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Horst S. (Chemnitz)

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Am 29. September 1969 wurde ich von der Stasi in meiner damaligen Wohnung Karl-Marx-Stadt, Stephensonstr. 5, verhaftet. Am Morgen erschienen bei mir mehrere Stasileute und der Staats­anwalt Richter von der Bezirksstaats­anwaltschaft KMSt. Vorwand für die Verhaftung war Wirtschaftssabotage. Als ich weggebracht wurde, sah ich, daß Grundstück und Straße weiträumig von Stasi abgeschirmt waren. In der Wohnung lief inzwischen eine Hausdurchsuchung an, in deren Verlauf Teile der Einrichtung zerstört wurden. Ziel der Haussuchung war, Beweismittel sicherzustellen und einen Geheimsender zu enttarnen. Bei einer vorher­gegangenen Schnüffelei hatte man bei mir Thyratrons liegen sehen, die für Senderöhren gehalten wurden. Deshalb verzichtete man bei der Haussuchung auf die vorgeschriebenen zivilen Zeugen und holte statt dessen den Staatsanwalt Rubitzsch dazu.

Für mich begann eine Zeit maßloser körperlicher und seelischer Qualen, die zweidreiviertel Jahre dauern sollte. Täglich wurde ich abwechselnd von vier Stasileuten immer und immer wieder verhört. Zuweilen auch von allen gemeinsam. Am Anfang gab man sich sogar betont freundlich und sagte: "In einem Jahr sitzen wir hier gemeinsam und trinken Kognak!" Man bemühte sich, mich in den Apparat der Stasi einzubeziehen, um das Ziel schneller zu erreichen. Doch dieses Ziel war mir völlig unklar. Das ganz besonders, nachdem ich die Liste der bei mir beschlag­nahmten Gegenstände und Bücher vorgelegt bekam. Beschlagnahmt wurden vor allem sämtliche Fotos und das dazugehörige Filmmaterial sowie Tonbänder. Das paßte sicher wenig zu dem Vorwurf "Wirtschafts­sabotage". Ebensowenig natürlich die Beschlagnahme von Büchern wie "Zwischen Rot und Weiß" von Dwinger, "Kriegs­erinnerungen" von Ludendorff, der Schulatlas von Dircke, der Jahrgang 1916 der Frontzeitung der 10. Armee usw... Offensichtlich sollte das alles dazu dienen, mir eine staats­feindliche Grund­einstellung nachzuweisen.

Bei Wirtschaftssabotage hätten ganz besonders einschlägige Fachbücher beschlagnahmt werden müssen. Ein einziges Fachbuch hatte man tatsächlich mitgenommen, das Buch "Bergwerksmaschinen" von Hoffmann, erschienen beim Springerverlag 1956. Dieses Buch hatte ich durch Zufall 1969 im staatlichen Antiquariat erworben, obwohl ich in dieser Branche nie gearbeitet habe. Um so mehr mußte ich mich wundern, daß gerade dieses Buch allein bei der Stasi Interesse gefunden hatte. Dieses Rätsel beschäftigte mich viele Wochen, bis das Buch eines Tages im Verhör aufgeschlagen und plötzlich vor mir auf den Tisch geknallt wurde. Dargestellt war an dieser Stelle eine Blasversatzmaschine, die ich jedoch nie zuvor gesehen hatte. Ich reagierte deshalb darauf sehr gelassen. 

Erst nach und nach wurden mir die Zusammenhänge klar, die sich kurz gefaßt so darstellen lassen: Nach dem Bau der Mauer wurde unter anderem 1962 in Berlin-Treptow eine Lichtpauserei ausgeräumt und abgerissen. Dabei fand man in diesem Gebäude einen unvollendeten Tunnel. Im Tunnel befand sich eine pneumatische Förderanlage, mit der beim Bau die Erde herausgeblasen wurde. Das Gerät war offensichtlich von einem Fachmann entwickelt, so daß man an Berliner Betriebe die Frage richtete, wer so etwas macht. Vom Kabelwerk Oberspree kam darauf die Antwort: Für uns macht das Herr Schlegel in KMSt. So kam ich in den Kreis der Verdächtigen. Außerdem war in der Lichtpauserei meine Adresse auf einer Papprolle erschienen, die von irgendeinem Betrieb dorthin weitergeschickt worden war.

Zunächst überprüfte die Stasi entsprechende Fachleute in Berlin, bevor der Vorgang 1967 nach KMSt. weitergereicht wurde. Die Stasi in KMSt. wollte denen in Berlin nun einmal beweisen, was sie leisten kann. 

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Ab 1967 wurden alle meine Telefongespräche aufgenommen und alle meine Aktivitäten genauestens analysiert. Ziel dabei war, eine Verbindung nach Westberlin zu finden, weil bei so einem Tunnelprojekt die längere Strecke sicher in Westberlin gebaut wird. Bald wurde man auch fündig. Die Stasi fand heraus, daß ich mit einem Kunstmaler bekannt war, der für diese Lichtpauserei bis 1960 Bilder koloriert hatte. Außerdem stellte man fest, daß ich 1957 in Berlin beim Außenhandel tätig war und dabei täglich an dem Haus vorbei ging, in dem der Inhaber dieser Lichtpauserei wohnte. Beides waren reine Zufälligkeiten, aber für die Stasi doch sehr konkrete Möglichkeiten zum Kontakt zwischen mir und der Lichtpauserei. Meine Verhaftung wurde ausgelöst durch zwei Ereignisse, die die Stasi voll auf mich bezog. Zuerst verschwand aus meinem Heimatort Eppendorf ein junger Mann nach Westberlin. Im Ort ging danach das Gerücht um, er sei durch eine im Stadtplan nicht eingezeichnete Kanalisation nach Westberlin gelangt. Kurz darauf verschwand der Sohn meines Freundes Amold in KMSt. ebenfalls über Berlin nach dem Westen. Das veranlaßte die Stasi, mich sofort zu verhaften, ohne inzwischen in der Sache direkt fündig geworden zu sein. 

Beim Abhören meiner Telefongespräche hatte man auch alle meine beruflichen Probleme kennengelernt und glaubte, ganz normale Schwierigkeiten bei Neuentwicklungen als Sabotage darstellen zu können. So wurde es mir von der Stasi im weiteren Verlauf der Verhöre ganz offen gesagt. Wörtlich: "Wir fahren gegen Sie wegen Sabotage volles Rohr, bis Sie uns in der Tunnelsache weiterhelfen." Damit war für mich nun auch klar, warum man allein dieses Fachbuch über Bergwerksmaschinen beschlagnahmt hatte. Die Blasversatzmaschine sollte mir als Vorbild bei der Konstruktion der pneumatischen Förderanlage gedient haben, die im Tunnel gefunden wurde. Ich konnte jedoch sofort schlüssig nachweisen, daß ich dieses Buch tatsächlich erst 1969 gekauft hatte. Damit war das einzige direkte Beweismittel der Stasi zerbrochen. Von da an wurden die Methoden der Stasi bei den Verhören zunehmend rauher bis hin zu faschistischem Terror. Als ich mich weigerte, Protokolle zu unterschreiben, deren Inhalt völlig erlogen war, schrie der Hauptmann, der die Verhöre leitete, mich an: 

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"Was, Sie wollen nicht unterschreiben!? Sie werden hier noch unterschreiben, daß Sie Ihre eigene Großmutter gefickt haben!" Ständige Drohungen mit Erschießen und Schläge mit der Faust sollten mich gefügig machen.

Jedes Mittel, mich unter Druck zu setzen, war der Stasi recht. So mußte ich zum Beispiel ein Protokoll unterschreiben, in dem es hieß: "Die Tatsache, daß ich in der Hitlerjugend nur Pimpf gewesen bin, beweist, daß ich mich damals schon staatlichem Einfluß entzogen habe." Man machte mir klar, daß die Erziehung in der Hitlerjugend gut war, die Stasi mache es aber noch besser. Bald sollte ich erfahren, warum die Stasileute die Hitlerjugend so lobten. Von einem Nachbar wußte ich, daß der Chef der Stasi im Bezirk KMSt., Gehlert, bis Kriegsende Hitlerjugendführer in der Gegend von Schwarzenberg war. Bei der Befragung von Bürgern ist der Stasi bekannt geworden, daß ich diese Tatsache weitererzählt hatte. Darauf hat Gehlert die Anweisung gegeben, mich zu vernichten. Später einmal fragte mich der bewußte Hauptmann zynisch: "Was haben wir verkehrt gemacht, daß Sie das alles überlebt haben!?"

Zunächst wurde die Suche nach Beweismitteln in Sachen Tunnelbau erheblich verstärkt. Der Friedhof in meinem Heimatort Eppendorf wurde durchsucht, weil man dort einen toten Briefkasten vermutete. Da nichts gefunden wurde, nahm man sich den St.Pauli-Friedhof in Dresden vor. Aber eben alles ergebnislos. Gleichzeitig durchleuchtete man das Umfeld meiner Familie. Eigentlich alle meine Bekannten und auch viele, mit denen ich nur rein zufällig in Berührung gekommen war, wurden intensiv verhört, um eine Verbindungsperson nach Westberlin zu finden. Außerdem bezog man viele Bankangestellte in die Unter­suchungen ein, weil beim Tunnelbau ganz sicher auch sehr viel Geld umgesetzt wird. Auch das natürlich vergebens.

Da man nirgends fündig wurde, versuchte man nun doch, einen Sabotagevorwurf zusammenzuzimmern, um mich weiter in Haft halten zu können. Als ich dem Hauptmann eines Tages sagte: "Stellen Sie sich bitte mal vor, ich hätte tatsächlich nichts mit dem Tunnelbau zu tun...", meinte der ganz trocken: "Das brauchen wir nicht, denn wir wissen, daß Sie der richtige sind!" Ich darauf: "Aber stellen Sie sich das mal theoretisch

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vor!" Er darauf: "Dann wäre es sehr schlimm für Sie, aber das kommt ja nicht in Frage!" - Nun wußte ich, worauf ich mich einstellen mußte. Von nun an wechselte ständig Einzelhaft mit Zusammenlegung. Dabei wurden Spitzel zu mir in die Zelle gesteckt, die mich aushorchen und unter Druck setzen sollten. So verbrachte ich dreimal Weihnachten und den Jahreswechsel in den Kerkern der Stasi auf dem Kaßberg in KMSt.

Im Mai 1972 endlich wurde vor dem Bezirksgericht KMSt. gegen mich ein Gerichtsverfahren eröffnet. Wie sich herausstellte, war es ein regelrechter Stasiterror­prozeß, der unter völligem Ausschluß der Öffentlichkeit stattfand. Vom Tunnelbau war nichts zu hören. Statt dessen wurde ich wegen Sabotage an vier Objekten angeklagt. Die Bezirksstaats­anwaltschaft bot zwei Staatsanwälte auf, Rubitzsch und Frommhold.

Die Anklageschrift hatte Rubitzsch ausgearbeitet. Da er als Haussuchungszeuge fungierte, wußte er von Anfang an, daß alle Untersuchungen auf Tunnelbau gerichtet waren und daß er aus Verlegenheit eine Falschanklage erhob. Die Anklageschrift umfaßte mehr als 100 Seiten und war voller primitivster Diffamierungen wie z.B.: Ich hätte geäußert, "Dubcek ist ein Silberstreif am Horizont...", "Walter Ulbricht möchte ich nicht nackt auf den Hintern gemalt haben..." usw... Die Schmierereien des Rubitzsch waren so übel, daß sogar der Stasimann, der mir die Anklageschrift brachte, sie lächelnd als "Pamphlet" bezeichnete, das ich mir erst mal ganz in Ruhe durchlesen solle.

Mein Rechtsanwalt war der damalige Vorsitzende des Kollegiums der Rechtsanwälte des Bezirkes KMSt., Herr Bauer. Er sagte mir, daß in meinem Falle erstmalig in der DDR zwei Staatsanwälte gegen einen Angeklagten aufgeboten werden. Er glaubte, das allein nicht durchstehen zu können und schlug vor, den Dr. John als zweiten Rechtsanwalt hinzuzuziehen. Den Prozeß vor dem Bezirksgericht KMSt führte der Oberrichter Fischer, ein treuer Diener der Stasi, der für jedes logische Gegenargument von mir taub war und jede Unverschämtheit des Rubitzsch passieren ließ. Oft hatte ich den Eindruck, daß sogar dem Staatsanwalt Frommhold die Darstellung seines Kollegen peinlich war. Als Beispiel folgendes: Rubitzsch trug vor, ich sei 1957 mit einer Frau Fichtner befreundet gewesen. Dann präsen-

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tierte er einen Brief dieser Frau Fichtner aus den USA an den Rat der Stadt KMSt., worin sie um Unterstützung beim Verkauf des elterlichen Hauses bat. Daraus schlußfolgerte Rubitzsch: Daß ich mit dieser Frau befreundet war, die jetzt in den USA lebt, beweist, daß ich mich auf der Wellenlänge des amerikanischen Imperialismus befände. Dieser Staatsanwalt, der damals übelste Hetze betrieb und damit dem Hitlerjugendführer und Stasi-General Gehlert einen Freundschaftsdienst leisten wollte, ist jetzt noch immer in Amt und Würden. Er wartet offenbar nur darauf, später Schmutz in eine andere Richtung schleudern zu können.

Meine Verteidigung gegen den Vorwurf der Sabotage war in der Sache leicht, aber bei dem verbrecherischen Zusammenwirken von Staatsanwaltschaft und Gericht völlig aussichtslos.

Im weiteren Verlauf des Prozesses wechselten ständig politische Diffamierungen ab mit Falschdarstellungen und Verleumdungen. So quälte sich der Prozeß 6 Wochen dahin, wobei jedes Wort von der Stasi auf Tonband geschnitten wurde. Das widerspiegelt sich heute noch in 12.000,- Mark Gerichtskosten und 9500,- Mark für meine beiden Anwälte, die nach Lage der Dinge auf Freispruch plädieren mußten. Sie waren erschüttert zu hören, daß ich statt dessen zu 10 Jahren strenger Haft verurteilt wurde.

Aber auch nach dem Prozeß verhörte man mich wochenlang weiter, bis eines Tages der Direktor der Untersuchungshaftanstalt persönlich in meine Zelle kam. Das war sicher ein ganz außergewöhnlicher Vorgang. Er sagte mir leise, daß er mir hier einen ganz privaten, wohlgemeinten Rat geben wolle. Ich solle nichts gegen das Urteil unternehmen und nur irgendetwas unterschreiben, damit ich hier wegkomme. Dabei deutete er mir an, daß er ernstlich um meine Sicherheit besorgt sei. Ich hatte keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln, da ich ihn nach einem Exzeß zwischen "Vernehmern" und dem Wachpersonal in seinen Diensträumen als korrekten Mann kennengelernt hatte. Ich wartete danach vergebens auf meine Rechtsanwälte und mußte mich nun allein entscheiden. Erst Jahre später erfuhr ich, daß die Anwälte nicht verständigt wurden und auch nicht zu mir durften.

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Zirka 2 Wochen später wurde ich allein in einem Kombi-Fahrzeug nach der Haftanstalt Bautzen n gebracht. Damit war erst einmal der Terror der Stasi-Verhöre zu Ende. Ich befand mich nun in der Sonderhaftanstalt der Stasi. Hinter jeder Aktivität, die die Gefangenen betraf, stand ungesehen der V-Null, der Verbindungsoffizier der Stasi, der sich mit dem Habitus des biederen Opas versah und per Richtfunk mit der Stasi-Zentrale in Berlin in der Normannenstraße in Verbindung stand. Jeder Gefangene hatte grundsätzlich Einzelhaft. Nach einer Woche Isolierung kam ich in das Arbeitskommando H. Dort wurde ich sehr freundlich aufgenommen. Es handelte sich um Gefangene, die fast alle lebenslänglich hatten und darauf warteten, irgendwann mal ausgetauscht oder freigekauft zu werden. Nach zwei Wochen wurde ich umgesetzt in eine Arbeitszelle, in der wir zwei Gefangene waren. Der andere hatte mit Erich Honecker in Moskau studiert und hieß Siegfried Bahr. Mit ihm zusammen arbeitete ich fortan für das Stahlwerk Riesa. Bahr fertigte Zeichnungen an, und ich berechnete Lastaufnahmemittel für die Krananlagen des Stahlwerkes.

Nachdem im Oktober 1972 die Amnestie verkündet wurde, wußte die Polizei nicht, was die Stasi mit den Gefangenen vorhatte. Deshalb beschaffte man vom Stahlwerk Riesa keine Arbeit mehr, die ich nur allein hätte erledigen können, und setzte mich in ein Arbeitskommando um, in dem Elektrogeräte montiert wurden. Dort kam ich zusammen mit dem Gefangenen Möhring, der aus der staatlichen Plankommission westlichen Geheimdiensten Material geliefert hatte, mit dem Gefangenen Wendemacher, der aus Manövergebieten Nachrichten in den Westen gefunkt hatte, und mit Professor Frucht, der dem CIA die Unterlagen über Nervengiftgas zum Ausschalten des USA-Raketenfrühwarnsystem lieferte.

Bald wurde auch mir die Frage gestellt, wohin ich entlassen werden will. Ich entschied mich für die DDR, weil an mir von der Bezirksstaatsanwaltschaft KMSt. und vom Bezirksgericht KMSt. ein so schweres Justizverbrechen begangen worden war. Ich glaubte, wenn ich in Freiheit sei, könne ich den gewissenlosen Staatsanwalt Rubitzsch und den Oberrichter Fischer vor Gericht bringen. In technischen Dingen liegen ja die Beweise

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offen auf der Hand. Gerade darin sollte ich mich gewaltig täuschen. Die letzten 20 Jahre haben deutlich gezeigt, daß die Stasi brutal über technische und ökonomische Sachzwänge einfach hinweggegangen ist. Für sie galt nur die Erhaltung der Macht. So wurde das Land total ruiniert.

Der 18. September 1972 war der Tag meiner Entlassung aus der Stasi-Sonderhaftanstalt Bautzen K. Ein Freund holte mich mit seinem Privat-PKW ab. Schon nach kurzer Fahrstrecke sagte er mir, daß wir offenbar verfolgt würden. Die Stasi wußte nicht, daß dieser Freund Taxifahrer war. Ein Taxifahrer beobachtet ja gewohnheitsmäßig die Umgebung der Straße und den Verkehr genauer. Wir führen darauf in Bautzen mehrere Schleifen und gingen dann erst auf die Autobahn in Richtung KMSt. Immer war der Verfolger hinter uns. Auch in der Autobahnraststätte Wilsdruff saß er am Nachbartisch. Erst in Siebenlehn wurden wir ihn los. Die Freude besonders meiner beiden Kinder war groß, den Vater endlich wieder zu haben. Ihnen war gerade in den Jahren der Vater vorenthalten worden, in denen er am dringendsten gebraucht wird.

Schon am übernächsten Tag wurde ich auf dem Polizeirevier zwei Mitarbeitern des VEB Erste Maschinenfabrik KMSt. übergeben. Ich war fortan nicht mehr selbständig und mußte als Konstrukteur zwangsweise in der Rationalisierungsmittel-Konstruktion dieses Betriebes arbeiten. 

Danach begann ich meinen Kampf gegen die Terrorjustiz auf dem Kaßberg. Ich schrieb allen nur denkbaren Instanzen und lieferte schlüssige Beweise für die Justizverbrechen des Staatsanwaltes Rubitzsch und des Komplizen Oberrichter Fischer. Alles wurde mit unsachgemäßen Argumenten zurückgewiesen. Doch scheute man offensichtlich davor zurück, mich erneut zu verhaften. Bald schon mußte ich einsehen, daß gegen das Verbrecher-Kartell Staatsanwaltschaft-Gericht-Stasi jeder Kampf aussichtslos ist. Das Urteil hatte auch Schadensersatzforderungen enthalten. Da ich dieses Urteil des Bezirksgerichtes nicht in der Hand hatte, konnte ich mich nicht gegen die bald anlaufenden Gehaltspfändungen wehren, die das Kreisgericht KMSt-West veranlaßte, ohne das Urteil zu kennen. Dieser Pfändungsterror wird auch jetzt noch gegen mich weitergeführt, nachdem schon sechs Monate an der Auflösung der Stasi gearbeitet wird. Deshalb ist es dringend erforderlich, die politischen Richter und Staatsanwälte strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, denn in ihnen lebt die Stasi weiter. Nur so kann der Weg zu voller Rechtsstaatlichkeit freigelegt werden.

Chemnitz, 
1.6.1990  

 

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Anneliese und Walter H. (Chemnitz)

 

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35 Jahre mußte ich über ein furchtbares Ereignis schweigen, das mein ganzes Leben seitdem geprägt hat. Damals war ich 27 Jahre alt, mein Mann, Walter Hayde, 37 Jahre. Wir waren 7 Jahre verheiratet, kinderlos und führten eine gute Ehe. Am 21. Mai 1955 wurden wir von der Stasi in unserer Wohnung verhaftet und getrennt per LKW in die UHA des MfS nach Halle gebracht. 

Ich kam sofort in Einzelhaft, ohne daß man mir einen Grund meiner Verhaftung sagte. Erst bei den Verhören, die manchmal bis zu 14 Stunden dauerten, erfuhr ich, daß wir beide wegen Spionage angeklagt werden sollten. Der Stasi-Offizier, der mich verhörte, drohte: "Wenn Sie nicht bald die ganze Wahrheit auspacken, kommen Sie als alte Frau mit weißem Zopf aus dem Gefängnis raus!" Immer wieder versuchte mir die Stasi zu unterstellen, daß ich für meinen Mann Kurierdienste erledigt und somit Militärspionage betrieben hätte.

Nach fünf Monaten U-Haft kam es am 15. Oktober 1955 vor dem 1. Strafsenat Halle zur Verhandlung. Außer gegen meinen Mann und mich wurde im gleichen Zusammenhang gegen Herrn Koslowski, dessen Frau und 6 weitere Personen verhandelt. Die Öffentlichkeit war ausgeschlossen worden. Als die Urteile verkündet wurden, bin ich fast zusammengebrochen:

Das Gericht hatte sich den Strafanträgen des Staatsanwaltes Erben angeschlossen und meinen Mann und Herrn Koslowski zum Tode verurteilt. Ich wurde zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt; wie hoch die Strafe für Frau Koslowski war, weiß ich heute nicht mehr. Die Todesstrafen für meinen Mann und Herrn Koslowski bezogen sich auf Verbrechen nach § 6 der Verfassung der DDR. 

Einen Tag vor der Verhandlung durfte ich zum letztenmal meinen Mann sprechen. Ich erkannte ihn kaum wieder, so hatte er sich während der fünf Monate U-Haft verändert. Er war ein alter, abgemagerter Mann mit eingefallenen Wangen und zittriger Stimme geworden, und ich erkannte, daß man ihn geschlagen hatte. Obwohl es ein Abschiednehmen für immer war, durften wir uns weder umarmen noch mit den Händen berühren. Die Unmenschlichkeit der Stasi machte auch vor dem Tod nicht halt. Mit belegter Stimme versuchte mein Mann mich zu trösten und sagte leise: "Bleib tapfer und glaub nicht alles, was man Dir über mich erzählen wird..." Ich stand wie versteinert da und wußte, daß es für ihn keine Rettung mehr gibt.

Als wir getrennt wurden, sah ich plötzlich im Gerichtsgebäude ein offenes unvergittertes Fenster, und in diesem Moment kam mir der Gedanke, mit dem Leben Schluß zu machen. Aber bevor ich am Fenster war, wurde meine Absicht vereitelt. Es sollte wohl nicht sein...

Die Tage nach dem Urteil waren die schlimmsten in meinem Leben. Nie werde ich diese Zeit vergessen. In Gedanken sah ich immer wieder meinen Mann im Gerichtssaal sitzen — er saß eine Reihe vor mir und durfte sich nicht umdrehen -, und ich hörte wieder die kalte und gleichgültige Stimme des Richters: "... werden die Angeklagten Koslowski und Heyde zum Tode verurteilt." Wie gelähmt saß ich stundenlang auf meinem Hocker, ohne zu denken, ohne etwas zu fühlen. Ich konnte nicht mehr weinen - und nicht mehr beten. Ich hatte keinen Lebensmut mehr, alles lief wie mechanisch ab, ohne meine Anteilnahme. Ich registrierte meine Situation nicht mehr. Aber noch bestand ja ein Quentchen Hoffnung, denn mein Mann hatte an die Benjamin und an Pieck Gnadengesuche eingereicht. Als ich den Abschiedsbrief meines Mannes (eine DIN A 4-Sei-te, vom und hinten mit Bleistift beschrieben, aber ohne Datum) ausgehändigt bekam, wußte ich endgültig, daß man ihn hinrichtete.

Am 17. Februar 1956 wurde ich zum Staatsanwalt Erben gebracht. Ich erinnere mich noch gut, wie er mehrmals mit seiner Hand über die Tischplatte führ und mir unvermittelt sagte:

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"Das Urteil gegen Ihren Mann wurde am 13. Januar vollstreckt." Vor meinen Augen flimmerte es plötzlich, ich verlor den Halt, schien in den Abgrund zu versinken, dann war mein Bewußtsein weg. Vier Tage lang lag ich in diesem Zustand in meiner Zelle und hätte mir nichts sehnlicher gewünscht, als daß ich nicht wieder ins Leben zurückkehren müßte. Meine Mutter, die zu meinem Mann immer ein gutes Verhältnis hatte, bekam — da ich ja selbst in Haft saß — seinen Nachlaß zugeschickt. Die Kleidung war zuvor nicht einmal gereinigt worden und noch blutverschmiert.

Zur Tat meines Mannes kann ich nur so viel sagen, daß ich davon nichts gewußt habe, obwohl mir manches an ihm unklar war. Aber wir sprachen nie darüber. Mir gegenüber äußerte er sich manchmal, daß er mit der sowjetischen Besatzungsmacht nicht einverstanden sei und die zunehmende Militarisierung ablehne. Das war die Motivation für seine Tat. Außerdem sagte er schon damals, daß es zur Einheit Deutschlands kommen müsse.

Nach dem Urteil blieb ich in der UHA des MfS in Halle, mußte in der Anstaltswäscherei und später in der Küche arbeiten. Die Monate vergingen, ohne daß ich es merkte. In mir war alles tot. Ich hatte kein Interesse mehr am Leben. Das einzige, was mir geholfen hat, die Zuchthausjahre zu überstehen, war die Arbeit. Ich rackerte wie eine Verrückte. Am schlimmsten waren die Nächte, denn ich konnte trotz starker Medikamente nicht mehr schlafen. Ständig übermüdet, passierte es dann manchmal, daß ich tagsüber während der kurzen Mittagspause einschlief.

Die Erinnerung an meinen Mann hatte ich vollständig verdrängt. Jeder Gedanke, der aufkommen wollte und mich sofort wieder an das Schreckliche erinnert hätte, mußte unterdrückt werden. Also arbeitete ich bis zum Umfallen! Ich habe nie wieder, auch nach meiner Entlassung nicht, darüber gesprochen, denn ich wußte genau, daß ich nur überstehen konnte, wenn ich jede Erinnerung daran aus meinem Bewußtsein streiche.

Am 27. April 1960 wurde ich nach fünf Jahren Haft vorzeitig entlassen. Wie ich die qualvollen Jahre überstanden habe, weiß ich nicht.

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 Ich war 31 Jahre alt, als ein neues Leben beginnen mußte, denn nichts, was vordem war, zählte für mich noch. Die sogenannte Wiedereingliederung, die Anpassung an den normalen Alltag, fiel mir sehr schwer. Ich war physisch und psychisch kaputt, habe seit meiner Haft Atem- und Herzbeschwerden, muß bis heute Psychopharmaka nehmen (Schlafstörungen, Depressionen, Unruhe), kann keine Briefe mehr schreiben, weil meine Hände zittern, und ich habe immer noch Angst, wenn es klingelt oder ein Auto vor unserem Haus hält. Und nachts verfolgen mich Alpträume, ich sehe mich wieder im Zuchthaus oder wie man mich verhaftet.

Trotzdem oder gerade deshalb habe ich nach meiner Entlassung oft über meine Kräfte gearbeitet, wurde im Kollektiv anerkannt und ausgezeichnet. Vielleicht war ich politisch nicht mehr konsequent und habe auch manchmal Kompromisse gemacht. Aber meine Arbeit war die einzige Chance, um zu vergessen. Außerdem mußte ich ja nach meiner Entlassung bei der Stasi unterschreiben, daß ich nicht über meine Vergangenheit spreche. Erst als im Oktober die Wende kam, wurde mir bewußt, daß ich jetzt nicht mehr schweigen durfte, aber es lallt mir schwer, über all das Schreckliche zu sprechen. Ich habe oft keine Kraft dazu. Jahre nach meiner Entlassung wurde ich noch vom SSD bespitzelt, und ich bin mir ziemlich sicher, daß die Stasi während meiner Abwesenheit mehrmals heimlich in meiner Wohnung gewesen ist.

Wo und wie mein Mann hingerichtet worden ist, habe ich erst jetzt in der Bildzeitung vom 16.5.1990 erfahren. Er wurde in den frühen Morgenstunden (wahrscheinlich 3.00 Uhr) auf dem Gefängnishof in Dresden auf einer Pritsche festgeschnallt und ohne Augenbinde mit der Guillotine geköpft. Dieser Ort war gleichzeitig auch Hinrichtungsstätte für andere Politische. Bezeichnenderweise steht heute an der gleichen Stelle das Mahnmal für die Opfer des Faschismus.

Nach der Hinrichtung wurden die noch warmen Leichen in Särge gesteckt, die abgeschlagenen Köpfe zwischen die Beine gelegt und dann unter strenger Stasi-Bewachung zum Krematorium gebracht. Nach Aussage des jetzigen Krematoriumsleiters, Herrn Hildebrand, wurde die Asche der Getöteten in

Blechumen gefüllt und drei Jahre in Bautzen deponiert, bevor man sie heimlich auf dem Friedhof Dresden-Tolkewitz verscharrte. In den amtlichen Eintragungen hatten Ärzte den Hingerichteten "akutes Herzversagen" bescheinigt!

Es ist der Eigeninitiative von Herrn Hildebrand zu danken, daß dieses dunkle Kapitel des SED-Stasi-Staates heute der Öffentlichkeit bekannt geworden ist. Er hatte bei der Sicherung alter Krematoriumsunterlagen zufällig hinter den Namen Verstorbener ein "PO" gelesen und war mißtrauisch geworden ("PO" bedeutet wahrscheinlich "Politischer"!).

Im Juni diesen Jahres habe ich an der Beerdigungsstelle auf dem Tolkewitzer Friedhof einen Kranz mit der Inschrift — Walter Heyde, geboren am 12. Juli 1918, hingerichtet am 13. Januar 1956, Deine Frau Anneliese Heyde — niedergelegt. Aus heutiger Sicht kann ich sagen, daß ich keine Rache möchte, aber eine gerechte Bestrafung der Schuldigen fordere.

   Chemnitz, 
Juli 1990

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Rudolf L.

 

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1974, im August, war ich mit meiner Frau und meiner 15jährigen Tochter in Göhren an der Ostsee im Urlaub in einem Ferienhotel. In diesen Tagen war mir schon aufgefallen, daß mir immer derselbe alte "Wartburg" begegnete, wenn ich Überlandtouren mit meiner Familie machte. Oft sagte ich zu meiner Frau, was es doch für Zufalle gibt, daß wir immer dasselbe Auto treffen, aber es war kein Zufall. Denn die beiden männlichen Personen hatten den Auftrag, mich vor der Festnahme zu bespitzeln, aber das sollte ich erst später merken. Früh 9 Uhr wollten wir die Heimreise antreten. In der späten Nacht, ich glaube, es war 4 Uhr morgens, pochte es laut an unsere Zimmertür, die wir von innen abgeschlossen hatten. Eine rauhe Männerstimme rief: "Aufmachen, Kriminalpolizei!" Ich machte auf und schon kamen vier Personen in Zivil ins Zimmer gestürzt und fragten: "Sind Sie Herr Lohse?" Als ich das bejahte, hieß es: "Sie sind verhaftet, wegen verbotenen Verkaufs von Industriegarnen ins Ausland!", und man zeigte mir einen Haftbefehl, den ich vor lauter Aufregung gar nicht richtig lesen konnte. Man nahm ihn mir auch gleich wieder weg.

Ich wurde auf den berüchtigten Kaßberg, ins Stasi-Gefängnis bzw. in die Untersuchungshaftanstalt gebracht und dort noch am gleichen Abend, bis tief in die Nacht 3 Uhr, vernommen. Sie nutzten meine Schwäche aus und erpreßten mich nach allen Regeln ihrer Vernehmungspraxis. Es war eine schreckliche Zeit. Wenn die Herren von der Stasi was anderes von mir hören wollten, als ich bereit war auszusagen, z.B. über meine politische Haltung, dann ließen sie mich einfach stehen, mit dem Gesicht zur Wand, eine Stunde, manchmal auch länger, bis ich nicht mehr stehen konnte. Austreten wurde nicht gestattet, erst dann, wenn ich die Unterschrift unter das Protokoll setzte, das der Stasi-Beamte Schulze selbst schrieb oder mir einfach diktierte, so daß es meine Handschrift war und aussah, als hätte ich dies freiwillig geschrieben. Diese von der Stasi geübte Praxis ging mindestens 2 Monate so, ohne daß sie zum eigentlichen Kern vorgedrungen sind. Ich wußte immer noch nicht, warum man mich verhaftet hatte.

Alle Verhandlungen in dieser Zeit liefen auf Spionage hinaus. Ich war mir wirklich keiner Schuld bewußt. Als dann die Spionage­untersuchungen gegen mich zu keinem Resultat führten, wurden die Fragen eingestellt und die Sabotagevariante auf die Tagesordnung gesetzt. Bevor aber die weiteren Untersuchungen begannen, ließ man mich 3 Monate in meiner Einzelzelle schmoren. Keine Bücher, ab und an mal eine Zeitung. Früh, mittags, abends wurde pünktlich das Essen in die Zelle lieblos gereicht. Die schlechte Neonbeleuchtung, mit ihrem nerventönenden monotonen Geräusch, brachte die Nerven zum Zerreißen. Keine Sonne kam in die finstere Zelle. Vor den Gittern an den Fenstern waren Glasziegel angebracht, doppelt, mit 5 bis 10 Zentimeter Zwischenraum. Man sah keinen Himmel, es kam wenig frische Luft herein. Nur das Kinderlachen war zu hören, von einem Schulhort, der gleich hinter dem Stasi-Knast lag. Was man so in 3 Monaten des Alleinseins macht, denkt, träumt, haben schon viele vor mir beschrieben. Es war einfach eine Tortur. Es war psychischer Terror, es war die Taktik der Stasi, darin hatten sie Übung. Danach legten sie mir wieder einen Mitgefangenen in die Zelle, und die Befragungen begannen von vom.

In dieser Phase bekam ich einen Nervenzusammenbruch, vereint mit einem Herzkollaps. Ich wurde in der Zelle ohnmächtig. Gerade noch, daß ich an die Alarmglocke kam. Die Wärter kamen Gott sei Dank sofort. Sie schleppten mich in den Duschraum, und als ich aus meiner Ohnmacht wieder erwachte, saß ein Arzt neben mir. Er hatte mir eine Spritze verabreicht. 

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Ich kam danach sofort ins Haftkrankenhaus der Stasi nach Berlin und dort wurde ich wieder auf die Beine gebracht, denn ich sollte ja noch bis zum Prozeß aushallen. Jetzt nun gingen die Vernehmungen zügig voran. Wirtschaftssabotage war das Ziel, und auch hier fühlte ich mich schuldfrei, denn ich hatte meine Exportrentabilität, die mir vorgeschrieben wurde, immer gebracht. Was also wollten sie von mir?

In dieser Verhandlungsphase war ich ohne Privatverteidiger. Mir blieb nur ein Pflichtverteidiger, der sich zwei Tage vor dem Prozeß bei mir vorstellte. Er begrüßte mich im Vernehmungsraum. Wir waren das erste Mal allein, ohne Vernehmer. Er sagte mir, und das waren seine ersten Worte: "Herr Lohse, in Ihrer Lage kann ich nicht viel ausrichten." Er hätte keine Einsicht in die Unterlagen nehmen können. Ihm wurde lediglich die Anklageschrift überreicht, und diese hat er auch nur kurz einsehen können. Er meinte, ich würde sowieso zu 15 Jahren wegen Wirtschaftssabotage verurteilt, da sei nur eine gute Haltung erforderlich, aber erreichen könnte er nicht viel. 

Als er mir das sagte, dröhnte mir der Schädel, weil ich in gar keinem Fall mit so einem Urteil gerechnet hatte. 15 Jahre, nein, das überstieg meine Vorstellungskraft. Ich glaube, ich war kurz vor einem neuen Nervenzusammenbruch, er muß das wohl gemerkt haben. Ich konnte ihm nur noch sagen, daß ich unschuldig bin und die Aussagen in den Protokollen unter Zwang und Erpressung gemacht habe. Aber darauf ging er gar nicht ein. Das Gespräch dauerte keine 20 Minuten.

Kaum in der Zelle, wurde ich gleich wieder zu meinem Hauptvernehmer, einem Oberstleutnant, gebracht, und er hat mich in die Mangel genommen, wie ich es wagen könnte, dem Rechtsanwalt zu sagen, daß ich nicht schuldig bin und die Vernehmungsprotokolle widerrufen wollte. Er sagte, ich könnte froh sein, daß gegen mich nicht noch andere Mittel angewandt würden, um mich gefügig zu machen. Ich sollte zum Prozeß ja nicht so etwas äußern, sonst würden sie mit mir anders verfahren und meine Familie würde das zu spüren bekommen. Ich konnte gar nicht mehr hinhören, was er mir alles an Erpressungsversuchen und Einschüchterungsbeispielen an den Kopf warf. Der Arzt mußte kommen, um mir eine Spritze zu verpassen, damit ich nicht wieder zusammenfiel. 

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Als dann der Prozeß begann, war mein Arzt mit im Prozeßgebäude. Ich bekam täglich eine Beruhigungsspritze, und so verbrachte ich den Prozeß unter Stoff. Ich habe viele Worte der Staatsanwältin und der Richterin gar nicht verstanden. Als ich dann das Schandurteil, anders kann ich es nicht nennen, von 15 Jahren Strafvollzug wegen Wirtschaftssabotage hörte, wurden die Knie schwach und ich konnte nur meist gestützt das Blechkistenauto erreichen, das mich vom Gericht zum Untersuchungshaftgebäude der Stasi führ.

Nach dem Prozeß dauerte es nicht mehr lange und wir wurden in den Strafvollzug nach Bautzen D, in das Sonderlager, gebracht. Sonderlager deshalb, weil von dort aus die Häftlingsabkäufe an die BRD stattfanden, aber das sollte ich erst später erfahren.

Im Strafvollzug wurde ich in den Produktionsprozeß eingegliedert. In dieser Zeit habe ich viele Häftlinge und Häftlingsschicksale kennengelernt. Habe Freundschaften geschlossen, wo heute noch Briefe hin- und hergehen. Man hat sich gegenseitig im Strafvollzug Mut gemacht, um zu überleben. Die meisten Strafgefangenen aus Bautzen II wurden in die BRD abgeschoben, von der BRD abgekauft oder freigekämpft. Insgesamt bin ich der Meinung, wenn man mal von Ausnahmen und den Kriminaltätern, die uns beigemischt waren, absieht, dann waren die meisten davon, und das wage ich einzuschätzen, völlig unschuldig. Sie waren in das Stasi-Getriebe geraten und wurden nun mit fadenscheinigen Beschuldigungen in die SED-Junta-Gesetzlichkeiten hineingetrieben, aus denen sich keiner mehr herauswinden konnte. Außerdem brachten ja solche politisch Verurteilten dem Stasi-Staat harte Währung, Devisen durch den Häftlingsabkauf. Daraus müßte sich doch ein Geschäft machen lassen, und gerade das haben die Machthaber erkannt. Die Drangsalierungen und die sich anschließenden Verhaftungen basierten auf der Grundlage eines reinen Devisengeschäftes, und das nützte die Stasi gründlichst aus.

Meine Entlassung aus dem Strafvollzug kam plötzlich und unerwartet. Keiner hatte vorher mit mir in irgendeiner Weise über eine bevorstehende Entlassung gesprochen. Dies war auch

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kaum üblich. Es wurde nur mit denen gesprochen, die in die DDR entlassen wurden. Aber für die, die von der BRD abgekauft werden sollten, kam meist der Aufbruch plötzlich. Von der Arbeit weg wurde ich morgens abgeholt. Ich hatte kaum Zeit, meine persönlichen Sachen zusammenzuraffen. Die Zivilsachen wurden ausgegeben, und dann ging es mit der berüchtigten Blechkiste, wo man sich kaum rühren konnte, dem unbekannten Ziel entgegen.

Als wir in Karl-Marx-Stadt, Kaßberg, Stasi-Untersuchungshaftanstalt, ankamen, wurden wir in eine 6-Mann-Zelle gelegt, gemeinsam mit BRD-Bürgern, was sonst nie der Fall war. Durch die Unterhaltung in der Zelle war mir nun auch klar, daß der Kaßberg auch die Abschiebehaftanstalt, die Häftlingsabkaufstelle war.

Als ich zu meinem Hauptvernehmer gerufen wurde, demselben, der mich vor 8 Jahren hatte verhaften lassen und der mich die ganze Zeit meiner Strafvollzugsjahre im Auge behalten hatte — inzwischen war er Oberst geworden —, fragte der mich so nebenbei, ob ich in die BRD wolle. In meiner Angst und Hilflosigkeit verneinte ich erst einmal, denn ich wußte immer noch nicht, was er wollte.

Man brachte mich dann in das unterste Stockwerk. Dort stand mein Herr Oberst vor einer Tür. Er machte sie auf, als ich kam, und dort hinein rief er laut und deutlich: "Jetzt kommt Herr Lohse!" Ja - Herr! -, das Wort hatte ich acht Jahre nicht mehr gehört. Ich war auf einmal ein Herr und kein Strafgefangener mehr? Die beiden Herren im Raum stellten sich vor:

Rechtsanwalt Vogel, DDR, und Rechtsanwalt Stange, BRD. "Bitte Herr Lohse, nehmen Sie Platz." Mein Herr Oberst stand draußen, in Zivil, vor der Tür. Was für ein Gefühl für mich, aber auch beklemmend. Dr. Vogel teilte mir mit, daß ich bald in die Freiheit entlassen würde, und Herr Stange sagte: "Herr Lohse, wir geben Ihnen die Chance, in die BRD überzuwechseln." Ich konnte in den wenigen Sekunden, wo auf meine Antwort gewartet wurde, gar nicht klar entscheiden. Was sollte aus meiner Familie werden, was aus meinen Kindern? Mein Zögern hatte Dr. Vogel wohl gemerkt und erklärte, meine Frau könne später nachkommen oder sie müßte sich sofort von mir

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scheiden lassen, dies wäre in kurzer Zeit geschehen. Rücksprache mit meiner Frau und den Kindern könnte ich jedoch nicht rühren. Ja, was sollte ich jetzt tun ? Auf diese Variante war ich überhaupt nicht vorbereitet. Ich sagte erst einmal ab, ich wollte in der DDR bleiben, obwohl mir gar nicht klar war, welche Probleme da auf mich zukommen könnten. Rechtsanwalt Stange wollte noch wissen, ob ich freiwillig in der DDR bleibe oder ob dahinter ein bestimmter Zwang der DDR-Behörden steht. Was soll man darauf antworten? Auf der einen Seite wurde ich moralisch und menschlich gezwungen, hier zu bleiben, weil die Enkel und Kinder nicht mit ausreisen konnten, und ohne Familie wollte ich ja nicht in die Fremde. Auf der anderen Seite mußte ich freiwillig hier bleiben, um unser Familienleben nach den acht langen Jahren zu ordnen, zu pflegen und neu zu beleben. Schließlich hatte meine Familie in diesen Jahren der Härte, Entbehrung, Trennung und Demütigung voll zu mir gehalten, mich im Strafvollzug laufend besucht, sie hat mitgeholfen, die Zeit zu überstehen. Sowas enttäuscht man nicht, ich konnte es gar nicht. Ich war in diesem Moment wieder so weit mit den Nerven herunter, daß ich einfach die Familie brauchte und nicht fremde Menschen, die mich wieder aufbauen mußten. Wie ein hilfloses Kind kam ich mir vor. Herr Stange hakte dann auf einer Liste ab und sagte, daß ich in Kürze ein freier Mann wäre und aus dem Strafvollzug entlassen würde. Dann wurde ich in eine andere Zelle gebracht, getrennt von den Ausreisewilligen. Am anderen Tage schon verließen diese abgekauften Häftlinge mit einem Bus die Haftanstalt.

Ich glaube, auch jeder andere, der wie ich so viele Jahre hinter Gittern verbracht hat, weiß, daß man immer wieder die zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit leise und laut verdammt. Man hofft auf einmal wieder, daß irgend jemand einem zum Recht verhilft, weil es kein Verteidiger geschafft hat. Meist aber glaubt man an Gott, an etwas Überirdisches. Man fleht ihn an und hofft, erhört zu werden. Auch wenn ich nicht mehr in der Kirche organisiert war, aber in meiner Lage, nach der schweren Untersuchungshaft, im Strafvollzug, obendrein sich noch unschuldig fühlend und im Kopf wissend, daß man es auch ist, habe ich wieder in der Bibel gelesen und darin hilfesuchend studiert, an eine Kraft geglaubt, die einem helfen könnte. Meistens denkt man erst in der größten Not an eine überirdische Kraft, an Gott, aber das ist symptomatisch im Leben. Es ging mir nicht allein so. Es hat mir geholfen, die schlimmste Zeit zu überstehen. Der Glaube allein gab mir die Kraft, die ich brauchte. Dazu kam auch der Glaube meiner Familie an mich. Ich muß der Kirche danken, daß sie auch in der heutigen Zeit wieder die Kraft war, allen Menschen in der DDR zu helfen.

Am 20. September 1982 öffneten sich für mich die Kerkertore aus der Stasi-Haft, Kaßberg, Karl-Marx-Stadt. Meine Frau und mein Sohn holten mich ab. Sie standen mit meinem alten Wagen, der zur Hälfte unter Vermögenseinzug gefallen war, ca. 100 Meter vor der Untersuchungshaftanstalt auf dem Kaßberg. Mein Peiniger, mein Vernehmer Herr Major Schulze oder wie immer er mit seinem richtigen Namen auch heißen mag, kam, wie zufällig, ans Auto und wünschte mir alles Gute. Größer kann der Zynismus gar nicht sein. Es war blanker Hohn. Ich möchte einmal wissen, was sich so ein Mensch denkt, der ganzgenau weiß, daß ich unschuldig war, aber die Spitzfindigkeiten aufbrachte, im Namen des Volkes aus einem Unschuldigen einen Schuldigen zu machen. Von dieser Begegnung noch aufgewühlt, fuhren wir nach Hause. Ich mußte mich wieder ans normale Leben gewöhnen, an den Verkehr auf den Straßen, an die Umgebung, an meine Nachbarn, an meine Kinder und mein Enkelchen. Für sie war ich der Onkel und nicht der Opa, der da so plötzlich in ihr Leben hineinschneite. Bis heute habe ich da noch zu tun. Zumal die Strafe aus dem Strafregister noch nicht gelöscht ist und mir beruflich immer noch Schwierigkeiten gemacht werden, selbst jetzt nach der Wende.

Chemnitz, 
30.4.1990   

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Dieter L.  (Meerane)

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Im August 1967 hatte ich ein Flugblatt, das damals aus der BRD kam, gefunden. Dieses Flugblatt zeigte ich, ohne mir etwas dabei zu denken, meinen Arbeitskollegen. Einer von ihnen hat mich angezeigt. Von da an wurde ich beobachtet.

Am 30.9.1967 abends, so gegen 21 Uhr, kamen zwei Herren zu uns in die Wohnung und stellten sich als Beschäftigte meiner damaligen Arbeitsstelle vor. Ich arbeitete beim RAW Dresden, Außenstelle Johanngeorgenstadt. Mir waren nicht alle Mitarbeiter bekannt. Mit der Begründung, auf meiner Arbeitsstelle in Johanngeorgenstadt sei ein schwerer Unfall passiert und ich möchte doch bitte einmal mitkommen, lockte man mich aus dem Haus. Auf der Straße stand ein Auto, am Steuer saß ein Uniformierter. Auf meine Frage, was das zu bedeuten hätte, sagten sie, das geht schon in Ordnung. Wir fuhren dann tatsächlich nach Johann­georgenstadt. Dort angekommen, wurde ich sofort verhört. Auch hier nahm ich erst an, es sei wirklich ein schwerer Unfall passiert. Bald ging es aber nur noch um das Flugblatt, das ich im August gefunden hatte. 

Früh um 3 Uhr wurde ich nach Zwickau zur Transportpolizei gebracht. Hier wurde ich festgehalten bis zwischen 7 und 8 Uhr. Dann kam ich in die U-Haft Zwickau. Hier wurde mir mein Haftbefehl vorgelegt. Was ich die ersten Tage in der U-Haft, ohne mir einer Schuld bewußt zu sein, durchgemacht habe, kann nur jemand ermessen, der auch so etwas erlebt hat. Als erstes wurde mir vorgeworfen, staatsgefährdende Propaganda und Hetze betrieben zu haben.


Am 2.10.1967 kam es zu einer Hausdurchsuchung bei meiner Mutter. Ich war zu dieser Zeit noch ledig, hatte aber kein eigenes Zimmer. Erwähnen muß ich noch, daß mein Vater im Krieg geblieben ist und meine Mutter mich allein erzogen hat. Was das alles für sie bedeutete, kann sich keiner vorstellen, zumal wir in einem kleinen Dorf wohnten, wo jeder jeden kennt. Bei der Durch­suchung wurden Bilder aus meiner NVA-Zeit gefunden. Daraus wurde ein weiterer Vorwurf gebastelt: "Geheimnisverrat". Während der Untersuchungen auf der Arbeitsstelle hat dann ein Kollege, wahrscheinlich derselbe, der mich anzeigte, ausgesagt, daß ich in einer Pause einen Witz über Walter Ulbricht erzählt hätte. Daraus wurde der Tatbestand "Staatsverleumdung".

Ich wurde dann Anfang Januar 1968 wegen der "Schwere" meines "Verbrechens" nach Karl-Marx-Stadt verlegt. Eines Tages holte man mich aus der Zelle und führte mich einem Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten, ich glaube, der Name war Dr. Luft, vor. Obwohl ich schon seit dem 30.9.1967 in Haft war und ich es diesem Arzt auch sagte, wurde trotzdem bei mir ein Abstrich vorgenommen. Damals habe ich immer gedacht, es sei ein Versehen gewesen, aber heute bin ich mir sicher, daß dies nur getan wurde, um mich zu demütigen. Kurz vor meiner Verhandlung bekam ich die Anklageschrift, aber nur zum Durchlesen. Ich wurde allein in den Waschraum eingeschlossen. Nicht einmal meine Mithäftlinge durften sie sehen. Genauso war es dann mit dem Urteil, nur durchlesen und dann wurde es wieder weggenommen. Man wußte wahrscheinlich schon damals, daß alles Unrecht war. Eine Diktatur lernt immer von der vorherigen Diktatur.

Am 1.2.1968 war meine Verhandlung, auf der ich zu 21 Monaten verurteilt wurde. Während der Verhandlung schlief Oberrichter Winkler, der das VVN-Abzeichen trug, bei den Ausführungen des Bezirksstaatsanwaltes Jülich ein, ein sogenannter "Büroschlaf". Das Urteil stand ja bestimmt schon fest. Mein Rechtsanwalt, den ich mir schon in Zwickau genommen hatte, machte eine klägliche Figur. Er hatte, glaube ich, mehr Angst als ich. Was das Bezahlen betraf, so wußte er allerdings genau, daß die Kosten beim Bezirksgericht höher sind. Daß vor dem Bezirksgericht ein kostenloser Rechtsbeistand gewährt wird, verschwieg er natürlich. Das erfuhr ich später von einem Mithäftling.

Ich blieb dann noch bis Ende Mai in Karl-Marx-Stadt, ohne arbeiten zu dürfen, was ich als besonders demütigend empfand. Die Zellen waren, wie auch in Zwickau, ständig überbelegt. Ende Juni kam ich in die Strafvollzugsanstalt Hoheneck, wo ich bis zu meiner Entlassung am 1.11.1968 blieb.

Die Reststrafe wurde mir auf zwei Jahre Bewährung erlassen. Es kam mir aber nochmals als Bestrafung vor.

Das Zeigen eines Flugblattes, das Erzählen eines Witzes brachten mir ein Jahr, einen Monat und einen Tag Gefängnis sowie zwei Jahre Bewährung, im Namen des Volkes, ein. Ich hoffe nur, daß die Menschen endlich aufhören, irgendeiner Ideologie hinter­herzurennen, die sich auch nur ein Mensch ausgedacht hat. Man sollte die Probleme lösen, die das Leben stellt.

155-157

  Meerane,
 28.5.1990

 


Frank W.

 

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Die Benachteiligung in meiner Entwicklung wurde mir schon in die Wiege gelegt. Richtig gespürt habe ich es erst, als meine Schulzeit begann. Ich wurde von meinen Eltern nach den religiösen Geboten der Zeugen Jehovas erzogen. Da diese Organisation 1950 vom Staat strikt verboten wurde, war mein Lebensweg vorprogrammiert. 

Nach 1950 wurden viele unserer Glaubensbrüder verhaftet und zu langen bis lebenslänglichen Strafen verurteilt. Mein Vater war ein solches Opfer der Willkürjustiz der damaligen Zeit. Er war nach West-Berlin gefahren, um von dort Schriften der Zeugen Jehovas zu holen. Auf der Heimfahrt wurde er mitten auf der Landstraße in Pelzig von einer Polizeistreife angehalten und aufgefordert, den Rucksack zu öffnen. Man fand bei ihm bibelerklärende Schriften. Er wurde sofort verhaftet und in einen Keller der Stasi eingesperrt. Sein Urteil lautete drei Jahre Zuchthaus wegen Spionage und Boykotthetze. Er verbüßte ein Jahr und acht Monate in Waldheim, wo er nicht arbeiten durfte. Diese bittere Erfahrung sollte auch mir nicht erspart bleiben, aber das später.

1954 wurde ich eingeschult und sollte ein paar Wochen später in die Pionierorganisation aufgenommen werden. Dies lehnten meine Eltern natürlich ab. Seit diesem Zeitpunkt war ich immer Außenseiter in meiner Klasse und wurde von manchen Lehrern immer wieder bearbeitet, den sozialistischen Weg einzuschlagen.

Als zum Beispiel im damaligen Karl-Marx-Stadt dieser überdimensionale Karl-Marx-Bronzekopf eingeweiht wurde, hatte

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man der ganzen Klasse befohlen, bei der Einweihung dieses Götzenbildes dabei zu sein. Ich ging natürlich nicht zu so einer Kulthandlung mit. Postwendend erschienen am nächsten Tag zwei Lehrerinnen bei meinen Eltern, um ihnen Vorwürfe zu machen, daß ich so ein wichtiges Ereignis in meinem Leben verpaßt hatte.

Mein großes Hobby waren Biologie und Mikroskopie. Als die Frage der Berufswahl stand, hatte ich den Wunsch, Natur­wissenschaft zu studieren. Da ich aber der FDJ nicht angehörte und mich gesellschaftlich nicht betätigte, wurde aus diesem Wunsch nichts. Einen Beruf erlernen durfte ich aber auch nicht. Ich hatte mir mit meinen recht guten Zensuren eine Lehrstelle als Mechaniker für Datenverarbeitungsanlagen im VEB Robotron gesucht. Als es zur Lehrvertrags­unterzeichnung kam, sollte ich mich mit einer vormilitärischen Ausbildung einverstanden erklären, was ich ablehnte.

Daraufhin wurde der Lehrvertrag ungültig und mir blieb nur noch, irgendwo als Hilfsarbeiter zu beginnen. Ich nahm eine Tätigkeit als Hilfsschlosser im VEB Baumwollspinnerei auf und erwarb später im Rahmen der Erwachsenenqualifizierung den Facharbeiter als Schlosser und Mechaniker für Spülautomaten sowie mehrere Schweißerpässe. 1982 bekam ich die Einberufung zum Wehrdienst, die ich aus Glaubens- und Gewissensgründen ablehnte. Ich war der Meinung, daß nach zwei Weltkriegen mit über 60 Millionen Toten das Kriegspielen endlich ein Ende haben müßte. 

Weitere 63 Glaubensbrüder wurden mit mir vom Gericht zu 20 Monaten Zuchthaus verurteilt. Dies geschah in einem Schnellverfahren, in dem wir weder eine Anklageschrift noch ein Urteil ausgehändigt erhielten. In Plauen erlebte ich die schlimmsten Tage und Monate meines Lebens. Die Zelle war gerade sieben Quadratmeter groß und mit sechs Personen belegt. Die Toilette befand sich in einer Ecke ohne Vorhang, so daß jeder Anteil an der Notdurft des anderen hatte. Eine große Belastung war auch, daß man zeitweise mit den übelsten Kriminellen zusammenlag. Ständig wurde ich mit "Rotlicht" bestrahlt. Im Knast war extra ein Stasioffizier, der die Aufgabe hatte, Leute wie uns geistig zu demoralisieren. Unsere Post wurde geöffnet und vielmals eingezogen. Da ich in der Hauswerkstatt tätig war, wurden mir viele private Aufträge befohlen, für hohe Offiziere.

Während meiner Haftzeit habe ich miterlebt, wie einer, dessen Fluchtversuch aus der DDR gescheitert war, in eine Einzelzelle in Arrest kam, wie ein Hund eingesperrt. Er erhielt keine Zeitung, die Liege war angeschnallt und das Fenster ständig offen, so daß manchmal Minusgrade in der Zelle herrschten. Nach einem Nervenzusammenbruch hatte er einem Schließer ins Gesicht gespuckt, worauf man ihn sieben Tage auf einer Holzpritsche mit vier Handschellen ankettete. Er lag die ganze Zeit in seinem eigenen Dreck. Nach dieser Folter kam er wieder in seine Zelle. In der nächsten Nacht hat er sich an beiden Händen die Pulsadern aufgeschnitten. Nur durch einen glücklichen Umstand ist er nicht verblutet. Ein diensthabender Obermeister hatte Glasscheiben zerbrechen hören und ahnte sofort, was passiert war. Ich mußte in derselben Nacht noch das Fenster reparieren und Gitter davor schweißen. Der Mithäftling wurde notdürftig verbunden und danach in die blutverschmierte Zelle gesperrt.

Nach meiner Entlassung begann ich in meinem alten Betrieb. Mein Entschluß, ein Meisterstudium aufzunehmen, scheiterte abermals an meiner politischen Einstellung und meiner Nichtzugehörigkeit zum FDGB. Jetzt bin ich froh darüber, daß dieser Stasi-Staat endlich zerbrochen ist und man sich als Mensch frei bewegen und seine Meinung vertreten kann.

Chemnitz, 
Frühjahr 1990 

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