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(1)  Adam und Eva in der Zerreißprobe

  Theo Löbsack (1971)

 

 

   Sind wir dem Leben und der Technik von morgen gewachsen?  

13-32

Alles spricht dafür, daß die Welt von morgen eine technisierte Welt sein wird, eine Welt der Fernsehapparate und Flugzeuge, des programmierten Lernens, der manipulierten Verbraucherwünsche, der Weltraumreisen und der Ersatzteil-Chirurgie.

Aber wird es auch eine Welt sein, in der wir Menschen uns wohlfühlen können? Werden wir den geistig-seelischen Belastungen gewachsen sein, die uns ein von Computern beherrschtes Leben auferlegen wird? Werden wir die zunehmenden Umweltgefahren meistern?

Noch immer kommen wir doch mit einem Gehirn auf die Welt, das von dem des Neandertalers kaum verschieden ist. Unserer biologischen Ausstattung nach gehörten wir eigentlich in die Eiszeit - werden wir mit diesem Rüstzeug die Belastungen einer synthetischen, sterilen, naturentfremdeten Zukunft ertragen?

Das Gehirn, das "Meistergewebe des menschlichen Körpers", wird es auch dieses Wunder vollbringen, oder werden wir auf der Strecke bleiben: erstickt in den Abgasen unserer Technik, vergiftet von künstlich erzeugten Chemikalien, nervenkrank in den Riesenstädten einer atombedrohten, übervölkerten und leistungs­besessenen Welt?

Noch immer sind wir letzten Endes für frische Luft und natürliche Nahrung geboren, sind wir "programmiert" für ein Dasein voll körperlicher Bewegung und einigermaßen überschaubarer Existenz­probleme. Das hektische und nervöse Treiben des heutigen Lebens ist uns fremd und wir müssen unsere Natur verleugnen, um ihm gewachsen zu sein.

Ein Beispiel: Im Straßenverkehr sieht sich der Autofahrer heute zu einem fast roboterartigen Verhalten gezwungen. In Sekundenschnelle muß er auf die verschiedensten Signale reagieren, keinen Augenblick lang darf er sich seiner Phantasie überlassen. Nicht viel bequemer haben wir es im Beruf. Da gilt es, sich häufig wechselnden Bedingungen anzupassen, eine Aufgabe, die vielen Menschen vielleicht leichter fiele, wenn sie sich im privaten Bereich nicht dem Trommelfeuer der Werbe- und Unterhaltungsindustrie ausgeliefert sähen, Einflüssen, die ihnen kaum Zeit lassen, zu sich selbst zu kommen.

Darüber hinaus drohen uns heute die Umweltgefahren. Der technische Fortschritt hat seine Schattenseiten offenbart: Lärm, Luft- und Wasserverschmutzung, wachsende Müllberge, die maßlose Anwendung giftiger Pflanzenschutzmittel, die uferlose Produktion synthetischer, im Naturhaushalt unbekannter und teilweise gefährlicher Stoffe, die sich auch in langen Zeiträumen nicht zersetzen, sind zu einer weltweiten, in beklemmendem Ausmaß wachsenden Gefahr für den Menschen geworden.

Das Unheimlichste an all dem ist wohl die Geschwindigkeit, mit der sich das Gegenwärtige heute verändert und wir mit neuen Problemen fertig werden müssen. Diese Geschwindigkeit ist zu keiner Epoche so atemberaubend gewesen. Aus einer Zeit der Ölfunzeln und Pferdedroschken werden wir hineinkatapultiert in eine Zukunft mit schnellen Autos und Computern, mit verpflanzten Herzen und Freizeitproblemen. Wohin wir blicken, fast nichts ist heute noch so, wie es gestern war. Das läßt die Sorge aufkommen, ob der Mensch eine zwar faszinierende, aber seine elementaren Lebensbedürfnisse immer weniger befriedigende Zukunft ertragen wird, ohne dabei wesentliche Eigenschaften seines Menschseins einzubüßen.

Mit anderen Worten: Werden wir nicht als Preis für die von uns geforderte Anpassung Merkmale des Menschlichen aufgeben müssen, die uns heute wert und teuer sind: ein Stück geistiger Unbeschwertheit vielleicht, etwas vom Zeithabenkönnen für den Mitmenschen, ein wenig Verträumtheit und Bedürfnis nach Ruhe, nach Freiheit und Bewegungsraum? Wird uns das alles zunehmend schwerer erreichbar werden in einer Welt, deren Bewohnerzahl sich zu allem Überfluß in kaum dreißig Jahren verdoppeln soll? Schon heute führen die Bewohner mancher Entwicklungsländer ein eher ameisenhaftes als menschenwürdiges Leben - wie wird das im Jahre 2000 sein? Werden die reichen Nationen diesen Menschen durch Geburtenkontrolle und wirtschaftliche Unterstützung noch rechtzeitig Hilfe bringen können?

   Ein menschlicher Ameisenhaufen   

Das alles sind bange Fragen. Unser Problem aber spitzt sich auf die eine Frage zu, ob das Gehirn, dem wir alle unsere medizinischen und technischen Errungenschaften verdanken, ob dieses Organ nicht letztlich zu unserem Totengräber wird, weil es ihm nicht gelingen wollte, den technischen Fortschritt daran zu hindern, daß er sich wie ein Bumerang gegen den Menschen selbst wendet?

14/15

Greifen wir die Bevölkerungsexplosion heraus: Dank der großen medizinischen Erfolge, der Senkung der Mütter- und Säuglingssterblichkeit, der Verlängerung des Lebens, der Beherrschung der Infektionskrankheiten - dank all dieser großen Taten gibt es heute nicht nur immer mehr Erdbewohner, sondern werden die Menschen auch zunehmend älter als einst. Ärztliches Handeln beschert uns also einerseits Gesundheit und langes Leben, hilft auf der anderen Seite aber mit, die Erde mehr und mehr in einen menschlichen Ameisenhaufen zu verwandeln.

Alles, was uns die Zukunft beschert, wird im Schatten der Springflut menschlichen Lebens stehen, deren Zeugen wir heute sind. Die Zahlen, um die es geht, sind sattsam bekannt, aber man kann sie nicht eindringlich genug wiederholen. Nur wenige Jahre noch, und die menschliche Massenvermehrung hat die Vier-Milliarden-Grenze überschritten. Tag für Tag vermehrt sich die Erdbevölkerung heute um etwa 190.000 Menschen (Geburten abzüglich Sterbefälle). Das ist die Bewohnerzahl einer Stadt wie Genf oder Bonn. Montag: Genf, Dienstag: Bonn, Mittwoch: Saarbrücken, Donnerstag: Straßburg ... Wie wäre es, wenn die Fernsehsprecher allabendlich einen Lagebericht gäben: "Auch heute hat sich die Erdbevölkerung wieder um 190.000 Köpfe vermehrt..."

Ob es gelingen wird, diese Lawine mit humanen Mitteln wie der Empfängnisverhütung in absehbarer Zeit aufzuhalten, dazu gibt es wenig optimistische und viele pessimistische Stimmen. Unheimlich bleibt ein Gesichtspunkt, auf den der schottische Psychiater George Carstairs hingewiesen hat. Man sollte, so warnte er, die irrationalen Kräfte nicht unterschätzen, die in einem Menschenkollektiv ausbrechen können, wenn die hergebrachten Sozialstrukturen bei ungehemmter Massen­vermehrung zusammenbrechen. Das Bevölkerungsproblem wird nach Carstairs viel zu einseitig als Ernährungsproblem verstanden. Viel zu wenig werde auf die drohende Demoralisierung von Menschen hingewiesen, die unter Pferchungsbedingungen leben müßten.

In diesem Zusammenhang muß man ein bemerkenswertes Experiment erwähnen, das der amerikanische Verhaltensforscher Dr. John Calhoun vom National Institute of Mental Health in Maryland unlängst mit Mäusen unternommen hat. Calhoun hatte sich gefragt, was auf uns zukomme, wenn um das Jahr 2010 bei einer Erdbevölkerungszahl von etwa 7 Milliarden ein kritischer Wert erreicht werde, über den hinaus sich die Menschheit nicht mehr so unbekümmert vermehren könne, wie sie es seit den Tagen ihres Jäger- und Sammlerdaseins vor 40.000 Jahren getan hat. In einem Drahtkäfig hatte Calhoun versucht, die apokalyptische Situation zu simulieren. Seine Mäuse lebten mit allem denkbaren Komfort.

15/16

Für Wasser, Nahrung und Nistgelegenheiten, für Kletterpartien war reichlich gesorgt - nur eines fehlte: die "Ellenbogenfreiheit". Rund 2600 Tiere waren gezwungen, auf rund drei mal drei Meter Fläche miteinander auszukommen.

Welche Folgen das hatte, wurde sichtbar, als die Mäuse sich selbst überlassen waren. Zunächst bildete sich eine "Hackordnung", eine Rangfolge unter den Tieren von starken, beherrschenden bis hinab zu den schwächsten. Die kräftigsten Mäuse besetzten sogleich die den Wasser- und Nahrungsbehältern nächstgelegenen Nistplätze. Weniger starke gaben sich mit ungünstigeren Nestern zufrieden, den schwächsten blieb nur der offene Käfigraum. Nach einiger Zeit zeigten alle Mäuse erstaunliche Verfallserscheinungen, die Calhoun als "Withdrawal-Syndrom" zusammenfaßte: "Abbau der Persönlichkeit" könnte man vermenschlichen.

Was war dafür typisch? Die rangniedersten Tiere reagierten selbst dann kaum noch, wenn sie von anderen gebissen wurden. Die stärksten benahmen sich zwar friedlich und behielten ihr glattes Fell, aber sie wirkten bedrückt und lethargisch. Alle tranken, fraßen und schliefen, aber die Männchen kopulierten nicht mehr mit den Weibchen. Sie bauten weder an den Nestern noch kämpften sie, noch stöberten sie nach Mäuseart umher. "Sie haben aufgehört, richtige Mäuse zu sein", kommentierte Calhoun. Für alle Tierversuche gilt, daß der Schluß auf den Menschen fragwürdig bleibt. Aber der Hinweis Professor Carstairs auf den Menschen gibt doch zu denken. Und so mögen denn Calhouns Mäuse doch ein Zeichen setzen: Wenn es nicht gelingen sollte, die Menschenvermehrung auf der Erde rechtzeitig zu stoppen, dann wird die Natur vermutlich nicht zögern, sich des Problems auf ihre Weise anzunehmen.

 

  Nahrung 

Unabhängig von den Folgen der psychischen Streßsituation, in der sich große Teile der Erdbevölkerung bereits befinden, bleibt natürlich das Nahrungsproblem. Nicht nur hungern heute schon zwei Drittel der Erdbevölkerung oder sind zu knapp oder falsch ernährt, sondern es wachsen mit dem steigenden Lebens­standard auch die Ansprüche des restlichen Drittels. Die Welt von morgen, die wir "bestehen" wollen, sie müßte uns natürlich auch ernähren können. Was kann, was sollte gegen den Hunger geschehen? Sieht man von der Einführung rationeller landwirtschaftlicher Methoden in den Entwicklungsländern ab, so gäbe es noch verschiedene Wege, um die Lage zu entschärfen, wenn sie nur energisch genug beschritten würden.

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Vor unseren Haustüren liegt das Meer als gigantisches, aber weithin ungenutztes Nahrungsreservoir. Im Gegensatz zum Acker hat das Meer viele „Stockwerke", und sie sind fruchtbarer, als wir ahnen. Um die Fruchtbarkeit der Meere besser zu nutzen, dürfte es nur nicht mehr dem Zufall überlassen bleiben, welche und wie viele Fische die Fangboote einbringen. Was not tut, wäre eine planvolle Fisch- und Algenzucht. Auch könnten unterseeische Tangfelder angelegt werden, die sich düngen und maschinell abernten ließen.

Als der französische Chemiker Champagnat vor einigen Jahren entdeckte, daß das Erdöl als Nährboden für Mikro-Organismen benutzt werden kann, war eine weitere Hoffnung geweckt: Während die Mikroben dem Öl das Paraffin entziehen, vermehren sie sich und erzeugen dabei Eiweiß, das als Nahrungsmittel hochwillkommen ist. Zusätzliches Eiweiß, das im Gegensatz zu Zucker und Fett im Körper nicht durch andere Nährstoffe ersetzt werden kann, soll nach Ansicht des finnischen Nobelpreisträgers Artturi Virtanen demnächst auch in kargen Gegenden von Kühen erzeugt werden können. Professor Virtanen hat nachgewiesen, daß die Pansen-Bakterien sich „umerziehen" lassen, so daß die Kühe Milch-Eiweiß erzeugen, ohne zuvor die doppelte Menge pflanzlichen Eiweißes gefressen zu haben, wie es normalerweise geschieht. Sie geben sich statt dessen mit einem Kunstfutter zufrieden, das im wesentlichen aus Harnstoff besteht. Bei der angespannten Ernährungslage sieht Virtanen hier einen Lichtblick für Länder, in denen Kühe wegen der fehlenden Weiden nicht gehalten werden können.

 

Energie

So angestrengt, wie wir heute nach neuen Nahrungsquellen für die Menschheit forschen müssen, so dringlich ist die Lösung unserer Energie-Probleme. Große Hoffnungen gelten dem Atom. Wird aber die Atomkraft aus Kernspaltungs- und Kernverschmelzungsprozessen die klassischen Energiequellen schon bald völlig verdrängt haben? Danach sieht es zunächst nicht aus. Wenn es auch keinen Zweifel gibt, daß die Atomreaktoren zu den bedeutendsten Energielieferanten vor allem für Elektrizität aufrücken werden, so geht der Umstellungsprozeß doch zumindest vorläufig noch nicht auf Kosten des Erdöls. Der Erdölbedarf wird in den nächsten Jahrzehnten sogar noch erheblich steigen. Glücklicherweise kann er das auch, denn die Ölreserven der Erde sind noch lange nicht erschöpft. Die sicher existierenden Mineralöl-Vorräte der Erde werden zur Zeit auf etwa 46,5 Milliarden Tonnen geschätzt, und hinzu kommen große „wahrscheinliche" Reserven.

17/18

Neue Energiequellen könnten erschlossen werden, wenn wir Ebbe und Flut im großen Stil durch Kraftwerke ausnutzen lernten, Kraftwerke, die den Gezeitenhub in elektrische Energie umwandelten. Verheißungsvoll sind auch die Fortschritte bei der Entwicklung sogenannter Brennstoff-Zellen, die Elektrizität auf chemischem Wege weit wirtschaftlicher erzeugen als die herkömmlichen Trockenbatterien. Mit solchen Energielieferanten ausgerüstet, würde ein Autofahrer der Zukunft kein Benzin mehr tanken müssen, sondern seinen Brennstoff-Bedarf durch den Kauf handlicher Nachfüllbeutel mit Wasserstoffgas decken. In seinem Auto gäbe es keine Probleme der Kraftübertragung und der Abgase mehr, die unseren heutigen Konstrukteuren so viel Kopfschmerzen bereiten. Die Motoren - an jedem Rade einer - könnten durch eine elektrische Spezialschaltung so aufeinander abgestimmt sein, daß das Auto kein Differentialgetriebe mehr brauchte und die sperrige Kardanwelle überflüssig würde. Das „elektrische Differential" könnte auch die notwendig verschiedenen Tourenzahlen der Räder beim Kurvenfahren koordinieren und verhindern, daß ein Rad auf vereister Straße mit hoher Geschwindigkeit „durchdreht".

 

Unerschöpfliche Natur?

All die hoffnungsvollen Fortschritte in der angewandten Wissenschaft dürfen freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir ungewollt oder aus Kurzsichtigkeit zahlreiche Sünden an der Natur begehen. Der schlechte Dienst, den wir uns damit erweisen, ist offenkundig. Er zeigt sich einerseits in der Verschmutzung unserer Wasserläufe und Seen, aber auch in der Verpestung der Atemluft, während zugleich unsere hygienischen Ansprüche wachsen. Wenn der tägliche Wasserverbrauch eines Mitteleuropäers vor 40 Jahren noch bei rund 130 bis 150 Litern lag, so ist er inzwischen auf etwa das Doppelte gestiegen - in der Schweiz liegt er sogar bei 400 Litern. Bis zum Jahre 2000 wird eine nochmalige Verdoppelung prophezeit. Solche Mengen einwandfreien Wassers werden auch nicht annähernd verfügbar sein, wenn die Verschmutzung weiter anhält und der Grundwasserspiegel durch Moor­kultivierungen und Entwässerungs­maßnahmen weiter gesenkt wird. Schon heute hat die Verschmutzung der Gewässer in den Industriegebieten Europas einen grotesken Grad erreicht.

Auf einer Tagung in Bad Boll war zu hören, daß in der Bundesrepublik derzeit rund 25 Prozent der aus öffentlicher Kanalisation stammenden Abwässer noch völlig ungeklärt und 40 Prozent nur unzureichend mechanisch geklärt in Flüsse und Seen fließen.

18/19

Stündlich ergießen sich heute rund 700.000 Kubikmeter einer aus Exkrementen, Chemikalien und anderen Schadstoffen bestehenden Brühe in die bundes­deutschen Gewässer, die uns Edelfische liefern sollen und aus denen wir unser Trinkwasser beziehen. Welche Gefahr unsere zweischneidige Technik für die uns verbliebene Natur bedeuten kann, zeigte sich unlängst auch in der Nordsee. Als der Supertanker „Torrey Canyon" vor der südenglischen Küste leck schlug und seine Ölladung auslief, starben ungezählte Wassertiere den Öltod und wurden die benachbarten Küsten auf eine unbeschreibliche Weise besudelt. Hätte das Schiff statt des Öls Unkraut­vernichtungs­mittel an Bord gehabt, so wäre möglicherweise das pflanzliche Leben in der gesamten Nordsee ausgelöscht worden.

Was das Wasser betrifft, so muß uns auch der Düngeeffekt beunruhigen, den manche Chemikalien wie Phosphate und Nitrate auf die Wasserpflanzen haben. Dort, wo Phosphate in Konzentrationen von mehr als 10 Milligramm je Liter vorkommen, erhalten Pflanzen und Plankton überschüssige Nahrung. Wenn die nun üppig wuchernden Algen absterben, benötigen sie große Mengen Sauerstoff, der aber um so weniger zur Verfügung steht, je wärmer das Wasser ist (weil es beispielsweise zur Kühlung von Kraftwerken verwendet wurde). Die Folgen sind: Der Sauerstoffgehalt des Wassers sinkt, Fische und andere Wasserbewohner sterben, Faulschlamm bildet sich am Grund und läßt Schwefelwasserstoff aufsteigen. Der Geschmack des Wassers verschlechtert sich bis zur Ungenießbarkeit. Mehr als 200 Millionen Menschen auf der Erde erhalten aus diesem Grunde schon heute kein einwandfreies Trinkwasser mehr.

Hinzu kommt die beispiellose Verschwendung, die wir mit dem kostbaren Naß treiben. Zum Waschen eines Personenwagens werden bis zu 200 Liter Wasser verbraucht. Allein der häusliche Verbrauch erreicht bis zu 100 Liter pro Kopf und Tag, von denen nur 2,5 Liter zum Trinken und Kochen verwendet werden.

Aber das ist nicht alles.

Höchst problematisch erscheinen Pläne zur Errichtung von rund 40 Atomkraftwerken am Oberlauf des Rheins. Außer gänzlich neuen Sicherheitsproblemen hinsichtlich des Strahlenschutzes der Bevölkerung und des Personals werden diese Werke die Kühlwasserfrage aufwerfen. Das dafür vorgesehene Rheinwasser würde stromabwärts von Werk zu Werk immer stärker aufgeheizt. Ständiger Nebel und Glatteis an den Rheinufern in der kalten Jahreszeit, noch unbekannte Auswirkungen für den Weinbau, tiefgreifende Folgen für die Lebewelt des Flusses und möglicherweise günstige Vermehrungsbedingungen für Krankheitserreger wären die Konsequenzen einer Maßnahme, die uns im gemäßigten Klima einen Strom bescheren soll, der künstlich auf mehr als tropische Temperaturen gebracht worden ist.

19/20

Das drohende Unheil, so war zu hören, könnte durch Kühltürme abgewendet werden. Diese würden das aufgeheizte Wasser auf tragbare Temperaturen bringen, bevor es in den Rhein zurückflösse. Es fragt sich freilich, ob nicht durch den aufwendigen Betrieb solcher Türme das Kraftwerk wegen der dann bedingten Stromkostenerhöhung wieder unrentabel würde. So steht zu fürchten, daß sich der aufgeheizte Rhein den Verantwortlichen als das vermeintlich kleinere Übel darstellen wird und das Verhängnis seinen Lauf nimmt. Schon lange führt der Rhein seiner fortgesetzten Verschmutzung durch Abwässer und Chemikalien wegen den beschämenden Namen "Deutsche Kloake". Und unsere holländischen Nachbarn beschweren sich zunehmend, daß ihr Land von den Rheinfluten zum "Mülleimer" Europas degradiert wird. Statt zu versuchen, der Misere Herr zu werden, sind wir nun dabei, ihr die Krone aufzusetzen.

Die Beispiele für Rückschläge nach unüberlegten Eingriffen in den Haushalt der Natur sind Legion. In Südafrika wurde einmal systematisch Jagd auf die „unnützen" Flußpferde gemacht, die scheinbar nur den Schiffen den Weg versperrten. Die Folge war, daß gebietsweise die Bilharziose, eine gefährliche Wurmkrankheit, unter der Bevölkerung zu grassieren begann. Spät erst kam der Zusammenhang zutage. Die badenden Flußpferde hatten den Flußschlamm in Bewegung gehalten und beim An-Land-Stapfen mit ihren schweren Leibern regelmäßig Kanäle hinterlassen, durch die das Wasser nach Überschwemmungen abfließen konnte. Nach dem Verschwinden der Tiere blieb das Wasser in den Uferzonen zurück, Sümpfe entstanden und boten den als Zwischenwirten der Bilharziose-Erreger dienenden Wasserschnecken günstige Vermehrungsbedingungen.

Den Mißbrauch, den wir mit dem Wasser treiben, treiben wir auch mit der Luft. Alljährlich schicken wir Hunderttausende von Tonnen giftiger Gase, darunter Schwefeldioxid, Kohlenmonoxid, Fluor und Chlor, Blei und Stickoxide, Übelkeit- und krebserregende Stoffe in die Luft, die wir atmen. Mehr als dreihundert chemische Verbindungen nehmen an dieser Verschmutzung teil, darunter neuerdings auch ein gefährlicher, weil in die Lungen­bläschen eindringender Feinstaub aus chemischen Betrieben. Man hat die Lungen verstorbener Bewohner von Industriestädten mit denen von Landmenschen verglichen. Dabei zeigte sich, daß die "ländliche Lunge" dank der Berührung mit relativ guter Luft ihre natürliche rote Farbe beibehält. Die Lungen der Industriestädter dagegen sind fast schwarz von der rußhaltigen Luft, die sie tagein, tagaus einzuatmen gezwungen waren. Um eine Vorstellung von der Größenordnung des Problems zu bekommen, ist es interessant zu hören, daß allein in Nordrhein-Westfalen in den letzten 15 Jahren von 2400 Betrieben rund 2,5 Milliarden Mark für Maßnahmen gegen die Luftverpestung ausgegeben worden sind.

20/21

Was noch zu geschehen hätte, wird jedem deutlich, der heute an einem windstillen Werktag ins "Revier" fährt. Da kann es ihm passieren, daß er die Sonne nur wie durch eine milchig-trübe Scheibe sieht, durch eine Dunstglocke, die nicht von natürlichen Wolken herrührt, sondern von den Industrie-Abgasen, die als stickige Schwaden über den Dächern der Städte lagern. Schon bei geringer Dampfübersättigung der Luft entstehen Wolken und Nebel, weil die Schmutzteilchen als Kondensationskerne dienen. Ergebnis: Die Industriestädte erhalten im Durchschnitt fünf bis zehn Prozent mehr Regen als das umgebende Land - die Sonntage ausgenommen. Außerdem ist die durchschnittliche Sonnenscheindauer verringert: eine mittelgroße Industriestadt erhält etwa 30 Prozent weniger Sonnenlicht und 90 Prozent weniger ultraviolette Strahlung als ihre ländliche Umgebung.

 

    Schwefeldioxid, Kohlenmonoxid ...  

 

Nebel und Rauch bilden gemeinsam den berüchtigten Smog, ein Wort, das aus dem englischen smoke=Rauch und fog=Nebel zusammengesetzt ist. Ursprünglich kennzeichnete der Begriff nur die an heißen und trockenen Hochsommertagen über Los Angeles auftretende Lufttrübung, heute wird er auch für ähnliche Erscheinungen über anderen Städten benutzt. So lastete über London zwischen dem 5. und 9. Dezember 1952 nach einer Periode ungewöhnlicher Windstille eine 60 bis 150 Meter hohe Schicht verpesteter Luft. Der Schwefeldioxidgehalt stieg auf das Sechsfache, der Rußanteil auf das Vierzehnfache der gewohnten Mengen an. Die Londoner reagierten mit Angstzuständen, Atembeklemmungen, Reizhusten, Schleimhautentzündungen und Erbrechen. Besonders betroffen wurden ältere Personen und solche, die an Brustbeschwerden litten oder früher an solchen Krankheiten gelitten hatten. Unter ihnen kam es zu überdurchschnittlich zahlreichen Todesfällen - die Statistik nennt 4000 Tote über der Norm während der Smog-Tage und den beiden darauffolgenden Wochen: 445 Tote auf eine Million Menschen.

Eine vielleicht noch gefährlichere Geißel sind die Auspuffgase der Kraftfahrzeuge. Nur wenige Großstädter wissen, daß die Luft an belebten Kreuzungen bei Windstille in 1,5 Meter Höhe über der Erde bis zu 0,03 Prozent Kohlenmonoxid enthalten kann - eine Konzentration, die bei den meisten Menschen nach einigen Stunden Übelkeit erregt.

21/22

Kohlenmonoxid ist das Gas, das den Selbstmördern in der Garage bei laufendem Motor den Tod bringt. Seine Gefährlichkeit liegt darin, daß es sich leichter als Sauerstoff mit den roten Blutkörperchen verbindet. Es verdrängt den Sauerstoff aus seiner lockeren Bindung mit dem Hämoglobin und hindert das Blut daran, den Körper ausreichend mit Sauerstoff zu versorgen. Wenn der untere Schwellenwert von 15 bis 20 Prozent an Hämoglobin gebundenen Kohlenmonoxid erreicht ist, treten die ersten Krankheitszeichen wie Kopfschmerzen und Benommenheit auf. Bei 20 bis 30 Prozent gebundenem Kohlenmonoxid kommt es zu Vergiftungserscheinungen wie Bewußtlosigkeit, Absinken des Blutdrucks und geweiteten Pupillen; Muskelzuckungen und Krämpfe treten hinzu. Bei 65 Prozent tritt meist der Tod durch Atemlähmung und Herzversagen ein. In der Atemluft kann ein Volumenprozent Kohlenmonoxid bei längerem Einatmen tödlich sein.

Ein weiterer gefährlicher Bestandteil verpesteter Luft ist das Schwefeldioxid. Sein größerer oder geringerer Anteil in der Atemluft kann geradezu an den Sterbeziffern abgelesen werden: Fünfjährige Studien in New York in den Jahren 1960 bis 1964 haben gezeigt, daß eine direkte Abhängigkeit der durch­schnitt­lichen täglichen Sterbeziffern vom jeweiligen Schwefeldioxidgehalt der Atemluft besteht. Das stechend riechende, seit alters als Entwesungsmittel dienende Schwefeldioxid bildet sich beim Verbrennen von Schwefel oder Schwefelkohlenstoff. Es wird leicht vom Erdboden, von Pflanzen und vom Wasser aufgenommen; es beschleunigt die Korrosion von Metallen, Papier und Baustoffen. Bei Konzentrationen über 0,003 Volumenprozent reizt es stark die Haut und die Schleimhäute, führt aber auch zu Husten und Erbrechen. Längeres Einatmen auch geringer Konzentrationen hat bei Affen zu Schüttellähmungen und Gehirnschäden geführt.

In München ist das Schwefeldioxid ein besonders unerfreuliches Abfallprodukt der in Bahnhofsnähe zahlreichen Brauereien. (Wie es allerdings heißt, wollen sich die Brauereien demnächst auf Erdgas umstellen). Im türkischen Ankara, wo die Bevölkerung viel billige Braunkohle verfeuert, sind schwefelhaltige Verbindungen in der Luft eine Plage geworden. Die Luftverschmutzung in Ankara hat in den letzten vier Jahren während der Wintermonate um rund 40 Prozent zugenommen. Wie ein Bericht verrät, enthält die Luft über der Stadt sechsmal mehr Rauch und zweimal mehr Schwefelgas, als es Menschen zugemutet werden könnte.

Auf die unheimlichste Seite des Luftverpestungsproblems hat unlängst Charles L. Hosler von der Pennsylvania-Universität hingewiesen. Er befürchtet nämlich, daß die Luftverpestung mit einem Krug verglichen werden muß, der nur solange zum Brunnen geht, bis er bricht. Es sei nicht ausgeschlossen, meint Hosler, daß ein Schwellenwert existiere, jenseits dessen jede geringfügige, zusätzliche Belastung des irdischen Luftmantels genügen könnte, um schwerwiegende und weiträumige klimatische Veränderungen auszulösen. Ob die dann in Gang gekommene Eigengesetzlichkeit noch mit menschlichen Mitteln beherrscht werden kann, sei durchaus fraglich.

22

Ein riesiger Schuttabladeplatz

 

Anrüchigster Teil der Umweltgefahren, mit denen wir das "Nest der Menschheit von morgen" beschmutzen, ist die sogenannte Müll-Lawine. In der Bundesrepublik - so ein Bericht vom Jahre 1968 - fallen jährlich rund 200 Millionen Kubikmeter Müll an, das sind 3,3 Kubikmeter pro Kopf der Bevölkerung. Nur etwa 20 Millionen Kubikmeter - ein Zehntel der Gesamtmenge - wird jedoch sachgerecht abgelagert oder gelangt in die 19 Müll-Verbrennungsanlagen und elf Kompostierbetriebe in unserem Land. Der Rest wandert auf „seuchenhygienische Gefahrenherde", wie die Vereinigung Deutscher Gewässerschutz e.V. die derzeit existierenden rund 30.000 Müllkippen in Westdeutschland bezeichnet hat.

200 Millionen Kubikmeter Müll - die Zahl sollte man auf sich wirken lassen. Für 200 Millionen Kubikmeter Müll brauchte man 2,7 Millionen mittlere Güterwagen. Aneinandergekoppelt würde dieser Zug mehr als vierzigmal von Köln nach Königsberg reichen. Hinzu kommen 25 Millionen Kubikmeter Klärschlamm, ein Güterzug, der fünfmal die gleiche Strec durchmessen würde. Nicht berücksichtigt in diesen Zahlen ist der Atom-Müll, ist der gas- und staubförmige Müll, der sich - exkrement- und giftbeladen - aus den Abwasserrohren in unsere Flüsse und Seen wälzt und das Grundwasser gefährdet.

In den USA erreicht die Müll-Flut noch phantastischere Dimensionen. Nach einem Bericht der Zeitschrift „Time" rangieren die Amerikaner alljährlich sieben Millionen Autos aus und werfen 100 Millionen Autoreifen weg. Hizu kommen 20 Millionen Tonnen Altpapier, 28 Milliarden Flaschen und 40 Milliarden Büchsen. Eine einzige Säuberungsaktion an einer 1,5 Kilomet langen Straßenstrecke in Kansas ergab 360 Getränkeflaschen, 770 Papp-Becher und 730 Zigarettenschachteln. Die Kosten der amerikanischen Müllbeseitigung betragen derzeit jährlich etwa 4,5 Milliarden Dollar, ein Betrag, von dem wir hierzulande zwei Millionen Mittelklasse-Wagen kaufen oder 120.000 komfortable Bungalows bauen könnten.

Endstation der großen Masse des festen Mülls in der Bundesrepublik sind die Müllkippen, von denen laut Bonner Städtebauinstitut nur etwa fünf Prozent als „kontrolliert" und „geordnet" anzusehen sind. Den übrigen fehlen teilweise die elementarsten technischen und hygienischen Voraussetzung für eine gefahrlose Ablagerung. Ratten tummeln sich im wahllos abgeladenen Unrat.

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Schwelbrände über den Gruben und Halden lassen Rauchfahnen als weithin sichtbare Wahrzeichen für eine Belästigungsform aufsteigen, die den in der Nähe wohnenden Menschen offenbar bedenkenlos zugemutet wird. Aber damit nicht genug. Am Grund der Müllgruben sammelt sich trübes, stinkendes Wasser an, dessen Anblick allein genügen kann, die Stätten zu meiden. „Nur wenige Müllplätze", stellt die Vereinigung Deutscher Gewässerschutz fest, „wurden bisher auf ihre mögliche Schädigung des Grundwassers untersucht. Wo Ablagerungen unsachgemäß erfolgten, hat das Grundwasser durch die Sickersäfte Schaden davongetragen. Jährlich sickern rund 250.000 Tonnen Salze aller Art aus den Müllplätzen durch Niederschläge in das Grundwasser."

Mancher Müllplatz birgt noch Ärgeres: Auf einer ehemaligen Kippe bei Köln entzündeten sich Faulgase in einem Augenblick, da man das Gelände schon einem neuen Zweck zuführen wollte. Auf dem planierten Areal sollte ein Kindergarten entstehen. Der Bau war schon begonnen worden, da flogen die Mauern unter dem Druck der Explosion in die Luft. Der heutige Müll ist ein erstaunlich buntes Sammelsurium. Er besteht aus Glas und Papier, aus Blech und Textilien, Knochen und Speiseresten, aus ranzig gewordenen Salben, aus Medikamenten und ätzenden Flüssigkeiten, aus Kartons und Stacheldraht, aus Möbeln, Gummi, demolierten Kühlschränken, alten Nähmaschinen, Autowracks und Tierkadavern. Neben gänzlich Undefinierbarem finden sich voll funktionsfähige Dinge: Waren, die aus plötzlicher Abneigung oder dem unwiderstehlichen Wunsch, das „neueste Modell" zu besitzen, weggeworfen wurden.

Müllkippen sind Fundgruben für Bastler. Aber sie spiegeln auch Völlerei. Und sie sind Indikatoren für die Kapitulation des Durchschnittsbürgers vor der Konsum-Werbung.

Was einer rationellen Müll-Beseitigung entgegensteht, ist dieses Neben- und Durcheinander so vieler verschiedener Dinge. Da ist beispielsweise das Glas. Es verrottet nicht, aber es fällt gemeinsam mit verrottenden, für die Kompostierung oder Verbrennung geeigneten Abfällen an. Seit die Getränke-Industrie dazu übergegangen ist, aus Rationalisierungsgründen anstelle der Pfandflaschen weitgehend Einwegflaschen feilzubieten, hat sich in der Bundesrepublik die jährliche Menge der Glasflaschen im Müll auf schätzungsweise 1,1 Millionen Tonnen erhöht. In Jahren mit heißen Sommern sind es noch mehr. Glas könnte zerkleinert, zermahlen und der Glasstaub als Ersatz für den Sand bei der Herstellung von Zement dienen. Aber wer sortiert das Glas aus dem übrigen Müll heraus? Wer käme auf die Idee, wenigstens in den Hochhäusern Müllschlucker mit zwei Einwurf-Öffnungen zu bauen?

24/25

Bei bestimmten Kunststoffen müssen uns die gefährlichen Gase Sorgen machen, die bei ihrer Verbrennung auftreten. Stein des Anstoßes ist besonders das PVC, das Polyvinylchlorid. PVC ist unter anderem ein beliebtes Verpackungsmaterial für Lebensmittel und Kosmetika. Bei seiner Verbrennung wird gasförmiger Chlorwasserstoff frei, dessen schädigende "Wirkung auf Bronchien, Lunge und Haut bekannt ist. Der Anteil des PVC an der Gesamtproduktion steigt ständig. Ein Beispiel dafür aus Hamburg: Jährlich werden hier rund 300 Millionen Flaschen aus PVC-Kunststoff unters Volk gebracht, deren Verbrennung rund 6000 Tonnen Chlorwasserstoff freisetzt. Nichtsdestoweniger wird für diese Konsumform flott geworben: „Aufmachen, austrinken, und dann einfach wegwerfen!" PVC-Brände sind durchaus nicht nur in Verbrennungsanlagen hervorzurufen. Sie können auch durch Selbstentzündung in den Müllgruben entstehen. Die zusammen mit der Luftfeuchtigkeit sich entwickelnde Salzsäure kann Korrosionsschäden auf Metallflächen hervorrufen. Schweden hat das Verbrennen von PVC bereits verboten, in der Bundesrepublik wird es dagegen weiter geduldet.

Angesichts der Müll-Misere stellt sich natürlich die Frage, wie es zu den steigenden Abfallmengen gekommen ist. Noch vor zwanzig, dreißig Jahren ahnte niemand, daß der Müll einmal zu einem derartigen Problem werden würde. Was man nicht mehr brauchte, wanderte in den Ofen oder auf die bescheidenen Müllgruben oder Komposthaufen des eigenen Hauses oder der Gemeinde.

Die Eskalation der Müllmengen setzte erst ein, als nach 1945 auf die dürren Jahre die fetten folgten. Die Warenproduktion stieg, der Konsum erhöhte sich. Aus dem Notstand wurde das Wirtschafts­wunder. Aber mit dem Wohlstand rissen auch Sitten ein, die zumindest im Hinblick auf den Müllanfall fragwürdig erscheinen müssen.

Zahlreiche Verbrauchsgüter-Produzenten erkannten, daß sich ihr Umsatz erhöhen ließ, wenn man den Kunden dazu brachte, "öfter mal was Neues" zu kaufen. Das war für den Werbemanager kein Problem, und so beschleunigten sie, allen voran die Modediktatoren, den Waren-Durchsatz beim Volke. Aus Rationalisierungs­gründen wurden mehr und mehr Produkte als Wegwerf- oder Einwegware und in Kunststoff-Ausführung hergestellt. Das alles ließ die Müllberge anschwellen, ohne daß im gleichen Maß für die Beseitigung des Mülls gesorgt werden konnte. Noch im Jahre 1968 war nur die Hälfte aller Einwohner der Bundesrepublik an eine regelmäßige Müllabfuhr angeschlossen. Im selben Jahr standen nur 19 Müll-Verbrennungsanlagen (für 8,25 Millionen Einwohner), 11 Kompostierungsanlagen (für 730.000 Einwohner) und 5 Zerkleinerungsanlagen sowie 13 geordnete Ablagerungen (für etwa 1,8 Millionen Einwohner) zur Verfügung.

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Der hektische Bau neuer Verbrennungs- und Kompostierungsanlagen, die in der herkömmlichen Ausführung nur neue Beiträge zur Luftverpestung liefern würden, dürfte kein ausreichender Damm gegen die Müll-Flut sein. Die Gegenmaßnahmen müßten anders aussehen. Sie müßten aus einer mehr kritischen Einstellung des Menschen gegenüber den Auswüchsen des Wohlstandsbetriebes kommen. So sollten wir zum Beispiel der Anbetung jenes Dogmas entsagen, nach dem das Wirtschaftswachstum absolute Priorität vor allen anderen Lebensfragen genießt. Konsum um jeden Preis - dieser Leitsatz läßt zwar die Mark rollen, er entpuppt sich aber auch als gefährliche Brutstätte für zahlreiche Umweltgefahren, von denen der Müll die anrüchigste ist.

 

Diese Stille ist mir unerträglich!

 

Mit "akustischer Pollution" hat man einen weiteren Feind menschlicher Gesundheit und damit Störenfried jener Zukunft bezeichnet, in die der Mensch hinein­wachsen, an die er sich gewöhnen und in der er sich wohlfühlen soll: den Lärm, von dem es heißt, daß sich der Mensch auch dann nicht an ihn gewöhnen könne, (sondern mit Gesundheitsschäden reagiert) wenn er glaubt, sich schon an ihn gewöhnt zu haben. Von Baustellen-, Flugzeug- und Straßenlärm wird heute jeder Bundesbürger zeitweise, jeder neunte ständig belästigt. Jeder zehnte von uns, so informierte unlängst die „Aktion Besser Hören", ist lärmkrank, und auf das Konto des Lärms kommt nach dem schwedischen Professor Lundberg auch ein Anstieg der Geisteskrankheiten.

Alle lärmenden Geräusche haben etwas gemeinsam. Sie wirken auf uns - bewußt oder unbewußt - als Schreckreize. Das heißt, sie sind mit einer „Erwartungsspannung" verbunden.

Unser Ohr übt - ähnlich wie die Nase - eine Warnfunktion aus. Es dient uns nicht nur zur Verständigung, sondern läßt uns auch Gefahren erkennen. Geräusche, die als Lärm empfunden werden, haben solchen gefahrverkündenden Charakter. Sie bewirken, daß sich der Körper unbewußt auf eine Abwehrreaktion einstellt. Das Herz bereitet sich auf eine erhöhte Leistung vor. Das Nervensystem gerät in einen Zustand der Anspannung. Das Ärgerliche an diesem angespannten Zustand ist, daß er sich so einfach nicht wieder löst. Denn die erwartete Abwehrreaktion, die „Entladung", bleibt ja aus. Der Schreckreiz stellt sich als blinder Alarm heraus. Und das nicht nur einmal - in lärmreicher Umgebung geschieht es wieder und wieder, mit jedem neuen Geräusch läuft das Spiel des „Erschreckens" mit der folgenden „Enttäuschung" über die ausbleibende Abwehrreaktion ab.

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Der vielleicht wundeste Punkt des Problems ist der Schlaf, das wichtigste Mittel, uns körperlich und seelisch wieder aufzufrischen. Jeder regelmäßig arbeitende Mensch braucht eine ausreichende Schlaftiefe und genügende Schlafdauer. Beide Voraussetzungen werden durch nächtlichen Lärm beeinträchtigt. Um gestört zu werden, braucht der Schläfer nicht einmal unbedingt zu erwachen. Auch schwächere Geräusche, die noch unter dem Schwellenwert des Weckreizes liegen, nimmt er unbewußt wahr, und er leidet unter ihnen.

Zu der lästigsten und gefährlichsten Lärmart zählen die Geräusche von schnell sich ändernder Reizstärke wie Hundegebell, wiederholtes Türenschlagen, auf- und abschwellende Motoren- und Pfeifgeräusche, ferner alle unverhofften und unberechenbaren Schallempfindungen, besonders solche von hoher Tonlage. Ein Mensch, der einem Lärm dieser Art ausgesetzt ist, kann seine Arbeit nur noch mit Mühe weiterverrichten. Hier tritt auch keine „Gewöhnung" und damit Abstumpfung ein im Gegensatz etwa zu gleichmäßigen leisen Geräuschen wie Uhrenticken. Geistig arbeitenden Menschen macht der wechselhafte, unberechenbare Lärm am meisten zu schaffen. Ihre Konzentrationskraft, ihre Fähigkeit, klar zu denken, lassen nach.

Ein besonders schwerwiegendes Zukunftsproblem wird uns mit dem Lärm von Überschallflugzeugen erwachsen. In absehbarer Zeit sollen die „Knallteppiche" des transatlantischen Überschallverkehrs Mitteleuropa überziehen und unser Leben in einer Lärmhölle verwandeln, wenn die Gefahr nicht durch gesetzliche Maßnahmen, noch rechtzeitig abgewendet wird. Der Überschalldonner überstreicht eine Zone, deren Ausdehnung von der Flughöhe der Maschine abhängt. Wenn das Flugzeug etwa fünfeinhalbtausend Meter hoch fliegt, so ist der Knallteppich etwa 50 Kilometer breit. Auf 80 Kilometer Breite dehnt er sich aus, wenn die Maschine auf etwa 14.000 bis 15.000 Meter Höhe steigt.

Der Überschalldonner entsteht solange ununterbrochen, wie das Flugzeug im Überschallbereich fliegt (also schneller als etwa 1150 km/st). Als Folge des raschen Druckanstieges vor dem Flugzeugbug kommt es zu der auch „Stoßwellenknall" (sonic boom) genannten Erscheinung, die sich als Druckkegel hinter dem Flugzeug herzieht und auf der Erde längs der Flugstrecke als Doppelknall gehört wird. Je größer die Maschinen, um so lauter und in der Tonlage tiefer ist der Knall. Der am Boden entstehende Luftdruck ändert sich auch mit dem Flugwinkel zur Erdoberfläche. So heißt es, der amerikanische SST-Typ erzeuge beim Normalflug in einer Höhe von etwa 15 Kilometern einen Knalldruck auf der Erde von 7,5 Kilogramm je Quadratmeter, im Steigflug dagegen einen solchen von 10 Kilogramm. Summations- und Reflexwirkungen, zum Beispiel durch Felswände, lassen Knallbelästigungen bis zum Fünffachen erwarten, eine Gefahr, mit der besonders gebirgige Länder wie die Schweiz rechnen müssen.

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Hörschäden sind, wie jeder weiß, weder durch Operation noch durch Medikamente zu heilen. Um so bemerkenswerter für unsere Gesellschaft ist das selbstverstümmelnde Verhalten zahlreicher junger Menschen, die sich durch ohrenbetäubende Beat-Musik fragwürdigen Lustgewinn verschaffen. In „Beat-Schuppen", Diskotheken und Show-Lokalen werden mit Hilfe elektronischer Verstärker Lautstärken erzeugt, die auf die Dauer zu Gesundheitsschäden führen müssen. Daß die jungen Leute nach dem Besuch der akustischen Opiumhöhlen auf dem Heimweg halbtaub und außerstande sind, sich auf die Straßen­verkehrsgeräusche einzustellen, erstaunt sicher nicht. Bedrückender ist das Motiv, mit dem das Bedürfnis nach solchen Erlebnissen gelegentlich begründet wird: Die lautstarke Musik, so heißt es, sei wie ein schützender Mantel. Sie schirme ab und bewahre davor, den anderen reden zu hören und selbst sprechen zu müssen.

 

Relativ gesund

 

Faßt man das Bisherige zusammen, so will sich der Mensch einerseits mit seiner Technik ein immer bequemeres und - wie er meint - lebenswerteres Leben verschaffen, indem er sich die Naturgesetzte zunutze und die „Erde Untertan" macht.

Doch ist das Ziel eines lebenswerteren, das heißt auch gesünderen, Lebens nicht dadurch zu erreichen, daß wir die Natur als ein zur beliebigen Ausbeutung und Verschmutzung bereitgestelltes Geschenk des Himmels ansehen.

Ebensowenig wird es uns gelingen, eine einigermaßen menschenwürdige Zukunft zu bauen, wenn wir unser Leben weiterhin mit krankmachendem Lärm erfüllen, mit giftigen Chemikalien durchsetzen und die psychischen Belastungen für den Einzelnen weiter steigern, wie der zunehmende Verbrauch psychisch wirksamer Arzneien zeigt. Statt dessen sollten wir uns daran erinnern, daß wir als Menschen eine sehr arteigene biologische Beschaffenheit haben: In den Jahrmillionen unserer Existenz haben wir uns an eine gänzlich andere Umwelt angepaßt als die, mit der wir uns heute umgeben.

Es kann kein Zweifel daran sein, daß wir auf zahlreiche elementare Lebensbedürfnisse auch in Zukunft nicht werden verzichten können. Dazu gehört unter anderem ein bestimmter Sauerstoffgehalt der Luft. Wenn die Sauerstoff-Verbraucher wie Menschen, Verbrennungsmotoren und zahlreiche Industrie-Anlagen weiter ständig zunehmen, die Sauerstoff-Erzeuger aber, die grünen Pflanzen, durch Siedlungs-, Straßen- und Industriebauten ständig dezimiert werden, so nähern wir uns - unter Umständen schon bald - einem kritischen Punkt.

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Ein zweiter lebensnotwendiger Faktor ist die Temperatur: Zunehmende Luftverschmutzung einerseits behindert das Sonnenlicht, wachsender Kohlendioxidgehalt der Luft andererseits führt zu Erwärmung: Damit begeben wir uns in die gefährliche Lage, daß die Lufttemperatur auf der Erde mehr und mehr vom schwankenden Gleichgewicht zwischen zwei Verpestungsfaktoren bestimmt wird.

Eine besonders heikle Rolle in diesem Reigen der Risiken spielen jedoch zahlreiche synthetisch hergestellte Stoffe: Kunstfasern, Arzneimittel, Chemikalien für die verschiedensten Fertigungsvorgänge in Industrie und Technik, die wir aus der Retorte gewinnen und die zum Teil im menschlichen Organismus oder im Naturhaushalt bedenkliche Wirkungen entfalten.

In letzter Zeit hat es wiederholt Fälle gegeben, in denen uns dieses Risiko bewußt geworden ist. Erinnert sei an die Contergan-Katastrophe, an die zahlreichen, als krebserregend bekannt gewordenen Stoffe, an den Fall gewisser Appetitzügler mit aufputschenden Zusätzen (die eine gefährliche Kreislaufkrankheit verursachen können), an den Cyclamat-Süßstoff, dessen Verwendung entgegen ersten Annahmen nun doch sehr bedenklich erscheint - so bedenklich, daß ihn die amerikanische Arzneimittelbehörde im August 1970 als Zusatz zu Lebensmitteln, Fruchtsäften usw. vollends verboten hat.

Erwähnt sei die Diagnose und Therapie mit Röntgenstrahlen, deren allzu unbekümmerte Anwendung auch ein erbbiologisches Risiko einschließt insofern, als energiereiche Strahlen selbst bei geringer Dosierung die Erbanlagen zum Schaden der Nachkommen verändern können.

Verhältnismäßig neu auf der Liste der für die Welt von morgen heraufbeschworenen Gefahren sind solche Chemikalien, die ähnlich wie die Röntgenstrahlen Erbänderungen hervorrufen können. Auch solche genetisch aktiven Substanzen sind heute allerorts um uns. Als Zusatzstoffe sind sie in Lebensmitteln enthalten. In den Rückständen von Schädlingsgiften, in Kosmetika und Pharmaka, als Verunreinigungen von Wasser und Luft bilden sie ein neues, noch fast völlig unerforschtes Umweltrisiko für den Menschen. Ja, wir tragen sie sogar in den Stoffen unserer Kleidung auf unserem Körper.

Nicht alle, ja nicht einmal viele der neu geschaffenen Produkte der chemischen Industrie sind freilich gesundheitsschädlich oder erbbiologisch bedenklich - im Gegenteil, viele von ihnen haben uns neue Möglichkeiten der Heilbehandlung erschlossen, viele helfen uns, unser Leben zweckmäßiger und unsere Arbeit rationeller zu gestalten.

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Dennoch bleibt ein Risiko dadurch bestehen, daß schädliche Nebenwirkungen sich beim Menschen häufig maskieren oder erst nach Jahren des Umgangs mit bestimmten Substanzen autreten. Eben zu diesen Stoffen aber gehören die chemischen Mutagene. Wo kommen sie vor, und was bewirken sie? Das lateinische Wort mutare heißt verändern, und in der Biologie nennt man einen Stoff, der die Erbeigenschaften eines Lebewesens verändert, ein „Mutagen".

„Hochgradig mutagen" nannte der Bostoner Arzt Dr. Samuel Epstein unter anderen die alkylierenden Substanzen auf Äthyleniminbasis. Das sind Stoffe, die, wie er sagte, „für eine Vielzahl nichtindustrieller und industrieller Zwecke verwendet werden, unter anderem für die Behandlung bösartiger Tumoren, für die Herstellung von Insektiziden, Textil- und Druckfarben, feuerfestem Material sowie knitterfreiem Gewebe. „Diese Substanzen", fuhr Epstein fort, „sind außerdem im Treibstoff für Düsenflugzeuge und Raketen sowie als Stabilisatoren und Akzeleratoren in verschiedenen Polymeren enthalten; sie treten bei einer Vielzahl von industriellen Herstellungsprozessen als Zwischenprodukte auf und werden bei der Herstellung von Stärke und Shampoos als Verbindungssubstanzen verwendet. Kürzlich wurden diese Stoffe sogar als Pflanzenschutzmittel und Rattengift empfohlen!"

Wesentlich ist, daß diese Chemikalien ihre erbschädigende Wirkung schon in Konzentrationen entfalten, die weit unter der Giftigkeitsgrenze liegen. Insofern verliert auch die Weisheit des großen Arztes Paracelsus ihre unumschränkte Gültigkeit, nach der allein die Dosis mache, ob ein Stoff giftig sei oder nicht. Der schöne und eingängige Spruch „sola dosis facit venenum" wird also revidiert werden müssen.

Wie kann man sich nun die mutagene Wirkung der angeklagten Stoffe vorstellen? Unsere Kenntnisse darüber sind zwar noch sehr lückenhaft, doch steht zum Beispiel fest, daß einige direkt mit der DNS, dem genetischen Informationsträger im Zellkern, reagieren. Unter ihnen sind die Alkylsul-fonate, das Hydroxylamin und die vom Natriumnitrit unter bestimmten Bedingungen freigesetzte salpetrige Säure, deren mutagene Wirkung im Bakterienversuch ermittelt wurde. Auch das Bromuracil und andere, dem Pyrimidin und dem Purin verwandte Substanzen gehören hierher. Alle diese Verbindungen erzeugen zunächst sogenannte Primärmutationen. Das heißt, sie verändern einen Strang der DNS-Doppelhelix (des aus zwei umeinander verdrillten Fadenmolekülen bestehenden Erbträgermoleküls Desoxy­ribonucleinsäure), ohne damit für den Organismus sogleich erbändernd zu wirken.

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Erst dann, wenn die DNS bei der Zellteilung sich selber reproduziert, werden die Änderungen bei denjenigen DNS-Doppelwendeln zu endgültig sich auswirkenden Erbfehlern, die aus dem primär mutierten Strang hervor­gegangen sind. Diese Moleküle enthalten dann gewissermaßen Konstruktionsfehler. Die chemisch verschlüsselte Schrift der Gene ist an den betreffenden Stellen verzerrt, verstümmelt oder verfälscht und die Folgen sind fehlerhafte genetische Informationen für die Zelle, deren Eiweißerzeugung fortan gestört ist.

Alle Stoffe, die diese sogenannten „Punktmutationen" auslösen, sind deshalb so gefährlich, weil der Schaden, den sie anrichten, im molekularen Bereich liegt und oft erst nach Generationen sichtbar wird. Es scheint also bei oberflächlicher Betrachtung zunächst kein Grund zu bestehen, diese Chemikalien anzuprangern. Gerade darum aber kommt Epstein zu dem warnenden Schluß:

„Die dringende Notwendigkeit umfassender Vorsorgeuntersuchungen auf chemische Mutagene kann nicht geleugnet werden, zumal unsere gesamte Umwelt von derartigen Substanzen schon weitgehend durchsetzt ist, die sowohl in der Luft als auch im Wasser, in Schädlingsbekämpfungsmitteln, in Nahrungsmittelzusätzen und in Medikamenten enthalten sind. Konsequenterweise sollte die Verbreitung von neu synthetisierten Substanzen, besonders wenn sie ähnliche chemische Strukturen aufweisen wie die bekannten Mutagene, so lange unterbunden werden, bis diese Substanzen ausreichend auf ihre mutagenen Eigenschaften getestet wurden."

   Was dem Menschen eigentlich gemäß wäre ...  

 

Kommen wir zum Schluß. Die Welt von morgen, wie sie uns von den Fortschrittsfanatikern so rosig, so problemlos, so voller Wunder prophezeit wird, sie wird ihre nicht geringen Fragwürdigkeiten haben. Diese Frag­würdig­keiten liegen da, wo der Mensch im Rausch seiner Erfindungen und bei der Verwirklichung wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht genügend prüft und Rücksicht nimmt auf das, was ihm eigentlich gemäß wäre. Sie liegen da, wo es ihm nicht gelingt, sich die unabdingbaren Voraussetzungen seiner biologischen und geistig-seelischen Existenz zu bewahren, so beispielsweise, wenn er die Umwelt-Verschmutzung in der jetzigen Eskalation weiter betreibt.

Aber selbst dann, wenn es ihm gelungen sein sollte, den Grad der Umweltgefährdung zu reduzieren, ohne der Gefahr gänzlich Herr zu werden, selbst dann bliebe ein unheimliches Risiko bestehen, das uns aus einer ganz menschlichen Eigenschaft erwächst: der Anpassungsfähigkeit an allmählich sich verändernde Verhältnisse. Mit anderen Worten: Wenn unsere Maßnahmen zum Umweltschutz vergeblich oder unzureichend bleiben, so könnten wir lernen, uns in einem gewissen Umfang mit den verbleibenden Lebensmöglichkeiten recht und schlecht zu arrangieren.

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Im selben Maß aber, wie wir ein lärmerfülltes, von Giftstoffen bedrohtes, von entseelten technischen Abläufen beherrschtes Leben hinnehmen, würden wir auch zurückstecken, würden wir etwas von jenem "Menschsein" aufgeben, das uns über das Tier erhebt. Weiter fort rückte dann das Wunschziel, geistig freie Wesen mit einem Höchstmaß an Gesundheit zu sein, die einer Symphonie mit anderen Ohren lauschen und den Sternhimmel mit anderen Augen sehen als eine Ameise.

Das klingt, als sollte einer neuen Romantik das Wort geredet werden, doch ist es nur eine Aufforderung zur Wachsamkeit. Louis Pasteur soll als erster nachgewiesen haben, daß Menschen in geschlossenen Räumen nahezu außerstande sind, die fortschreitende Verschlechterung der Atemluft wahrzunehmen - von der Erwärmung abgesehen. Wird es uns in dem weltweiten Raum, in dem wir leben, mit geistig-seelischen Lebensbedürfnissen ähnlich gehen?

Ein anderes Beispiel ist konkreter: Schon heute hat die Automatisierung viele unter uns zu bloßen Handlangerdiensten an komplizierten Maschinen gedrängt und diese Menschen damit, wie der Amerikaner Ben Seligman einmal sagte, "auf den sozialen Abfallhaufen geworfen". So scheint es, als hätten wir die Annehmlichkeiten der Welt von morgen nicht nur mit akuten Risiken zu erkaufen, sondern auch mit einem zweiten, in kleinen Raten zahlbaren Preis. Selbst wenn uns dieser Preis vorerst kaum zu drücken scheint: Die Geschichtsschreiber von einst werden sich vielleicht fragen, ob das bloße Überleben im Rausch der Technik den Verlust des eigentlich Menschlichen unserer Existenz wert gewesen ist.

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