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1.  Das sechste große Artensterben

 

 

   Atelopus zeteki (Stummelfußfrosch) 

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Die Stadt El Valle de Anton liegt in Zentralpanama in einem Vulkankrater, der vor etwa einer Million Jahren entstanden ist. Er hat einen Durchmesser von zwölf Kilometern, aber bei klarem Wetter sieht man die zerklüfteten Berge, die den Ort wie die Mauern einer Turmruine umgeben. El Valle hat eine Hauptstraße, eine Polizeistation und einen Marktplatz. Neben dem üblichen Sortiment von Panamahüten und bunten Stickereien bieten die Markstände die wohl weltweit größte Auswahl an Figuren des Stummelfußfroschs: Frösche auf Blättern, auf den Hinterbeinen stehend und - was schon schwerer nachzuvollziehen ist - mit Handys zwischen den Vorderbeinen. Es gibt Stummelfußfrösche mit Rüschenröckchen, in Tanzposen und Frösche, die im Stil Franklin D. Roosevelts mit Zigarettenspitze rauchen. Der goldgelbe Panama-Stummelfußfrosch mit dunkelbraunen Flecken ist in der El-Valle-Gegend heimisch und gilt dort als Glücksbringer. Sein Bild ist (oder war zumindest bis vor einiger Zeit) auf Lotterielosen zu finden.

Noch vor zehn Jahren war der Panama-Stummelfußfrosch in den Bergen um El Valle leicht zu finden. Die Frösche sind giftig - das in der Haut eines einzigen Tieres enthaltene Gift reicht rein rechnerisch, um tausend Mäuse zu töten - und heben sich durch ihre leuchtende Farbe deutlich vom Waldboden ab. Ein Bach in der Nähe von El Valle trägt den Namen Tausend-Frösche-Bach, weil sich an seinen Ufern früher so viele Stummelfußfrösche sonnten, dass ein Herpetologe, der häufig dort war, zu mir sagte: »Es war verrückt, völlig verrückt.«

Doch irgendwann verschwanden die Frösche in der Umgebung von El Valle. Das Problem - das noch nicht als Krise wahrgenommen wurde - begann westlich des Vulkankraters in Panamas Grenzgebiet zu Costa Rica. Dort erforschte eine amerikanische Studentin Frösche im Regenwald. Als sie nach einem längeren Aufenthalt in den Vereinigten Staaten, wo sie ihre Dissertation schrieb, wieder zurückkehrte, fand sie keine Frösche und keinerlei Amphibien mehr vor. Sie hatte keine Ahnung, was passiert war, da sie aber für ihre Forschungen Frösche brauchte, suchte sie sich für ihre Beobachtungen ein neues Gebiet weiter östlich.


Anfangs machten die Frösche dort einen gesunden Eindruck, doch dann passierte wieder dasselbe: Die Amphibien verschwanden. Immer mehr Regenwaldregionen waren betroffen, bis die Frösche 2002 auch in den Bergen und Gewässern um die Stadt Santa Fe, etwa achtzig Kilometer westlich von El Valle, praktisch ausgestorben waren. 2004 entdeckte man in dem noch näher an El Valle gelegenen Dorf El Cope kleine Kadaver. Zu diesem Zeitpunkt kam eine Gruppe von Biologen aus Panama und den USA zu dem Schluss, dass der Panama-Stummel-fußfrosch ernsthaft bedroht war. Um eine Restpopulation zu retten, entschieden sie sich, einige Dutzend Pärchen aus dem Regenwald zu holen und in geschlossenen Räumen zu halten. Aber das, was die Frösche tötete, war schneller, als die Biologen befürchtet hatten. Noch bevor sie ihren Plan in die Tat umsetzen konnten, holte die Welle sie ein.

Auf die Stummelfußfrösche von El Valle stieß ich erstmals in einem Naturmagazin für Kinder, das ich bei meinen Söhnen gefunden hatte.(1) Der mit Farbfotos des Panama-Stummelfußfrosches und anderer leuchtend bunter Arten illustrierte Artikel schildert die um sich greifende Seuche und die Bemühungen der Biologen, sie einzudämmen. Sie hatten auf den Neubau eines Labors in El Valle gehofft, der aber nicht rechtzeitig fertig wurde. Daher retteten sie in aller Eile so viele Tiere wie möglich, obwohl sie keine Räumlichkeiten hatten, um sie unterzubringen. Was machten sie also? Sie quartierten sie »natürlich in einem Froschhotel« ein! Das »unglaubliche Froschhotel« - eine örtliche Frühstückspension - erklärte sich bereit, die Tiere in angemieteten Zimmern (in Terrarien) aufzunehmen.

»Die Frösche genießen eine erstklassige Unterkunft mit Zimmermädchen und Roomservice, da Biologen ständig zu ihrer Verfügung stehen«, hieß es in dem Bericht. Zudem bekämen sie köstliches, frisches Essen, »so frisch, dass es vom Teller hüpfen kann«.

Einige Wochen nachdem ich über das »unglaubliche Froschhotel« gelesen hatte, stieß ich auf einen weiteren Artikel über Frösche, der allerdings in einer ganz anderen Tonart verfasst war. Er war in der Fachzeitschrift Proceedings ofthe National Academy of Sciences erschienen, stammte von den Herpetologen David Wake von der University of California in Berkeley und Vance Vredenburg von der San Francisco State

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University und trug die Überschrift »Befinden wir uns mitten im sechsten Massenaussterben? Ein Eindruck aus der Welt der Amphibien«.2 »In der Geschichte des Lebens auf der Erde«, so die Autoren, habe es »fünf große Massenaussterbeereignisse« gegeben, durch die die Artenvielfalt jeweils drastisch reduziert wurde. Das erste fand im Oberordovizium vor etwa 450 Millionen Jahren statt, als sich das Leben noch überwiegend im Wasser abspielte. Zum bislang verheerendsten Artensterben, das beinahe jegliches Leben auf der Erde vernichtet hätte, kam es am Ende des Perms vor etwa 250 Millionen Jahren. (Dieses Ereignis wird zuweilen als »die Mutter der Massenextinktionen« oder »das große Sterben« bezeichnet.)

 

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Das jüngste - und bekannteste - Massenaussterben löschte am Ende der Kreidezeit die Dinosaurier, Plesiosaurier, Mosasaurier, Ammoniten und Flugsaurier aus. Ausgehend von den Aussterberaten unter Amphibienarten, behaupten Wake und Vredenburg, dass in der Gegenwart eine ähnliche Katastrophe im Gange sei.

Der Artikel ist nur mit einem einzigen Foto bebildert, das ein Dutzend Frösche der Art Rana muscosa zeigt, die mit aufgeblähtem Leib tot auf dem Rücken liegen.

Dass eine Kinderzeitschrift lieber Fotos lebender als toter Frösche veröffentlichte, konnte ich durchaus verstehen, ebenso den Impuls, die reizvolle Kinderbuchszenerie von Amphibien, die den Zimmerservice kommen lassen, in den Mittelpunkt zu rücken. Dennoch drängte sich mir als Journalistin der Eindruck auf, dass die Zeitschrift das Eigentliche unter den Teppich gekehrt hatte. Wenn man irgendetwas als extrem selten einstufen konnte, dann ja wohl einen Vorgang, der sich erst fünfmal ereignet hat, seit vor gut fünfhundert Millionen Jahren die ersten Wirbeltiere auftauchten. Der Gedanke, dass ein sechstes Ereignis dieser Art gegenwärtig mehr oder weniger vor unseren Augen stattfand, überstieg im wahrsten Sinne des Wortes mein Vorstellungsvermögen.

Die Sache mit den Fröschen war also Teil einer viel umfassenderen und düstereren Geschichte mit überaus weitreichenden Folgen, die ebenfalls jemand erzählen musste. Falls Wake und Vredenburg recht hatten, waren wir derzeit nicht nur Zeugen, sondern auch Verursacher eines der seltensten Ereignisse in der Geschichte des Lebens. »Eine unkrautartig wuchernde Spezies hat unwissentlich die Fähigkeit erlangt, ihr eigenes Schicksal und das der meisten anderen Arten auf der Erde unmittelbar zu beeinflussen«, heißt es in ihrem Artikel. Nur wenige Tage nachdem ich den Aufsatz von Wake und Vredenburg gelesen hatte, buchte ich einen Flug nach Panama.

Das El Valle Amphibian Conservation Center (EVACC) liegt an einer Schotterstraße nicht weit von dem Marktplatz entfernt, auf dem die Stummelfußfrosch-Figuren verkauft werden. Es hat die Größe eines Bauernhauses und steht im hinteren Teil eines kleinen, verschlafenen Zoos, gleich hinter einem Gehege mit besonders verschlafenen Faultieren. Das ganze Gebäude ist voller Terrarien. Wie Bücher in den Regalen einer Bibliothek stehen sie dicht gedrängt entlang der Wände und in der Mitte des Raums.

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Die größeren beherbergen Arten wie den Lemur-Laubfrosch, der Baumwipfel bevorzugt, in den kleineren leben Arten wie der Craugastor megacephalus, der auf dem Waldboden beheimatet ist. Neben Behältern mit Beutelfröschen, die ihre Eier in einer Hauttasche ausbrüten, befinden sich solche mit Vertretern der Spezies He-miphractus fasciatus, die ihre Eier auf dem Rücken tragen. Einige Dutzend Terrarien sind dem Panama-Stummelfußfrosch (Atelopus zeteki) vorbehalten.

Stummelfußfrösche bewegen sich irgendwie schwankend fort und erinnern dabei an Betrunkene, die sich bemühen, auf einer geraden Linie zu gehen. Sie haben lange, dünne Gliedmaßen, eine spitze gelbe Schnauze und sehr dunkle Augen, mit denen sie die Welt argwöhnisch zu betrachten scheinen. Auch auf die Gefahr hin, albern zu klingen, möchte ich sagen, dass sie intelligent aussehen. In freier Wildbahn legen die Weibchen ihre Eier in flachen Bächen ab; Männchen verteidigen ihr Revier von bemoosten Felsen aus.

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Im EVACC wird jeder Stummelfußfroschbehälter über einen kleinen Schlauch mit fließendem Wasser versorgt, um die Brutplätze an den Gewässern zu simulieren, in denen die Tiere früher heimisch waren. In einem dieser Ersatzbäche bemerke ich eine Schnur perlenähnlicher Eier. Auf einem Whiteboard neben dem Terrarium hat jemand aufgeregt notiert, dass einer der Frösche Eier gelegt hat: »Depositö huevosü«

Das EVACC befindet sich mehr oder weniger mitten im Verbreitungsgebiet der Panama-Stummelfußfrösche, ist aber vollkommen von der Außenwelt abgeschottet. Es kommt nichts ins Gebäude, bevor es nicht gründlich desinfiziert worden ist, einschließlich der Frösche, die vorher mit einer Chlorlösung gereinigt werden. Menschliche Besucher müssen Spezialschuhe tragen und Taschen, Rucksäcke und Gerätschaften, die sie im Feld benutzt haben, draußen lassen. Das Wasser, das in die Terrarien fließt, wird zuvor gefiltert und besonders behandelt. Durch seine Isolation wirkt das Zentrum wie ein U-Boot oder, vielleicht treffender, wie die Arche während der Sintflut.

Der Direktor des EVACC, der Panamaer Edgardo Griffith, ist groß und breitschultrig, hat ein rundliches Gesicht und ein strahlendes Lächeln. In jedem Ohr trägt er einen Silberring und am linken Schienbein ein großes Tattoo in Form eines Krötenskeletts. Er ist Mitte dreißig, hat einen Großteil seines Erwachsenenlebens den Amphibien von El Valle gewidmet und seine Frau - eine US-Amerikanerin, die als Freiwillige des Peace Corps nach Panama kam - mit seiner Passion für Frösche angesteckt. Es war Griffith, der die ersten Froschkadaver in der Gegend bemerkte; viele der mehreren hundert Amphibien, die im Froschhotel unterkamen, hatte er selbst eingesammelt. (Sobald das EVACC-Gebäu-de fertiggestellt war, zogen die Tiere dorthin um.) Wenn das EVACC eine Arche ist, ist Griffith ihr Noah, allerdings ist er schon erheblich länger als vierzig Tage im Dienst. Ein wesentlicher Teil seiner Arbeit besteht darin, die einzelnen Frösche kennenzulernen. »Für mich hat jeder von ihnen denselben Wert wie ein Elefant«, sagt er.

Als ich mich zum ersten Mal im EVACC aufhielt, zeigte Griffith mir Vertreter von Arten, die in der Wildnis mittlerweile ausgestorben sind. Dazu gehörte neben dem Panama-Stummelfußfrosch auch »Rabbs Fransenzehen-Laubfrosch« (Ecnomiohyla rabborum), der erst 2005 als eigenständige Art identifiziert wurde.

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Bei meinem Besuch hatte das EVACC nur noch ein Exemplar dieses Frosches, womit offenkundig keine Möglichkeit mehr bestand, wie seinerzeit Noah wenigstens ein Pärchen zu retten. Der etwa zehn Zentimeter lange Frosch war grünlich braun und gelb gesprenkelt; mit seinen übergroßen Füßen sah er aus wie ein unbeholfener Teenager. Das Habitat der Fransenzehen-Laubfrösche waren die Wälder oberhalb von El Valle; eine Eigenheit der Art bestand darin, dass die Weibchen ihre Eier in Baumhöhlungen ablegten. In einem ungewöhnlichen, vielleicht sogar einzigartigen Arrangement kümmerten sich die Froschmännchen um die Kaulquappen, indem sie sich von den Jungen buchstäblich die Haut vom Rücken fressen ließen. Griffith befürchtete, dass dem EVACC-Team bei der ersten, überstürzten Sammelaktion wahrscheinlich eine Vielzahl von Amphibienarten entgangen waren, die in der Zwischenzeit vermutlich verschwunden sind. Wie viele, ist schwer zu sagen, die Forscher wissen ja selbst nicht, welche Arten in der Gegend ursprünglich lebten. »Leider verlieren wir all diese Amphibien, bevor wir auch nur wissen, dass sie jemals existiert haben«, sagte er mir.

»Sogar den normalen Leuten in El Valle fällt es auf«, erzählte er. »Sie fragen mich: Was ist mit den Fröschen passiert? Wir hören sie gar nicht mehr quaken.<«

Als vor einigen Jahrzehnten die ersten Meldungen über den drastischen Rückgang der Froschbestände kursierten, reagierten einige der sachkundigsten Fachleute auf diesem Gebiet äußerst skeptisch. Schließlich gehören Amphibien seit je zu den großen Überlebenskünstlern auf der Erde. Die Vorfahren der heutigen Frösche krochen vor 400 Millionen Jahren aus dem Wasser, und vor 250 Millionen Jahren entwickelten sich die ersten Vertreter, aus denen die heutigen Ordnungen der Amphibien oder Lurche hervorgegangen sind - die erste Ordnung umfasst die Froschlurche mit Fröschen, Kröten und Unken, die zweite die Schwanzlurche mit Molchen und Salamandern und die dritte die seltsamen Schleichenlurche, die keine Gliedmaßen besitzen. Lurche gibt es also schon länger als Säugetiere oder Vögel. Sie waren sogar schon vor den Dinosauriern da.

Die meisten Amphibien - das Wort leitet sich vom altgriechischen Adjektiv amphibios ab, das so viel bedeutet wie »doppellebig« - sind immer noch eng mit dem Wasser verbunden.

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(Die alten Ägypter glaubten, Frösche würden während des jährlichen Nilhochwassers von Land und Wasser gezeugt.) Ihre schalenlosen Eier müssen feucht gehalten werden, damit sie sich entwickeln können. Es gibt viele Frösche, die wie der Panama-Stummelfußfrosch ihre Eier in Bächen ablegen. Andere legen sie in vorübergehend vorhandene Tümpel, in die Erde oder in Nester, die sie aus Schaum bauen. Außerdem gibt es noch Frösche, die ihre Eier auf dem Rücken, in Beuteln oder um die Hinterbeine gewickelt tragen. Bis vor Kurzem existierten zwei Arten von Magenbrüterfröschen, die ihre Eier im Magen austrugen, bis die Jungfrösche aus dem Maul der Mutter schlüpften.

Amphibien entstanden zu einer Zeit, als die gesamte Landmasse der Erde noch einen einzigen Kontinent bildete, Pangaea genannt. Als Pangaea auseinanderbrach, passten sie sich den Bedingungen aller Kontinente außer der Antarktis an. Weltweit hat man bislang knapp über siebentausend Arten identifiziert, von denen die meisten in den tropischen Regenwäldern zu finden sind; es gibt allerdings einzelne Arten, die wie zum Beispiel der Australische Sandfrosch (Arenophryne rotunda) in der Wüste oder wie der Waldfrosch (Rana sylvatica oder Lithobates sylvaticus) nördlich des Polarkreises leben. Mehrere verbreitete nordamerikanische Froscharten wie der Spring Peeper (Pseudacris crucifer) können im Winter sogar Phasen überleben, in denen ihre Körper gefroren sind wie Eis am Stil. Aufgrund ihrer langen Evolutionsgeschichte können selbst Amphibiengruppen, die aus Sicht des Menschen recht ähnlich wirken, genetisch so verschieden sein wie Fledermäuse und Pferde.

David Wake, einer der Autoren des Artikels, der mich nach Panama führte, gehört zu den Fachleuten, die anfangs nicht an ein Verschwinden der Amphibien glaubten. Das war Mitte der achtziger Jahre. Doch dann kamen seine Studenten mit leeren Händen von ihren Exkursionen in die Sierra Nevada zurück, wo sie Frösche hatten sammeln sollen. Aus seiner eigenen Studentenzeit in den Sechzigern hatte Wake noch in Erinnerung, dass man dort den Fröschen kaum aus dem Weg gehen konnte. »Wenn man durch die Wiesen lief, trat man versehentlich darauf«, erzählte er mir. »Sie waren einfach überall.« Wake vermutete, seine Studenten hätten an den falschen Stellen gesucht oder einfach nicht gewusst, worauf sie achten sollten.

Dann berichtete ihm ein Postdoktorand mit mehrjähriger Sammelerfahrung, dass auch er keine Amphibien fin-

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