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 "Wir tun einfach so, als gäbe es Pressefreiheit"  

Interview mit Roland Jahn von Ilko-Sascha Kowalczuk am 8. März 2001 in Berlin 

 

Roland Jahn

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Welche Bedeutung spielten die westlichen Medien vor 1983, vor Ihrer Zwangsausbürgerung, für Sie?

Ich habe in Jena immer in dem Bewußtsein gelebt, daß die DDR-Medien mich nicht ausreichend informieren und ich mich über Westmedien informieren muß. Ich lebte in Jena immer mit Westfernsehen und -rundfunk, besonders RIAS I und II, die Sendung "Treffpunkt" auf RIAS II ganz speziell, wo viel über die DDR informiert wurde. Ich habe natürlich auch andere Sender gehört, etwa den Bayerischen Rundfunk oder auch den Deutschlandfunk, aber der RIAS-Treffpunkt war mein Favorit. Er begleitete mich aus den sechziger Jahren bis zu meiner Ausbürgerung 1983. Diese Sendung traf auch meine musikalischen Vorlieben. Hier kamen mein Interesse an politischer Berichterstattung und mein Lebensgefühl, ausgedrückt durch Rockmusik zum Beispiel von den Stones oder Led Zeppelin am besten zusammen.

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Hatten Sie vor 1983 selbst direkte Kontakte zu westlichen Medien bzw. deren Vertreter?

Ich hatte keinen direkten Kontakt, sondern nur über Mittelsmänner.

Der Hauptdraht aus Jena zu den West-Medien ist entstanden, als 1977 einige meiner Freunde aus dem Gefängnis heraus in den Westen abgeschoben worden sind. Dadurch entstand eine ganz wichtige Verbindung nach West-Berlin, die persönlich und politisch war. Diese Verbindung war die Grundlage dafür, daß wir bewußt mit Westmedien umgegangen sind und Kontakte herstellen konnten. So wurden Informationen nach West-Berlin geschmuggelt und von unseren Freunden in den Westmedien plaziert. Das ganze mußte natürlich streng konspirativ ablaufen, denn es war nicht ungefährlich. Das Strafgesetzbuch sah dafür hohe Strafen vor.

Bald war aber klar, daß unsere Verbindungen nach West-Berlin immer wichtiger wurden, daß sie bei aller Gefahr auch einen Schutz bieten können. Etwa im Falle von Verhaftungen war die Herstellung einer breiteren Öffentlichkeit extrem wichtig, um den Leuten zu helfen. Auch unsere politischen Anliegen erreichten so nicht nur die Insider. Über die Westmedien strahlten unseren Aktionen weit in die DDR hinein.

Ein Beispiel sind die jährlichen Aktionen, die wir in Jena durchführt haben zum Todestag von Matthias Domaschk, einem Freund der 1981 in der Stasi-Haft ums Leben kam. Unsere ausgebürgerten Freunde in West-Berlin, so zum Beispiel Thomas Auerbach, er war in Jena bis 1977 Jugenddiakon, haben unsere Infos an die Presse weitergegeben. Wenn ich in Jena aus Protest Todesanzeigen für Matthias an die Wände klebte und gleichzeitig im RIAS-Treffpunkt in Jena hörbar darüber berichtet worden ist, hatte das natürlich ein enorme Wirkung. Insofern haben wir westliche Medien ganz bewußt benutzt, sie mit den Infos versorgt und nicht darauf gewartet, ob irgendwer zufällig berichtet.

 

Frage: Wie lief das konkret ab, wie wurden die Kontakte aufgebaut trotz Grenze und Stasi?

Das entwickelte sich sehr allmählich. Am Anfang, also ab 1977 suchten wir nach Möglichkeiten, unsere ausgebürgerten Freunde direkt zu treffen. Sie hatten natürlich Einreiseverbot in die DDR, Ausnahme die Transitstrecke nach West-Berlin. Heimlich gab es kurze Treffen auf Parkplätzen an der Transitautobahn. Längere Treffen waren nur im sozialistischen Ausland mit viel Aufwand möglich. In Polen und der CSSR machten wir auch gemeinsam mit den Ex-Jenaern Urlaub. So blieb der persönliche Draht erhalten, das war ganz wichtig.

Oft schickten unsere Freunde aus dem Westen auch Kuriere nach Jena, die Nachrichten in ihren Köpfen transportierten. Die offizielle Post stand ja unter Kontrolle der Stasi und ein eigenes Telefon hatte von uns fast niemand.

Unsere Jenaer Kontakte nach West-Berlin haben sich ausgeweitet, als ein Freund nach Ost-Berlin gezogen ist - Lutz Rathenow. Er war, was viele nicht wissen, Anfang der achtziger Jahre eine der wichtigsten Kontaktpersonen für westliche Journalisten. Rathenow agierte dabei sehr uneigennützig. Sein Handeln basierte auf der politischen Idee der Informationsfreiheit, die er einfach praktiziert hat.


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Rathenows Mut kann man nicht hoch genug würdigen, denn es galt das DDR-Strafgesetzbuch, und ihm war das bewußt. Mehrere Paragraphen waren anwendbar bis hin zum - natürlich absurden - Vorwurf der Agententätigkeit. Das hätte ihm einen langjährigen Gefängnisaufenthalt einbringen können. Als freier Schriftsteller kam Lutz viel herum, so besuchte er auch seine Heimatstadt Jena des öfteren und sammelte Informationen ein.

Ansonsten gaben wir per Telefon, per Boten oder auch persönlich zu Lutz nach Ost-Berlin alle Informationen aus Jena, die uns für die Westpresse als wichtig erschienen. Rathenow hat die Nachrichten aufbereitet und den Weg in den Westen organisiert, an unsere Freunde oder direkt an Journalisten und Agenturen. Wir hatten von Jena aus nur die Möglichkeit, angemeldete Telefonate in den Westen zu führen und dann fast immer mit ein paar Stunden Wartezeit auf dem Postamt. Die Situation in Ost-Berlin demgegenüber war eine ganz andere, weil man von hier aus direkt nach West-Berlin durchwählen, so auch am Automaten telefonieren konnte. Vom Automaten aus war es für die Stasi nicht so einfach zu erfahren, wer die Nachricht übermittelte. Rathenow telefonierte fast täglich mit West-Berlin, zum Beispiel mit Jürgen Fuchs. Auch er war 1977 abgeschoben worden. Der Schriftsteller und Psychologe war unser wichtigster "Mittelsmann" im Westen. Zu Freunden wie ihm hatten wir absolutes Vertrauen, wir wußten, daß sie mit unseren Informationen sorgsam und entsprechend unseren Intentionen umgehen. Lutz Rathenow als "Mittelsmann" in Ost-Berlin und Jürgen Fuchs, Thomas Auerbach und andere in West-Berlin - das waren die Grundlagen unserer Arbeit mit den West-Medien.

Rathenow unterhielt zudem ausgiebige Kontakte zu den in der DDR akkreditierten Korrespondenten der Westpresse. Auch hatte er viele Kontakte zu Diplomaten der Botschaften in Ost-Berlin. Sie alle konnten die Grenze unkontrolliert passieren und schmuggelten des öfteren unsere schriftlichen Nachrichten oder auch wichtige Fotos. Besonders ab 1982/83 entwickelte sich so ein ganzes Informationssystem zwischen Ost und West. Mit unseren sich verstärkenden politischen Aktionen auch auf Jenas Straßen haben wir Anfang der achtziger Jahre diese Kontakt- und Informationsmöglichkeiten immer systematischer und bewußter genutzt, d. h. wir wußten diese Klaviatur zu spielen.

 

Bis Mitte der achtziger Jahre hinein - und in einigen Kreisen der Opposition noch weit darüber hinaus - existierte eine starke Abneigung gegenüber der Zusammenarbeit mit westlichen Medien. Wie haben Sie denn diesen Konflikt wahrgenommen?

Richtig. Das Nutzen der Westmedien war nicht unumstritten. Der Konflikt wurde immer wieder neu in die Szene getragen, heute wissen wir aus den Akten, von der Stasi auch bewußt geschürt. Besonders in Kirchenkreisen hieß es, wie bei der SED, immer wieder, wer Informationen an die Westpresse gibt, liefert dem Westen das Material für die Hetze gegen die DDR.


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Unsere Stärke in Jena aber lag gerade darin, daß wir meist unabhängig von der Kirche agierten. Dadurch waren wir relativ immun gegenüber den Agitationen in der Szene gegen die Westmedien. Außerdem konnten wir Erfahrungen nutzen. Der unmittelbare und starke Einfluß von Wolf Biermann und Robert Havemann auf die Szene in Jena war spürbar. Havemanns Tochter studierte in Jena und Biermann war zeitweise mit ihr liiert, so daß er deshalb oft in Jena weilte. Gerade Havemann und Biermann sind ja sehr bewußt mit den westlichen Medien umgegangen. Diese Erfahrungen sind vermittelt worden und sind hängengeblieben. Hinzu kamen dann noch die positiven Erfahrungen mit den ab 1977 in West-Berlin wohnenden Freunden, unseren Vertrauensleuten.

Ich hatte niemals - wie so viele andere - Berührungsängste mit den Westmedien. Erstens, weil ich die westlichen Medien stets selbst als Informationsmedium Nummer eins nutzte und ihnen auch weitgehend vertraute. Zweitens, weil ich immer meine "Mittelsleute" hatte, denen ich besonders vertraut habe, daß sie darauf achten, daß die Informationen nicht verfälscht werden. Entscheidend war für mich die wahrheitsgemäße Information und nicht die Frage, wer diese Nachricht politisch für seine Zwecke benutzt. Es ging ganz einfach um das Grundrecht auf Information, es ging um die Freiheit auf Information, auch wenn das heute banal klingen mag.

 

Haben Sie den Kontakt zu den westlichen Medien, das Wissen über die Informationspolitik westlicher Medien, auch als Schutz Ihrer eigenen Person angesehen?

Auf jeden Fall. Selbst als ich verhaftet worden bin im September 1982 und ein viertel Jahr vollkommen abgeschottet war, hatte ich immer die Hoffnung, daß draußen, auch im Westen, etwas passiert. Das hatte etwas damit zu tun, daß ich selbst wußte, wie ich im Falle von Verhaftungen etwa meiner Freunde agiert und Öffentlichkeit über die Westmedien hergestellt hatte und was dann passsiert ist. Öffentlichkeit hieß, daß die Stasi nicht einfach unbemerkt ihre Missetaten durchziehen konnte. Öffentlichkeit hieß auch, Protest und die Chance, die DDR muß politisch nachgeben. Mit Rechtsprechung hatten diese Verhaftungen ja sowieso nie zu tun. Nicht nur einmal wäre es sonst schlimmer gekommen. Ich ging davon aus, daß es nun ähnlich abläuft. Ich hatte aber auch wiederum Angst, daß Lutz Rathenow ausgeschaltet wird. Lutz als Schaltstelle wäre kaum zu ersetzen gewesen. Er hatte allerdings einen zusätzlichen Schutz als Schriftsteller. Er war nicht nur gefährdeter als andere, er war zugleich auch geschützter als andere.

Ich selbst war zunächst auch geschützter als andere, weil die Staatssicherheit wußte, würde sie mich verhaften, würde im Westen darüber berichtet. Sie mußten abwägen. Als sie mich schließlich 1982 verhafteten, wurde mir gesagt, daß die polnische Fahne mit der Aufschrift "Solidarnosc" an meinem Fahrrad nur der äußere Anlaß sei. Viel wichtiger und der eigentliche Verhaftungsgrund waren meine Aktivitäten für die westlichen Medien, derer sie mich verdächtigten. Die Stasi wägte ab und kam zu der Meinung, daß ihr die Nachrichten über meine Verhaftung in den Westmedien weniger schaden würden, als wenn ich als "Drahtzieher" auch weiterhin eine Fülle von für die DDR unangenehmen Nachrichten an die westlichen Medien weitergäbe.


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Als ich verhaftet wurde, organisierte hauptsächlich meine Freundin Petra Falkenberg sechs Monate lang die Kontakte zu Lutz Rathenow und in den Westen. Deshalb wurde auch sie verhaftet. Und so ging es immer weiter. Freunde sprangen ein und wurden ebenso von der Stasi verhaftet. Innerhalb von 14 Tagen wuchs die Zahl auf 14 Inhaftierte aus Jena an. Natürlich standen hinter all diesen vierzehn Verhaftungen immer auch andere politische Aktionen, aber letztlich war das besonders Gefährliche der Inhaftierten die Informationspolitik via Westmedien. Und als Franz Alt in der ARD, in der Sendung "Report", mit Hilfe von aus Jena geschmuggelten Informationen, einen Bericht über die gesamte Verhaftungswelle brachte, sind wir alle Ende Februar 83 wieder freigelassen worden. Das war ein unvorstellbarer Sieg. Es war eine Genugtuung und hat uns gezeigt: Öffentlichkeit, Öffentlichkeit und nochmals Öffentlichkeit.

 

Öffentlichkeit bestand in der DDR aus drei Teilen: erstens die Westöffentlichkeit, zweitens die parteilich gelenkte und gesteuerte Propagandaöffentlichkeit und drittens die nach 1990 so genannte Gegenöffentlichkeit, zu der der Samisdat zählte. Ab wann gab es denn in Jena Versuche, Formen der Gegenöffentlichkeit systematisch aufzubauen?

Wenn man den Begriff Samisdat hört, denkt man immer erst an regelmäßige Zeitungen. Diese gab es in Jena zu meinen Zeiten, also bis 1983, nicht, jedenfalls ist es mir nicht bekannt. Gegenöffentlichkeit bei uns Jena fand aber trotzdem statt, eben in anderer Form und das nicht wenig. Gegenöffentlichkeit hat das keiner genannt, aber der Hintergrund war zumeist die kritische Betrachtung der DDR-Verhältnisse. Ausstellungen von Malerei oder Fotos, Lesungen von eigenen Texten. Selbst das, weil privat organisiert, war damals, so ab 1968, schon ein Politikum, das die Stasi aufhorchen ließ. Fotomappen wurden vervielfältigt, Fotos oder Collagen als Protestpostkarten abgezogen und verbreitet. Aber auch das Vervielfältigen von interessanten politischen Texten mit Hilfe sogenannter Ormig-Geräte, an die befreundete Sekretärinnen herankamen, und die immerhin einige dutzend Exemplare abwarfen. Oder auch das mehrfache Kopieren von Tonbändern, von Veranstaltungen aus dem Westen, Biermanns berühmte Wohnungskonzerte oder DDR-kritische Lieder von Pannach & Kunert zu hören, das waren unsere Formen von Gegenöffentlichkeit. Wenn man so will, wurde mit all diesen Sachen auch damals in den Siebzigern eine bestimmte Art Samisdat produziert. Siegfried Reiprich etwa, ein von der Uni geschmissener Philosophie-Student, schrieb den dicken Wälzer "Die Alternative" von Rudolf Bahro auf der Schreibmaschine mehrmals ab und verteilte die jeweiligen Durchschläge. Das geschah des öfteren mit Büchern, die aus dem Westen nach Jena kamen. Dies war zwar sehr mühsam, aber trotzdem ein effektiver Weg, um verbotene Literatur einer größeren Gruppe bekannt zu machen. Manchmal wurden Bücher auch seitenweise abfotografiert, was aber wiederum voraussetzte, daß man über eine voll funktionsfähige Dunkelkammer verfügte.

Anfang der achtziger Jahre sind dann des öfteren eigene Positionspapiere vervielfältigt und verteilt worden. Die Konzeption etwa der Jenaer Friedensgemeinschaft haben wir zunächst in mehreren hundert Exemplaren hergestellt und dann in der Oppositionsszene verteilt.


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Doch mir war das nicht genug. Ich hatte es schon lange satt, immer im gleichen Saft zu schmoren, immer nur diejenigen zu erreichen, die ohnehin Gleichgesonnene waren, die also nicht mehr aufgerüttelt oder gar überzeugt werden mußten, daß die DDR auf einem Irrweg ist. Ich suchte die Öffentlichkeit in großer Breite, wozu auch ganz besonders Demonstrationen auf der Straße zählten. Ich wollte mehr rein in die Gesellschaft.

Entscheidend für mich war immer, daß ich sagte, wir dürfen nicht warten, bis uns demokratische Grundrechte gegeben werden, wir dürfen sie auch nicht nur fordern, sondern wir bedienen uns ihrer einfach, als wären sie vorhanden. Wir nehmen Infor-mations-, Presse- und Demonstrationsfreiheit einfach wahr. Das erwies sich im Rückblick vielleicht als der gewichtigste Unterschied im Vergleich zu anderen Städten und Regionen in jener Zeit. Wir demonstrierten öffentlich, gingen einfach auf die Straßen.

 

In welchem Jahr haben Sie in Jena mit öffentlichen Demonstrationen begonnen?

Ich begann 1977 mit Straßendemonstrationen. Sofort nach meinem politischen Rausschmiß aus der Universität habe ich zum 1. Mai eine Aktion durchgeführt, die meinen Protest zum Ausdruck brachte und doch Rücksichten nahm. Auch ich hatte keine Lust, zu schnell ins offene Messer der Stasi zu laufen. Ich malte mir ein weißes Plakat und demonstrierte mit diesem weißen Plakat ohne jegliche Aufschrift durch die Jenaer Innenstadt. Den Universitätsangehörigen war klar, der protestiert gegen seine Exmatrikulation wegen seiner politischen Meinung. Abweichende Meinungen sind unerwünscht, die Meinungsfreiheit eingeschränkt, diese Botschaft kam an, selbst ein weißes Plakat hatte seine Wirkung. Das war mein Ding: Menschen über konkrete Aktionen erreichen, Signale geben. So war es auch später 1979/80 mit der polnischen Fahne am Fahrrad. Eigentlich ist es nicht verboten, und doch hat es jeder verstanden. Nach der Verhängung des Kriegsrechts habe ich die Fahne mit dem in polnischer Sprache gehaltenen Schriftzug "Solidarität mit dem polnischen Volk" vervollständigt. Die Losung hatte ich dem "Neuen Deutschland" entnommen. Daß der Schriftzug von "Soli-darnosc" zufällig mit dem weltbekannten Logo der freien Gewerkschaft überein-stimmte'darin lag die Würze der Aktion. In Jena reagierten die Leute darauf, riefen mir oft den "Solidarnosc"-Gruß hinterher. Ebenso meine Aktion mit der Hitler-Stalin-Parodie am 1. Mai 1982. Ich gestaltete mein Gesicht, meinen Bart, meine Haare halb Hitler, halb Stalin und so stand ich neben der Haupttribüne und nahm die Parade des Volkes ab. Manche von ihnen marschierten ja schon unter Hitler, später Stalin und Ulbricht, und dann Honecker, immer zum 1. Mai. Ich hielt den Bürgern einen Spiegel vor. Jeder sollte nachdenken, für wen er funktioniert. Auch auf diese Aktion reagierten die Menschen in der Stadt. •

Wichtig war mir bei solchen Aktionen einerseits die unmittelbare Wirkung, aber ebenso die Dokumentation etwa mittels Fotos, um der regional begrenzten Aktion eine breitere Wirkung zu ermöglichen. Die Produktion dieser Fotos und Postkarten geschah sozusagen im Samisdat und neben der Verbreitung in der DDR wurden sie natürlich auch in den Westen geschickt.


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Nach den Entlassungen der 14 Jenaer aus dem Gefängnis 1983 haben wir in Jena die Methode der Teilnahme an staatlichen Demonstrationen mit eigenen Plakaten entwickelt. Auf den offiziellen Demos gegen die Hochrüstung im Westen waren so auch unsere Losungen gegen die zunehmende Aufrüstung zu lesen: "Militarisierung - Raus aus unserem Leben" forderten wir mit unseren circa 30 Leuten, unter den Tausenden von Teilnehmern weithin sichtbar. Natürlich haben wir das alles dokumentiert, die Fotos in den Westen geschmuggelt und dann zum Beispiel via "Tagesthemen" der ARD wiederum viele, viele Menschen mit unseren politischen Ansinnen erreicht.

 

Als Sie im Juni 1983 in einem Zug angekettet und mit Handfesseln in den Westen zwangsabgeschoben worden sind, fanden Sie eine gänzlich neue Situation vor, eine Situation, auf die man sich wohl kaum vorbereiten kann. Viele politisch Aktive, die in die Bundesrepublik kamen, haben relativ schnell die DDR hinter sich gelassen. Kurz nach Ihrer Ankunft in der Bundesrepublik erschien eine zweiteiliger Beitrag im "Spiegel" unter dem Titel "Du bist wie Gift" von Ihnen. Dieser Beitrag macht Ihre damalige persönliche Situation, aber auch die Situation der Gesellschaft eindrücklich und plastisch deutlich. Sie schrieben zum Beispiel: "Ich selbst war der Meinung, daß man dort, wo man lebt, etwas verändern muß."' Und: " Wir wollten in die Gesellschaft rein ... "2 Der Staat sah das natürlich anders. Bei einem Verhör hielt Ihnen ein Vernehmer entgegen: "Du bist wie Gift, Gift gehört in den Giftschrank, und der muß abgeschlossen werden. "3 Er schloß sie aus, schob sie ab in den Westen. Eine harte Strafe für jemanden, der sich einmischen und der verändern will.

Sie zählten nun zu den wenigen, die weiterhin - wenn auch hinter der Mauer -politisch aktiv blieben und die Oppositionellen in der DDR auf vielfältige Weise unterstützten. Geschah dieses Wirken, dieses Bemühen um Öffentlichkeit bruchlos oder entwickelte sich das erst allmählich?

Das war erst einmal bruchlos, bruchlos deswegen, weil ich auf eine Art und Weise weggebracht wurde, die alles andere als freiwillig war. Ich hatte eine Arbeit begonnen, die ich fortführen wollte. Ich hatte keinen Grund, ein neues Leben anzufangen: ich war nicht freiwillig im Westen. Mein Kopf war noch in der DDR. Ich bin herumgereist und habe im Namen meiner Freunde aus Jena auf vielen Veranstaltungen der westlichen Friedensbewegung gesprochen. Von West-Berlin aus organisierte ich Unterstützung für die DDR-Opposition. Erst nach etwa zwei Jahren, 1985, fragte ich mich, willst Du hier der ewige Dissident sein? Hat das noch mit dir selbst zu tun? Hat es noch Sinn, tagtäglich für die Freunde im Osten zu arbeiten? Sie im Osten kommen nicht aus dem Knick, können mit Deinen Mobilisierungsversuchen nichts anfangen. Ich war hin- und hergerissen. Klarheit brachte letztlich ein illegaler Aufenthalt im April 1985 in der DDR. Einerseits war

 

1 Der Spiegel 25/1983, S. 83.

2 Der Spiegel 26/1983, S. 73.

3 Ebenda, S. 72.


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es ernüchternd. Ich begriff erstmals richtig, wie kaputt, klein, grau und dreckig diese DDR war, und meine restlichen Freunde in Jena redeten nur über das Thema Ausreise. Zum anderen aber traf ich in Ost-Berlin Martin Böttger, Gerd und Ulrike Poppe, Rainer Eppelmann, Ralf Hirsch, Rüdiger Rosenthal, Reinhard Schult, Lutz Rathenow und andere, alles Leute aus der Opposition, die weiterhin in der DDR bleiben und diese verändern wollten. Ganz konkret wurde mir bei diesem Treffen deutlich, wie wichtig die Unterstützung ihrer Arbeit von Westberlin aus ist, und daß ich geduldig sein muß. Mit Ausnahme von Reinhard Schult, der mich am liebsten ersteinmal in der DDR versteckt hätte, forderten mich alle anderen deutlich auf, ich solle zurück nach West-Berlin gehen und meine Arbeit, die Unterstützung der DDR-Opposition, von dort aus fortführen.

 

Wie können wir uns heute vorstellen, wie die Unterstützung von Ihnen aus West-Berlin für die Opposition in Ost-Berlin und der DDR konkret aussah?

Das Erlebnis in Ost-Berlin im April 1985 hat mir deutlich gemacht, daß meine Arbeit für die Freunde im Osten extrem wichtig ist. Ich habe seit 1983 kontinuierlich an Veranstaltungen im Westen teilgenommen und nicht nur mit authentischer Stimme über den Osten gesprochen, sondern meine Stimme auch den Freunden im Osten dabei geliehen. Ich konnte ihre Stimme nicht ersetzen, aber ihnen ein Medium bieten. Es wurde Öffentlichkeit hergestellt, so wie Jürgen Fuchs es schon betrieb als ich in den Westen kam. Presse wurde betreut, Informationen an Agenturen weitergegeben. Hinzu kamen Kontakte zu Parteien und Organisationen, so daß die Leute, wenn sie in den Osten fuhren, Hinweise, Materialien, Bitten oder dergleichen mit auf den Weg bekamen. Die materielle Unterstützung umfaßte eine große Breite, angefangen von Büchern, Zeitschriften und Zeitungen bis hin zu technischem Gerät wie Druckmaschinen, Tonbandgeräten und Videokameras.

Das entwickelte sich ab 1983 immer weiter und intensivierte sich auch. Jürgen Fuchs und ich waren diejenigen, die das im Westen am intensivsten betrieben. Jürgen war 1977 genauso unfreiwillig in den Westen gekommen wie ich. Biermann übrigens hat das Ganze natürlich auch unterstützt, aber mehr moralisch und materiell als daß er selbst aktiv geworden wäre bei der täglichen Organisation.

Durch die Technik, die ich in den Osten einschleuste, konnten gleichzeitig technisch hochwertige Produkte wieder in den Westen zurückgeschmuggelt werden, so daß ich Fernseh- und Radiosender beliefern konnte. So entstand auch "Radio Glasnost", eine authentische Stimme der DDR-Opposition, ausgestrahlt einmal im Monat vom West-Berliner Sender "Radio 100". So entstand die Ost-Berlin-Seite der "taz", bedruckt nur mit Texten und Fotos aus dem Osten. Das wirkte dann wieder zurück in die DDR. Ich habe auch Zeitungen und Zeitschriften wie den "Spiegel" und die "taz" regelmäßig in die DDR geschickt.

Die Textsammlung "dialog", eine Erfindung von Jürgen Fuchs, haben wir außerdem für die Opposition zusammengestellt. Das war eine Zusammenstellung aus Pressebeiträgen, literarischen Aufsätzen, unveröffentlichten oder gesendeten Manuskripten, "dialog" spiegelte vor allem das, was Jürgen und mich bewegte. Wir meinten, das soll-


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ten unsere Freunde im Osten auch lesen - deshalb auch der Name "dialog". Es ging um Denkanstöße für Diskussionen. Wir stellten - je nach unserer finanziellen Lage und der Unterstützung Dritter wie Petra Kelly von den GRÜNEN - jeweils so 50 bis 300 Stück her. Wichtig war, daß die konspirativen Transportwege funktionierten. Wir nutzten nur Wege, die absolut sicher waren, also akkreditierte Journalisten, Bundestagsabgeordnete und Diplomaten. Wenn Petra Kelly oder Wilhelm Knabe oder andere GRÜNE Bundestagsabgeordnete mit ihrem Diplomatenpaß unkontrolliert in die DDR fuhren, bekamen die immer von uns Material, Bücher, Druckmaschinen, Matrizen, Druckfarbe usw. in die Hand gedrückt, um es in den Osten zu schaffen.

 

Sie haben im Westen die professionelle und freie Medienöffentlichkeit kennengelernt und sich selbst dieser bedient. Wie haben Sie denn nun die Gegenöffentlichkeit, den Samisdat im Osten wahrgenommen? Was haben Sie zur Kenntnis nehmen können?

 

Ich habe immer gedrängt, daß die Opposition eine größere Öffentlichkeit herstellen solle, als sie es tatsächlich tat. In Jena haben wir immer darauf geachtet, daß unsere Aktionen medial vermittelbar waren und - noch wichtiger - medial auch vermittelt werden. Die Arbeit für den Samisdat habe ich immer bewundert, besonders den Mut der Leute, dafür Kopf und Kragen zu riskieren. Nicht nur deshalb habe ich die Arbeit, wo es nur ging, von West-Berlin aus unterstützt. Maschinen und immer wieder neue Druckerfarbe aus dem Westen waren heiß begehrt. Trotzdem habe ich manchmal heimlich gedacht, na gut, damit erreichen sie ihre paar hundert "Fans" und dann? Das kann doch nicht alles gewesen sein.

Nun war meine Ungeduld noch stark geprägt von meinen Jenaer Zeiten, als ich immer versuchte, so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Mein Leben ab 83 mit den Möglichkeiten des Westens beförderte diese Ungeduld immer mehr. Ich mußte aufpassen, daß da keine Kluft entsteht zwischen meinen Wünschen und dem, was die Leute machen wollten und konnten. Ich wußte, ich sitze im Westen und kann nicht einfach fordern, macht jetzt mal eine Demo oder so. Dennoch gab ich natürlich vorsichtig auch Denkanstöße. Das kam unterschiedlich an, manche gingen in Abwehrhaltung und verbaten sich die "Bevormundung" aus dem Westen, andere sahen darin einen nützlichen Gedankenaustausch wie zum Beispiel Wolfgang Templin von der "Initiative Frieden und Menschenrechte", mit dem ich fast täglich eine Stunde telefonierte. Heute kann man in den Stasi-Akten lesen: "Jahn wirkte motivierend und inspirierend ein".

Das wichtigste aber war, daß ich Technik, Literatur, und Öffentlichkeit allen Leuten in der sozusagen demokratischen DDR-Oppostion zur Verfügung stellte, aber politisch nichts diktierte oder gar bestimmte politische Haltungen in einzelnen Fragen zur Voraussetzung erklärte. Es ging also nicht um meine einzelnen politischen Überzeugungen oder Ansichten, sondern darum, Hilfe zu leisten, unabhängig von politischen Einstellungen. Mir ging es darum, daß sich innerhalb der Opposition ein Pluralismus entwickelt, der einen produktiven Meinungsstreit möglich macht. Ich fand immer wichtig, daß sich die Opposition innerlich demokratisiert.

Also, es mußte eben möglich sein,


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daß Gruppen wie "Gegenstimmen" und die "Initiative Frieden und Menschenrechte" nebeneinander existierten und beide von mir unterstützt wurden. Ich habe eben den "Grenzfall", den "Friedrichsfelder Feuermelder" oder auch mehr intellektuelle Blätter gleichzeitig unterstützt. Natürlich hatte ich auch bestimmte Favoriten, die ich vielleicht etwas intensiver unterstützte. Ein Beispiel dafür ist der "Grenzfall", eines der bedeutendsten Samisdat-Produkte. Die Bedeutung lag schon allein darin begründet, daß die Macher, also zum Beispiel Peter Grimm, Peter Rolle und Ralf Hirsch, den Schutzraum Kirche verlassen hatten und nunmehr von allen Institutionen unabhängig waren. Sie haben sich auch als "Grenzfall" benommen und Tabus gebrochen, die Dinge beim Namen genannt. Zudem haben sie kein Problem gehabt, ihre Zeitschrift im Westen öffentlich darstellen zu lassen.

Ich durfte mit den Exemplaren arbeiten und sie weiterverarbeiten etwa in der "taz", bei "Radio Glasnost" oder bei "Kontraste" in der ARD. 1987 haben wir in "Kontraste" einen Beitrag gemacht mit dem Titel "Glasnost von unten", darin wurde der "Grenzfall" vorgestellt und ist somit einem Millionenpublikum in West und Ost bekannt gemacht worden. Es war natürlich ein Seiltanz, weil alles, was ich im Westen machte, meine Freunde im Osten in Gefahr bringen konnte. Ich habe versucht, die Gefahren zu minimieren und habe zugleich vorgesorgt für den Fall etwa einer Verhaftung. Ralf Hirsch, der sich zu einer der wichtigsten meiner Kontaktpersonen im Osten entwickelte, organisierte von vielen Leuten einen kleinen Lebenslauf und schickte mir diesen nebst Fotos in den Westen, so daß wir nach einer Verhaftung wiederum hätten reagieren können.

Als im November 1987 die Staatssicherheit die Zionsgemeinde überfiel und einige oppositionelle Aktivisten, die gerade die Zeitschrift "Umweltblätter" herstellten, festnahm, erwies sich die mittlerweile erlernte Professionalität im Umgang mit den Westmedien als sehr vorteilhaft, weil die hergestellte Öffentlichkeit eben nicht nur mit zur Freilassung der Verhafteten beitrug, sondern überhaupt die Existenz der Opposition ins öffentliche Bewußtsein rückte und die Opposition zugleich neue Leute und eine neue Schubkraft bekam. Nicht erst nach diesen Verhaftungen, aber in diesem Fall ganz besonders, nahm ich nun eine Funktion wahr, die früher für uns in Jena Jürgen Fuchs von West-Berlin aus wahrgenommen hatte: Ich war nicht ein Medienvertreter, ich war ein Freund, dem erzählt wurde, was passierte, was passieren würde und was berichtet werden sollte. Es gab keine Berührungsängste. Ein Beispiel: An einem Abend, um 21,43 Uhr, bekomme ich einen Anruf aus der Zionskirche, die Mahnwache vor der Kirche sei festgenommen und weggefahren worden. Ich rufe den Journalisten Holger Kulick beim ZDF in Mainz an, der gerade dort beim "heute-journal" arbeitete und erzähle ihm das. Zwei Minuten später, um 21.45 Uhr, beginnt das "heute-journal" seine Sendung mit der Meldung, soeben wurde die Mahnwache vor der Zionskirche in Ost-Berlin festgenommen. Millionen Menschen wußten sofort Bescheid. Ebenso lief es im Januar 1988 nach den Verhaftungen anläßlich der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration.


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Was waren aus Ihrer Sicht die größten Defizite des Samisdat?

Das Schmoren im eigenen Saft. Aber auch lange Zeit das "Drumherumschreiben", die fehlende klare und eindeutige Sprache. Der Samisdat erreichte meist nur die eigenen Kreise. Die Sprache richtete sich an enge Zirkel. Wir konnten nur wenige Artikel, so wie sie erschienen waren, im Westen veröffentlichen. Wir mußten umschreiben, die Sprache entblättern, decodieren, übersetzen. Nicht nur der Westler, auch ein "normaler" DDR-Bürger konnte mit dem, was da stand, oftmals nichts anfangen. 

Was mich auch störte, das habe ich mal in der "taz" geschrieben, war, daß die Opposition von der DDR-Bevölkerung genauso weit weg war wie die SED-Führung. Auch die Opposition hat die Stimmung im Volk nicht aufgenommen und kanalisiert.

Dazu kam, daß die Texte oft vom Stilmittel platter Agitation geprägt waren. Bei "Radio Glasnost" haben wir immer wieder erlebt, daß nicht journalistische Beiträge aus der DDR geliefert worden sind, sondern Agitationsarbeiten. Mich hat das gestört, aber es war wahrscheinlich für die Selbstfindung notwendig, auf die SED-Agitation eben hart agitatorisch zu reagieren, um Frust abzubauen. Nur wenige Arbeiten aus der DDR waren getragen von einem beschreibenden journalistischen Ansatz. Auch fand selten eine Auseinandersetzung von Meinung und Gegenmeinung statt. Investigativer Journalismus kam selten vor. Leider, denn das war meine Wellenlänge. Als ich die ersten Videokameras in die DDR schickte und dann die ersten Aufnahmen kamen, hielt ich Produkte in der Hand, die mir Hoffnung machten. Dieses Material konnte ich auch für Sendungen wie "Kontraste" in der ARD verwenden, das heißt, einem Millionen­publikum zugänglich machen.

Unter extrem hohem Risiko waren Siegbert Schefke und Aram Radomski in der DDR unterwegs, spürten Mißstände auf und filmten meist heimlich. Es entstanden zum Beispiel Beiträge über Umweltschäden, Stadtzerfall, die ersten Rechtsradikalen in der DDR oder die Wahlfälschung 1989. Der Höhepunkt war, als die beiden die ersten Aufnahmen der legendären Leipziger Montagsdemo vom 9. Oktober machten und in den Westen schmuggelten. So konnte ich ARD und ZDF mit diesen bewegenden Bildern versorgen.

 

Haben Sie vor 1989 daran gedacht, einen anderen Job zu machen, etwas, was nicht mit der DDR zu tun hatte?

Seit 1985, seit dem illegalen Aufenthalt in Ost-Berlin und Jena, den ich schon erwähnte, bis zum Ende der DDR hatte ich kein Problem mit dem Vorwurf: "Du bist der ewige DDR-Dissident". Das prallte ab. Ich machte eine Arbeit, die mir wichtig war, die Menschen half und die ein klares Ziel hatte: Die Mauer muß fallen. Die DDR im Kopf und trotzdem im Westen gut angekommen, ein neues Zuhause in Berlin-Kreuzberg, das war möglich. Eine Journalistin schrieb 1989 im "Tagesspiegel", eigentlich hätte ich "die deutsche Einheit als Person" schon seit 1983 gelebt.

 

 

 

 


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