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Einleitung 

 

 

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Es war einmal ein unwandelbarer Gott, der war Herrscher über eine geordnete Welt, in der Veränderungen so angenehm verliefen, daß sie Fortschritt genannt wurden. Für alles gab es einen Ort und eine Zeit. An sechs Tagen wurde gearbeitet und am siebten Tag der Sinn der Arbeit erklärt. Bestimmte Dinge wurden am Sonntag nicht getan.

Es gab auch Autoritäten. Pfarrer und Priester sprachen ohne Zögern von Gott und seinen Forderungen. Vater und Mutter sagten uns, was brave Jungen und Mädchen zu tun hatten (und meistens nicht taten).

In der Zeitung stand nur die Wahrheit. Uncle Sam sorgte für die Sicherung der Demokratie in der Welt. Etwaige Lücken zwischen den ernannten Autoritäten füllten Vernunft und gesunder Menschenverstand.

Doch dann geschah etwas. Manche sagen, Gott sei gestorben. Wir wissen nur soviel: Alles das, was festgefügt gewesen war, brach auseinander. Chaos herrschte, und die Welt der Moral wirkte wie ein Möbelgeschäft nach einem Hurrikan. Überall waren die Autoritäten in Frage gestellt, und selbst in höchsten Kreisen wurden Betrüger und Hochstapler entdeckt. Die allgemeine moralische Übereinstimmung löste sich in Pluralismus auf. Die Glaubwürdigkeit der Offenbarung und mit ihr die ganze gewaltige Struktur organisierter Religion wurde allmählich durch empirische und pragmatische Denkgewohnheiten zersetzt.

Uncle Sam verlor jeden Anspruch auf die unbedingte Loyalität seiner Bürger wegen seines Verhaltens in Vietnam sowie seines Liebäugelns mit Antiballistik­raketen und Verteidigungs­strategien, die den millionenfachen Tod von Menschen in Kauf nahmen. Auch das Ansehen von Lehre und Forschung bekam Flecken, als sich herausstellte, daß die Universitäten wie alle anderen Institutionen ihre Folgerungen und Schlüsse nach den Bedürfnissen ausrichteten. Zu allem Unglück sah es dann auch noch ganz so aus, als würden Jungen und Mädchen, die taten, was Vater und Mutter sagten, eher mit einer Neurose als mit Glückseligkeit belohnt.

Worauf kann man sich also noch verlassen? Vermutlich ist sogar diese Geschichte über den Tod der Autoritäten falsch. Wir können nichts mit Sicherheit wissen, weil es keine Autoritäten gibt, die es uns sagen könnten. Wenn die Götter in wider­sprüchlichen Zungen reden oder stumm bleiben, müssen die Menschen entscheiden. Doch wenn die Autorität zusammen­gebrochen ist, wie soll der Einzelne die Prinzipien eines zuverlässigen Lebensstils erkennen? Anhand welcher Kriterien soll er überhaupt entscheiden, was ein <zuverlässiger> Lebensstil ist?

Von dieser Krise, von diesem Bestreben gehen diese Essays aus.

Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob die Es-war-einmal-Geschichte über Leben und Tod der Autoritäten zutrifft. Vielleicht trage ich zu dem historischen Prozeß lediglich eine individuelle Erfahrung bei. Ich weiß jedoch, daß ich von Autoritäten enttäuscht wurde, denen zu vertrauen mir beigebracht worden war. Und ich habe es für nötig gehalten, in den vertrauten, sinnlichen, idiosynkratischen Elementen meiner Erfahrungen nach den Fundamenten meiner Identität und Würde zu suchen.

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Ich mußte die Prinzipien erforschen, ohne die ich nicht sein konnte. Ich teile meine Überlegungen mit, da ich davon überzeugt bin, daß meine Geschichte nicht atypisch ist.

Ich, Sam Keen, habe dieses Buch geschrieben. Die Stimme, die aus diesen Essays zu Ihnen spricht, ist meine Stimme. Es ist nicht die Stimme der Philosophie, der Theologie oder die des Menschen von heute. Ich biete eine Reihe persönlicher Betrachtungen zu Themen, Problemen und Krisen an, mit denen ich mich herumzuschlagen hatte. Die Schlüsse, zu denen ich gelangt bin, sind keineswegs zwangsläufig. Sowohl meine Zweifel als auch meine Gewißheiten sind vielleicht zu eng mit unverwechselbaren Elementen meiner Autobiographie verknüpft, um für das verschwommene Wesen mit der Bezeichnung Mensch von heute als typisch zu gelten. Meine Gewißheiten entstammen der Tatsache, daß ich einige Elemente eines Lebensstils herausgefunden habe, die für mich befriedigend sind. Meine Sicherheiten haben jedoch keinerlei Autorität — es sei denn, Sie kommen zu den gleichen Schlüssen und stimmen mir zu. So war und ist es bei mir. Wie es bei Ihnen ist, kann ich nicht sagen. Dennoch möchte ich Sie auffordern, das <ich> in diesen Essays durch ein <wir> zu ersetzen, wenn Sie sich mit mir in Übereinstimmung befinden.

Es bedarf einer gewissen Disziplin, <ich> zu sagen und nicht zur Autorität des anonymen <man>, des Plurals <wir>, des mythischen <Menschen von heute>, der ehrwürdigen <christlichen Tradition> oder des populären <gesunden Menschen­verstandes> Zuflucht zu nehmen. Und der Verzicht auf ausführliche Fußnoten verlangt mehr als nur ein bißchen Mut von jemandem, der eine akademische Ausbildung genossen hat. 

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Beim Schreiben dieser Essays empfand ich zunehmend das Bedürfnis, in der ersten Person Singular zu schreiben, mich nicht hinter stilistischen Tricks zu verstecken, die den Eindruck vermitteln sollen, hinter den Aussagen stehe eine Autorität und ein Orakel, kein ganz normaler Mensch. Meine Disziplin und mein Mut haben mich oft im Stich gelassen. Als Einzelwesen zu schreiben, die Verantwortung für alle getroffenen Feststellungen zu übernehmen, erfordert eine größere Sensibilität (das heißt Bescheidenheit) und Selbstgewißheit, als ich besitze. Mein Versagen ist jedoch ein wichtiger Bestandteil des Prozesses, den diese Essays veranschaulichen. Daher habe ich die ersten Essays nicht umgeschrieben, um jene Worte und Absätze zu eliminieren, die von einem anonymen und abgehobenen Autor zu stammen scheinen.

Es könnte hilfreich sein, ein paar Worte über das Themengebiet dieses Buches zu verlieren. Die Fragen, die mich beschäftigten, konzentrieren sich auf einen Bereich, in dem sich Theologie, Philosophie, Psychologie und Politologie überschneiden. Den Bereich kann ich mit Hilfe einer Analogie deutlich machen.

 

Es gibt eine Pilzgattung — Marasmius oreades —, die sich auf eine für Experten der Geometrie höchst befriedigende Weise verhält. Sie pflanzt sich in Kreisen fort. Im Rasen, auf Weideflächen umzingelt der Pilz eine Grasfläche mit einem Ring gelber Organismen. Die augenfällige Anordnung dieser Pilze ist so adrett und einnehmend, daß sich selbst Plato genötigt gesehen hätte, einen zweiten Blick auf diese Brutstätte zu werfen. Wie Wißbegierige herausgefunden haben, sind es in der Tat Bestandteile eines einzigen Keims, mit dem die Pilze durch unterirdische Fasern — von den Botanikern Myzelien genannt — verbunden sind. Ihr Zentrum ist tatsächlich substantiell, allerdings, wie die Leidenschaft der Geometrieliebhaber, nicht auf den ersten Blick sichtbar.

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Gräbt man ein wenig, so kommt es zum Vorschein. Es sollte nicht gering geschätzt werden, daß seine Geometrie — wie Ihre und meine — aus Lehm geschaffen ist. Nichtsdestotrotz ist das Myzel das greifbare Symbol dessen, was Menschen ein Prinzip nennen. Die Beziehung der Prinzipien zueinander bringt Verständnis und Wissen. Sollte sie dem Auge nicht sichtbar sein, lohnte es sich im Interesse des Wissens durchaus, ein wenig zu graben.1

Diese Essays sind eine Erforschung der Myzelien. Sie sind philosophisch im klassischen Sinn, da es ihnen darum geht, unter die Oberfläche zu dringen und die Fundamente oder Prinzipien deutlich zu machen, die das menschliche Leben fördern, vereinen, erklären, auszeichnen, schöner machen und rechtfertigen. Ihre autobiographische Befangenheit weist ihnen einen Platz in der Philosophieströmung zu, die Existentialismus genannt wurde.

Es wäre auch keineswegs abwegig, die Essays als Untersuchungen der Möglichkeit anzusehen, Theologie nach dem >Tod Gottes< zu betreiben. Ich kann kaum Unterschiede zwischen Philosophie und (anständiger) Theologie erkennen. Wenn Theologie den Anspruch auf Offenbarung aufgibt und aufhört mit institutioneller Autorität zu verkünden, wird sie ein Zweig der Philosophie; und wenn Philosophie Prinzipien oder Strukturen erkennt, die die Vorbedingungen menschlicher Ganzheit sind, entdeckt sie das Geheiligte. Eine phänomenologische Annäherung zeigt, daß es das Geheiligte ist, das begründet, stützt und erhält. Daher ist eine Philosophie, die das Myzel erforscht, auch eine unterirdische Theologie.

(Nur eine unterirdische Theologie ist radikal und erdverbunden genug, um die Untergrundkirche erhalten zu können.) Wenn also dieses Buch theologisch ist, dann in dem Sinne, daß es sich eher mit dem Naheliegenden als mit dem Unnahbaren beschäftigt, mehr mit dem Einheimischen als mit dem Importierten, mehr mit dem Alltäglichen als mit dem Ungewöhnlichen, mehr mit dem Natürlichen als mit dem Okkulten, mehr mit dem Humanistischen als mit dem Kirchlichen, mehr mit dem Geheiligten als mit Gott.

Der tanzende Gott, auf den sich der Titel dieses Buches bezieht, ist weder Apoll noch Dionysos. Er ist eigentlich namenlos und muß es vielleicht auch bleiben. Meine (Ihre?) einzige Gewißheit ist die, daß er mich (uns?) ebenso oft zur Disziplin wie zur Spontanität anregt, zur Entschlossenheit wie zur Ekstase, zur Überlegung wie zur Unmittelbarkeit. Das Geheiligte erschüttert stets alle unsere Kategorien, mit deren Hilfe wir das Geheiligte begreifen sollen. Und so setzt sich der Tanz fort. Das ist Leben. Und dafür möchte ich dieses Trankopfer darbringen.

Schließlich möchte ich der American Association of Theological Schools, dem Louisville Presbyterian Seminary, dem Western Behavioral Sciences Institute sowie dem Center for Studies of the Person für Darlehen, Stipendien und andere — materielle und immaterielle — Formen der Unterstützung danken, die es mir möglich gemacht haben, dieses Buch zu schreiben.

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1)  John F. A. Taylor »Politics and the Human Covenant«, Centennial Review 71, Nr. 1 (1962), Seite 1.

 

 

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www.detopia.de

To A Dancing God by Sam Keen, California