, wird durch das Prisma aller Handlungssituationen vielfältig gebrochen, schallt als Echo aus den Aktionen aller Figuren der Erzählung: Da ist der Staatsanwalt Globow, der unschuldige Menschen um der lichten Zukunft, des Kommunismus, willen erbarmungslos straft (»Lieber leiden Dutzende und selbst Hunderte von Unschuldigen, als daß ein Feind davonkommt«20); 

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der Advokat Karlinskij, der Globows schöne Frau zu erobern trachtet, um seine Angst vor dem Tod zu betäuben, um sie als Rettungsanker, als Mittel gegen Schlaflosigkeit zu benutzen; Globows Sohn Serjosha, der eine Untergrundorganisation zur Erkämpfung des wahren, unverfälschten Marxismus gründen will — wobei freilich diejenigen, welche die hehren Prinzipien dieser Organisation aus dem Auge verlieren, erschossen werden sollen; Globows Frau Marina, die ihre Schönheit zum Selbstzweck macht, die es ablehnt, Kinder zu gebären, und sich sogar in der Liebe verweigert. Sie alle werden zunichte, sehen ihre Welt zusammenbrechen: Globow verliert seinen Sohn, der sich auf der Anklagebank wiederfindet — als ein Feind jener Gesellschaft, für deren Verteidigung Globow sein ganzes Leben verausgabt hat; Karlinskij erweist sich in dem langersehnten Augenblick, da er endlich mit Marina allein ist, als impotent; Serjosha wird denunziert — von der fanatisch überzeugten Katja, seiner Freundin aus der Untergrundorganisation ; Katja wiederum verliert Serjosha, den sie liebt und den sie um politischer Hirngespinste willen verraten hat; Marina schließlich, ihrer Verehrer beraubt, verfällt und verliert ihre Schönheit.

 

Die Bedeutung der Erzählung läßt sich nicht einfach auf die Entlarvung des Stalinismus reduzieren, oder besser die Entlarvung der kommunistischen Diktatur, denn wenn der Erzähler am Schluß des Buchs ins KZ deportiert wird, liegt Stalins Tod schon drei Jahre zurück, und man schreibt 1956: das Jahr des »historischen« XX. Parteitags, auf dem der »Personenkult« verurteilt wurde; das Gericht tagt nicht nur in dem gleichen Saal, in dem der Staatsanwalt Globow seine Anklagereden hält, es ist dies auch nicht einmal das vielbeschworene »Gericht der Geschichte« über einzelne, historisch eingrenzbare Taten, sondern eine Art höchstes Gericht der Wahrheit und des Gewissens über uns alle. Abseits aller antisowjetischen Klischees zeichnet uns Sinjawskij den Staatsanwalt Globow als einen sympathischen Menschen, einen einfachen Bauernsohn, der, von ganz unten kommend, nach der Revolution auf der gesellschaftlichen Leiter hoch emporgestiegen ist und sich dabei doch die Geradheit bäuerlicher Wesensart bewahrt hat, und charakterisiert umgekehrt den antisowjetisch eingestellten Intelligenzler Karlinskij als einen feigherzigen Egoisten und Zyniker. Der der Revolution aufrichtig ergebene Globow geht ohne zu schwanken den Weg, den ihm die Logik der Revolution weist und an dessen Ende ihn die persönliche Katastrophe erwartet. Er wird im wahrsten Sinne zu einer tragischen Gestalt. 

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Ihn und seinesgleichen meinend, sagt Sinjawskij an anderer Stelle: »Wir haben uns ohne Bedauern von dem Glauben an die andere Welt befreit, von der Nächstenliebe, von der Freiheit der Persönlichkeit und von den anderen dummen Vorurteilen, die angesichts des Ideals, das vor uns steht, besonders erbärmlich wirken (...) Aber nicht nur unser Leben, unser Blut, unseren Körper haben wir dem neuen Gott gegeben. Wir haben ihm unsere schneeweiße Seele geopfert und sie mit allem Schmutz der Erde besudelt (...) Damit die Gefängnisse für immer verschwinden, haben wir neue Gefängnisse gebaut. Damit die Grenzen zwischen den Staaten fallen, haben wir uns mit einer chinesischen Mauer umgeben. Damit die Arbeit in Zukunft zur Erholung und zur Freude wird, haben wir die Zwangsarbeit eingeführt. Damit kein Tropfen Bluts mehr vergossen wird, haben wir getötet, getötet und abermals getötet.« (»Tschto takoje sozialistitscheskij realism« [dt. Was ist sozialistischer Realismus?]21

Alle Figuren des Romans sind mit lakonischem, treffsicherem Strich skizziert. Eine Ausnahme bei dieser ungewöhnlich ausdrucksstarken Zeichnung macht nur Serjosha, der Sohn des Staatsanwalts: Seine naiven Wortgefechte mit dem Vater, seine dümmlichen Betrachtungen, sein unsinniges Verhalten lassen den Eindruck entstehen, als sei dieser Typus einem jener wohlbekannten scheinheiligen Komsomolzenromane entnommen. In der sowjetischen Wirklichkeit sind solche kritischen jungen Menschen weitaus klüger, ernsthafter und tiefer, sie verrennen sich nicht in nutzlose und gefährliche Versuche, die Orthodoxen zu überzeugen, sondern sie schweigen und betrachten mit spöttischem Lächeln die Welt ringsum, zurückgezogen in den engen Kreis von Gleichgesinnten. Doch eine lebenswahrere Darstellung des jungen Mannes hätte ihn wahrscheinlich zum Haupthelden der Erzählung gemacht und die ganze Komposition einschneidend verändert. Für Sinjawskijs Zwecke war es leichter und bequemer, sich dieser Sprechpuppe zu bedienen.

Die Erzählung »Der Prozeß beginnt« demonstriert Sinjawskijs Methode des »phantastischen Realismus« in ihrer reinsten Form. Die Realität ist überall um ein Stückchen verschoben, die Proportionen sind leicht verzerrt, doch die Darstellung gewinnt dadurch nur an Ausdruckskraft und Glaubwürdigkeit. Die kraftvolle Metapher weitet sich von selbst zu einem entfalteten Bild, das Bild geht ganz natürlich in die Groteske über, und die Groteske verwandelt sich ebenso naturwüchsig in die empirische Realität, die man plötzlich als weitaus phantastischer empfindet, als es die Groteske ist.

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Realität und Groteske, miteinander wetteifernd und sich abwechselnd, geleiten uns bis zu dem phantastischen Epilog, in dem der Erzähler dafür verurteilt und ins Lager geschickt wird, daß er eben diese Erzählung geschrieben hat. Der tatsächliche Prozeß jedoch, den man Sinjawskij dann später in der Realität bereitete und der in seiner phantastischen Absurdität den grotesken Epilog in den Schatten stellte, brachte das Verhältnis zwischen Groteske und Realität wieder ins rechte Lot und lieferte einen erneuten Beweis dafür, daß es keine bessere und angemessenere Weise gibt, unsere Realität darzustellen, als — die Groteske.

Die Exaktheit der Darstellung, in der die Ausdrucksmittel in bewundernswerter Weise dem Gemeinten entsprechen, die durchsichtige Klarheit und die Feinheit der psychologischen Herleitung, die beißende Ironie lassen diese Erzählung von Sinjawskij als ein kleines Meisterstück erscheinen.

Das letzte vor der Verhaftung geschriebene Buch, »Ljubimow«, ist Sinjawskijs umfangreichstes und unbestreitbar auch sein bedeutendstes Werk. Es ist nur zum Teil richtig, »Ljubimow« als eine Parodie auf die Geschichte der Sowjetunion zu betrachten, wie es einige Kritiker getan haben: Der alte Proferansow, ein Stubengelehrter des vorigen Jahrhunderts, der einen magischen Traktat hinterläßt, wäre dann Marx; Ljonja Tichomirow, der diesen Traktat aufs gründlichste studiert und mit seiner Hilfe in der Stadt Ljubimow das Volk hypnotisiert und so die Macht ergreift, wäre Lenin; und die darauf folgende Enttäuschung der Bevölkerung, die sich allmählich aus der Hypnose zu befreien und die Dinge so zu sehen beginnt, wie sie sind, und der schließliche Zusammenbruch des Tichomirowschen Experiments wären die ganze nachrevolutionäre Geschichte der Sowjetunion. 

Obgleich vieles in dem Buch für eine solche Lesart spricht — sein Gedankenreichtum, die ungebärdig schweifende Phantasie und die Vielfalt der berührten Themen verbieten es zugleich, »Ljubimow« in den engen Rahmen einer solchen Interpretation zu pressen. »Die Brennpunkte der russischen Geschichte erfordern Wendigkeit und eine vielschichtige Darstellung«, sagt Samson Samsonowitsch Proferansow zu Sawelij Kusmitsch, der sich vorgenommen hat, die ungewöhnlichen Ereignisse, die sich in der Stadt Ljubimow zugetragen haben, zu beschreiben. »Erinnern Sie sich, bei den Ausgrabungen im Kloster wurde eine historische Schicht nach der anderen freigelegt: die Sohle stammt aus dem achtzehnten Jahrhundert, die Scherben vielleicht aus dem sechzehnten? So ist es auch hier. Man darf nicht nur auf einer Ebene graben.«

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Sinjawskijs Satire hat nichts mit der politischen Satire von Orwell oder vielen ähnlichen Werken der heutigen illegalen russischen Literatur gemein. Sinjawskij entlarvt nicht die Sowjetmacht, klagt nicht an, empört sich nicht, polemisiert nicht gegen den Marxismus, predigt keine rebellische Theorie — den Marxismus läßt er einfach liegen, als etwas Fremdes, das sein Weg gar nicht berührt, streift ihn nur hie und da im Vorbeigehen mit einer kurzen ironischen Bemerkung; ganz darauf zu verzichten ist er gleichwohl außerstande —, zu schwer fällt es, die drückende Last des Dogmas einfach zu ignorieren, das den Menschen die Hände bindet und den Atem abschnürt. Doch Sinjawskijs Denken bewegt sich auf einer anderen, einer viel tiefer liegenden Ebene. Die primitive Unverhülltheit der politischen Satire ist ihm zutiefst fremd, wie überhaupt jede karge Direktheit: »Am schlimmsten ist, wenn hinter den Worten der Inhalt hervorguckt. Die Worte dürfen nicht schreien. Die Worte müssen schweigen.«22

In seinem Schlußwort vor Gericht sagte Sinjawski: Ich bin nicht dagegen — ich bin anders.23 Dagegen sein heißt auf dem gleichen Boden stehen, in den gleichen Kategorien denken, dagegen sein heißt genauso sein, nur mit umgekehrten Vorzeichen. In »Ljubimow« stehen erstaunliche Einsichten über den Charakter des russischen Volkes; Szenen aus dem Leben des Volkes werden mit einer verblüffenden Stimmigkeit und plastischen Ausdruckskraft skizziert, die an Gogol denken läßt. Und Andrew Field hat vollkommen recht, wenn er sagt, die Bedeutung dieses Buches könne nur der ganz erfassen, der die russische Literatur und die russische Realität gut kennt.24)

In »Ljubimow« kommt Sinjawskijs außergewöhnliche komödiantische Begabung deutlich zum Ausdruck, wobei die böse Ironie (wie in »Der Prozeß beginnt«) einem milden, gutmütigen Humor Platz macht, in dem sich schon der Ausweg aus dem düsteren, hoffnungslosen Nihilismus der ersten Schriften in die lichtübergossene Geisteshelle des späteren Sinjawskij andeutet. »Ljubimow« ist eine poetische Reflexion über unser russisches Schicksal, unser Unglück und unsere Sünde.

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Sinjawskijs neues Buch »Golos is chora« (dt. Eine Stimme im Chor) ist vielleicht das außergewöhnlichste in der ganzen modernen Literatur. Alles an ihm ist außergewöhnlich, angefangen von seinem Schicksal — das Buch besteht fast zur Gänze aus Briefen, die Sinjawskij aus dem KZ an seine Frau schrieb (denn Briefe sind die einzige Art von Literatur, die im Lager zugelassen ist), und die einzelnen Kapitel des Buches sind die Jahre der Zwangsarbeit — ein Kapitel, ein Jahr. Ebenso außergewöhnlich ist seine Form: eine Legierung aus philosophischen Exkursen, literaturwissenschaftlichem und kunsthistorischem Essay, Tagebuch und Skizzen nach der Natur; und seine Komposition — die Stimme des Autors als Kontrapunkt zu den Stimmen der anderen Häftlinge, ihrem Chor.

Das Buch wurde nach Sinjawskijs Emigration in London veröffentlicht, und als die ersten Exemplare auf verborgenen Wegen zu uns nach Moskau gelangt waren, war die erste Reaktion der Leser Befremden und Enttäuschung: ein Buch aus dem Lager, über das Lager — und gar keine Greueltaten, nicht die geringste Enthüllung; der einzige Bewacher, der in dem Buch vorkommt — ein Alter —, taucht nur ganz kurz mit den Worten vor uns auf: »Warum hast du den Pullover an? Ich seh's dir an den Augen an — du willst abhauen, und ich kann nicht schießen, meine Seele erlaubt es nicht. Runter mit dem Pullover!«25 — welch menschliche Rede! Und nicht ein Wort der Klage über die kargen Rationen, über die Grausamkeit des Lagerlebens — nur plötzlich die knappe, dankbare Notiz: »An meinem Geburtstag erhielt ich ein Geschenk. Ein mir fast unbekannter Zek überreichte mir eine kleine Tüte, und darin — das Gehäuse eines Kugelschreibers. Alles. In der Armut ist man gütiger.« (S. 230)

Auch die »Zeki«, die Mithäftlinge, lernen wir nicht in der breiten Erzählung ihrer traurigen Schicksale kennen, jeder kommt für einen kurzen Moment mit einem einzigen Satz (aber mit seiner eigenen Stimme, in direkter Rede) an die Oberfläche und taucht dann wieder im Chor unter. All das war ungewohnt, unerwartet, und darum zunächst unannehmbar. Versucht man sich aber in das Buch etwas einzulesen, so erlebt man, wie es vor unseren Augen wächst, an Bedeutung gewinnt, wie die Horizonte weichen und sich die Tiefe öffnet. Aus den unverbundenen und auf den ersten Blick unsystematischen Bemerkungen der Chormitglieder, der Häftlinge (und wie treffsicher sind sie in ihrem Wichtigsten, Kennzeichnenden erfaßt!), treten auf einmal lebendige Gestalten hervor, plastischer, als wenn man sie uns ausführlich beschrieben und lange von ihnen erzählt hätte (hier wirkt das in der Kunst altbekannte Gesetz des Nicht-alles-Sagens). 

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Da schießt einer mit der Bemerkung hervor: »Im Laden — alles, was das Herz begehrt, es fehlt bloß das Wasser des Lebens. Und — dein Geld.« Ein anderer stimmt ihm zu: »Konserven — >Krabben<: das sind solche weiße Würmer, in Zigarettenpapier« (S. 127), und man sieht sie beide vor sich stehen. Oder da gerät einer mit dem Aufseher aneinander und erwidert auf den Anschnauzer: »Ich habe extra etwas getrunken, um mich mit Ihnen standesgemäß zu unterhalten!« (S. 129) — und man sieht, was er in diesem Augenblick für einen Gesichtsausdruck, ja für eine Körperhaltung hat; oder dieser hier: »Westliche Kultur — das ist, wenn man den Rotz in der Tasche trägt. Du schneuzt dich in ein Tuch und trägst es mit dir herum.« (S. 149)

Und vor unseren Augen bildet sich allmählich eine lebendige Menschenmenge, farbenprächtig, bewegt, zotenreißend, lachend und weinend. Immer machtvoller tönt der Chor, und man möchte mit dem Autor ausrufen: »Oh, dieser Strom von Wesen!« (S. 204). »Ein anderer hat sich während der ganzen zehn Jahre, die er im Lager verbrachte, stumm gestellt. Bei seiner Entlassung sagte er zu den Lagerleitern: >Ich habe euch prima hinters Licht geführt!« (S. 296) Das ist schon ein ganzes Heldenepos. Und »der arme alte Este. Seit er im Lager ist, hält er die russischen Flüche für die Sprachnorm. Im Krankenhaus gab es ein Mißverständnis« mit dem Arzt (S. 133) — ein ausgemachter Schwank, eine Burleske.

Über ein untrüglich feines Sprachgefühl verfügend, nimmt Sinjawskij jeden farbkräftigen Satz, jedes in ungewöhnlichen Facetten schillernde Wort augenblicklich auf und rollt es wie eine Perle vor uns hin, so daß wir uns gemeinsam mit ihm an diesen Sätzen erfreuen, mit ihnen spielen möchten.

»(...) die Rede (muß) strahlend und duftend sein. Damit man wünscht, wieder und wieder zu ihr zurückzukehren. Der Satz muß von heimlichem Entzücken durchpulst und zu jedem Wagnis bereit sein. Damit man beim Lesen wünscht, ihn weiterzuspielen.« (S. 129)

Durch ihre Sprache, ihre Redeweise enthüllt Sinjawskij uns die Menschen, komisch, bemitleidenswert, unglücklich, wie sie sind; in ihren naiven, ungeschickten und ungefügen, doch »strahlenden und duftenden« Äußerungen spüren wir auf einmal die Elementarkraft des Volkes und die Berührung mit den Tiefen der Volksseele. Und statt Entsetzen, Widerwillen, Verachtung fühlen wir, wenn wir dies Buch lesen, plötzlich: Nein, das russische Volk ist noch nicht verschwunden (die vielen Intelligenzler, die heute allen Glauben verloren haben, verzweifeln ohne Grund); und noch ist auch der Schriftsteller auf der russischen Erde nicht verschwunden, wenn es möglich war, auf das KZ mit einem solchen Buch zu antworten.

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Als Kontrapunkt zum Chor ertönt fortwährend die Solostimme des Autors, die den Äußerungen des Chors bald kontrastiert, bald zustimmt und mit ihnen verschmilzt, die Stimme eines ernsthaften, gedankenvollen und tiefen Beobachters, der abseits und entrückt dem Leben zuschaut, an den eindrucksvollen Erscheinungsformen des Daseins sein Gefallen hat, intensiv über den Sinn des Lebens, über die russische Geschichte, über das Geheimnis des künstlerischen Schaffens reflektiert und dem nur hie und da eine karge Bemerkung entschlüpft, die zeigt, wie unerträglich schwer er es hat. Bei Frost, mit hungrigem Magen, eine Maschinenpistole im Rücken die Karre zu schieben und dabei über Hamlet, über Puschkin, über Swift nachzudenken und abends müde in die Baracke zu kommen und dann noch die Kraft zu finden, mitten im Lärm und Trubel seine Gedanken aufzuschreiben — ist das nicht ein Sieg des menschlichen Geistes über die dunklen Mächte, die ihn erniedrigen wollen? Je schwerer die Prüfung, desto klarer wird sichtbar, was der Mensch wert ist und was er bedeutet.

In den Gefängnis- und Lagertagebüchern des zum Tode verurteilten (und dann begnadigten) Eduard Kusnezow, eines tapferen und klugen Mannes, sehen wir das Lager als widerliche stinkende Grube, in der ekle Nattern statt Menschen wimmeln, und in der Tat ist das Lager natürlich auch das. Dem ungläubigen Skeptiker Kusnezow hat sich das Lager gerade von dieser Seite gezeigt. Auch bei Sinjawskij finden wir die Notiz: »In diesen Jahren haben mich die Menschen so müde gemacht, daß manchmal, wenn ich unsere Baracke betrete, eine Seligkeit physisch, in Wellen, den ganzen Körper erfüllt: die Baracke ist — leer.« (S. 271)

Für Anatolij Martschenko offenbarte sich das Lager als ein Kampffeld für Heldentaten und Herausforderungen, für mutigen Widerstand gegen die verhaßte Obrigkeit; sein Buch »Moji pokasanija« (dt. Meine Aussagen) spiegelt den Schrecken der Gewalt, Haß, Empörung, leidenschaftlichen Protest. Sinjawskijs Antwort auf diese große Prüfung der Menschenseele ist eine ganz andere: Er versenkt sich in die Tiefe des Geistes, des Verstandes, des Glaubens, und dort, tief unten, rührt er an die klaren Quellen des Lebens, die ihn mit Entzücken und zärtlicher Dankbarkeit auf Tiere, Vögel, Menschen, Pflanzen blicken lassen. 

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Im vorletzten, fünften Jahr seiner Haft hören wir aus dem Lager seine Stimme: »Das Leben bringt uns in erster Linie Dankbarkeit bei.« (S. 261) So paradox es ist: die düstere, freudlose Welt des frühen Sinjawskij-Terz weicht ausgerechnet hier, in der tiefsten Hölle, dem erleuchteten, wunderbaren Reich des Lichts und des Guten: »Beim Anblick der Wälder begreift man, daß ein unermeßliches Reich des Guten über die Erde gebreitet ist. Es ist nicht jenseits und nicht danach, sondern — hier. Wie die legendäre Stadt Kitesch. Nur ist es nicht zu sehen — zu sehen sind vielmehr seine Spitzen, die in die Tiefe der Kuppel eintauchen. Als die Frau ihrem Mann sagte (sie sprachen über einen Geflüchteten): >Wenn du ihn anzeigst, gehe ich von dir weg<, da haben wir verstanden, daß das Gute groß ist und unsichtbar regiert, im Mantel des Bösen, um sein Geheimnis zu bewahren.« (S. 216) Und das erstaunliche und paradoxe Fazit verwundert uns nicht mehr: »Trotz allem sichert das Lager die Empfindung maximaler Freiheit.« (S. 309) Wie sehr gleicht das Solschenizyns »Segnung des Gefängnisses« im »Archipel GULag«!26

 

Wenn von Sinjawskij die Rede ist, darf nicht unerwähnt bleiben, daß er einer unserer eindringlichsten Literaturkritiker ist. Sich tief in das untersuchte Material hineinlebend, beeindruckt er uns zuweilen mit wahrhaft funkelnden Einsichten. Wir verweisen hier nur auf sein berühmtes Vorwort zu einem Gedichtband von Pasternak (das der Dichter selbst hoch schätzte), auf die Artikel »Was ist sozialistischer Realismus?« und »W saschtschitu piramidy« (Zur Verteidigung der Pyramide), auf seine brillanten Vorlesungen zur russischen Literatur, die er unlängst an der Sorbonne gehalten hat, und auf die vor kurzem im Westen erschienenen Bücher »W teni Gogolja« (dt. Im Schatten Gogols) und »Progulki s Puschkinym« (dt. Promenaden mit Puschkin).

 

Während Sinjawskij religiöse, ethische und philosophische Probleme beschäftigen, er von metaphysischer Höhe in Ruhe und Abgeschiedenheit auf das Leben herabblickt, geht Daniel umgekehrt ganz im Aktuellen auf; ihn halten die augenblicklichen Probleme der sowjetischen Gesellschaft gefangen, seine Kunst ist durch und durch polemisch. Ein Wahrheitssucher mit dem Temperament eines Kämpfers, glühend überzeugt von der Richtigkeit seiner Sache, entlarvt er die Lüge, deckt verschwiegene Widersprüche auf, macht dingfest, enthüllt die wahren Konflikte der sowjetischen Gesellschaft und strebt danach, mit dokumentarischer Gewissenhaftigkeit das sowjetische Leben so zu zeigen, wie es wirklich ist.

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»Von dem, worüber ich geschrieben habe, schweigt sowohl die Literatur als auch die Presse. Die Literatur hat das Recht, jede geschichtliche Periode zu behandeln und jedes Problem aufzuwerfen. Ich bin der Ansicht, daß es im Leben der Gesellschaft keine geheimen Themen geben darf«, erklärte er vor Gericht.27

In der Erzählung »Goworit Moskwa« (dt. Hier spricht Moskau) wirft Daniel die Frage auf, welchen Einfluß der Stalinterror auf die Moral der sowjetischen Gesellschaft, auf die Psyche der Menschen, auf die ganze gesellschaftliche Atmosphäre hatte. Die Fabel basiert auf einer phantastischen Voraussetzung; im Radio wird ein neuer Erlaß der sowjetischen Regierung verkündet:

»Hier spricht Moskau. Wir verlesen die Verordnung des Obersten Sowjets der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vom 16. Juli 1960. Im Zusammenhang mit dem steigenden Wohlstand, den Wünschen der werktätigen Massen entsprechend, ist der Sonntag, der 10. August 1960, zum Tag des Mordes zu erklären. An diesem Tag haben alle Bürger der Sowjetunion, die das sechzehnte Lebensjahr vollendet haben, das Recht, jeden anderen Bürger (...) zu töten.«28

Schon die Formulierung des Erlasses ist Hohn und Spott. »Im Zusammenhang mit...« — das ist das übliche demagogische Klischee aller sowjetischen Erlasse, selbst wenn es um die Erhöhung der Preise für Fleisch und Milch geht. Die Voraussetzung ist phantastisch (übrigens phantastisch nur der Form, nicht dem Inhalt nach: man erinnere sich bloß an die organisierten Massendemonstrationen zur Unterstützung der Todesurteile gegen die »Volksfeinde«, an die Schauprozesse in riesigen Konzertsälen, wo die gefolterten Angeklagten unter dem Beifall des Publikums für sich selbst die Todesstrafe erbaten, oder an die Schauprozesse in den Schulen gegen Gestalten der Literatur, wo den Figuren Tolstojs und Dostojewskijs das Todesurteil gesprochen wurde) — alles weitere jedoch entwickelt sich durchaus realistisch und wird mit naturalistischer Gewissenhaftigkeit geschildert: die sklavische Widerspruchslosigkeit, mit der die Diener des Regimes den Ukas rechtfertigen, die angstvolle Spannung und Passivität des Volkes. 

Die Menschen, eingeschüchtert und an alles gewöhnt, nehmen den Beschluß der Obrigkeit schweigend und ergeben hin. Als der »Tag des offenen Mordes« angebrochen ist, sitzen fast alle zu Hause hinter verschlossenen Türen und warten, daß die Gefahr vorübergehe ... 

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Der Held der Erzählung, Anatolij Karzew, jedoch beschließt, hinaus auf die Straße zu gehen, die Angst zu besiegen und dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten: »Genossen, tötet euch nicht gegenseitig! Liebet euren Nächsten!« (S. 33)

Für ein paar Sekunden freilich blitzt die Versuchung in ihm auf, endlich einmal abzurechnen mit »diesen vollgefressenen, Sitzungen abhaltenden und hoch oben thronenden Lenkern unseres Schicksals, unseren Führern und Lehrern« (S. 20), aber er unterdrückt dieses Gefühl und erkennt, daß Rache und Gewalt kein Mittel zur Verbesserung der Gesellschaft sind, daß ein solcher Weg nur in einen ausweglosen Teufelskreis von Blut und Gewalttaten führt. Der wahre Ausweg liegt in der Überwindung von Angst und Passivität, Ergebenheit und Sklavenpsychologie.

Die Lektüre von Daniels Erzählung hinterläßt gleichwohl ein etwas unbefriedigendes Gefühl. Nach dem brillanten Einfall der Fabel erwartet man eine ebenso brillante Darstellung, aber die etwas schablonenhafte Erzählung enttäuscht in ihrer prosaischen Alltäglichkeit; der Autor, so muß man annehmen, hatte nicht genug Einbildungskraft und Erfindungsreichtum, alle Möglichkeiten zu entdecken, die das Sujet ihm bot.

In der Erzählung »Ruki« (dt. Die Hände) behandelt Daniel wieder das Thema der Gewalt und des Terrors. Es ist ein Monolog, die Beichte des ehemaligen Tscheka-Mitarbeiters Wassilij Malinin, der Todesurteile vollstreckt hat. Mit dieser Erzählung polemisiert Daniel gegen die traditionelle Behandlung des revolutionären und nachrevolutionären Terrors in der sowjetischen Literatur, wo die Gewalt als für die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft notwendig und unvermeidlich gerechtfertigt wird. Daniel aber, der Sohn einer anderen Epoche, der von der Höhe unserer heutigen Erfahrung mit dem Blick des Skeptikers in die Vergangenheit zurückschaut, sagt uns: Mord ist immer Mord, vergossenes Blut bleibt vergossenes Blut, und keine politische Idee kann die Auslöschung von Menschenleben rechtfertigen.

In der Erzählung »Tschelowek is MINAPa« (dt. Der Mann aus dem MINAP) bietet die phantastische Grundidee ebenso wie in »Hier spricht Moskau« vielfältige Gelegenheit für Situationen, in denen die Sitten und Gebräuche der Sowjetgesellschaft aufs realistischste geschildert werden können. Wladimir Salesskij, Student am MINAP (Moskauer Institut zur Wissenschaftlichen Profanation) verfügt über eine außerordentliche Fähigkeit: Er ist »Spezialist für Empfängnis« von Babys des gewünschten und geplanten Geschlechts. 

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Diese Fähigkeit macht sich eine praktisch veranlagte junge Dame zunutze: Sie führt ihn mit Ehefrauen zusammen, die ihrem Gatten »einen Sohn schenken« oder das eine oder andere familiäre Problem lösen wollen. Von einem der Ehemänner ertappt, wird Salesskij wegen seines unmoralischen Lebenswandels in die Mangel genommen, doch dann beschließt man in höchsten Kreisen, sich seiner Begabung zu bedienen. Die Atmosphäre im MINAP, einem jener wissenschaftlichen Institute, wo Beamtenseelen, Pseudowissenschaftler und aufgeblasene Autoritäten die Macht ausüben (Daniel hatte O. B. Lepeschinskaja und T. D. Lyssenko vor Augen, als er die Erzählung schrieb, ist detailgetreu und sachkundig wiedergegeben.

 

Die Erzählung »Iskuplenije« (dt. Sühne) wirft das heute quälendste Problem für die Sowjetgesellschaft auf — das Problem der Schuld. Der Held der Erzählung, Viktor Wolskij, wird von seinem aus dem KZ heimgekehrten früheren Freund Felix Tschernow beschuldigt, er, Viktor, sei ein Spitzel und habe Felix und andere Genossen, die verhaftet wurden, denunziert. Alle Bekannten wenden sich von Viktor ab; von allen verachtet, krank und seelisch zerrüttet, kommt er in die Heilanstalt. Daniel will zeigen, wie leicht ein Unschuldiger schuldig werden kann in einer Gesellschaft, wo die Grenze zwischen Schuldigen und Unschuldigen verwischt ist, wo die Schuldigen (die für die Massenrepressionen und Morde Verantwortlichen) nicht bestraft werden, die Unschuldigen jedoch im Grunde genauso schuldig sind, weil sie passiv an der gemeinsamen Schuld der ganzen Gesellschaft teilhaben, einer Gesellschaft, die zur völligen Degradation und Verwüstung herabgesunken ist.

»Es hat sich nicht das mindeste verändert: wir sind im Gefängnis, oder das Gefängnis ist in uns! Die Regierung ist nicht imstande, uns zu befreien! (...) Entfernt die Lager in eurem Innern mit dem Messer! Ihr glaubt, es sei die Tscheka, das NKWD oder der Staatssicherheitsdienst, die euch der Freiheit beraubten. Nein, das haben wir uns selbst zu verdanken.« (S. 123)

Es muß jedoch gesagt werden, daß dieses für die heutige sowjetische Gesellschaft so akute Problem in der Erzählung keine angemessene Darstellung gefunden hat; sein realistisches Gespür hat den Schriftsteller diesmal im Stich gelassen, er ging den bequemsten Weg und schematisierte und vereinfachte einen Konflikt, der sich im wirklichen Leben weitaus komplexer darstellt. Verrat, Denunziation, Spitzeltum ist eines der schlimmsten Übel der sowjetischen Gesellschaft. Wenn alles so einfach wäre wie in Daniels Erzählung — der Verdächtigte und Befleckte wird von allen geschnitten, ständige Telefonanrufe zornerfüllter Bekannter, Boykott durch die Nachbarn usw.!

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Doch wie viele offenkundige und aller Welt bekannte Denunzianten leben vollkommen unbehelligt dahin, verkehren weiter in den Kreisen der Intelligenz, wo alle wissen, daß sie Denunzianten sind, und auch den Denunzianten klar ist, daß man über sie Bescheid weiß — und trotzdem trifft man sich nach wie vor, lächelt und plaudert: Einen Denunzianten zu entlarven, ist eine gefährliche Sache, für die man hart büßen kann; und dann bleibt auch immerfort der Zweifel, denn genau kann man so etwas niemals wissen. 

Wie viele Menschen wurden gegen ihren Willen zu Denunzianten — durch äußerste Notwendigkeit, unter furchtbaren Drohungen und unmenschlichem Druck —, die darunter qualvoll leiden, sich bemühen, ihre widerwärtige Funktion rein formal zu erfüllen, nur das Allerunumgänglichste zu tun — solche Menschen erwecken eher Mitleid als Haß. Und wie viele Menschen verdächtigen sich gegenseitig des Bespitzelns! Der Mann verdächtigt seine Frau, der Vater seinen Sohn, der Freund den Freund, und oft genug leiden sie Qualen, wenn sie das Mißtrauen spüren. 

Das Spitzelphänomen hat in der Gesellschaft ein solches Ausmaß angenommen, daß es zu einer völlig normalen, gewohnten, alltäglichen Sache geworden ist; es hat die Schärfe des Verbrechens, die Schwärze des Verrats verloren und ist dadurch nur noch schrecklicher geworden, weil es die moralischen Fundamente der Gesellschaft untergraben, Zynismus, Mißtrauen, Unredlichkeit und Unaufrichtigkeit zur Norm der menschlichen Beziehungen gemacht hat. Leider kann Daniel dies alles in seiner Erzählung nicht vermitteln, und dieses wichtige Thema wird nur gestreift und nicht ausgeschöpft.

Die Schlichtheit und Klarheit des unprätentiösen Stils und die naturalistische Anschaulichkeit dieser Erzählung lassen die gelegentlichen phantastischen Exkurse unpassend erscheinen (etwa wenn der Held sich mit Reklameplakaten unterhält oder wenn Gut und Böse gegeneinander Schach spielen). Sie wirken als Fremdkörper und überflüssiger Tribut an die literarische Mode.

Daniel, der schon in der Untersuchungshaft mehrere Gedichte geschrieben hatte, setzte das im Lager fort und verfaßte neben weiteren Gedichten das Poem »A w eto wremja« (Zu dieser Zeit jedoch). Es gelang ihm wunderbarerweise, seine Verse unentdeckt zu halten und nach draußen gelangen zu lassen; sie zirkulierten im Samisdat und wurden später von der Amsterdamer Herzen-Stiftung publiziert.29)  

Die Aufrichtigkeit und Kraft des Gefühls, die ungekünstelte Geradheit und Schlichtheit der Gedichte nahmen viele Menschen ein; einige davon wurden vertont und im abendlichen Freundeskreis gemeinsam gesungen.

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