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Nie wieder habe ich von ihm gehört, nirgendwo seinen Namen gelesen. Jetzt, nach schier unendlich langer Zeit, kehrt er unversehens in mein Gedächtnis zurück, vielleicht weil wir so stumm voneinander geschieden sind. Kein Wort über die grässliche Vergangenheit. Was sollte man eigentlich noch sagen? Auch daheim sprachen wir nicht über das Geschehen vor 1945. Ein einziges Mal sagte meine Mutter, sie bekomme Kopfschmerzen, sobald sie an ihren Vater, also meinen Großvater, denke, ansonsten kein Wort mehr.

Während die Schuldigen aus begreiflichen Gründen den Mund hielten, schwiegen die Betroffenen ebenfalls. Es war wohl der Versuch, das Erlebte und Erlittene zu verdrängen, es nicht erneut spüren zu müssen, doch vermutlich hat gerade das Beschweigen das Vergangene fürchterlich präsent gehalten. Der Alltag wurde übertüncht durch Geschäftigkeit, durch belangloses Treiben, mittels Ablenkungen durch Gäste, durch Besuche bei Bekannten, durch Kinogänge, Geburtstagsfeiern und durch Schlaftabletten. Mir wurde das alles erst spät bewusst, da ich nach dem Kriege selber in diverse Liebesaffären verstrickt war, in irgendwelche Unternehmungen mit Freunden, durch Lesesucht und beginnendes Schreiben, durch eine unaufhörliche Extroversion des Selbst, sodass das Gestern in den Hintergrund gedrängt wurde.

Wir erlitten »Das Schweigen der Lämmer«, wie ein amerikanischer Filmtitel hieß, denn wir waren ja Lämmer gewesen und wurden durch Zufall nicht geschlachtet wie die vielen anderen. Einige Überlebende durchbrachen die Barriere und veröffentlichten, was ihnen widerfahren war. Doch das führte sie erneut an den Abgrund, dem sie entkommen zu sein meinten, um zu schlechterletzt durch eigene Hand das Schicksal der Ermordeten zu teilen.

Märchen haben mich nur dort bewegt, wo sie unheimlich wurden, ungeheuer, auch drohend und gefährlich. Selbst Zwerg Nase erschien mir äußerst bedenklich. Er diente, wie wir wissen, der Hexe lange Zeit, aber wir erfahren nicht, worin die Dienste, außer Fegen und Feudeln, denn bestanden. Existierte zwischen ihm und seiner Herrin nicht eine verdächtige Beziehung? Das Märchen, sehr diskret, schweigt sich über zu Vermutendes aus, wie es in allen Märchen geschieht. Sie sind sozusagen »stubenrein«, was sie vermutlich in ihren Ursprüngen nicht waren. Ich lasse mir nicht einreden, die sieben Zwerge wären aus rein humanen Absichten derart freundlich mit ihrer Prinzessin umgegangen. Gerade Zwerge sind sexuell besonders aktive Personen, und jene Weiblichkeit in ihrem Bettchen konnte nicht ohne Auswirkungen auf ihr Geschlecht gewesen sein. Oder der Prinz, der Dornröschen, die im Koma Darniederliegende, küsste – ein Nekrophiler? Benjamin hatte schon bei dem »bucklicht Männlein« Vermutungen angestellt, um den naiven Schleier von den verdächtigen Geschehnissen wegzuziehen.

Und »Rumpelstilzchen«? Erweist es sich nicht als Geheimdienstler, der mit Recht sagen kann: Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich soundso heiß … Märchen auf andere Weise zu lesen würde sich lohnen, da ihre Substanz aus den Abgründen der Realität stammt, ohne dass wir ihrer gewahr werden.

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Etwas versäumt haben. Was war es denn nur? Bei einem Abschied von einem Freund nicht daran gedacht zu haben, dass es vielleicht die letzte Begegnung gewesen sein könnte, und man ganz anders, viel herzlicher, inniger, mit ihm hätte sprechen sollen? Warum hat man nicht Vater und Mutter eindringlich über ihr früheres Leben, ihre Kindheit und Jugend befragt? Zu hastig gelebt? Und warum habe ich Gelegenheiten, eindeutige Angebote weiblicherseits, nicht wahrgenommen? Oder zu geizig gewesen, ein besseres Geschenk zu machen? Im Laufe eines ziemlich langen Lebens summieren sich die Versäumnisse, ihre Menge gewinnt an Gewicht, und im Rückblick bilden sie eine unerwartete Anzahl, unkorrigierbar, unmöglich, etwas nachzuholen, und so schleppt man eine Last mit sich, derer man jedoch nur in ruhigen Augenblicken bedauernd gewahr wird.

Vermutlich sind unsere Mitmenschen ähnlich mit Daseinsmüll beladen, ohne ihn loswerden zu können. Wäre das Leben nicht eine so vertrackte Angelegenheit, wir könnten restlos glücklich sein, falls uns das überhaupt gegeben wäre. »Er hat sein Glück versäumt …« hörte ich manchmal über jemanden sagen, aber was damit gemeint gewesen, war doch nur etwas Materielles, ein großes Los, das derjenige verloren hatte, von dem die Rede ist, zumindest etwas Ähnliches dieser Art. Das aber ist eine Reduktion des Glücks auf die Brieftasche, von der es jedoch heißt, sie mache nicht glücklich. Wäre das eigentlich Versäumte wirklich Glück gewesen? Oder erscheint es uns nur in der Erinnerung so und wäre in Wirklichkeit nichts anderes geworden als eine neue Enttäuschung, wie sie das Leben sowieso in ausreichender Fülle zu bieten hat?

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Es liegt was in der Luft, ein Hauch von Sarajevo. Wie meist geschieht das unvorstellbar Schlimmste an den Rändern der von Mittelmäßigkeit bewohnten Welt. Nun zieht sich in der Ukraine ein Unwetter zusammen, von dessen Gewalt noch nichts abzusehen ist. Selbst wenn es diesmal noch friedlich ausgehen sollte, dieses Hinschliddern am Abgrund hört nicht auf. Irgendwo flammt ein Brand auf, scheinbar fern, wo die Völker aufeinanderschlagen, doch wir gehören, ob wir es wollen oder nicht, zu diesen Völkern. Wir halten uns für durch geographische Entfernung gesichert, doch diese bedeutet heute nichts mehr. Jederzeit kann militantes Unheil uns selbst in der Idylle treffen, ohne dass wir die Mahnzeichen vorher erkannt hätten. Das viel zu riesige Russland, von seinem historischen »Auftrag«, vom Einsammeln russischer Erde faselnd, ist ein enormer Unsicherheitsfaktor im Unglücksspiel der Kräfte.

Sobald die ökonomische, ökologische und sonstwelche Krise droht, pflegen die Regierungen zu Machtmitteln zu greifen, womit sie gewöhnlich ihren (und leider auch unseren) Untergang betreiben. Das Gefährlichste, wenn eine Macht sich überschätzt. Diese Überschätzung, wie wir sie aus zwei Weltkriegen kennen, führt mit wahrlich »tödlicher« Sicherheit ins Nichtsein. Wie gering war der Pistolenschuss von Gavrilo Princip, und doch hat er ausgereicht. Jetzt werden andere Kaliber benutzt – bis auf Weiteres.

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Schlafende Menschen sehen oftmals aus, als wären sie schon lange tot.

Robert Musils »Fliegenpapier« beschreibt eine Tragödie. Wie die einzelnen Wesen am klebrigen Leim des Papiers festhaften, unfähig, sich zu befreien, immer schwächer sich regend, endlich nur noch hin und wieder ein Zucken zeigend, das vorletzte und dann das letzte. Es gälte eigentlich, dieser Tragödie ein Pendant zukommen zu lassen, auf andere Weise das Tun von Fliegen analysierend. Wie sie beispielsweise über den Tisch hin und her laufen, aufgeregt und scheinbar sinnlos, auf der Suche nach irgendetwas, das wir nicht kennen oder, durch unsere Menschenaugen behindert, gar nicht zu sehen vermögen.

Ihre Unternehmen haben sowohl etwas Unschlüssiges wie auch Rätselhaftes. Man hat den Eindruck, sie würden verfolgt und schauten sich dauernd um, sie schlagen im Laufen kühne Haken oder steigen unerwartet und rasend auf, als hätten sie plötzlich ihren Feind erspäht. Sie kommen mir manchmal vor wie Flüchtlinge, denen Polizei oder sonst ein staatlicher Dienst auf den winzigen Fersen ist. Auch kann man kaum sie unterscheiden, höchstens der Größe nach, wobei die schweren Stech fliegen, die Bremsen, eher tollpatschig sich verhalten, unbeholfen. Die kleinen Säurefliegen pochen auf ihren Status als winzigste, rennen meist davon.

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Obwohl die Hand schon zögert, ob sie todeswürdig seien. Doch die Durchschnittsfliege, die sogenannte »Stubenfliege«, die sogar bei uns im Norden in warmen Zimmern zu überwintern pflegt, ist ein Geschöpf eigener Art, bedingt durch das Panische ihres Benehmens, durch ihr Lauern, ihre Unruhe und Nervosität, die sich auf uns überträgt. Wir wollen derartige Hausgenossen loswerden, wer weiß, welche Infektionskrankheiten sie mit sich tragen, unheimliche Gesellen, deren Absicht man ihnen nicht anmerken kann, eben weil sie sich selber als gejagte und verhasste Zeitgenossen zu erkennen geben und somit an unser Mitleid, zumindest unser Verständnis appellieren, auch uns könnte es wie ihnen ergehen, vertrieben von jedem Fleckchen, von einem Wassertropfen, einem Zuckerkrümel, ohne einen Moment des Ausruhens in einer Welt, in der man uns nicht wohlgesinnt ist. Zugleich jedoch vermischt sich das Mitleid mit Widerwillen gegen die Intimität, mit der sie uns heimsuchen. Sie zehren von unserem Schweiß, von unserer Körperflüssigkeit, als wären wir ausschließlich zu ihrem Genuss erschaffen worden. Selbst ihre leichten, flinken Bewegungen auf der Haut verspürt man mit Ekel. Und denkt sofort an Leichen, auf denen diese Schmarotzer wimmeln, dabei leben wir noch, doch das krabbelnde Memento mori ist merkbar genug. Aber es sind wohl erst die grünlich Schillernden, die später uns besuchen, sollten wir unaufmerksam irgendwo abgelegt worden sein. Unleugbar sind sie unsere Lebensbegleiter und werden es wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit, die uns nicht mehr betrifft, auch bleiben. Ihre Gattung ist älter als unsere. Wir waren noch gar nicht auf diesem Planeten anwesend, da hüllten sich manche von ihnen schon in Baumharz, um, dergestalt in einer Art Minischneewittchensarg eingeschlossen, auf uns zu kommen und von sich Kunde zu geben, was wir vermutlich auf diese Weise nicht tun werden.

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Je größer die Anzahl älterer, gar alter Bürger in einer Gesellschaft, desto unbeweglicher wird, als gehe hierbei das Gleiche vor sich, besagte Gesellschaft. Der erste Bundeskanzler hat es in seiner Naivität auf den Punkt gebracht: keine Experimente! Er war ja auch schon ein Greis und allen Veränderungen abhold, wie seine Wähler, wie heute die altgewordenen Jungen und einst jungen Revoluzzer. Bestand erhalten. Alles möge so bleiben wie in dieser historischen Sekunde, zu welcher alle sagen: Verweile doch, du bist zwar nicht übermäßig schön, aber besser als alles undenkbar Künftige.

Alte Leute hielten gerne die Zeit an, ich kann das gut verstehen. Nichts Erfreuliches bringt die Zukunft, falls man einen Blick in die Zeitung riskiert. Lasst es so bleiben, ihr Götter, wie es gegenwärtig ist. Dehnt die Gegenwart aus, zieht sie hin, bis wir nicht mehr existent sind, und dann noch ein bisschen für unsere Nachkommen, aber deren Nachkommen, die wir nicht mehr persönlich kennen, gehen uns schließlich gar nichts mehr an. Nur Nahestehende bitte noch ein Weilchen im Zustand des Traums erhalten! Freilich werden auch diese zwangsläufig altern und dasselbe Gebet vorm Zubettgehen sprechen: bitte keine Experimente mit dem Gefüge, in das wir unsere anheimelnden Zellen hineingebaut haben, mit unserem Speichel und sonstigen materiellen Aufwendungen. Halten Sie bitte die Uhr an, Herr Nachbar, und den Kalender gleich mit.

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Jede Sekunde erscheinen auf der Welt zwei neue Menschen, ob gerufen oder ungerufen, gewünscht oder verdammt, das weiß keiner. Was wir jedoch wissen, ist, dass die Flut steigt, nämlich die aus Fleisch und Bein. Wo sollen bloß alle hin auf diesem kleinen Planeten? Als erstes Land scheint Italien unter der Schwemme von Flüchtlingen zu ertrinken. Täglich spült das Mare Nostrum, das keineswegs mehr das »unsere« ist, Hunderte und Aberhunderte an die Küsten. Italien besteht ja größtenteils aus Küste, wohingegen es die Schweiz leichter hat, unerwünschte Gäste abzuweisen.

Flüchtlinge sind gerissen, sind schlau, denken sich Tricks aus. Jetzt schicken sie, wie beispielsweise an der Grenze der USA zu Mexiko, ihre Kinder vor, die nicht ausgewiesen werden können und deren Eltern irgendwann nachfolgen. Eines baldigen Tages, fürchte ich, wird das Mitleid so tot sein, wie die auf ihrem Wege in die gelobten Länder Sterbenden. Mir will der grauenvolle Spruch der Eidgenossen während des Krieges und während des Holocausts: Das Boot ist voll! nicht aus dem Kopf. Ich wette, diesen Satz denken bereits viele, allzu viele, und nicht nur im Cantonat Helvetia.

Die Assoziationen sind unser Unglück. Uns von ihnen zu lösen unmöglich. Freilich fehlt den meisten Menschen genügend Lebenserfahrung, eindringliche, peinigende, bedrückende, unvergessliche, welche den Bitterstoff für die Assoziationen bilden. Riecht es hier nicht nach verbranntem Holz? Schon ist der Luftkrieg parat, die Sirene ertönt, Bomberanflug über Hannover-Braunschweig, die Feuer flackern, der Nachthimmel rötet sich – ja, es riecht nach Brand.

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Diese alten Fotografien aus der Zeit vor und nach 1914 – wo sind die Leute geblieben? Wurden sie deportiert, umgebracht, erschossen? Wieso sind die Menschen auf dem Jahrmarkt so fröhlich, wo doch gestern noch das Grauen herrschte? Der Zahnarzt zieht mir einen Zahn und bricht ihn mir nicht aus, weil das deutsche Reich meinen Goldzahn für seine Kriegsführung haben will. Mein Brustkorb wird abgehorcht. Werde ich nun, weil arbeitsunfähig, liquidiert? Man wirft trockenes Brot weg und gedenkt derer, die sich darum gestritten und geprügelt hätten. Der Zaun an der Koppel – er führt Strom, wenn auch schwachen, doch die Tatsache ruft Bilder ins Gedächtnis. Immer und überall lauern assoziationsfähige Umstände und Dinge, aber man kann die Welt nicht mit Folie abdecken, um den Analogien zu entgehen. Wie sähe dann die Welt wohl aus? Wie ein verkleideter Sarkophag natürlich.

Existiert so etwas wie ein genuines Schuldbewusstsein? Natürlich hat man im Leben hier und da gefehlt, falsch gehandelt, Menschen gekränkt, Unglück verursacht, Unheil angerichtet, aber hätte sich derlei vermeiden lassen? Und was wären wir eigentlich ohne die Erfahrung von Schuld? Die sich frei von ihr halten, haben sie bloß unglücklicherweise völlig in sich gelöscht, was sie zu Monstern machte und macht. Ihnen fehlt das Empfinden fürs Mitmenschliche, für den Anderen, von dem man weiß, dass er überhaupt nicht, wie man selber, ganz schuldlos sein kann.

Wahrscheinlich ist die bedeutendste Leistung der katholischen Kirche die Erfindung der Beichte, das Aussprechen von Schuldbekenntnissen, was zwar dem Einzelnen Erleichterung verschaffen mag, ihn jedoch nicht daran hindert, erneut schuldig zu werden.

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Die Ambivalenz des Vorganges ist unübersehbar. Geständnisse erbringen einen Bonus, mit dem, beispielsweise vor Gericht, gerechnet werden kann, ohne dass es die Schuld verkleinert, den Geständigen bis zu einem gewissen Grade jedoch beruhigt, indem es ihn in den Glauben versetzt, mit dem Geständnis schon einen Teil der Buße vorgeleistet zu haben.

Polizei warnt nach Kindermord vor Selbstjustiz Für große Irritationen sorgen Fahndungsaufrufe und vermeintliche Phantombilder des Täters im Internet: So war auf den Seiten mehrerer sozialer Netzwerke von einem weiteren Mord an einem angeblich zehn Jahre alten Jungen berichtet worden. Außerdem war bei »WhatsApp« ein Phantombild verbreitet worden, das nicht von der Polizei stammte und mit dem Fall nichts zu tun hat. »Falsche Hinweise und Trugspuren gab es natürlich schon früher. Doch die Verbreitung von Falschmeldungen und falschen Phantombildern mit dem Aufruf zur Lynchjustiz ist neu.«

Zwar nicht gerade schöne, aber lebensgefährliche neue Welt. Mit Erschrecken nimmt man wahr, auf welche heimtückische Art und Weise irgendwer jemanden zum Gelynchtwerden verdammen kann, dem er nicht wohlwill. Man stellt das Foto seines Intimfeindes ins Netz und beschuldigt ihn der Kinderschändung und schafft es solchermaßen, den zu Unrecht Angeklagten latent allen Hassenden preiszugeben. Zumindest den Armen derart zu verleumden, dass er dadurch zum Ausgestoßenen wird, denn merke: Etwas bleibt immer hängen. Schrieben früher bösartige Zeitgenossen unter dem Schutz der Anonymität Denunziationen an Behörden, Arbeitgeber, Nachbarn, was immerhin nur einen kleinen Kreis von Menschen betraf, so können heute Massen Neugieriger erreicht werden. Und das hat weitaus entscheidendere Folgen als ein Schmuddelbrief. Diese neueste Methode, einen öffentlichen Schandpfahl zu errichten, ist um so bedrohlicher, weil es dagegen keine Abwehr gibt und jedes Abstreiten falscher Behauptungen als Versuch sich reinzuwaschen gewertet wird.

Und was lehrt uns die frisch erfundene elektronische Möglichkeit, einem anderen zu schaden? Dass das gesellschaftliche Klima schlechter wird, die psychische Unsicherheit des Einzelnen wächst. Wie reagiert die Umgebung auf ihn, grüßt man ihn kühler oder gar nicht mehr, wendet man sich bei seinem Anblick ab?

Jedermann kann nun in seinem Alltag in die Rolle von Josef K. gelangen, in die Position des Angeklagten, der nichts verbrochen hat und nicht weiß, wogegen er sich wehren und wofür sich rechtfertigen sollte.

Es entsteht das unheimliche Gefühl, die anderen besäßen Kenntnisse über ihn, von denen er keine Ahnung habe. Er vermutet zu recht, dass andere über ihn sprechen und sich in seiner Verdammung einig sind. Er wird innerhalb der ihn umgebenden Leute zum Aussätzigen, für den es keine Heilung gibt. Er lebt künftig auf der erd-abgewandten Seite der Geschichte, seiner Geschichte. Er ist einer Macht ausgeliefert, gegen die der Einzelne nicht gleichberechtigt anzugehen vermag und die das manipulierte Scherbengericht über ihn verhängt hat.

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Günter Kunert - 2018 - Ohne Umkehr - Bigbook