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6.

Genetischer Verfall

Lorenz-1973

 

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Die Entstehung und noch mehr das Erhaltenbleiben jener sozialen Verhaltensweisen, die zwar der Gemeinschaft Nutzen, dem Einzelwesen aber Schaden bringen, bilden — wie Norbert Bischof neuerdings demonstriert hat — ein schwieriges Problem für jeden Erklärungsversuch durch die Prinzipien von Mutation und Selektion.   wikipedia  Norbert_Bischof  *1930 in Breslau

Wenn auch die nicht ganz leicht verständlichen Vorgänge der Gruppenselektion, auf die ich hier nicht näher eingehen will, die Entstehung »altruistischer« Verhaltensweisen erklären können, so bleibt doch das soziale System, das auf diese Weise entsteht, notwendigerweise labil.

Wenn zum Beispiel bei der Dohle, Coloeus monedula L., eine Verteidigungsreaktion entstanden ist, bei der sich jedes Individuum mit äußerstem Mut für die Verteidigung eines von einem Raubtier ergriffenen Artgenossen einsetzt, so ist leicht einzusehen, daß und warum eine Gruppe, deren Mitglieder im Besitze dieser Verhaltensweise sind, bessere Überlebens-Aussichten hat als eine, der sie fehlt. 

Was aber verhindert, daß innerhalb der Gruppe Individuen auftreten, denen die Kameraden-Verteidigungsreaktion fehlt?

Ausfalls-Mutationen sind immer zu erwarten und treten fast unvermeidlich früher oder später auf. Wenn sie nun die in Rede stehende altruistische Verhaltens­weise betreffen, müssen sie für den Betroffenen einen Selektions-Vorteil bedeuten, sofern wir unterstellen, daß das Verteidigen des Artgenossen gefährlich ist. Früher oder später müßten also »asoziale Elemente«, die an den sozialen Verhaltensweisen der noch normalen Sozietätsmitglieder parasitieren, die Gesellschaft durchsetzen.

Dies alles gilt selbst­verständlich nur für solche gesellig lebende Tiere, bei denen die Funktionen der Fortpflanzung und der sozialen Arbeit nicht auf verschiedene Individuen verteilt sind, wie bei den »staatenbildenden« Insekten. Bei ihnen bestehen die eben skizzierten Probleme nicht, und vielleicht liegt eben darin der Grund dafür, daß der »Altruismus« der Arbeiter und Soldaten bei diesen Tieren so extreme Formen annehmen konnte.

Was bei sozialen Wirbeltieren die Unterwanderung der Sozietät durch Sozial-Parasiten verhindert, wissen wir nicht. Es ist auch schwer vorzustellen, daß etwa eine Dohle an der »Feigheit« eines sozialen Kumpans, der an einer Kameraden­verteidigungs-Reaktion nicht teilnimmt, Anstoß nehmen sollte. »Anstoßnehmen« an asozialem Verhalten kennen wir nur auf einem verhältnismäßig niedrigen und auf dem höchsten Integrations-Niveau lebender Systeme, nämlich auf dem des Zellen-»Staates« und auf dem der menschlichen Gesellschaft. 

Die Immunologen haben die höchst bedeutsame Tatsache herausgefunden, daß ein enger Konnex zwischen der Fähigkeit zur Antikörperbildung und der Gefahr des Auftretens bösartiger Geschwülste besteht. Ja, man kann die Anschauung vertreten, daß die Bildung spezifischer Abwehrstoffe überhaupt erst unter dem Selektionsdruck »erfunden« wurde, den bei langlebigen und vor allem auch lange weiterwachsenden Organismen die ständige Gefahr ausübte, daß bei den unzähligen Zellteilungen durch sogenannte Sproßmutation gefährliche »asoziale« Zellformen entstehen. 

Beides, maligne Tumoren und Antikörperbildung, gibt es bei Wirbellosen nicht, und beide treten in der Reihe der Lebewesen bei den niedrigsten Wirbel­tieren, den Rundmäulern oder Cyclostomen, zu denen z.B. das Neunauge gehört, ganz unvermittelt auf. Wir würden wahrscheinlich alle in jungen Jahren an bösartigen Geschwülsten sterben, wenn unser Körper in Form seiner Immunreaktionen nicht eine Art »Zellpolizei« ausgebildet hätte, die den asozialen Wucherern rechtzeitig das Handwerk legt.

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Bei uns Menschen besitzt das normale Sozietätsmitglied höchst spezifische Reaktionsweisen, mit denen es auf asoziales Verhalten anspricht. Wir sind »empört« darüber, und der Sanfteste reagiert mit tätlichem Angriff, wenn er Zeuge wird, wie ein Kind mißhandelt oder eine Frau vergewaltigt wird. Eine vergleichende Untersuchung der Rechtsstruktur verschiedener Kulturen zeigt eine Übereinstimmung, die bis in Einzelheiten geht und sich nicht aus kulturhistorischen Zusammenhängen erklären läßt. Goethe sagt: »Vom Rechte, das mit uns geboren ist, von dem ist, leider, nie die Frage.« 

Der Glaube an die Existenz eines von kulturgebundener Gesetzgebung unabhängigen Naturrechtes ist aber offenbar von alters her mit der Vorstellung verbunden, daß dieses Recht außernatürlicher, unmittelbar göttlicher Herkunft sei.

 

In einem merkwürdigen Zusammentreffen bekam ich am Tage, an dem ich das vorliegende Kapitel zu schreiben begann, einen Brief von dem vergleichenden Rechtswissenschaftler Peter H. Sand, aus dem ich nun zitiere:

»Neuere rechtsvergleichende Untersuchungen beschäftigen sich zunehmend mit den Struktur-Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Rechtssystemen der Welt (so zum Beispiel ein vor kurzem veröffentlichtes Team-Projekt der Cornell-Universität, <Common Core of Legal Systems>). 
Für die tatsächlich relativ zahlreichen Übereinstimmungen wurden bisher hauptsächlich drei Erklärungen angeboten: eine metaphysisch-naturrechtliche (entsprechend den Vitalisten in der Naturwissenschaft), eine historische (Ideenaustausch durch Diffusion und Kontakt zwischen den verschiedenen Rechtssystemen, d.h. also durch Imitation erlerntes Verhalten) und eine ökologische (Anpassung an Umweltbedingungen bzw. Infrastruktur, d.h. also durch gemeinsame Erfahrung erlernte Verhaltensweisen). 
Dazu tritt nun in allerjüngster Zeit eine psychologische Erklärung des gemeinsamen >Rechtsgefühls< (Instinktbegriff!) aus typischen Kindheitserfahrungen, in direkter Berufung auf Freud (so vor allem Prof. Albert Ehrenzweig in Berkeley mit seiner >psychoanalytischen Jurisprudenz<).

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Wesentlich an dieser Neuorientierung ist die Erkenntnis, daß hier das soziale Phänomen <Recht> auf Individualstrukturen zurückgeführt wird, nicht umgekehrt wie in der traditionellen Rechtstheorie. 
Bedauerlich ist dagegen m.E. die fortdauernde Betonung erlernter Verhaltensweisen und die Vernachlässigung möglicher angeborener Verhaltensweisen im Recht. Nach der Lektüre Ihrer gesammelten Abhandlungen (teils hartes Brot für einen Juristen!) bin ich fest davon überzeugt, daß es sich bei diesem mysteriösen >Rechtsgefühl< (das Wort selbst läßt sich übrigens weit in die ältere Rechtstheorie zurückverfolgen, aber ohne Erklärung) weitgehend um typische angeborene Verhaltensweisen handelt.«

 

Ich teile diese Anschauung durchaus, bin mir aber der großen Schwierigkeiten ihres zwingenden Nachweises, auf die Herr Prof. Sand in seinem Brief ebenfalls hinweist, völlig bewußt. Was immer aber uns eine zukünftige Forschung über die phylogenetischen und kulturgeschichtlichen Quellen menschlichen Rechtsgefühles mitteilen wird, als wissenschaftlich feststehend können wir betrachten, daß die Art Homo sapiens über ein hochdifferenziertes System von Verhaltensweisen verfügt, das in durchaus analoger Weise wie das System der Antikörperbildung im Zellenstaat der Ausmerzung gemeinschaftsgefährdender Parasiten dient.

Auch in der modernen Kriminologie wird die Frage gestellt, welche Anteile kriminellen Verhaltens auf genetischen Ausfällen von angeborenen sozialen Verhaltens­weisen und Hemmungen beruhen und welche aus Störungen in der kulturellen Überlieferung sozialer Normen zu erklären sind. Nur ist hier die Entscheidung dieser Frage, obwohl ebenso schwierig, von viel größerer praktischer Bedeutung als in der Rechtslehre. Recht ist Recht und bleibt gleich befolgenswert, ob seine Struktur nun durch phylogenetische oder kulturelle Entwicklung bestimmt sei.

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Bei der Beurteilung eines Kriminellen ist die Frage, ob sein Defekt genetisch oder erziehungsmäßig bedingt sei, sehr wesentlich für die Aussichten, ihn wieder zum tragbaren Mitglied der Gesellschaft zu machen. Zwar ist nicht gesagt, daß genetische Aberrationen nicht durch ein gezieltes Training korrigierbar sein können, so wie nach Kretschmer auch viele Leptosome durch eine mit echt schizothymer Konsequenz betriebene Gymnastik sekundär eine nahezu athletische Muskulatur erwerben können. Wäre alles phylogenetisch Programmierte ipso facto unbeeinflußbar durch Lernen und Erziehung, so wäre der Mensch der verantwortungslose Spielball seiner instinktiven Antriebe.

Alles kulturelle Zusammenleben hat zur Voraussetzung, daß der Mensch seine Triebe zu zügeln lernt, alle Predigten der Askese haben eben diesen Wahrheitsgehalt. Aber die Herrschaft, die Vernunft und Verantwortlichkeit ausüben, ist nicht von unbegrenzter Stärke. Sie reicht beim Gesunden eben aus, um seine Einordnung in die Kultur-sozietät leisten zu können. Der seelisch Gesunde und der Psychopath unterscheiden sich — um mein altes Gleichnis anzuführen — nicht mehr voneinander als ein Mensch mit einem kompensierten und einer mit einem dekompensierten Herzfehler. 

Der Mensch ist, wie Arnold Gehlen so treffend gesagt hat, von Natur aus, d.h. von seiner Phylogenese her, ein Kulturwesen. Mit anderen Worten, seine instinktiven Antriebe und deren kulturbedingte, verantwortliche Beherrschung bilden ein System, in dem die Funktionen beider Untersysteme genau aufeinander abgestimmt sind. Ein geringes Zuviel oder Zuwenig auf der einen oder auf der anderen Seite führt zur Störung, leichter als die meisten Menschen meinen, die an die Allmacht der menschlichen Vernunft und des Lernens zu glauben geneigt sind. Das Ausmaß an Kompensation, das der Mensch durch Training seiner Herrschaft über seine Antriebe bewirken kann, scheint leider sehr gering zu sein.

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Vor allem weiß die Kriminologie allzu gut, wie gering die Aussichten sind, sogenannte Gemütsarme zu sozialen Menschen zu machen. Dies gilt gleicherweise für gemütsarm geborene wie für solche Unglückliche, die nahezu dieselbe Störung durch Erziehungs­mängel, vor allem durch Hospitalisation (René Spitz) erworben haben. Mangel an persönlichem sozialem Kontakt mit der Mutter während der frühesten Kindheit erzeugt – wenn er nicht noch Schlimmeres bewirkt – eine Unfähigkeit zu sozialer Bindung, deren Symptomatik äußerst ähnlich der einer angeborenen Gefühlsarmut ist. 

Es sind also keineswegs alle angeborenen Defekte unheilbar, noch weniger allerdings alle erworbenen heilbar; der alte Leitsatz des Arztes »Vorbeugen ist besser als heilen« gilt auch für seelische Störungen.

Der Glaube an die Allmacht der bedingten Reaktion trägt einen erheblichen Teil der Schuld an gewissen bizarren Fehlleistungen der Rechtsprechung. F. Hacker berichtete in seinen Vorlesungen an der Menninger Clinic in Topeka, Kansas, von einem Fall, in dem ein junger Mörder, in psychotherapeutische Anstalts­behandlung genommen, nach einiger Zeit als »geheilt« entlassen, nach ganz kurzer Zeit einen neuen Mord beging. Dieser Vorgang wiederholte sich nicht weniger als viermal, erst als der Kriminelle einen vierten Menschen umgebracht hat, rang sich die humane, demokratische und behavioristische Gesellschaft zu der Erkenntnis durch, daß er gemeingefährlich sei.

Diese vier Toten sind ein geringer Schaden im Vergleich zu dem, den die Einstellung der heutigen öffentlichen Meinung zum Verbrechen schlechthin anrichtet: Die zur Religion gewordene Überzeugung, daß alle Menschen gleich geboren seien und daß alle sittlichen und moralischen Gebrechen des Verbrechers nur auf die Sünden zurückzuführen seien, die seine Erzieher an ihm begangen hätten, führt zur Vernichtung jedes natürlichen Rechtsgefühles, vor allem auch bei dem Ausfallbehafteten selbst, der sich voll Selbstbemitleidung als Opfer der Gesellschaft ansieht.

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In einer österreichischen Zeitung las man jüngst die Schlagzeile: <Siebzehnjähriger wird aus Angst vor den Eltern zum Mörder>. Der Bursche hatte nämlich seine zehnjährige Schwester vergewaltigt und, als sie drohte, es den Eltern zu sagen, erwürgt. Die Eltern mögen in komplexer Verkettung der Wirkungen daran wenigstens teilweise Schuld getragen haben, ganz sicher aber nicht dadurch, daß sie dem Jungen zu viel Angst einflößten.

Diese deutlich pathologischen Extreme der Meinungsbildung werden erst dann verständlich, wenn man weiß, daß sie die Funktion eines jener regulativen Systeme ist, die, wie eingangs besprochen, zu Schwingungen neigen. Die öffentliche Meinung ist träge, sie reagiert erst nach langer »Totzeit« auf neue Einflüsse; außerdem liebt sie grobe Vereinfachungen, die meist Übertreibungen eines Tatbestandes sind.

Deshalb ist die Opposition, die eine öffentliche Meinung kritisiert, dieser gegenüber so gut wie immer im Recht. Aber sie begibt sich, im Tauziehen der Meinungen, in extreme Positionen, die sie nie eingenommen hätte, wenn sie nicht die Gegenmeinung zu kompensieren getrachtet hätte. Bricht dann die bisher herrschende Meinung zusammen, was sie ganz plötzlich zu tun pflegt, so schwingt das Pendel nach der ebenso übertriebenen Extremstellung der bisherigen Opposition aus.

Die heutige Zerrform einer liberalen Demokratie steht am Kulminationspunkt einer Schwingung. Am entgegengesetzten, den das Pendel vor nicht allzu langer Zeit durchlaufen hat, stehen Eichmann und Auschwitz, stehen Euthanasie, Rassenhaß, Völkermord und Lynchjustiz. Wir müssen uns klar darüber werden, daß zu beiden Seiten des Punktes, auf den das Pendel wiese, wenn es je zur Ruhe käme, echte Werte stehen: auf der »linken« der Wert der freien individuellen Entfaltung, auf der »rechten« Seite der Wert der sozialen und kulturellen Gesundheit.

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Inhuman werden erst die Exzesse in beiderlei Richtung. Die Schwingung geht weiter, und schon zeichnet sich in Amerika die Gefahr ab, daß sie als Reaktion auf die an sich durchaus berechtigte, aber eben maßlose Rebellion der Jugend und der Neger rechtsradikalen Elementen willkommenen Anlaß gibt, mit der alten, unbelehrbaren Maßlosigkeit den Rückschlag ins gegenteilige Extrem zu predigen. Das schlimmste aber ist, daß diese ideologischen Oszillationen nicht nur ungedämpft verlaufen, sondern eine gefährliche Neigung zeigen, sich zur »Regler­katastrophe« aufzuschaukeln. Sache des Wissenschaftlers ist es, den Versuch zur dringend nötigen Dämpfung dieser Teufelsschwingung zu unternehmen.

Es ist eine der vielen Aporien, in die sich die zivilisierte Menschheit hineinmanövriert hat, daß auch hier wieder die Forderungen der Menschlichkeit gegenüber dem einzelnen mit den Interessen der Menschheit in Widerspruch stehen. Unser Mitleid mit dem asozialen Ausfallbehafteten, dessen Minderwertigkeit ebensogut durch irreversible, frühkindliche Schädigungen (Hospitalisation!) verursacht sein kann wie durch erbliche Mängel, verhindert, daß der Nicht-Ausfallbehaftete geschützt wird. Man darf nicht einmal die Worte »minderwertig« und »vollwertig«, auf Menschen angewendet, gebrauchen, ohne sofort verdächtigt zu werden, man plädiere für die Gaskammer.

Zweifellos ist das »mysteriöse Rechtsgefühl«, von dem P. H. Sand spricht, ein System genetisch verankerter Reaktionen, die uns gegen asoziales Verhalten von Artgenossen einzuschreiten veranlassen. Sie geben die in historischen Zeiträumen unwandelbare Grundmelodie an, um die herum die unabhängig voneinander entstandenen Rechts- und Moralsysteme der einzelnen Kulturen komponiert worden sind.

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Ganz zweifellos ist die Wahrscheinlichkeit krasser Fehlleistungen dieses unreflektierten Rechtsgefühles ebenso groß wie bei nur irgendeiner instinktiven Reaktionsweise. Der Angehörige einer fremden Kultur, der sich »vorbeibenimmt« (zum Beispiel, indem er, wie es Teilnehmer der ersten deutschen Neuguinea-Expedition taten, eine heilige Palme fällt), wird mit demselben Gefühle selbstgefälliger Gerechtigkeit umgebracht wie etwa ein Sozietätsmitglied, das ein wenn auch unverschuldetes Vergehen gegen die Tabus der Kultur begangen hat. 

Das »Mobbing«, das so leicht zur Lynchjustiz führt, ist in der Tat eine der inhumansten Verhaltensweisen, zu denen normale moderne Menschen gebracht werden können. Es verursacht alle Grausamkeiten gegen die »Barbaren« außerhalb wie gegen die Minderheiten innerhalb der eigenen Sozietät, es verstärkt die Neigung zur Pseudo-Artenbildung im Sinne Eriksons und liegt sehr vielen anderen, der Sozialpsychologie wohlbekannten Projektions­phänomenen zugrunde, zum Beispiel der typischen Suche nach einem »Sündenbock« für eigenes Versagen, und noch vielen anderen, äußerst gefährlichen und unmoralischen Impulsen, die — für den Ungeübten intuitiv nicht unterscheidbar — in jenes globale Rechtsgefühl eingehen.

Dennoch ist dieses für das Wirkungsgefüge unserer sozialen Verhaltensweisen so unentbehrlich wie die Schilddrüse für das unserer Hormone, und die heute durchaus deutliche Tendenz, es in Bausch und Bogen zu verdammen und unwirksam zu machen, ist genauso verfehlt wie die Versuche, die Basedowsche Erkrankung durch Totalexstirpation der Thyreoidea zu heilen. Die Ausschaltung des natürlichen Rechtsgefühls durch die heutige Tendenz zur absoluten Toleranz wird in ihrer gefährlichen Wirkung verstärkt durch die pseudodemokratische Doktrin, daß alles menschliche Verhalten erlernt sei.

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Vieles in unserem sozietäts-erhaltenden und sozietäts-schädigenden Verhalten ist Segen oder Fluch frühkindlicher Prägung durch ein mehr oder ein weniger einsichtiges, verantwortungsbewußtes und vor allem emotional gesundes Elternpaar. Ebenso vieles, wenn nicht mehr noch, ist genetisch bedingt. Wir wissen, daß das große Regulativ der verantwortlichen, kategorischen Frage sowohl erziehungsbedingte als auch genetische Unzulänglichkeiten sozialen Verhaltens nur innerhalb enger Grenzen zu kompensieren vermag.

Wenn man biologisch denken gelernt hat und von der Macht instinktiver Antriebe ebenso weiß wie von der relativen Ohnmacht aller verantwortlichen Moral und aller guten Vorsätze und wenn man zusätzlich noch einige psychiatrisch-tiefenpsychologische Einsicht in das Zustandekommen von Störungen sozialen Verhaltens hat, ist einem die Möglichkeit benommen, den »Delinquenten« mit jenem selbstgerechten Zorne zu verdammen, wie jeder gefühlsstarke Naive dies tut. Man sieht dann im Ausfall­behafteten weit mehr den bemitleidenswerten Kranken als den satanisch Bösen, was rein theoretisch ja auch völlig richtig ist. Wenn dann aber zu dieser berechtigten Einstellung noch der Irrglaube der pseudodemokratischen Doktrin tritt, daß alles menschliche Verhalten durch Konditionierung strukturiert, daher auch durch sie unbegrenzt verändert und korrigiert werden könne, so kommt es zur schweren Versündigung an der menschlichen Gemeinschaft.

Um sich die Gefahren zu vergegenwärtigen, die der Menschheit aus erblichen Instinkt-Ausfällen erwachsen, muß man sich klarmachen, daß unter den Bedingungen des modernen Zivilisationslebens kein einziger Faktor am Werke ist, der auf schlichte Güte und Anständigkeit hin Selektion treibt, es sei denn das uns eingeborene Gefühl für diese Werte. Im wirtschaftlichen Wettbewerb der westlichen Kultur steht ein eindeutig negatives Selektionsprämium auf ihnen! Es ist noch ein Glück, daß wirt­schaftlicher Erfolg nicht unbedingt positiv mit der Fortpflanzungsrate korreliert ist.

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Eine gute Illustration für die Unentbehrlichkeit der Moral ist ein alter jüdischer Witz: Ein Milliardär kommt zu einem Schadchen (Heiratsvermittler) und läßt durchblicken, daß er zu heiraten wünsche. Der Schadchen, voll Eifer, stimmt sofort ein Preislied auf ein überaus schönes Mädchen an, das dreimal hintereinander Miß America geworden sei, aber der reiche Mann winkt ab: »Schön bin ich mir selber genug!« 

Der Schadchen, mit der Wendigkeit seiner Profession, rühmt sofort eine andere prospektive Braut, deren Mitgift mehrere Milliarden Dollar betrage.  »Reich brauch' ich nicht«, sagt der Krösus, »reich bin ich mir selber genug.« Der Schadchen zieht alsbald ein drittes Register und spricht nun von einer Braut, die schon mit 21 Jahren Dozent für Mathematik war und gegenwärtig, mit 24, ordentlicher Professor für Informationstheorie am MIT sei. »Gescheit brauch' ich nicht«, sagt der Milliardär verächtlich, »gescheit bin ich mir selber genug!« Da ruft der Schadchen in Verzweiflung: »Ja um Gottes willen, was soll sie denn sein?« »Anständig soll sie sein«, lautet die Antwort.

 

Wie schnell beim Wegfallen spezifischer Selektion der Verfall sozialer Verhaltensweisen einsetzen kann, wissen wir von unseren Haustieren, ja selbst von Wildformen, die in Gefangenschaft weitergezüchtet wurden. Bei manchen brutpflegenden Fischen, die von kommerziellen Züchtern durch wenige Generationen künstlich vermehrt wurden, ist die genetische Anlage der Brut­pflege­handlungen so gestört, daß man unter Dutzenden kaum ein Paar findet, das noch imstande ist, seine Brut richtig zu betreuen. Merkwürdig analog wie beim Verfall kulturbedingter sozialer Verhaltensnormen (S. 68 ff.) scheinen auch hier die am höchsten differenzierten und geschichtlich jüngsten Mechanismen gegen die Störung besonders anfällig zu sein.

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Die alten, allgemein verbreiteten Triebe, wie die der Nahrungsaufnahme und der Begattung, neigen sehr oft zur Hypertrophie, wobei allerdings zu bedenken ist, daß der züchtende Mensch sehr wahrscheinlich wahlloses und gieriges Fressen und ebensolchen Begattungstrieb selektiv fördert, Aggressions- und Fluchttrieb dagegen als störend wegzuzüchten trachtet.

Im ganzen gesehen, ist das Haustier in der Tat eine böse Karikatur seines Herrn. In einer früheren Arbeit (1954) habe ich darauf hingewiesen, daß unser ästhetisches Wertempfinden deutliche Beziehungen zu jenen körperlichen Veränderungen zeigt, die im Zuge der Haustierwerdung regelmäßig auftreten. Muskelschwund und Fettansatz samt resultierendem Hängebauch, Verkürzung der Schädelbasis und der Extremitäten sind typische Domestikationsmerkmale und werden an Tier und Mensch allgemein als häßlich empfunden, während ihre Gegenteile den Besitzer als »edel« erscheinen lassen. Völlig analog ist unsere gefühlsmäßige Bewertung der Verhaltensmerkmale, die durch Domestikation vernichtet oder mindestens gefährdet werden: Mutterliebe, selbstloser und mutiger Einsatz für Familie und Sozietät sind genausogut instinktmäßig programmierte Verhaltensnormen wie Fressen und Begattung, wir empfinden sie aber eindeutig als etwas Besseres und Edleres als diese.

In jenen Abhandlungen habe ich in allen Einzelheiten dargetan, welch enge Beziehungen zwischen der Gefährdung bestimmter Merkmale durch Domestikation und der Wertung bestehen, die unsere ethischen und ästhetischen Gefühle ihnen zuteil werden lassen. Die Korrelation ist viel zu deutlich, um Zufall zu sein, und die einzige Erklärung liegt in der Annahme, daß unsere Werturteile auf eingebauten Mechanismen beruhen, die ganz bestimmten, der Menschheit drohenden Verfallserscheinungen einen Riegel vorschieben sollen. Es liegt die Annahme nahe, daß unsere Rechtsgefühle ebenfalls auf einer phylogenetisch programmierten Anlage beruhen, deren Funktion es ist, der Infiltration der Sozietät durch asoziale Artgenossen entgegenzuwirken.

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Ein Syndrom erblicher Veränderungen, das ganz zweifellos beim Menschen und bei seinen Haustieren in analoger Weise und aus gleichen Gründen aufgetreten ist, ist die merkwürdige Kombination von geschlechtlicher Frühreife und dauernder Verjugendlichung. Schon vor langer Zeit hat Bolk darauf hingewiesen, daß der Mensch in sehr vielen körperlichen Merkmalen der Jugendform seiner nächsten zoologischen Verwandten weit ähnlicher sei als den erwachsenen Tieren. Das dauernde Verharren in einem Jugendzustand bezeichnet man sonst in der Biologie als Neotenie. L. Bolk (1926) weist auf diese Erscheinung beim Menschen hin, legt aber besonderes Gewicht auf die Verlangsamung der menschlichen Ontogenese und spricht meist von Retardation. Ähnliches wie für die Ontogenese des menschlichen Körpers gilt auch für die seines Verhaltens. Wie ich (1943) zu zeigen versucht habe, ist die bis ins hohe Alter andauernde spielerische Forschungsneugier des Menschen, seine Weltoffenheit, wie Arnold Gehlen (1940) es nennt, ein persistierendes Jugendmerkmal.

Kindlichkeit ist eins der wichtigsten, unentbehrlichsten und im edelsten Sinne humanen Merkmale des Menschen. »Der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt«, sagt Friedrich Schiller. »Im echten Manne ist ein Kind versteckt, das will spielen«, sagt Nietzsche. »Wieso versteckt?« fragt meine Frau. Otto Hahn sagte in den ersten paar Minuten unserer Bekanntschaft zu mir: »Sagen Sie, sind Sie eigentlich kindlich? Ich hoffe, Sie mißverstehen mich nicht!«

Kindliche Eigenschaften gehören ohne allen Zweifel zu den Voraussetzungen der Menschwerdung. Die Frage ist nur, ob die den Menschen kennzeichnende genetische Verkindlichung nicht in einem Maße fortschreitet, das verderblich werden kann.

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Ich habe schon S. 39 ff. auseinandergesetzt, daß die Erscheinungen der Unlust-Intoleranz und der Gefühls-Verflachung zu infantilem Verhalten führen können. Es besteht der dringende Verdacht, daß sich kulturell bedingte Vorgänge zu diesen genetisch bedingten addieren können. Ungeduldige Forderung nach sofortiger Triebbefriedigung, Mangel jeglicher Verantwortlichkeit und jeglicher Rücksichtnahme auf die Gefühle anderer sind für kleine Kinder typisch und bei ihnen völlig verzeihlich. Geduldiges Hinarbeiten auf ferne Ziele, Verantwortung des eigenen Tuns und Rücksichtnahme auch auf Fernerstehende sind Verhaltensnormen, die für den reifen Menschen kennzeichnend sind.

Von Unreife sprechen die Krebsforscher, um eine der grundlegenden Eigenschaften der bösartigen Geschwulst zu kennzeichnen. Wenn eine Zelle alle jene Eigenschaften abstößt, die sie zum Teil und Glied eines bestimmten Körpergewebes, der Oberhaut, des Darmepithels oder der Brustdrüse machen, so »regrediert« sie notwendigerweise auf einen Zustand, der einer Stammes- oder individual­geschichtlich früheren Entwicklungsphase entspricht, das heißt, sie beginnt sich wie ein einzelliger Organismus oder wie eine embryonale Zelle zu benehmen, indem sie sich ohne Rücksicht auf die Ganzheit des Körpers zu teilen beginnt.

Je weiter die Regression geht, je mehr das neugebildete Gewebe sich von dem normalen unterscheidet, desto bösartiger der Tumor. Ein Papillom, das immerhin noch viele Eigenschaften normaler Oberhaut besitzt, nur daß es als Warze über deren Oberfläche emporwuchert, ist ein gutartiger, ein Sarkom, das aus lauter gleichen, völlig undifferenzierten Mesodermzellen besteht, ein bösartiger Tumor. Das verderbliche Wachstum bösartiger Tumoren beruht, wie schon angedeutet, darauf, daß gewisse Abwehr­maßnahmen versagen oder von den Tumorzellen unwirksam gemacht werden, mittels deren der Körper sich sonst gegen das Auftreten »asozialer« Zellen schützt.

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Nur, wenn diese vom umgebenden Gewebe als seinesgleichen behandelt und ernährt werden, kann es zu dem tödlichen infiltrativen Wachstum der Geschwulst kommen.

Die schon besprochene (S. 64) Analogie läßt sich hier weiterführen. Ein Mensch, der durch das Ausbleiben der Reifung sozialer Verhaltensnormen in einem infantilen Zustand verharrt, wird notwendigerweise zum Parasiten der Gesellschaft. Er erwartet als selbstverständlich die Fürsorge der Erwachsenen weiter zu genießen, die nur dem Kinde zusteht. In der <Süddeutschen Zeitung> wurde jüngst von einem Jüngling berichtet, der seine Großmutter totgeschlagen hatte, um ein paar Mark für einen Kinobesuch zu rauben. Seine Verantwortung bestand in hartnäckiger Wiederholung der Aussage, er habe seiner Großmutter doch gesagt, daß er Geld fürs Kino brauche. Dieser Mann war natürlich erheblich schwachsinnig.

Unzählige Jugendliche sind der heutigen Gesellschaftsordnung und damit auch ihren Eltern gegenüber feindlich eingestellt. Daß sie ungeachtet dieser Haltung als selbstverständlich erwarten, von dieser Gesell­schaft und diesen Eltern erhalten zu werden, zeigt ihre unreflektierte Infantilität.

Wenn die fortschreitende Infantilisierung und wachsende Jugend-Kriminalität des Zivilisationsmenschen tatsächlich, wie ich befürchte, auf genetischen Verfallserscheinungen beruht, so sind wir in schwerster Gefahr. Unsere gefühlsmäßige Hochwertung des Guten und Anständigen ist mit erdrückender Wahrschein­lichkeit der einzige Faktor, der heute noch gegen Ausfalls­erscheinungen sozialen Verhaltens eine einigermaßen wirksame Selektion treibt. Selbst der abgebrühte Geldmensch unseres vielsagenden Witzes möchte ein anständiges Mädchen heiraten!

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Alles, was in den vorangehenden Abschnitten besprochen wurde, die Übervölkerung, die kommerzielle Konkurrenz, die Zerstörung unserer natürlichen Umgebung und die Entfremdung von ihrer ehrfurchtgebietenden Harmonie, der durch Verweichlichung bewirkte Schwund der Fähigkeit zu starken Gefühlen, dies alles wirkt zusammen, um dem modernen Menschen jegliches Urteil darüber zu rauben, was gut und was böse ist.

Zu alledem aber kommt dann noch die Exkulpation des Asozialen, die uns durch die Einsicht in die genetischen und psychologischen Gründe seiner Fehl­leistungen aufgedrängt wird.  

 wikipedia  Exkulpation  Unter der Exkulpation (von lat. culpa, „Schuld“) wird in der Rechtswissenschaft die Schuldbefreiung einer Person verstanden.

Wir müssen es lernen, einsichtsvolle Humanität dem Individuum gegenüber mit der Berücksichtigung dessen zu verbinden, was der menschlichen Gemein­schaft not tut. Der Einzelmensch, der mit dem Ausfall bestimmter sozialer Verhaltensweisen und dem gleichzeitigen Ausfall der Fähigkeit zu den sie begleitenden Gefühlen geschlagen ist, ist tatsächlich ein armer Kranker, der unser volles Mitleid verdient. Der Ausfall selbst aber ist das Böse schlechthin. Er ist nicht nur die Negation und Rückgängigmachung des Schöpfungsvorganges, durch den ein Tier zum Menschen wurde, sondern etwas viel Schlimmeres, ja Unheimliches.

In irgendeiner geheimnisvollen Weise führt die Störung moralischen Verhaltens nämlich sehr oft nicht zu einem einfachen Fehlen alles dessen, was wir als gut und anständig empfinden, sondern zu einer aktiven Feindschaft dagegen.

Eben dies ist das Phänomen, das viele Religionen an einen Feind und Gegenspieler Gottes glauben läßt. 

Wenn man wachen Auges alles das betrachtet, was gegenwärtig auf der Welt geschieht, kann man einem Gläubigen nicht widersprechen, der die Ansicht vertritt, der Antichrist sei los.

Zweifellos droht uns durch den Verfall genetisch verankerten sozialen Verhaltens die Apokalypse, und zwar in einer besonders gräßlichen Form. 

Doch ist diese Gefahr wohl leichter zu bannen als andere, wie die der Übervölkerung oder des Teufelskreises des kommerziellen Wettbewerbs, denen man nur durch umwälzende Maßnahmen, zumindest durch eine erzieherische Umwertung aller heute verehrten Scheinwerte entgegentreten kann.

Zur Verhinderung des genetischen Verfalls der Menschheit genügt es, der alten Weisheit eingedenk zu bleiben, die der weiter oben zitierte alte jüdische Witz in klassischer Weise ausspricht. Es genügt, bei der Gattenwahl die einfache und selbstverständliche Forderung nicht zu vergessen: Anständig muß sie sein – und er nicht minder.

Ehe ich mich dem nächsten Kapitel zuwende, das von den Gefahren des Traditionsverlustes handelt, die durch die allzu radikale Rebellion der Jugend herauf­beschworen werden, muß ich einem möglichen Mißverständnis vorbeugen. Alles das, was im Vorangehen über die gefährlichen Folgen der zunehmenden Infantilisierung gesagt wurde, insbesondere über das Schwinden von Verantwortungs­bewußtsein und von Wertempfindungen, bezieht sich auf die rasch anwachsende Jugendkriminalität und keineswegs auf die weltweite Rebellion der heutigen Jugendlichen. 

So energisch ich im Folgenden den gefährlichen Irrtümern entgegentreten werde, denen sie sich hingeben, so unmißverständlich sei hier festgestellt, daß sie keineswegs an einem Mangel sozialen und moralischen Empfindens und noch weniger an Wertblindheit leiden. Ganz im Gegenteil: Sie haben ein ungemein richtiges Empfinden dafür, daß nicht nur etwas faul ist im Staate Dänemark, sondern daß in sehr viel größeren Staaten sehr vieles faul ist.

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