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1   Die Krise des Eros 

 

 

    Der apokalyptische Orgasmus

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Unser letzter Liebesakt war traurig, gewaltsam und erfüllt von der Melancholie des Endgültigen. Zwei Jahre lang hatten wir uns an freien Abenden und gelegentlich an Wochenenden in aller Heimlichkeit getroffen. Nicht, daß wir "eine Affäre" gehabt hätten. Damals waren wir beide nicht verheiratet. Aber wir lebten in verschiedenen Welten. 

Sie war siebenundzwanzig, ein romantischer Freigeist, immer auf dem psychedelischen Trip. Mit Geist und Körper gab sie sich sofort dem vergänglichen Augen­blick hin. Sie brauchte keine Versprechungen, zog keine Wechsel auf die Zukunft. Ich war einundvierzig, von Sorgen geplagt und schleppte die Ketten zerbrochener Hoffnungen und einer Ehe, die gescheitert war, hinter mir her. Ich nehme an, sie "liebte" mich mehr als ich sie, zumindest hatte sie weniger Vorbehalte. Ihr Herz zauderte nicht und kannte auch keine Bedenken. Hätte ich sie gebeten, sie hätte mich geheiratet. 

Ich tat's nicht.

Immer, wenn wir versuchten, uns auf die Welt des anderen einzulassen, entstand ein Mißklang dabei, als spielten zwei Radios gleichzeitig einen Bach-Choral und die Rolling Stones. So einigten wir uns schließlich darauf, uns im Exil, auf der Insel des Fleisches, zu treffen. Wenn uns die Lust packte, kamen wir zusammen, gingen ins Bett, aßen gemeinsam und gingen dann wieder unserer Wege. Wir taten so, als sei die Leere zwischen uns ein Niemandsland.

Unser Abkommen war rational und für uns beide befriedigend. Mehr noch. Da wir unsere Beziehung so streng begrenzten, waren die kurzen Kontakte unserer Körper voller Hochspannung. Gewöhnlich kamen wir zusammen, versuchten vergeblich, ein Gespräch zu führen, während wir einander liebkosten, und strebten dann ungeduldig ins Bett. Es lief immer sehr gut; ein angestauter Strom brach sich Bahn, fegte alles weg, wusch die angesammelten Trümmer fort, verteilte sich schließlich im Wüstensand und versickerte. Wir waren einander für die Reinigung dankbar.

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Doch je mehr wir die wachsende Erregung genossen und auf den Wogen des Gefühls schwammen, desto mehr ergriff uns die düstere Stimmung einer sprachlosen Gewalt. Irgend etwas in uns erkannte unser Abkommen nicht an. Unsere Vereinbarung, das Sinnliche vom Geistigen zu trennen, vergewaltigte unsere Sehnsucht nach dem Unbedingten. Das Gespenst der Bindung, die wir nicht anerkennen wollten, spukte herum, bis wir anfingen, einander für alles Fehlende zu hassen. Als das Betäubungsmittel unserer gemeinsamen Lust abgeklungen war, blieben wir beide mit unserem Schmerz allein.

Am letzten Abend flossen die Gefäße von Lust und Schmerz über. Immer wieder trieben wir es und hofften gegen das bessere Wissen, daß wir die Wunden, die wir einander zugefügt hatten, noch heilen könnten. In der Dunkelheit der Nacht zerstoben die Illusionen. Das Ende war gekommen. Es war Zeit für uns, getrennte Wege zu gehen, zu entdecken, wie sich Eros mit etwas Bleibendem, Ganzem, Heiligem vermählen ließ. 

 

 

  Der Tod der Liebe   

Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in den letzten Gipfel seines Geistes hinauf.  Nietzsche1

 

Das zwanzigste Jahrhundert begann mit Nietzsches Lamento, daß Gott tot sei. Das Time-Magazin entschloß sich 1967, über den Todesfall zu berichten. Gegen Ende des Jahrhunderts zerfällt das Pantheon der Idole, mit denen wir den abwesenden Gott ersetzen wollten. Der Vernunft ist es nicht gelungen, privates oder kollektives Heil zu bringen. Wissen und Tatsachen haben uns überflutet, und im gleichen Maße ist die Weisheit geschwunden. Macht wurde angehäuft, und mit ihr die Neigung zum nuklearen Suizid oder Kosmozid. Kommunikationsnetze umspannen den Globus, aber sie haben das Mitgefühl nicht vergrößert. 


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Neuerdings befindet sich auch der jüngste und hartnackigste der Ersatz-Götter bei schlechter Gesundheit. Die Liebe in ihrer Dreifaltigkeit — Romanze, Ehe, Sex — ist ein sterbender Gott. Der romantische Mythos und die Hoffnung auf das permanente happy end werden durch die Erfahrung kontinuierlich zerschmettert. Und die Sexualität, der wir uns in die Arme warfen, um uns für unsere Enttäuschung mit der Liebe zu entschädigen, bricht unter der Last unserer Erwartungen zusammen. Schon hat sich die Nachricht von unserer erotischen Unpäßlichkeit bei den Medien herumgesprochen, und wir konnten die Schlagzeile lesen: "Sex ist tot."

Warum?

Es gibt keinen besseren Ort, um mit unserer Suche nach dem Verständnis unserer erotischen Krise zu beginnen, als bei den Worten selbst. Eine Binsenweisheit behauptet, daß unser Problem in der Vagheit des Wortes "Liebe" begründet liegt. Die Griechen hatten es wahrscheinlich leichter, denn sie konnten unterscheiden zwischen agape (eine göttliche Art altruistischer, selbstaufopfernder Liebe, wie etwa Mutter Theresas Dienst an den Verwundeten und Sterbenden von Kalkutta), eros (ein gieriges, sehnsuchtsvolles Verlangen,, den anderen zu besitzen) und philia (brüderliche Liebe oder Freundschaft). 

In nur einem Wort, "Liebe", steckt eine Vielfalt von Sünden und Tugenden, die ganze Spanne zwischen Lust und Leidenschaft. Wir "lieben" unsere Frauen, unsere Kinder, unsere Autos und unsere Hunde. "Liebe" ist die Antwort auf alle Probleme, die nicht von der Wissenschaft lösbar sind. "Gott ist Liebe." "Was die Welt heute braucht, ist Liebe, nur die Liebe allein." Psychiater warnen uns, daß wir "lieben oder aussterben" müssen. Kein Zweifel, das Evangelium des Johannes ist theoretisch richtig. Liebe ist das A und O, der Morgen- und der Abendstern. Aber gerade die Universalität der Berufung auf Liebe scheint sie zu entwerten.

Nun, die englische Sprache ist dem Problem, über die Liebe zu reden, ebensogut gewachsen wie jede andere. Roget's Thesaurus weist mehrere hundert Spielarten der Liebe aus, unter anderem: Zuneigung, Freundschaft, Barmherzigkeit, Geborgenheit, Besitzergreifung, Freundlichkeit, Zärtlichkeit, Wohltätigkeit, Anziehung, Verträglichkeit, Sympathie, Kameradschaft, Verständnis, Vernarrtheit, Neigung, Hingabe, Schwärmerei, Abenteuer, Sentimentalität, Loyalität, Verzauberung, Faszination, Sehnsucht, Erotik, Respekt, Bewunderung, Leidenschaft, Verblendung, Enthusiasmus, Verführung.


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Unsere Sprache erlaubt uns, im Namen der Liebe die Spanne zwischen zarten Versprechungen und handfesten Abhängigkeiten, zwischen Lust und Vergötterung, zu durchlaufen, zu flirten oder ein Eheversprechen zu beschwören; zu mögen oder von jemand anderem besessen zu sein.

Das Problem der Liebe liegt in unserem Innersten, nicht auf unseren Zungen: es liegt in unseren Absichten, nicht in unseren Wörterbüchern. Wir mißverstehen die Liebe, weil wir uns entschlossen haben, der Macht zu huldigen; uns fehlt es an Mitgefühl, weil wir von Kontrollwut besessen sind; wir bringen die Gründe des Herzens zum Schweigen, weil wir uns für den Weg herzlosen Wissens entschieden haben, ganz gleich, wohin er uns führt; wir bewundern nicht, weil wir darauf beharren, daß jedes Ding und jede Person nützlich sein muß; wir wundern uns nicht, weil wir das Reale auf das Meßbare reduzieren; wir kümmern uns nicht, weil wir zu dem Glauben gelangt sind, daß es sich für einen Mann oder eine Frau besser verzinst, die Seele einzutauschen gegen ein Stück Teilhabe an der "action".

Die Geschichte vom Aufstieg und Fall der Liebe läßt sich in aller Kürze durch den Bedeutungswandel des Wortes "Erotik" zurückverfolgen. Sowohl der Webster als auch der allgemeine Sprachgebrauch definieren "Erotik" als "Hingebung oder die Neigung, sexuelle Liebe oder Begierde wachzurufen". In den Definitionen verwandter Worte steht immer der Aspekt sexueller Leidenschaft oder Begierde im Mittelpunkt. Betrachten wir aber die Wurzel eros, dann stellen wir fest, daß dieses Wort einfach bedeutet, "heftig lieben oder begehren". In der ursprünglichen Bedeutung findet sich kein Hinweis darauf, daß dieses Begehren ein spezifisch sexuelles sei.

Platons Mythos vom Androgynen vermittelt die ursprüngliche Bedeutung des Eros. Nach Platon gab es am Anfang drei Arten von menschlichen Wesen: Mann-Mann, Frau-Mann und Mann-Frau. Jede Einheit war Rücken an Rücken verbunden, hatte vier Arme, vier Beine und einen einzigen Kopf mit je einem Gesicht vorne und hinten. Diese Mischgeschöpfe konnten entweder aufrecht gehen oder Räder schlagen, aber sie konnten einander nie in die Augen sehen.


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Als Zeus beschloß, diese mächtigen Lebewesen zu teilen, um sie zu beherrschen, durchtrennte er jedes der Wesen in der Mitte von oben nach unten, so daß die so entstandenen Einzelwesen von da an unvollständig waren und ihre andere Hälfte zu suchen hatten. Jetzt werden wir also durch den Eros getrieben, durch eine tiefe Sehnsucht, uns wieder mit unserem fehlenden Gegenstück zu vereinen. Sexuelle Liebe ist nur eine der vielen Möglichkeiten, in denen der Eros danach strebt, uns mit dem Fehlenden zu verbinden.

Die griechischen Philosophen hielten den Eros für die treibende Kraft in allen menschlichen und nichtmenschlichen Dingen. Er war der Impuls, der alle Dinge nach Vervollkommnung sich sehnen und streben ließ. Das Samenkorn wurde erotisch dazu bewegt, ein Baum zu werden, genau wie menschliche Wesen durch den Eros dazu getrieben wurden, einsichtig zu sein und eine politische Ordnung zu schaffen, die so gerecht und harmonisch war wie die der Natur. Der Eros war nicht zu trennen von der Potentialität oder Verheißung (der Potenz oder Kraft), die in der Substanz aller Dinge schlummerte.

In der ursprünglichen Vision, die das Wort ins Leben rief, war erotische Potenz also nicht auf sexuelle Kraft beschränkt, sondern schloß auch die Triebkraft mit ein, die jede Lebensform von einem Zustand bloßer Möglichkeit in die Wirklichkeit drängte. Wenn wir "Erotik" auf ihre sexuelle Bedeutung eingrenzen, dann verraten wir damit unsere Entfremdung vom Rest der Natur. Wir bekennen, daß wir nicht mehr durch eine mysteriöse Kraft angetrieben werden, die Vögel zum Wandern oder Löwenzahne zum Sprießen bringt. Überdies setzen wir voraus, daß die Erfüllung, auf die wir zustreben, sexuell ist - die romantisch-genitale Verschmelzung zweier Personen. In diesem Buch wird Eros stets in seinem ursprünglichen Sinne verstanden, es ist der Versuch, unserem Denken über Liebe und Sexualität wieder eine Perspektive zu geben.

Die folgende Analyse beruht auf der Überzeugung, daß sich Liebe, Sexualität und Macht nur heilen lassen, wenn wir zur ursprünglichen Bedeutung von Eros zurückkehren: Wir müssen die Fleischeslust im Kontext einer Vision sehen, wie sie sich im Verlauf eines menschlichen Lebens entfaltet. Unser erotisches Gebrechen wird nicht durch Sex-Handbücher, Selbsterfahrungsgruppen, sinnliche Zentrierung, Techniken zur Stimulation der Nervenenden oder durch die Entdeckung eines vollkommenen Liebhabers zu heilen sein.


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     Romanze, Ehe und der Kapitalistische Traum   

Um verstehen zu können, warum wir den Eros auf seine sexuelle Bedeutung reduziert und ihn in unser Pantheon von vergeblichen Hoffnungen erhoben haben, müssen wir nachvollziehen, wie Romantik, Ehe und Sex an die Spitze der Werte aufrückten, für die wir Lippenbekenntnisse ablegen.

Wir investieren unsere Hoffnungen heute in die private Erfüllung durch Liebe. Wir erwarten von der Liebe, der süßen Liebe, daß sie uns von den Verletzungen und Enttäuschungen heilt, die uns in unserem öffentlichen Leben in Institutionen, Firmen und Bürokratien zugefügt werden. Freud sagte, und wir stimmen ihm weitgehend zu, daß eine reife Person in der Lage sein sollte, zu lieben und zu arbeiten. Wir glauben an diese Zwillingstugenden. Aber in Wirklichkeit ist unser Leben um die Arbeit herum organisiert, und die Liebe soll dafür sorgen, daß die Arbeit das Leben lebenswert macht. Bis vor kurzem konnte man die Amerikaner ohne sonderliche Übertreibung als fleißig, aggressiv, ehrgeizig und hoffnungslos romantisch charakterisieren.

Unsere Sehnsucht nach der Romanze bricht überall durch. Die folgenden Bekanntschaftsanzeigen aus einer Wochenzeitschrift bringen diesen Glauben an den romantischen Mythos zum Ausdruck2.

 

    Ist die Romantik tot?   

Ich glaube noch daran, daß erregende, romantische Beziehungen möglich sind, wenn zwei glückliche, auf einer Wellenlänge schwingende Menschen zusammentreffen. Ich bin ein gutaussehender, 31, Rechtsanwalt mit Freude an Kerzenlicht-Dinners, Kaminabenden, Wandern, Musik und Tieren. Ich suche eine gutaussehende Sie, die mit dem Leben, das sie sich selbst aufgebaut hat, glücklich ist und ihr Glück gerne mit jemandem teilen würde, der es zu schätzen weiß. Schreiben Sie unter...


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59 Jahre alter Mann sehnt sich nach der Reise auf Kolibrischwingen und hofft auf eine Frau, die auch praktisch genug ist, um sich bei der Rückreise mit um das Gepäck zu kümmern. Eine praktische Romantikerin, wenn es so etwas gibt. Schreiben Sie unter ...

Ein neuer Anfang. 26 Jahre alte Frau sucht nach schlechten Erfahrungen mit einem Partner, der sich niemals wirklich um meine Bedürfnisse kümmerte, einen liebevollen, aufregenden Mann für gemeinsame Vergnügungen wie Ballonfliegen, Floßfahren, Segeln, Sonnenuntergänge, Lachen, Strande, die Erkundung totaler Sinnlichkeit. Das Leben ist ja so kurz. Chiffre ...

Das gewisse Etwas. Liebevoller, sensibler, glücklicher Manager, 35, gutaussehend, 178, sucht dynamische junge Zwanzigerin, die das Leben liebt und bereit ist, ihre Träume mit diesem besonderen Mann zu teilen. Sie sind äußerlich und innerlich schön und haben Lust, eine engagierte Beziehung voller Liebe und Verständnis zu beginnen.

Dicke Beine. Rechtsanwalt, 48, 181, 170, sucht weibliches Wesen, 25 bis 45, größer als 175, sehr dicke Knöchel und Waden, schlanke Taille und Oberkörper. Terry, Chiffre ...

 

Die Romanze ist das Juwel in der Krone des Kapitalismus. Kratzt man an einem Ingenieur, einem Arbeiter, einem Modeschöpfer, so entdeckt man unter der Oberfläche einen Romantiker. Wir wachsen in der Erwartung auf, daß es eines magischen Tages so weit ist. Wir werden uns in jenen gewissen Irgendwen verlieben, der sich genau so in uns verlieben wird. Dann werden wir beide (nach der Überwindung von Anfangsschwierigkeiten) uns zusammentun und nie wieder allein sein. Wir werden alles füreinander sein: Liebhaber, Kameraden, Helfer, Ehegatten, Freunde, Beschützer, Ernährer; ein selbstgenügsames Paar, das kaum auf andere angewiesen ist. Das mit Vorortkomfort weich ausgepolsterte Liebesnest mag eine Zeitlang mit Grünschnäbeln gefüllt sein, aber die Romanze zwischen Ehemann und Ehefrau wird durch dick und dünn andauern, bis daß der Tod uns scheidet.

Natürlich ist der Traum ein Klischee. Wirklichkeitssinn und Scheidungsstatistiken sagen uns, daß nur sehr wenige Liebhaber lange glücklich zusammenleben. Die Romanze schwindet. Gleichwohl ist der Traum zählebig. Der Lore-Roman behält Jahr für Jahr seine treuen Leser. Hollywood schlachtet die archetypische Romanze aus, spielt sowohl in fetten als auch in mageren Zeiten in gefüllten Kinos Variationen auf das Thema der Love Story.


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Alte und junge Narren verlieben sich immer wieder aufs Neue und hoffen gegen vergangene Erfahrung, daß es das nächste Mal der/die "Richtige" sein wird. Selbst wenn wir das tatsächliche Scheitern der Romanze einräumen, jagen wir doch weiter stolz dem Ideal nach. Wir sind ziemlich sicher, daß unser Brauch, die Menschen "sich verlieben" zu lassen, sich ihre Partner auf der Grundlage privater Leidenschaften auswählen zu lassen, besser ist als eine pragmatische Eheanbahnung.

 

Wir können unser romantisches Ideal nicht aufgeben, weil es Teil eines ganzen Wertsystems ist, in dessen Zentrum unser Glaube an das Individuum steht. Jeder von uns hat theoretisch das Recht, sein persönliches Schicksal zu schmieden, und dazu gehört das Recht, den Partner selbst auszusuchen. Kurz gesagt: Die Liebesgeschichte wirkt in der westlichen Kultur als ein Mythos (oder eine "regulative Idee", wie Kant formulierte). Sie ist eine motivierende Fiktion, die Energie und Sehnsucht der Psyche bündelt, und sie ist ein wesentlicher Bestandteil der kapitalistischen Ideologie. Die Verheißung, daß unser Leben durch eine romantische Liebe gekrönt wird, ist untrennbar mit der kulturellen Entscheidung verbunden, den Großteil unseres Eros — Energie, Zeit und Sorgfalt — in die Arbeit, die Anhäufung von Geld und Macht zu stecken. Die Romanze ist der Gral, der uns für unsere Rastlosigkeit entschädigen soll, die heilige Erfüllung, von der wir erwarten, daß sie unsere Entzauberung der Welt kompensiert. Sie ist eine halluzinierte Oase der Leidenschaft in einer Kultur, die ihren Werthorizont auf den Pragmatismus reduziert hat. Die eine Person soll das Vakuum der Einsamkeit ausfüllen, das sich aus dem Verlust der Gemeinschaft ergibt, der Liebhaber soll die Magie ersetzen, die aus der Natur verschwand, als Christus (mit Hilfe des Bulldozers) "den großen Gott Pan tötete", wie D. H. Lawrence schrieb.

 

Wir sind natürlich nicht die ersten Menschen, die sich verliebt haben. Nur die ersten, von denen die Romanze idealisiert und demokratisiert wurde, so daß sie zu einer inoffiziellen, aber sehr mächtigen Bedingung für ein erfülltes erwachsenes Leben wurde; wir haben sie mit der Sexualität verknüpft und erwarten von ihr, daß sie die fortwährende Grundlage der Ehe sein soll.


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Robert Brain sagt in der vorzüglichen Studie Friends and Lovers: "Die Verbindung von geistiger Liebe, frustrierter Sexualität und Ehe ist der besondere westliche Beitrag zur Evolution menschlicher Beziehungen"3).

Eine kurze Geschichte der romantischen Liebe wird dies verdeutlichen.

Wir können ruhig davon ausgehen, daß irgendein Steinzeit-Romeo eine unmäßige Leidenschaft für eine neolithische Julia entwickelte. Unter den "Primitiven" von heute ist die Romanze kaum je die Norm, aber sie kommt durchaus vor. Margaret Mead beschreibt, daß die Menschen von Samoa vor- und außereheliche Romanzen zulassen und die Kultivierung erotischer Techniken fördern, sie mißbilligen jedoch streng Affären, die eine Gefährdung der sozialen Stabilität bedeuten könnten. In der Regel wird die Romanze um so weniger mit Empfindungen der Ausschließlichkeit, der Eifersucht und des Besitzanspruchs befrachtet, um so weniger als die bindende Kraft und raison d'etre der Ehe gesehen, je weniger eine Kultur bezüglich der Sinnlichkeit und der vor- und außerehelichen Sexualität gehemmt ist. In den meisten Stämmen ist die Ehe eine viel zu ernste soziale Institution, als daß man sie den Launen individueller Leidenschaften überlassen könnte. Wer in romantische Raserei verfällt und den Stamm durcheinanderbringt, wird eher bemitleidet und getadelt, denn als Modell für heroische Leidenschaft hochgehalten.

Mächtige sexuelle und romantische Gefühle hat es schon immer gegeben; aber die Art und Weise, wie wir diese Gefühle bewerten, über sie denken, sie ermutigen, entmutigen oder kritisieren, hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder verändert. Wie uns neuere Berichte über die antiromantische Stimmung während der Kulturrevolution in Rotchina gezeigt haben, ist das Laster der einen Gesellschaft die Tugend der anderen.

Sokrates verliebte sich in schöne Knaben, Sappho in Mädchen, Héloise und Abélard ineinander. In der Frühzeit der westlichen Kultur tauchten hie und da Romanzen auf, aber sie wurden kaum ermutigt.


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Die Griechen huldigten der Vernunft (logos), liebten die Ordnung der polis mehr als die ungeordneten Leidenschaften des einzelnen und hielten die Romanze so auf kleinster Flamme. Ja, die dionysische Orgie, in welcher der griechische Geist Exzesse zuließ, war das Gegenteil romantischer Liebe. In der Orgie wurde die ekstatische Leidenschaft durch die Verbindung mit einem anonymen Anderen freigesetzt. In der Ekstase legten die Partner die Masken der Persönlichkeit ab und begegneten einander als reine Ausdrucksformen überschäumender sexueller Energie. Die Orgie streift gerade die Einmaligkeit der Person ab, die als Grundlage der Romanze dient.

Die Romanze gedieh auch nicht in der Atmosphäre der christlichen Theologie. Vieles von der Sexualethik des westlichen Christentums war durch den gnostisch-manichäischen Dualismus geprägt, der die Materie als entweiht, die Natur als Schöpfung eines dämonischen Gottes (Demiurg), die Frauen als minderwertig und die Sexualität als eine Fleischeslust ansah, die unterdrückt wurde oder nur in der Ehe ausgedrückt werden durfte. Hätte sich Augustinus wegen der Liebe zu seiner Mätresse nicht so schuldig gefühlt, dann hätte das Mittelalter anerkennen können, daß die sexuellen Empfindungen eines der segensreichen Geschenke des Schöpfers waren. Aber das Christentum verfiel in eine anti-erotische Haltung: Es verherrlichte die Jungfräulichkeit, degradierte die Frau, koppelte Sexualität mit Schuld, mißbilligte die romantische Liebe, verleugnete das Fleisch und verdächtigte alle Sinnlichkeit. In theologischer Terminologie kam das durch die Lehre von der Überlegenheit der agape (von den Christen als gottgegeben und selbstlos definiert) gegenüber dem eros (den sie als unrein und lüstern auffaßten) zum Ausdruck.

Unsere moderne westliche Vorstellung von romantischer Liebe leuchtete in der Leidenschaften der Helo'ise einen Augenblick lang hell auf. Zehn Jahre nach ihrer erzwungenen Trennung schrieb sie in Abelard:

Kaum dem Mädchenalter entwachsen nahm ich das harte Los einer Nonne auf mich, und zwar nicht aus Frömmigkeit, sondern auf Euren Befehl. ... Ich kann keine Belohnung von Gott erwarten, da ich nichts aus Liebe zu ihm getan habe. ... Gott weiß, auf Euren Befehl wäre ich Euch zu den wildesten Orten gefolgt oder vorausgeeilt. Denn mein Herz gehört nicht mir, sondern Euch4.


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Aber es waren die Troubadoure des französischen Mittelalters, deren ehebrecherische Liebesgesänge für adelige Damen die romantische Liebe idealisierten. Der ritterliche Troubadour verehrte eine entfernte, hochgeborene Frau, gewöhnlich die eines anderen, für die er Gedichte schrieb, der er sich aber nur selten sexuell nähern konnte.

Mit der industriellen Revolution wurden die Vorrechte des Adels von der wachsenden Mittelklasse beansprucht. Jedes Heim ein Schloß; jeder Mann ein König; jede Frau Königin für einen Tag. Jedermann beanspruchte das aristokratische Recht auf eine große Leidenschaft, auf Liebe und Tändelei. In viktorianischen Zeiten sollte die Sexualität (wie das Kapital) sorgsam gehütet werden, bis man sie mit Profit in die Ehe investieren konnte. Der Kapitalismus forderte eine Ethik des Triebaufschubs. Eros und Geld mußten akkumuliert, durften nicht leichtfertig verschwendet werden. So wurde das romantische Ideal von der Vorstellung verbotener Liebe und Sehnsucht geschieden, und das neue Konzept der romantischen Ehe trat ins Leben. Und so hoffte man, daß Liebe und Sex in der Unverletzlichkeit der Ehe für alle Zeiten glücklich zusammenleben würden. Uns wurde versprochen, wir müßten nur hart arbeiten und warten können, und dann fielen uns schon Liebe, Reichtum und Glück von selbst zu. Libido, Ich und Überich (die alten Feinde) würden sich gemeinsam harmonisch in einem auf Raten gekauften Vorstadthaus niederlassen und dort in sicherer Leidenschaft zusammenwohnen.

 

   Die sexuelle Revolution: Die Nahtstelle zweier Mythen    

 

Irgendwann in den Sechzigern verlor der romantische Mythos seinen Einfluß, und unsere Sexualmoral begann, sich zu verändern. Voreheliche Sexualität wurde anerkannte Praxis. Unverheiratete Paare lebten offen und ungetadelt zusammen. Erotische Minderheiten tauchten aus dem Verborgenen auf. Frauen nahmen die Pille und forderten das traditionell männliche Recht auf entspannte Sexualität - "den Spontanfick", wie Erica Jong es später taufen sollte. Abtreibung wurde problemlos. Das Zeitalter der "Repression" war vorüber.


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Die Veränderung in unseren sexuellen Gewohnheiten und Verhaltensweisen, die sich unter dem Namen "sexuelle Revolution" vollzog, wurde tatsächlich durch das Zusammentreffen zweier entgegengesetzter Mythen hervorgebracht: Durch den Mythos der Gegenkultur von der Rückkehr zur Unschuld und durch den Konsummythos der herrschenden Kultur.

Am Anfang war die sexuelle Revolution Bestandteil der aufblühenden Gegenkultur. Sie ging einher mit Drogen, Rockmusik, Kommunen, Protesten gegen den Vietnamkrieg und der Bewegung "Zurück zur Natur". Das Zeitalter des Wassermanns wurde in einer apokalyptischen Atmosphäre geboren, die durch das Damoklesschwert des Wettrüstens, durch die wachsende ökologische Bedrohung und durch den Vertrauensschwund gegenüber den herrschenden Institutionen aufkam - Regierung, Kirchen, Wirtschaft. Überall, wo die jungen Leute hinsahen, erblickten sie Verlogenheit. Da die Gesellschaft um sie herum zusammenbrach und keine sichere Zukunft in Aussicht war, machte es Sinn, das Kinderkriegen zurückzustellen, Sexualität und Fortpflanzung zu trennen und sich jedem Vergnügen hinzugeben, das der Augenblick gerade bot. 

Eßt, raucht Haschisch und vögelt, denn morgen sterben wir. Die jungen Leute waren, wie Thoreau ein Jahrhundert vor ihnen, der "Zivilisation" überdrüssig und machten sich auf die Suche nach etwas "Natürlichem", nach etwas Unschuldigem. Mit Hilfe von Drogen erkundeten sie die Wildnis, die direkt unter dem Firnis der Persönlichkeit lag. Tausende strömten aufs Land und schufen eine ländliche Renaissance, die in Tennessee, den Tälern von Oregon und Washington noch immer lebendig ist. Und sie tasteten auch nach der Sexualität, um zu sehen, ob sie einen natürlichen Leib und unschuldige Empfindungen entdecken konnten, die nicht durch die kapitalistischen, viktorianischen, romantischen Vorstellungen von der Sünde verseucht waren. Mit "befreitem" Sex wollten sie den Leib zelebrieren und gegen die Nekrophilie und Gewalt einer technologischen Gesellschaft protestieren, die alles Sensible den Abstraktionen opferte.


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Der Mythos der Gegenkultur suchte eine Rückkehr zur Unschuld, zu einer Weisheit unterhalb der Überspitztheiten des Geistes. "Verliere deinen Verstand und komme zu Sinnen", riet Fritz Perls. Im Sex wie in der "natürlichen Ernährung" suchten sie eine neue Unmittelbarkeit, eine Berührung mit dem, was ursprünglich, neu, spontan und rein war.

Aber ach, Unschuld ist so zerbrechlich wie schön. Die Erfahrung zerschmettert sie. Die Jugendkultur rechnete nicht mit der Zeit, dem Altern und den unausweichlichen Wandlungen des Eros. Gleichgültig, wie rein das Herz oder wie unschuldig die Absicht ist, die Vorstellung von Vergnügen ohne Folge, von Intimität ohne Hingabe, von Sinnlichkeit ohne Überlegung ist eine Illusion. Die Zeitstruktur und die Conditio Humana sind so beschaffen, daß alles, was heute getan wird, die Zukunft belastet. Es gibt einen unausweichlichen Zusammenhang zwischen heute und morgen. Die Liebe der Gegenkultur produzierte ebenso viel Herpes und Gonorrhöe und vaterlose Kinder wie die alte Spielart sexueller Verantwortungslosigkeit. Sie besaß nur eine andere Rhetorik.

Die herrschende Kultur setzte schnell auf diejenigen Aspekte der sexuellen Revolution, die sie kooptieren und für ihre eigenen Zwecke nutzbar machen konnte, um den Status quo beizubehalten. Unter den Mitgliedern des Establishments wurde der Schnellfick eher eine reaktionäre als eine revolutionäre Sache. In Sechzigern entwickelten wir uns von einer Produktions- zu einer Konsumptionsökonomie. Unsere Fabriken warfen eine Überfülle von Gütern auf den Markt. Um das ökonomische Wachstum zu garantieren, wurde es daher notwendig, die alte Ethik des Geldsparens und des Triebaufschubs (mit der Funktion, die Akkumulation von Kapital und Leidenschaft zu ermöglichen) umzukehren und die Menschen zum Konsum, zur unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung zu überreden. Die Werbung lief auf höchsten Touren, um eine endlose Reihe von Bedürfnissen zu erzeugen, die befriedigt werden sollten. Wir gelangten zu der Überzeugung, daß wir nur glücklich wären, wenn wir den Zweitwagen, den neuen Fernseher, das modernste Gerät zur Vereinfachung des Lebens kauften. Die neue Ethik hieß: "Gib aus, konsumiere, laß kein Bedürfnis unbefriedigt. Tu's jetzt! Fliege jetzt, zahle später." Die Kreditkarte wurde zum Ticket fürs Paradies.


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Schuldenmachen, was bedeutete, einen festen Job zu haben und zu beweisen, daß man mit der Belastung von Krediten fertig wurde, indem man über die eigenen Verhältnisse lebte, erwies sich als der neue rite de passage zum Erwachsensein. Der neue Konsumbürger scherte sich nicht um die beliehene Zukunft, die nationalen Schulden, die ökologischen, sozialen, geistigen Konsequenzen der Verschwendung aller Ressourcen dieser Welt, um eine Ökonomie aufzubauen, in der das Bruttosozialprodukt jedes Jahr expandieren mußte. Die Zukunft würde schon für sich selbst sorgen.

So ist es nicht überraschend, daß die Kreditkartengesellschaft den Wegwerfsex übernahm. Keuschheit, lange Bindungen, Triebaufschub und die Disziplin des Sparens, um die Zukunft zu sichern, wurden durch Sex, schnelle Intimität und alles Mögliche ersetzt, was zwei oder mehr gleichgesinnten Erwachsenen angenehm erschien. Verschwendung (das viktorianische Wort für Orgasmus) wurde zur Philosophie einer inflationären Ökonomie. Alles expandiert, das Wachstum hat keine Grenzen. Nur die Verklemmten und die Ängstlichen halten sich zurück.

Die Unschuld der sexuellen Revolution wurde in den Dienst des herrschenden kulturellen Mythos gestellt. Das Schlüsselwort "natürlich" wurde zum neuen Werkzeug der Werbung, zum Instrument, um unsere Bedürfnisse so zu manipulieren, daß wir mehr kauften und an einem Lebensstil festhielten, der völlig von Experten, Wirtschaftsunternehmen sowie der Warenproduktion und -konsumption abhängig war. Die Produzenten etikettierten ihre verhunzten Nahrungsmittel als "natürlich". Shampoos und Zahnpasta, die in den chemischen Labors der Chemiegiganten zusammengebraut wurden, bekamen einen Schuß Honig, Joghurt oder Placenta und verkauften sich als "supernatürlich". So wurde auch natürlicher Sex das ganz große Geschäft. Playboy und Cosmopolitan und die Gläubigen der sexuellen Befreiung berieten ihre Kunden über Sex ohne Schuldgefühl, die Etikette für Affären im Büro, Techniken für die sofortige und andauernde Ekstase und multiple Orgasmen für alle. Die Verwendung von Sex in der Werbung wurde zur Gewohnheit. Frauen, natürlich sexy, und Männer, natürlich hochpotent, suggerierten uns, daß sich unsere erotischen Phantasien erfüllen würden, wenn wir nur das richtige


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Deodorant benutzten, die richtige Zigarette rauchten und den richtigen Sportwagen fuhren. Der Typ Mann, der den Playboy las, wurde immer von zwei Frauen bewundert, weil er sich im richtigen Stil kleidete, den Wein mit der richtigen Temperatur servierte und keine sexuellen Schwächephasen hatte. Wir bemerkten kaum, daß die Werbefritzen ständig ihre Hände auf unseren Genitalien hatten. Sie verknüpften eine endlose Reihe von Produkten mit dem neuen sexuellen Heilsmythos. Indem der Sex die Romanze ersetzte, wurde er zum neuen Köder, mit dem die Waren verkauft wurden und der den Mythos der alten Kultur des Industriekapitalismus fortsetzte.

An sich ist die Werbung und der Versuch, die Menschen davon zu überzeugen, daß sie die Güter und Werte der industriellen Kultur konsumieren sollen, natürlich kein finsteres Komplott, sondern unausweichlich. Irgendwie "wirbt" jede Kultur für ihre Weltanschauung und fördert ihren Mythos. Im Vatikan wurde schon früh eine "Propaganda"-Abteilung eingerichtet, um das wahre Dogma zu verkünden. Im Mittelalter dienten die Statuen und Portraits der Heiligen dazu, die christliche Sicht der Realität zu empfehlen und attraktiv zu machen. Ein Bild des Heiligen Franz mit dem Heiligenschein war ein Pin-up, das für eine bestimmte Tugendvorstellung warb. Es war Propaganda, die darauf zielte, die Idee zu verkaufen, daß Agape dem Eros überlegen, daß Spiritualität dem Materialismus vorzuziehen und daß der Verzicht auf sexuelle Befriedigung der Weg zur größtmöglichen Glückseligkeit sei. Kirchenfenster und Kathedralen waren die Werbeträger für den gotischen Mythos, für die Vision der Realität als "eine große Kette des Seins", eine Hierarchie, in der das Übernatürliche dem Natürlichen, die Offenbarung der Vernunft, die Autorität der Kirche der des Staates, der Mann natürlicherweise der Frau und die Würde des geistlichen Lebens (Gebet, Gehorsam gegenüber der Kirche, Beichte) der säkularer Geschäfte überlegen war.

Die Industriegesellschaft benutzt die Werbeagenturen als ihr Propagandabüro und das Fernsehen als ihr Medium, mit dem sie Ikonen des Eros erzeugt. Die Heiligen der säkularen Vision - die Berühmten, die Schönen, die Mächtigen, die Sexidole - verbreiten ihre Sicht des guten Lebens. Gläubige Konsumenten können sicher


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sein, daß die Sehnsucht des Herzens schließlich gestillt wird, wenn sie die richtigen Kulthandlungen ausführen - das Produkt kaufen, das dieses Jahr offiziell als "in" bestätigt wurde. Das stillschweigende Versprechen des "neuesten Modells" lautet: "Konsumiere und sei zufrieden" — oder, in der alten Sprache, "Nehmt hin und eßt, dies ist mein Leib". Dieser "Leib" dient uns als Elixier der Unsterblichkeit oder als sein säkulares Äquivalent, das Statussymbol.

Inmitten der sexuellen Revolution bemerkten wir kaum, daß der Sex, wie auch das restliche Leben, immer mechanisierter wurde, seinen Zauber verlor und in Kategorien beschrieben wurde, die den Maschinen entliehen waren. Mit unschuldigen Absichten, aber erschreckenden Resultaten, durchdrang der westliche Geist Liebe und Sexualität mit seinem Mythos.

Zuerst wurden Liebe und Sex, wie Wert und Tatsache oder Geist und Materie, voneinander geschieden. Liebe wurde zu einem privaten, subjektiven Gefühl. Ihr kognitiver Status wurde geleugnet; man hielt sie nicht mehr für eine Art des "Erkennens". Die modernen Wissenschaftstheorien wiesen Augustinus' Schlußfolgerung, daß wir nur erkennen können, was wir lieben, als sentimentalen Unsinn zurück. Sex wurde auf ein biologisches Phänomen reduziert, das Wissenschaftler quantifizieren und in ihren Laboratorien objektiv untersuchen konnten. Die Intensität und Anzahl von Orgasmen wurde gemessen, die Phasen der Erregung auf Standardmuster reduziert. Wissenschaftler reparierten mit ein wenig Unterstützung durch sexuelle Surrogate sexuelle "Fehlfunktionen", indem sie Techniken der sinnlichen Konzentration, der Muskelkontrolle und die Grundlagen der Kommunikation lehrten. Auf ein amoralisches, biologisches Phänomen reduziert, von Schuldgefühlen und Geheimnis befreit, ließ sich das Einmaleins der Sexualität problemlos meistern. Nach Kinsey, Masters und Johnson wurde der neue Beruf des "Sex-Therapeuten" geschaffen. Ohne über die Natur des Eros nachgedacht zu haben (beispielsweise lasen nur wenige Denis de Rougemonts Liebe und das Abendland, Norman O. Browns Love's Body oder Herbert Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft), fingen sie an, das ABC der sexuellen Kommunikation zu lehren, und schmuggelten ohne böse Absicht


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den westlichen Mythos in ihre Techniken ein. (Neuerdings üben die besten Sex-Therapeuten Kritik an solch naiver Wissenschaftsgläubigkeit und suchen nach Wegen, um Sexualität wieder mit Spiritualität zu verbinden.)

Die Liebe wurde entweder verleugnet oder in eine okkulte Sphäre entrückt, die so weit über der weltlichen Erfahrung lag, daß sie unerreichbar schien. Die Technophilen sagten, es sei bloß ein Phantasiewort für Fleischeslust, eine poetische Form, um über eine biologische Tatsache zu sprechen. So manches heranwachsende Mädchen wird durch das Argument verführt: "Komm schon, Liebling, stell' dich nicht so an. Sex ist was Natürliches wie Essen oder Trinken." Romantiker räumten ein, daß Sex eben Sex sei, hofften aber, daß das "Eigentliche", nämlich die Liebe, sie auf mysteriöse Weise überraschen würde. Die "Liebe" wurde oft völlig desexualisiert, spiritualisiert und als ein reiner Typ göttlichen Wahns definiert, der Heilige ergreift, den aber normale Menschen in ihrem täglichen Leben nur selten erfahren und der gewiß keine Relevanz für die reale Welt von Geschäft und Politik hat. So oder so, sie blieb so vage, unpraktisch oder mystisch, daß außer Erich Fromm nur wenige daran glaubten, die Kunst des Liebens könne gelehrt werden. In keiner Universität, Kirche oder Schule gab es im Lehrplan einen Kurs mit dem Thema "Wie wird man eine liebesfähige Person?". Durch Glück, Gnade - oder gar nicht - stieß man darauf oder es geschah. Pure Magie.

Mittlerweile wurde Sex, wie die anderen Tatsachen des Lebens, in den Schulen gelehrt. Die Schulbücher sterilisierten die Sexualität weitgehend durch die Verwendung einer neutralen wissenschaftlichen Sprache. Keine Wonne, kein Saft, kein Spaß, keine Andeutung der Ekstasen, die stattfinden können. Jede kurze Durchsicht der Sexgebrauchsanleitungen läßt den Verdacht aufkommen, daß die Sex-Ratgeber-Industrie fest in der Hand von Graduierten des Massachusetts Institute of Technology war. Der Liebesakt erforderte die Kenntnis der geeigneten Techniken und Stellungen. Anatomische Abbildungen erläuterten das Eindringen im einzelnen. Genitalingenieure erklärten den Winkel, das Kraftmoment, die Schmierung, die Häufigkeit, Spielarten der Stimulation und die Natur der Nervenenden. Wer alles beherrscht, der kann Orgasmen haben - multiple, wenn nicht gleichzeitige.


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Die Sex-Handbücher lehrten nebenbei auch das Evangelium der Jugend, das Bestandteil des technologischen Mythos ist: Sein bedeutet produktiv sein, lebenswert zu sein bedeutet zu arbeiten. Die Freude an der Sexualität blieb schönen Menschen vorbehalten, den Playboys und Playgirls. Der Eros war Sache der Schmalhüftigen und der Pfirsichhäutigen, der Luxuskörper, wie sie die Werbeseiten von Glamour, Cosmopolitan, Penthouse und, ja natürlich, Ms. zierten. Es kam wie ein Schock, als Simone de Beauvoir den Mythos bedrohte und uns erzählte, daß die Begierde auch noch das Fleisch der Alten erwärmte, daß Marlene Dietrich nicht die einzige Sex-Großmutter war und daß "die alten Lustmolche" nur Männer seien, die nichts vergessen hatten.

 

Wie erfolgreich ist der Handel mit Sex gewesen? Die Lawine von Büchern über Sex ist selbst ein starker Beweis dafür, daß die in Sex-Handbüchern eröffnete Perspektive nicht funktioniert; sie ist ein Index der Frustration, Enttäuschung, Angst und falschen Hoffnung. Unsere besessenen Anstrengungen, den Schlüssel zum Sinn des Lebens in der sexuellen Erfahrung zu suchen, sind das einem sterbenden Gott geweihte Potlatsch-Fest.

Wir müssen nur die Logik der Erfahrung untersuchen, um den strukturellen Widerspruch aufzuspüren, der im Mythos der sexuellen Erfüllung angelegt ist. Einerseits konzentrierte sich die sexuelle Revolution auf das individuelle Recht auf pure Sinnlichkeit. Als sie die Sexualität von Schuldgefühlen befreite, ermutigte sie uns auch, Sex von Liebe und Hingabe abzutrennen. Der Zusammenhang zwischen Liebe und Ehe wurde als genauso obsolet dargestellt wie eine Pferdekutsche. Man kann das eine ohne das andere haben. Die Proklamation des individuellen Rechts, Sinnlichkeit mit jedem beliebigen zu teilen, der einem gefiel, brachte die Vorstellung mit sich, daß befreite Sexualität ablösbar war von der Kontinuität des Füreinanderdaseins, von Folgen, von Kindern, von der Gemeinschaft. Derart befreit war Sex ein Spiel, ein Sport. "Sport-Ficken" wurde die neue Metapher, der austrainierte Sexualathlet das neue Modell.


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Andererseits lautete das Versprechen der sexuellen Revolution, daß wir durch den großen Orgasmus von Schuld reingewaschen würden. Nach Wilhelm Reich galt der perfekte Orgasmus als das Elixier der Glückseligkeit, das Sinnbild für Freiheit und Authentizität. Sex sollte nicht nur Vergnügen bereiten, er gab darüber hinaus unserem Leben Sinn.

Offensichtlich wußte die eine Hand nicht, was die andere tat: Eine Erfahrung, die keinerlei emotionalen oder moralischen Inhalt hatte, wurde zum Sinnstifter erhoben, ein sicheres Rezept für die Schizophrenie. Wir traten ein in den double bind: Je mehr die Sexualität dabei versagte, den neuen Ansprüchen zu genügen, desto fanatischer verdoppelten wir unsere Bemühungen, es richtig hinzukriegen. Wir strengten uns verzweifelt an, "natürlich" zu sein, wir waren heiß darauf, kühl zu erscheinen. Warum, so fragten wir uns, schafft uns diese Sache, die wir von Furcht befreit und trivialisiert haben, denn eigentlich kein Zentrum? Die befreite Sexualität machte uns fast so verrückt wie die alte puritanische Auffassung. Es waren die zwei Seiten einer Medaille. Die einen zeichneten Sex als den Teufel, die anderen als Gott; die einen versprachen uns Glück, wenn wir verzichteten, die anderen, wenn wir uns hingaben. Beide logen.

Schließlich tauchte Sex immer häufiger im Zusammenhang mit Gewalt auf. Beziehungslose Sexualität und psychotische Gewalt waren Kennzeichen der siebziger Jahre. Die sexuelle Revolution ging Hand in Hand, oder Faust im Gesicht, mit der wachsenden öffentlichen Verherrlichung von Gewalt. Die Erwartung, ungehemmte Sexualität würde die Aggressivität verringern, erwies sich als falsch. Warum? Weil die Reduktion der Gemeinschaft zwischen Personen auf die Berührung von Körpern, anonymen Sexualorganen und Nervenenden selbst schon ein Gewaltakt ist. Die Berührung, die heilt, fühlt und schätzt den anderen als eine einmalige Person. Zu ihr gehört das stillschweigende Versprechen von Freundschaft, Mitgefühl und Respekt. Es ist kein Wunder, daß mittlerweile unsere Medien und Phantasien mit Bildern von blutverschmiertem Fleisch überquellen. In Film und Fernsehen sind wir Zeugen von Messerstechereien, Vergewaltigungen, Verstümmelungen, wir beobachten die sadistische Bestrafung des Fleisches.


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Die Zeitungen überschwemmen uns täglich mit Horrornachrichten. Der Sadismus verkauft sich, weil er ein unbewußter Verzweiflungsschrei ist, der sich so übersetzen ließe: "Wenn ich nicht mehr bin als eine Maschine aus Fleisch, ein vom Geist getrennter Körper, dann zerstört das Fleisch, zerschmettert die Maschine." In der irrationalen Gewalt schreit der verbannte Geist nach Anerkennung, ^ordert der Eros zum letzten Mal, das Menschsein zu verwirklichen. Die Taten des entfremdeten Individuums verraten uns, daß wir einen neuen Sinn für alles Lebendige entdecken müssen. Die reduzierte Identität, die uns innerhalb des westlichen Mythos gewährt isc, reicht nicht mehr hin, um unseren Liebeswillen aufrechtzuerhalten. Die Geschichte hat uns an einen Punkt der Wahrheit und der Entscheidung gebracht: lieben oder sterben.

Als Wanderer im Niemandsland, enttäuscht von den alten Göttern, Moralvorstellungen, Ideologien, ermüdet vom Bürgerkrieg zwischen Geist und Körper, Mann und Frau, Nation und Nation, müssen wir zu Pilgern werden, müssen wir nach einer neuen Vision suchen und ein neues Bewußtsein entwerfen.

 

    Eros, Mythos und Metaphysik    

 

Unsere erotische Krise ist nur ein Symptom für das tieferliegende Gebrechen, an dem die westliche Kultur derzeit leidet. Der westlich-ökonomisch-säkulartechnologische Mythos beginnt zu zerfallen; und er hört auf, uns zu formen, seine Sicht der Erotik ist nicht mehr befriedigend.

Yeats hat das Problem diagnostiziert, dem wir gegenüberstehen:

Die nackte Anarchie beherrscht die Welt, Und blutig-trübe Fluten überschwemmen sie. Darin versinkt der Unschuldskult, Den Besten fehlt der Glaube, doch die Schlechten Sind voll von intensiver Leidenschaft.

Di© Leidenschaften, die unsere heutige Welt beseelen, sind dämonisch geworden, und wir haben keine Vision psychischer Gesundheit. Wir haben viele Portraits von entstellten Antihelden, Männern und Frauen, die von Macht und Sex besessen sind. Der moderne Roman hat der Psychologie als Fallsammlung der pathologischen Abweichungen den Rang abgelaufen.


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Aber uns fehlt eine Vision oder Wissenschaft von der gesunden Leidenschaft. Welche Formen der Leidenschaft können unsere Ganzheit wiederherstellen ? Wohin müssen wir schauen, um einen Schimmer des leidenschaftlichen Lebens zu erhaschen, das sowohl die Psyche als auch die Politik heilen könnte?

Wollen wir wieder zu einer gesunden Leidenschaft gelangen, dann müssen wir die simple Vorstellung aufgeben, daß unsere erotische Enttäuschung aus dem Mangel an hinreichenden Informa-tion«i_über richtige Sexualtechniken oder Kommunikationsfähigkeiten folgt, der an einem Wochenende in ^jdmoder befehligen sexualtherapeutischen Sitzungen zu heilen wäre. Beharren wir darauf, nur das Symptom zu behandeln, dann gibt es für die Krankheit keine Heilung. Wir müssen über nichts Geringeres nachdenken als unseren herrschenden Mythos und sein Menschenbild. Das Problem steckt nicht in unseren Genitalien, sondern in unseren Köpfen, in unserer Lebensphilosophie.

Der grundlegende Mythos einer Kultur, sei es die der Buschmänner, die der Marxisten oder die des modernen Amerikaners, ist wie eine Stechform, die auf den Teig der Erfahrung gedrückt wird. Er gestaltet jede Handlung, indem er die Metaphern, Bilder und Modelle bereitstellt, die unsere Erfahrung formen. Das mythische System bestimmt, ob man die Geburt als ein medizinisches Phänomen auffaßt, bei dem Ärzte das Sagen haben, oder als die Inkarnation einer Seele, die von einem Priester geweiht werden muß; ob der Tod das Ende des Selbst oder ein Übergang ins unsterbliche Leben ist; ob Krankheit eine Sache von Erregern oder eine Strafe dafür ist, daß man die Götter beleidigt oder ein Tabu verletzt hat. Es entscheidet auch, wann, wo, warum und mit wem wir schlafen und ob die Liebe ein Nebenprodukt der Fleischeslust oder ein Sakrament ist, das uns den besten Zugang zum Sinn des Lebens bietet.

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zu erforschen, die ganze Bandbreite der Liebe als Eros, Philia, Libido, Agape, Caritas, Mitgefühl, Zärtlichkeit, Bewunderung, Trost und Fürsorge.

Ein Hauptbestandteil des westlichen Mythos ist der Glaube, daß ein Mythos eine primitive und irrige Weise ist, über die Welt nachzudenken. Die Wissenschaft habe ihn ersetzt. Das Wort "Mythos" wird heute gemeinhin im Sinne einer Illusion oder einer Lüge verwendet, beispielsweise, wenn wir von den Gerüchten und Mythen über die Maschinen sprechen, die mit Wasser anstatt mit Benzin betrieben werden. Aufgeklärte moderne Menschen sind daran gewöhnt, die seltsamen Glaubensformen der Mayas und der Tassaday als mythisch aufzufassen. Unsere eigenen Glaubenssysteme betrachten wir dagegen als rational und in den Realitäten von Politik und Ökonomie verwurzelt. Wie der Religionsethnologe Joseph Campbell sagt: "Mythos ist immer die Religion der anderen."

Solange wir an dieser simplen Auffassung vom Mythos festhalten, werden wir keine Fortschritte machen. Ich werde den Begriff des Mythos in einem späteren Kapitel (6) genauer untersuchen. Vorläufig kann man einen lebendigen Mythos als eine Anzahl von Prismen beschreiben, durch welche ein Volk die Welt sieht. Oder genauer: Mythos ist das System von grundlegenden Metaphern, Bildern und Geschichten, das die Wahrnehmungen, Erinnerungen und Ziele eines Volkes formt; es liefert die Begründung für seine Institutionen, Rituale und für die Machtstruktur; und es skizziert die Ziele und Phasen des Lehens.

Ein lebendiger Mythos bleibt für die Mehrheit weitgehend unbewußt. Er ist die Realität, nicht das Symbol. Beispielsweise fragte ich einmal einen Hopi-Indianer, der an einer großen Universität Anthropologie studiert hatte, auf welche Zeit man die Entstehung der Hopi-Legenden über die Erschaffung der Welt datieren könne. Er sah mich seltsam an und antwortete: "Auf die Schöpfungszeit natürlich." Als gebildeter Mensch wußte er vom Mythos, aber als Hopi lebte er immer noch mythisch.

Doch in jeder Kultur durch- oder überschauen einige Menschen den Mythos. In primitiven Kulturen waren das die Schamanen, die Medizinmänner, die vom göttlichen Wahn Befallenen und die mit einer natürlichen Neigung zur philosophischen Reflexion.


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Diejenigen, deren amphibischer Geist sich sowohl innerhalb als auch außerhalb des Mythos bewegt, können als Geächtete oder als Metaphysiker bezeichnet werden. Mythos und Metaphysik sind in' derselben Weise aufeinander bezogen wie Religion und Theologie. Der mythische Geist reflektiert nicht. Er lebt, ohne zu zweifeln, innerhalb eines Horizonts von kulturellen Bildern, Geschichten, Ritualen und Symbolen, genau wie sich der religiöse Mensch mit der Liturgie und der Glaubensstruktur seiner Kirche oder Sekte begnügt. Der metaphysische Geist reflektiert den Mythos und versucht, ihn bewußtzumachen. Er spielt mit den Geschichten und Bildern und hebt die Grundvoraussetzungen des Lebens ins Licht des Bewußtseins. In diesem Sinne ist Metaphysik die Religion des denkenden Menschen. Anstelle von Geschichten über Helden und Schurken hat sie eine Theorie über Gut und Böse. Aber sowohl Mythos als auch Metaphysik beruhen auf einer Hingabe an eine Sicht- und Handlungsweise und sind nicht bloß spekulative Spielzeuge für akademische Köpfe.

Ob nun unsere Vorliebe und unser Temperament mehr zum mythischen oder mehr zum metaphysischen Stil tendieren, wir können nicht umhin, das Abenteuer des Glaubens auf uns zu nehmen. Da menschliche Wesen Teile eines Ganzen sind, das niemals restlos erkannt werden kann, müssen wir notwendigerweise den Sprung in den Glauben wagen. Aufgrund unserer Unwissenheit sind wir mythische oder metaphysische Tiere. Jede Vision vom Sinn des Lebens, sei sie primitiv oder wissenschaftlich, antik oder modern, geheiligt oder säkular, ist mythisch oder metaphysisch.

Im zwanzigsten Jahrhundert ist es Mode gewesen, nicht nur den Mythos zu entzaubern (oder ihn entweder Jungschen Therapeuten, Religionsgeschichtlern oder Literaturprofessoren zu überlassen, die über James Joyce arbeiten), sondern auch vorzugeben, daß vernünftige und gebildete Menschen das Hindernis der Religion und das Abenteuer der Metaphysik umgehen könnten, wenn sie sich eng an beweisbare Tatsachen und überprüfbare Hypothesen halten. Als wir unsere Überzeugungen und Hoffnungen auf


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Gewißheiten und Beweise reduzierten, haben wir uns selbst verarmt und getäuscht. Der moderne Antimythos reduzierte das menschliche Leben auf eine Geschichte ohne Pointe, auf ein von einem Idioten erzähltes Märchen, auf einen Prozeß ohne Zweck, auf eine Reise ohne Ziel, eine Affäre ohne Höhepunkt (Godot kommt nie), auf ein zufälliges Zusammenprallen geistloser Atome. Das wenige Wissen, das wir vor unserer Tatsachenflut gerettet haben, scheint uns nur Verzweiflung und Nihilismus zu lassen. Da es keinen intrinsischen Lebenssinn gibt, sollten wir einen Sinn konstruieren, für den es zu leben lohnt: einen Zweck. Unsere kleinen Ideologien haben unsere großen Entweihungen hervorgebracht: Konzentrationslager, Gulags, wiederkehrende Massenvernichtungen im Namen irgendeines nationalistischen Idols. In dem Prozeß haben wir kaum bemerkt, daß Ökonomie, Technologie und Politik der neue Mythos und die neue Metaphysik geworden sind. Wir haben Mythos und Metaphysik nicht umgangen, sondern nur neue, bedeutungslose geschaffen.

Metaphysik und Mythenbildung sind ein Spiel, in dem ein Ganzes aus Teilen geschaffen wird, eine Art und Weise, die Fragmente des Lebens in eine Vision von Vollkommenheit zu zwingen. Beim Spielen des Spiels nehmen wir irgendeinen wichtigen Aspekt der menschlichen Erfahrung und lassen der Phantasie freien Lauf. Nehmen wir an, die Welt sei wie ein großes Tier, eine Pflanze, eine Stadt, ein Artefakt, ein Geschäft, eine Schlacht, ein Zufall, ein Traum, eine Maschine, ein Wettstreit oder eine Liebesbeziehung. Jeder spielt das Spiel, bewußt oder unbewußt. Es gibt keine Möglichkeit, nicht mitzuspielen. Da wir niemals das Ganze sehen; -es sei denn durch die verzerrte Brille irgendeiner begrenzten Analogie, ist jede Perspektive mit Torheit durchsetzt. Logische Positivisten und Theosophen müssen gleichermaßen vor jeder Beweisführung entscheiden, wie sie diese geheimnisvolle, nicht entzifferbare Welt interpretieren und wie sie in ihr leben wollen. Und jeder Beobachter hat Vorurteile, ist ein Teil der beobachteten Welt, ein Anwalt besonderer Interessen. Kein philosophischer Astronaut ist in der Lage, den Kosmos zu verlassen, um mit Gewißheit zu beurteilen, ob die Welt aus Atomen besteht oder ob sie in den weichen Armen der Aphrodite ruht. Das ist die einzigartige Welt jedes einzelnen von uns: Jeder Mensch muß ein einziges Leben auf Macht, Erkenntnis, Liebe, Arbeit, Unterwerfung, Trost, Abenteuer oder auf irgendeinen Clangott setzen.


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Der westliche Mythos und die erotische Vision: Eine Vorschau 

Das erotische Verhältnis zur Maschine diktiert die Logik des westlichen Mythos. Hier sind seine Regeln und Glaubensartikel:

1. Die Realität ist quantifizierbar, meßbar, unendlich teilbar in grundlegendere und realere Einheiten.

2. Alles, was sich messen läßt, ist kontrollierbar. Alle Probleme sind lösbar.

3. Fragen, die man nicht beantworten kann, sollten nicht gestellt werden.

4. Wissen und Macht sind die beiden Säulen der menschlichen Identität.

5. Alles, was wir wollen können, können wir auch erreichen.

6. Zeit ist chronologisch, meßbar, quantitativ (wie Geld) und kann gespart oder verschwendet werden.

7. Alle Ereignisse sind folgerichtig; alle Ursachen liegen in der Vergangenheit; die Gegenwart ist die Wirkung aller vergangenen Ursachen; die Zukunft wird die Wirkung aller gegenwärtigen Ursachen sein.

8. Die Realität ist materiell, sie gehorcht Gesetzen und ist verstehbar.

9. Geist ist der Name für die am höchsten organisierte Materie.

10. Wissen besteht aus geordneten Fakten.

11. Menschliches Verhalten sollte von der Vernunft beherrscht werden.

12. Gefühl ist irrational; Sinneswahrnehmung, Intuition und Empfinden sind primitive, unreife Formen des Denkens.

13. Die vernünftigsten, mächtigsten und kontrolliertesten Individuen sind am wertvollsten und sollten eine Gesellschaft regieren.


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14. Die Natur ist das unvollkommen geformte Chaos, das durch menschliche Ziele transformiert werden sollte (d.h. sie existiert, um Rohmaterial bereitzustellen).

15. Frauen sind weniger aggressiv, weniger rational, weniger wertvoll als Männer und müssen, wie die Natur, kontrolliert und von verantwortungsvollen Positionen ausgeschlossen werden.

16. Kindererziehung, Hausarbeit und Beziehungsarbeit sind weniger wichtig als produktive Arbeit.

17. Wohlstand wird geschaffen, indem man natürliche Rohstoffe zu Fertigprodukten verarbeitet; die Güterproduktion ist die Grundlage der Wertschöpfung.

18. Geld ist das Maß aller Werte.

19. Das menschliche Leben ist um die Marktgesetze herum organisiert.

20. In den letzten Dingen ist die Religion durch die Ökonomie ersetzt worden.

21. Die Hauptmotivation (Eros) des Menschen besteht darin, zu akkumulieren und zu konsumieren.

22. Bedürfnisse sind unbegrenzt manipulierbar.

23. Werbung und Propaganda sind die wichtigsten erotischen Wissenschaften der modernen Zeit.

 

Im westlichen Mythos sind es letzten Endes Wettbewerb oder Krieg, die die Welt in Gang halten. Wie Heraklit sagte, ist Krieg der Vater aller Dinge. Im Innersten besteht die Realität aus Konflikten: Jehova bekämpft die Göttin; der Mann strebt danach, die Natur, die Frau und seine eigenen undisziplinierten Gefühle zu beherrschen. Das Schwert und die Maschine sind die Mittel der Unterdrückung. Im Rahmen dieses Mythos wird Liebe als die künstliche Einschränkung unserer natürlichen Impulse zu zügelloser Aggression verstanden. Sie ist ein kulturell erfundenes Gefühl, das uns davon abhalten soll, einander umzubringen, so daß der Stamm überleben kann. Der Gesellschaftsvertrag ist eine Einigung zwischen Konkurrenten, üie alle danach streben, das Eigeninteresse zu maximieren und das Gemetzel durch Zivilisiertheit einzudämmen. Die Beziehung zwischen Mann und Frau ist ein Waffenstillstand im Krieg der Geschlechter. Heutzutage erfordern die Sexualität oder


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der Geschlechtsakt, wie andere Fabrikationsformen, die Beratung durch technologische Experten, Ärzte, Psychiater und Moralisten. Im Gegensatz dazu hält der erotische Mythos daran fest, daß Liebe nicht primär etwas ist, das wir machen oder tun, sondern etwas, das wir sind. Wir definieren sie nicht so sehr, wie sie uns definiert. Bevor sie sich jemals als eine Tätigkeit oder ein Verhalten manifestiert, ist Liebe jener Impuls, jene Motivation oder Energie, die uns mit dem ganzen Gewebe des Lebens verknüpft. Eros ist das Verbindende in der ökologischen Gemeinschaft, innerhalb derer wir leben. Er ist nicht primär ein Gefühl, eine Entscheidung oder das Ergebnis eines Willensakts. Er ist die wechselseitige Verbindung zwischen Zelle und Zelle, Tier und Umwelt, ohne die es uns nicht geben würde. Die vorbestimmte Anziehungskraft des Penis für die Vagina, die wir als Sexualität zelebrieren, ist nichts als ein Sonderfall eines universellen Prinzips. Daher ist die Untersuchung der Liebe nicht primär eine soziologische, psychologische oder biologische Angelegenheit. Sie ist Sache der Ontologie — der Untersuchung des Seins.

In der erotischen Vision ist Liebe, wie Paul Tillich sagt, "der ontologische Drang in Richtung auf die Wiedervereinigung des Getrennten". Die Liebe ist eher Voraussetzung als Schlußfolgerung unserer Suche. Die erotische Vision stützt sich auf die Annahme, daß wir unsere Conditio nur verstehen können, wenn wir bei der Liebe als dem zentralen Baustein anfangen, mit dem wir eine Metaphysik begründen können. Wir argumentieren nicht auf die Liebe hin, sondern von der Liebe aus. Gabriel Marcel formuliert die Grundlage einer erotischen Metaphysik:

Liebe, im Unterschied zu Begehren oder im Gegensatz zu Begehren, Liebe, aufgefaßt als die Unterordnung des Selbst unter eine überlegene Realität, eine Realität... die wahrhaftiger ich ist, als ich es selbst bin — Liebe als das Durchbrechen der Spannung zwischen dem Selbst und dem Anderen erscheint mir das zu sein, was man als wesentliche ontologische Gegebenheit bezeichnen könnte5).

Die Philosophie, so Marcel, darf nicht beim künstlich isolierten Ego beginnen, bei dem denkenden oder zweifelnden Selbst Descartes', sondern bei dem Selbst, das innerhalb einer intersubjektiven Gemeinschaft existiert, einem Selbst, das bereits mit anderen Wesen verknüpft ist.


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In der Tradition der erotischen Metaphysik, die auf Augustinus und Platon zurückgeht, wird der Liebe die Priorität vor der Erkenntnis zugewiesen. Wir lieben, um zu verstehen. Die Aufgabe einer erotischen Metaphysik liegt nicht darin, die Existenz der Liebe nachzuweisen, sondern die Grundlage unseres Seins als menschliche Wesen zu formulieren, Worte, Bilder, eine Stimme für unsere schweigende Erkenntnis bereitzustellen, womit wir den erotischen Impuls entziffern können, der in unseren Genen und in der Intentionalität des Lebens selbst kodiert ist.

Die Tradition der erotischen Metaphysik ist beständig. Als der Mensch anfing, abstrakt zu denken, schien es ihm, als sei die Erfahrung von Liebe, Sexualität, Fruchtbarkeit der beste Schlüssel zum Verständnis der Natur der Dinge. Vulva und Brust waren die frühesten Symbole der erotischen Vision in neolithischen Zeiten, als Gott eine Frau war, die Mutter Erde hieß. Piaton und Aristoteles sahen beide den Eros als den Beweger der Sterne, der Samenkörner und der Menschen. Später definierten christliche Theologen die höchste Realität - Gott - als Liebe. Im chinesischen Denken sollte das Wechselspiel zwischen Yin und Yang, den weiblichen und den männlichen Energien, für alle Veränderungen verantwortlich sein. Das ganze System des Kundalini-Yoga, wie es sich im Tantrismus findet, stellte die erotische Energie des Universums als eine Schlange dar, die sich an der menschlichen Wirbelsäule hinaufwindet und die sieben Körperzentren durchströmt. Hegel lieferte im neunzehnten Jahrhundert die vollständigste Darstellung der erotischen Tradition, indem er die Realität als Geist definierte und Geist als "Liebe, die sich selbst genügt". Herbert Marcuse sah jenseits der Entfremdung der westlichen Kultur die Möglichkeit einer Utopie, in welcher die Maschinen der Sache des Eros eher dienen würden als der des Thanatos (Tod). Norman O. Brown hat der erotischen Vision in seinem Love's Body ihre phantasievollste zeitgenössische Darstellung gegeben, wobei er zeigt, daß Phantasie, Sprache und Dichtung den menschlichen Leib mit dem Wesen der Liebe erfüllen. Keine auch noch so flüchtige Skizze wäre vollständig, ohne anzuerkennen, daß die heutige Frauenbewegung mit kräftiger Stimme für die erotische Vision kämpft. Susan Griffin zeigt in Woman and Nature und Pornography and Silence, daß die Spaltungen, die wir vorgenommen haben zwischen Geist und Materie, Kultur und Natur, Mann und Frau, Sex und Zärtlichkeit den Kern des pornographischen Denkens ausmachen. Wir sind nur zu heilen, wenn wir Wissen und Eros, den Intellekt und das sinnliche Wissen des Körpers wiedervereinigen.


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Von erotischer Metaphysik zu erotischer Psychologie

Dieses Buch folgt den Linien der existentialistischen Philosophen von Sokrates bis Heidegger und Marcel, die gesagt haben, daß unser primärer Zugang zum Sein, zu Gott oder zur Realität über die Untersuchung unseres eigenen Daseins zu erfolgen hat. Wir lesen die Weltgeschichte unausweichlich durch die Linse unserer eigenen Autobiographie. Die menschliche Psyche ist der Weg zu allem, was wir über das Jenseits wissen können. Daher können wir nur in dem Maße wissen oder darauf vertrauen, daß das Universum freundlich ist, wie wir uns selbst als Wesen erkennen, die durch den Impuls, Liebende zu werden, motiviert sind.

Einer der Gründe, warum die meisten Untersuchungen über Liebe so wenig erhellend sind, liegt darin, daß sie nur eine einzige Bedeutung von Liebe oder Sexualität erforschen wollen. Um zu verstehen, welche Rolle die Liebe in der menschlichen Psyche (und darüber hinaus) spielt, müssen wir die Vielfältigkeit der Liebe betrachten, wie sie sich während der gesamten Lebenszeit eines Menschen entfaltet. Ein menschliches Wesen ist, wie Heidegger sagte, über die Zeit hingespannt. Liebe ist für das neugeborene Kind etwas anderes als für den Greis. Wollen wir also den Eros als die Urkraft der Psyche verfolgen, die wandelbaren Imperative, Impulse und Motive untersuchen, die jede Phase im Lebenszyklus beherrschen, dann brauchen wir so etwas wie einen Zeitrafferfilm über eine ganze Lebenszeit. Unsere Definition des Selbst oder der Liebe läßt sich nur in Form einer Geschichte ausbuchstabieren: Man kann die Natur des Menschen nur definieren, wenn man die Geschichte unserer Entwicklung nacherzählt, wir müssen die Lüste und Sehnsüchte untersuchen, die uns auf verschiedenen Etappen des Lebensweges charakterisieren.


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Die Methode dieses Buchs besteht darin, einen Lebensplan zu entwerfen, der die Wandlungen der Liebe im Verlauf einer idealen Lebenszeit nachzeichnet. Unsere Aufgabe ist, die Umrisse einer erotischen Entwicklungspsychologie zu skizzieren. Unser Zeitraf-ferportrait wird eine Lebenszeit, ziemlich willkürlich, in fünf Phasen unterteilen: Das Kind, der Rebell, der Erwachsene, der Gesetzlose und der Liebende. Durch Betrachtung der Umgangsweisen, Dispositionen und Entwicklungskräfte, die jede dieser Phasen beherrschen, werden wir eine Geschichte entfalten, die vermuten läßt, daß das Ziel, ein Liebender zu werden, in den menschlichen Genen kodiert ist, daß die ursprüngliche Realität, die uns vor allen kulturellen Mythen formt, Liebe ist.

Die Umrisse der folgenden erotischen Entwicklungspsychologie verdanken der Vision des menschlichen Lebens, wie sie sich in der tantrischen Vision des Kundalini-Yoga, in Bunyans Pilgrim's Progress, Daumais Mt. Analogue, der Reise des Helden, Kierkegaards Die Krankheit zum Tode und Norman O. Browns Love's Body findet, mehr als der zeitgenössischen Ansicht, die in Werken wie Eriksons Identität und Lebenszyklus, Sheehys Passages oder Levinsons The Seasons of a Man's Life zum Ausdruck kommt. Mein Interesse ist normativ, nicht deskriptiv, eher philosophisch als empirisch. Ein kurzer Blick auf das blutige Gesicht der menschlichen Geschichte und auf unseren gegenwärtigen Gewaltrausch reicht hin, um den Anspruch, daß menschliche Wesen tatsächlich durch Liebe motiviert sind, als Unsinn zu entlarven.!

Ein normativer Zugang fragt: Was ist das menschliche Potential? Worin besteht die Chance des menschlichen Lebens? Um eine Analogie zu verwenden: Empirische Untersuchungen von Entwicklungsstufen sind wie ein Bericht über den körperlichen Gesundheitszustand, der enthüllt, daß 63,2% aller Menschen regelmäßig an Erkältungen, Übermüdung und depressiven Anfällen leiden. Eine normative Studie befaßt sich mit der Idealgesundheit. Wer sind die Leute, die nicht krank werden, die begeisterungsfähig bleiben und Energie ausstrahlen, die zwar traurig, aber nicht depressiv sein können? Wie arbeitet das Immunsystem bei optimaler Gesundheit?


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Diese Fragen sind zentral für mein Nachdenken über psychosomatisch-spirituell-politisch-ökologische Gesundheit: Welche Bedürfnisse und Motive charakterisieren die verschiedenen Lebensphasen? Welchen Wandel durchläuft die Liebe, wenn ein Kind zum Rebell und dann zum Erwachsenen wird? Gibt es Formen des Liebens, die den normalen Erotikquotienten (EQ) des Erwachsenen überschreiten? (Sofern das Streben nach Erkenntnis für den westlichen Mythos zentral ist, sind wir daran gewöhnt, den Intelligenzquotienten zu messen; und wir erkennen gewohnheitsmäßig die Idee an, daß es Menschen mit überlegenem IQ gibt. Aber die Möglichkeit eines überdurchschnittlichen EQ - Erotikquotienten - haben wir wenig bedacht und weniger noch untersucht. Vielleicht fürchten wir die Forderung, die sie uns stellen würde, nämlich liebevoller zu werden.)

Die Methode dieses Buchs ist nicht nur biographisch, sondern auch autobiographisch. Mein Zugang zum Sein erfolgt über die Psyche: Mein Zugang zur Psyche erfolgt über meine Psyche. Die modernen Theorien über die Phasen des Lebens, wie die mystische Darstellung vom Aufstieg des Bewußtseins, die wir im Tibetanischen Totenbuch finden, oder Dantes Inferno und Paradiso, sind ganz persönliche Visionen. John Bunyans Pilgrim's Progress und Lawrence Kohlbergs Stufen der moralischen Entwicklung sind beide verkleidete Formen der Autobiographie. Keines von beiden läßt sich als universelle Wahrheit begründen. Wenn ich darauf vertraue und mir Mühe gegeben habe zu zeigen, daß die Intention, ein Liebender zu werden, tief in die menschliche Psyche eingraviert ist, handelt es sich dabei fraglos um meine eigene Vision, meine apologiapro vita sua, meinen persönlichen Versuch, mein Leben zu verstehen und zu feiern. Bei der Ausformulierung der Entwicklungsstufen habe ich mich einer Vielzahl von Zeugnissen aus unterschiedlichen Kulturen und Zeiten bedient. Oft greife ich aber auch auf meine eigene Erfahrung zurück, weil es nur eine einzige Fallgeschichte der psychischen Entwicklung gibt, die ich über ein halbes Jahrhundert mit täglichem intensiven Studium verfolgt habe - meine eigene.

f Meine Erfahrung mit der Liebe teile ich nicht als Fachmann mit, sondern als Amateur, nicht, weil ich die Antworten kenne, sondern weil sich die Frage in mir festgesetzt hat: Ein Jahrzehnt lang habe


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ich mich gefragt, was wir Modernen tun müssen, um eine leidenschaftliche Lebensweise wiederentdecken zu können. Jahrelang plante ich, ein Buch über Liebe und Sex zu schreiben. Irgendwann dachte ich, ich sei reif genug, um die Besteigung des Mt. Eros wagen zu können. Aber nach siebzehnjähriger Ehe, zwei Kindern, einer Scheidung, fünfjähriger "Erkundung meiner Sexualität" (wie man in Kalifornien sagt), einer zweiten Ehe und einem "Herbstkind" bin ich noch genauso fasziniert von der Vision, ein Liebender zu werden, wie eh und je, aber immer noch kein Fachmann. Nachdem ich jahrelang angestrebt habe, ein Liebender zu werden, verfüge ich jedoch über gewisse Einsichten in Liebeshemmnisse, romantische und antiromantische Illusionen, Sackgassen und Prokrustesbetten. Als Grünschnabel weiß ich wenig über Höhenflüge, aber ich kann einige Ratschläge dazu anbieten, wie man mit den Flügeln schlägt und mit minimalen Verletzungen aus großen Höhen fällt. Häufige Mißerfolge können ein Stück Weisheit hervorbringen. Ich fühle mich ganz wie jene Leute in Indien, die zur Universität gegangen sind, aber ihr Examen nicht bestanden haben, und sich vorstellen als "Surgit Singh, M. A. (Durchgefallen)". Die Auflistung der menschlichen Erfahrungsbereiche, die im Widerspruch zur Liebe stehen (die Perversionen des Besitzes, der Paranoia, der Furcht, des Hasses, des Machtstrebens und der Selbstzentrierung), hat mir zumindest geholfen, das Gelände zu sondieren, auf dem wir die Bedeutung der Liebe aufspüren können. Ich werde also häufig die erste Person Singular verwenden, aber nicht als die Stimme der Autorität, sondern um zu sagen: Hier ist, was ich bis jetzt auf meiner eigenen Reise gefunden und gesehen habe. Das Portrait eines vollendeten Liebenden zeichne ich nicht als philosophisches Selbstportrait, sondern als den Versuch, ein flüchtiges Bild von der Hoffnung zu gewinnen, die mich ködert, ich selbst zu werden.


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Warnung: Theorien können Ihre psychische Gesundheit gefährden

Philosophen, Psychologen, Soziologen und besonders Ökonomen sollten gezwungen werden, ihre Theorien mit Warnschildern zu versehen. Jede Theorie wird in der Absicht erdacht, zur Klärung der Vision beizutragen. Verdunkelt sie, dann sollte man sie aufgeben. Leider neigen wir eher dazu, Theorien in Glaubensbekenntnisse zu verwandeln, als sie Spielzeuge bleiben zu lassen, die uns helfen, Muster zu erkennen.

Faire Warnung. Die Vorstellung vom Lebensweg als einer Stufenfolge beruht auf einer der ältesten religiös-psychologischen Metaphern — das Leben als Reise J

lat. Gibt es auf dem Lebensweg Stufen, dann muß es auch eine Reise geben, die man zurücklegt - einen Punkt, einen Zweck, einen Bestimmungsort, auf den sich der Prozeß zubewegt. Sowohl Passages als auch Seasons ofa Man's Life sind letzten Endes deprimierend, da sie die Logik ihrer eigenen Metapher nicht ausführen. Sie beschreiben Stufen und Bewegungen, die keine Pointe haben. Beide verlieren sich und finden keinen kreativen Zugang zum Alter, weil sie sich weigern, irgendein Ziel, ein Telos im Greisenalter zu suchen, das als ein Triumph der menschlichen Kraft und nicht als ein Niedergang der Vitalität anzusehen wäre. Wenn wir die Idee von Stufen und Reise verwenden, müssen wir der Logik unserer Metaphern folgen und fragen, wohin und warum wir reisen. Ist das Leben eine Reise, dann kann der Tod zwar das Ende des Lebens, aber nicht sein Telos sein. Die These dieses Buchs lautet, daß die Entfaltung des Eros die menschliche Reise gestaltet. Wir altern, um Liebende zu werden.

Die Metapher der Reise hat jedoch Implikationen, vor denen wir uns hüten müssen. Reise erinnert, wie Etappe, an eine lineare Bewegung, eine Abfolge von vorher und nachher. Das bringt uns in die Versuchung, die Kindheit vom ersten bis zum zwölften, die Jugend vom dreizehnten bis zum zwanzigsten Lebensjahr anzusetzen und so weiter. Daraus folgt im moralischen Sinne, daß das Leben einer Annäherung an ein Ziel oder der Besteigung eines Bergs gleicht. Zu gegebener Zeit kommen wir dort an, am Ende. Dann werden wir abgeschlossen, vollständig, vollkommen sein. In gewissem Sinne ist das Leben jedes einzelnen linear. Zwischen Geburt und Tod bewegen wir uns auf den Neunzigsten zu, wie ein Pfeil in eine Richtung fliegt. Daher "sind lineare Denkweisen geeignet, vieles vom Leben der Psyche zu beschreiben. Aber in den Tiefen des Unbewußten gibt es keine geraden Linien, keine Zeit, kein Vorher und Nachher.


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Erinnerung und Vorahnung rücken zusammen. In Träumen und Phantasien sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig präsent. Wenn wir an diese zeitlose Dimension unseres Seins denken, ist der Kreis als Bild besser geeignet als die Linie. Ist das Leben eine Reise, dann keine Pilgerfahrt, sondern eine Odyssee, in der man die Heimat verläßt und wieder zu ihr zurückkehrt. Wir gehen in die Zeit hinaus und kehren immer wieder zum selben Ort zurück. Obwohl wir, wie T. S. Eliot zu bedenken gibt, nach der Rückkehr den Ruhepunkt kennen, den wir besser nie verlassen hätten, erscheint uns die Heimat fremd. Der Kreis deutet an, daß es im menschlichen Leben keinen Fortschritt, vor allem keinen moralischen Fortschritt gibt. In den Tiefen der Psyche eines Heiligen spielen noch der Mörder und der Wahnsinnige ihre Rolle. Die ursprünglichen Impulse zum Guten und zum Bösen sind uns immer so nahe wie die archaische Dimension unseres eigenen Unbewußten. In diesem Sinne gibt es keinen Aufstieg, noch nicht einmal in Form einer Spirale, keine höheren und niederen Tugenden, keinen Fortschritt auf dem Weg, ein Liebender zu werden. Ein Kind kann liebevoller, stärker durch den Eros motiviert, offener sein als ein Erwachsener. Bei unserer Reise kann es sich darum handeln, Rückwege zu dem zu finden, was wir einst wußten, aber vergessen haben. In der platonischen Tradition ist Eros ein Rückblick oder eine Wiedererinnerung des Selbst, ein Bemühen (wie auch Zen sagt), das Gesicht zu entdecken, das wir vor unserer Geburt hatten.

Eingedenk des Werts und auch der Gefahr von Metaphern der Entwicklung und der Reise habe ich den Stufen des Kindes, des Rebellen, des Erwachsenen, des Gesetzlosen und des Liebenden keine chronologischen Daten zugeordnet. Es gibt offenbar Fortschritte des Bewußtseins, und wir legen die Kindlichkeit weitgehend ab, wenn wir irgendwann in den Zwanzigern erwachsen werden. Aber die Motive des Kindes wirken als infantile Gefühle noch während der zweiten Lebenshälfte lange in uns weiter. Entsprechend beseelt die Intuition des Liebenden auch schon das Kind und zieht den Erwachsenen über die Grenzen der Stammesidentität hinaus.

Ich will versuchen, die Metaphern für die erotische Vision ins Gleichgewicht zu bringen, und schlage folgende Möglichkeiten für das Nachdenken über die "Stufen" des Lebens vor:

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Alle Karten des menschlichen Lebens sind aus Metaphern zusammengesetzt. Alle Metaphern sind enthüllend und ungenau. Um von den Erfahrungen anderer zu profitieren, müssen wir uns in der Kunst üben, mit Metaphern zu spielen, Bilder zu übersetzen, auf die Bedeutung zu lauschen, die unterhalb des Un-sinns von Geschichten oder Mythen liegt. Bewußtsein ist Poesie. Wir vermischen unsere Metaphern, um Orthodoxie, Buchstabengläubigkeit und Tyrannei zu verhindern.

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 Sam Keen 1983