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2. Der ethischen Perspektive muß eine neue Dimension hinzugefügt werden

Deutsche Zeitschrift für Philosophie, DZFPH
Das Gespräch führten M. Dammaschke, H. Gronke und C. Schulte.

 

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Zeitschrift - Sehr geehrter Herr Prof. Jonas, in Deutschland geboren, haben Sie hier studiert. 1933 mußten Sie vor den Nationalsozialisten emigrieren, Sie gingen nach Palästina, wurden nach Ausbruch des 2. Weltkriegs mit britischem Paß Angehöriger einer Jüdischen Brigade, kehrten mit den über die Faschisten siegreichen alliierten Truppen nach Deutschland zurück, danach lebten Sie in Israel, gingen 1949 nach Kanada und sechs Jahre später nach New York. Nun sind Sie, der große jüdische Denker und Weltbürger zugleich, erstmals ins wiedervereinigte Deutschland gekommen, in ein Land, in dem Ost und West mit ihren unterschiedlichen Kulturen aufeinandertreffen, und das zugleich voller sozialer Spannungen ist. Was empfinden Sie in dieser Situation, wenn Sie über das nachdenken, womit Ernst Bloch sein <Prinzip Hoffnung> schloß: Heimat?

Jonas Der Begriff Heimat ist für mich längst verlorengegangen. Zunächst einmal gehört dazu meine seinerzeitige Auswanderung aus Deutschland. Das Land meiner Wahl war Palästina mit der Aussicht auf einen künftigen jüdischen Staat dort, zu dem es auch gekommen ist — Israel. Dann hat mich das einfache akademische Schicksal, das heißt das Anbieten von Lehrstellungen, von Berufungen, erst nach Kanada und schließlich in die Vereinigten Staaten geführt. So kann ich nicht sagen, daß ich mich noch mit irgendeinem Land besonders identifiziere, und sagen, da habe ich Heimatgefühle.

Richtig allerdings ist eines, daß die deutsche Sprache für mich von jeher, unbeschadet alles dessen, was geschehen ist, unbeschadet von Auswanderungen und vom Wechseln meiner Gebrauchssprache, auch meiner akademischen Gebrauchssprache — erst in das Hebräische und dann in das Englische —, daß ungeachtet alles dessen Deutsch mein natürliches Medium des Ausdrucks geblieben ist. 

In meinem Privatleben zeigt sich das darin, daß ich mit meiner Frau, die auch aus Deutschland stammt — wir haben uns allerdings erst in Jerusalem kennengelernt — immer nur deutsch gesprochen habe. Mit den Kindern allerdings von Anfang an englisch, so daß es sogar quasi eine Sprachspaltung durch die Familie gibt — die alte Generation spricht unter sich deutsch, aber die Sprache der Kinder ist vollkommen Englisch; sie haben etwas Deutsch gelernt, jedoch nicht sehr viel.

Wenn Sie wissen möchten, wie ich bei dem Besuch hier gefühlsmäßig auf das reagiere, was sich inzwischen in Deutschland ereignet hat — das jüngste Ereignis der Wiedervereinigung und die damit einhergehenden Probleme —, so kann ich nur antworten: aus der Distanz eines Besuchers. Natürlich etwas mehr, weil ich viel mehr weiß von Deutschland als wenn es Italien wäre oder Schweden oder Frankreich. Insofern sind mir die Sachen auch nahe, einfach kenntnismäßig, und natürlich verknüpft sich ja sehr vieles, was ich jetzt sehe, mit Jugenderinnerungen, aber diese Jugenderinnerungen liegen 50, 60 Jahre zurück.

 

Zeitschrift - Ihr religionsgeschichtliches Werk und die Gnosisforschung haben Sie, Herr Prof. Jonas, nach dem Zweiten Weltkrieg nicht fortgesetzt. Dennoch haben Sie sich in Ihrem Vortrag "Der Gottesbegriff nach Auschwitz" wieder einem religiösen Problem zugewandt. In Form einer mythologischen Erzählung wird dort, um einen Begriff von Gott nach Auschwitz zu retten, ein Prozeß der Theo- und Kosmogonie vorgestellt, in dem Gott sich ganz in sich selbst zurückzieht und damit die Macht über die Welt dem Menschen überläßt. Nun bedeutet die Entmächtigung Gottes nicht unbedingt seine totale Ohnmacht.
Wenn man Ihren Mythos weiterdenkt, kann man sich fragen, ob dieser Rückzug Gottes in sich selbst ein irreversibler Prozeß ist, oder ob Gott sich nicht die Macht vorbehält, am Ende wieder in den Lauf der Welt einzugreifen. - Kurz: Behält Gott wie in der traditionellen Eschatologie noch die Macht, den Lauf dieser Welt zu beenden, oder liegt auch diese nur noch in den Händen der Menschen? 

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Jo: Ja, in diesem kleinen Winkel des Universums würde ich das letztere sagen. Es erscheint mir wahrscheinlicher, als daß ein jenseitiges Eingreifen erfolgt mit einem Weltuntergang. But who knows. Ich habe da keine dogmatische Ansicht kundgegeben, sondern einen Versuch gemacht, die Auschwitz-Erfahrung und ähnliche Erfahrungen vereinbar zu machen mit der Existenz eines Gottes, an der ich gerne festhalten möchte. Und das ist alles.

Ich will niemanden dazu überreden, das nun als Wahrheit anzunehmen. Das war mein Versuch, die Gottesidee noch vereinbar zu halten mit dem, was hier vor sich ging. 

Im übrigen möchte ich nicht antworten auf diese Frage, ob ich ein gesamtes Weltende für möglich halte oder nicht. Ich glaube nicht, daß meine persönliche Meinung dazu von irgendwelcher Bedeutung ist. Was eventuell von Bedeutung ist in diesem tastenden Versuch des Gottesbegriffs nach Auschwitz, ist nur das Bemühen, die gemachten Erfahrungen in Einklang zu bringen mit gewissen Glaubens­vorstellungen, auf die man nicht verzichten möchte. 

Ein heutiger Leser könnte meinen, daß in Ihrem Lebenswerk die Gnosis-Forschung und das Prinzip Verantwortung lediglich biographisch vermittelt nebeneinander stünden. Aber gibt es nicht entgegen jenem Eindruck eine implizite Klammer zwischen diesen Polen von Gnosis und Ethik, nämlich in der modernen (und auch schon gnostischen) Erfahrung eines dem Menschen, dem Leben und Überleben gegenüber gleichgültigen, wenn nicht sogar fremden und feindlichen Universums? Haben wir es nicht mit ein und derselben Ausgangssituation — der Verlorenheit des Menschen in einer gottfernen Welt, in einem ihm und seiner Existenz gegenüber vollkommen indifferenten Universum — zu tun, und lediglich mit zwei verschiedenen Reaktionen auf dieses Universum: einmal der Weltflucht in der Gnosis und umgekehrt heute dem Prinzip Verantwortung für die Selbsterhaltung des Menschen in dieser ihm gegenüber indifferenten Welt?

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J.  Es gibt darüber gewisse Hypothesen, die mehr von anderen stammen als von mir selbst - Interpretationen, die da einen Zusammenhang herstellen wollen. Was mich selbst betrifft, wäre hier der einzige Zusammenhang der, daß ich eine Sache fallengelassen habe - die Weiterarbeit an dem Gnosis-Werk und dem religionsgeschichtlichen Feld überhaupt - und mich zugewandt habe den permanenten Problemen der Philosophie, der Stellung des Menschen im Sein, der Interpretation des Verhältnisses von Natur, Leben und Geist. Das Problem mit dem fremden Universum habe ich einmal so gesehen: Das Universum der modernen Naturwissenschaft und das, welches die Gnostiker sich vorstellten, haben etwas gemein: es ist den menschlichen Belangen gegenüber fremd. Im Falle der Gnosis ist es feindlich, im Falle der Moderne völlig indifferent, so daß menschliche Werte ihren Sitz nur im menschlichen Willen haben und nirgendwo sonst. Dieser Sicht habe ich nicht nur abgesagt, sondern in meinen Ansätzen zu einer biologisch verankerten Naturphilosophie den entgegengesetzten Versuch gemacht zu zeigen, daß Zwecke schließlich auch ihren Sitz in der Natur haben.

Denn das ganze Lebensabenteuer, obwohl es kosmisch gesehen vielleicht eine minimale Ausnahme ist, die sich unter den besonders günstigen Umständen dieses Planeten einmal ereignet hat, und somit im Universum mengenmäßig vielleicht gar keine Rolle spielt, verrät doch, daß in der Materie, die seit Descartes nur noch als äußerlich angesehen wird - entblößt von allen Prädikaten der Innerlichkeit einschließlich Zwecken, Zielen, Interessen usw. -, doch mehr steckt als in dieser cartesischen, sehr künstlichen Annahme gedacht worden ist. Eigentlich ist es nur eine Arbeitsteilung, daß die Naturwissenschaft, die auf dieser cartesischen Grundlage ruht — die Materie sei nichts als das, was sich äußerlicher Messung darbietet —, eine Art methodologischer Freibrief war, so die Natur zu erklären und nie darüber hinauszugehen.

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Kein Physiker könnte eigentlich als Physiker der einfachen Aussage zustimmen: "Ich hebe meinen Arm, weil ich es jetzt will." Die physikalische Erklärung muß lauten: Bestimmte Gehirnvorgänge sind passiert, bei denen das Denken keine Rolle spielt, kein Fühlen, kein Wollen, keine Subjektivität, sondern nur gewisse objektive Abläufe elektrischer oder chemischer Art, deren notwendige Folge es ist, daß ein Gehirnzustand motorischer Auslösungen dazu führt, daß mein Arm sich hebt. Dies sind zwei ganz verschiedene Interpretationen ein und desselben Vorganges — die eine von innen, von meinem Bewußtsein her, die andere von außen, wobei das Gehirn ja auch etwas Äußerliches, eine erkennbare Masse von bestimmt organisiertem Stoff ist.

Eine solche Arbeitsteilung hat sich ungeheuer bewährt, was für die Naturwissenschaften zu einer Durchdringung der Natur nach ihren Kausalverfahren geführt hat, nach strikten Abfolgen von Ursachen und Wirkungen. Das hat dann ermöglicht, die Erkenntnis davon, wie die Natur es macht — es war die Idee von Bacon —, zu benutzen, um nun umgekehrt die Natur etwas machen zu lassen. Man hat in ihre Werkstatt geguckt — und nun kann man damit arbeiten.

Wobei natürlich ein Rätsel bleibt: Die Existenz der Naturwissenschaft selbst innerhalb der Natur kann nicht naturwissenschaftlich erklärt werden. Sie ist ein Mysterium, das dahintersteht, worum sich der Naturwissenschaftler jedoch nicht zu kümmern braucht. Aber der Philosoph muß sich darum kümmern. Insofern würde ich sagen, daß die ganze gnostische Herkunftsgeschichte oder diese Art Verbindung, die ich einmal hergestellt habe zwischen dem sinnentleerten, also wertfreien, völlig neutralen und nur äußerlich determinierten Naturbild der modernen Naturwissenschaft und dem menschenfeindlichen, geistfeindlichen Kosmos der Gnostiker, eigentlich überholt ist.

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Da Sie auch lebensgeschichtliche Fragen stellen, so ist als einfache Willensentscheidung zu verbuchen, daß ich mindestens seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges für viele Jahre mich bemüht habe, wieder Raum für eine Naturphilosophie zu schaffen, die als Ganzes ja etwas verpönt ist - als Idee. Das gehört zur Idee der Arbeitsteilung: Die Natur wird den Naturwissenschaften überlassen, irgendwelche Sinndeutungen hingegen gehören in den Bereich der Subjektivität und der Geisteswissenschaften, und es gibt keine Verbindung. Diesen Dualismus habe ich versucht, mit unvollkommenen Mitteln etwas zu überbrücken. Und ich suche nach einem einheitlichen Bilde, in dem Zwecke eben nicht dem Kosmos fremd sind.

In Ihrem moralphilosophischen Hauptwerk, das Sie sehr bescheiden als Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation kennzeichnen, wenden Sie sich auch dem Problem der Differenz von Sein und Sollen zu. Dabei gehen Sie von einer ontologischen Fundierung der Werte aus, die Sie naturalistisch im Sein verankert bestimmen. Wenn Sein und Sollen ontisch zusammenfallen, worin sehen Sie dann die entscheidende Ursache für den empirisch realen Bruch zwischen diesen beiden Polen? Warum nehmen Werte unter bestimmten Bedingungen überhaupt eine normative Gestalt an?

J.  Wegen der menschlichen Freiheit, weil eine in der Natur selbst liegende Bejahung — sagen wir mal gewisser Werte — nicht automatisch von den Handelnden, an die sich diese Bejahung wendet, befolgt wird. Der Ruf der Werte ist ihr immanenter Anspruch auf Verwirklichung, auf Existenz. Die Fähigkeit aber, diesem Anspruch zu entsprechen, ist eine Funktion der Freiheit, und das heißt, er kann auch ignoriert werden und ihm kann zuwider gehandelt werden.

Ohne das Phänomen der Freiheit ist das ganze menschliche Dilemma nicht zu verstehen. Das drückt sich schon in der Bibel im Schöpfungsbericht aus, wenn die Schlange zum Genuß vom Baum der Erkenntnis rät und sagt, ihr würdet wie die Götter sein mit Kenntnis des Guten und des Bösen, d. h. der Fähigkeit, sowohl das eine wie das andere zu tun.

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Und nun ist es eine Tatsache, daß die Interessen — die der Selbsterhaltung und der unmittelbaren Befriedigung der eigenen Bedürfnisse — immer an erster Stelle kommen. Schon deswegen, weil sie die Bedingung der Möglichkeit für alles andere sind. Ohne zu essen und zu atmen, also unaufhörlich für sich selbst etwas der Natur zu entnehmen, ohne die Tatsache des Stoffwechsels, deren Grundforderungen erfüllt sein müssen, ist nichts weiter möglich für lebendige, für organische Wesen. Somit liegt schon im Organismus beschlossen, daß alles Leben an die Umwelt Ansprüche stellt und alles Leben zunächst einmal, man kann so sagen, räuberisch und gierig ist, sein muß. Jeder Atemzug beweist es, jedes Essen usw.

Mit dem Begriff des Sollens kann man nur vernünftigen Wesen kommen, das heißt solchen, die (a) eine Einsicht haben können in etwas, also ein Wissen. Wesen, die z. B. auch erkennen können, daß etwas ein Wert in sich ist, und daß solche Werte durchweg ihren Sitz haben in vergänglichen Wesen - die also neben dem Wertwissen zugleich das Wissen um die Vulnerabilität* der Träger der Werte besitzen. Und (b) solchen Wesen, die nicht nur dies wissen können, sondern welche ihren Willen weitgehend bestimmen können - nicht unbedingt frei, denn gewisse Erfordernisse der Selbsterhaltung sind so gebieterisch, daß man sich ihnen nicht entziehen kann, obwohl es ja andererseits durchaus die Freiheit des Selbstmordes gibt und die Freiheit der Selbstaufopferung, zu der manchmal auch die Liebe führen kann.

Im ganzen muß man sagen, gewisse Forderungen, Notwendigkeiten müssen erst einmal erfüllt sein, aber dann bleibt der Raum der Freiheit. Und der Mensch hat diesen Raum der Freiheit ja sehr erweitert, da er durch sein Wissen eine Herrschaft über die Natur erlangt hat, über andere Lebensarten und ihre Nutzung, die ihm eigentlich eine viel größere Breite oder viel größeren Raum willkürlicher Entscheidungen und Verhaltensweisen läßt, als irgendeine andere Lebensart sie genießt.

 

* (d-2008:) Vulnerabilität: ?

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Und damit ist die Kluft von Sein und Sollen da. Daß nämlich seinem Wertwissen das Sein sich irgendwie kundgibt, ist vom Menschen erkennbar. Zwar wird es deshalb nicht durchgängig erkannt, aber es ist erkennbar: daß z.B. die Existenz von fühlendem Leben etwas Besseres ist als die völlige Abwesenheit davon, daß das Universum weniger wert wäre zu existieren, wenn es überhaupt keine Subjektivität darin gäbe, wenn es überhaupt kein Besser und Schlechter, kein Vorziehen und Verwerfen darin geben könnte. Was ja einmal eine philosophische Lehre gewesen ist. Kein Geringerer als Spinoza hat gesagt, daß Gut und Schlecht menschliche Erfindungen sind und daß das Sein selber insofern immer gut ist, da alles das geschieht, was notwendigerweise geschehen muß. Aber demgegenüber ist doch das Allgemeinbewußtsein ein solches — und ich glaube, es ist richtig —, daß es so etwas wie Gelingen und Mißlingen in der Natur selbst gibt.

Es ist schon eine besondere Art ontologischer, philosophischer Ansicht: Das Prinzip der Selbstbejahung der Natur — das Leben sagt ja zu sich selbst allein durch den unausrottbaren Willen, am Leben zu bleiben, durch den Kampf ums Dasein. Dieses allgemeine Jasagen der Natur zu sich selbst offenbart sich im Leben und subjektiven Fühlen — im Fürchten, in Ängsten und im Streben — und im Menschen gipfelt es noch einmal in der Bewußtheit und der Freiheit. Damit kommt die Möglichkeit der Verantwortung in die Welt.

Und nun versuche ich das ontologisch zu deuten — die Existenz von Verantwortungsfähigkeit macht den Träger dieser Fähigkeit auch wirklich verantwortlich. Zumindest dafür, daß diese Fähigkeit und die Grundlage davon — vernünftiges Wissen und freies Wollen — nicht wieder aus der Welt verschwinden. Die Existenz der Verantwortungsfähigkeit ist eine ontologische Tatsache, die sich quasi selbst beglaubigt. Ob das logisch gültig gefolgert ist, ist mir selber nicht ganz klar.

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Es handelt sich da wirklich um sehr subtile Fragen von Schlußverfahren, deren Zulässigkeit strittig ist. Z.B. der berühmte ontologische Beweis für das Dasein Gottes, daß nämlich im Gedanken Gottes die Notwendigkeit der Existenz mitgedacht ist und sich damit also selbst beweist: daß der nicht gültig ist, hat Kant wohl unwiderleglich bewiesen. Logisch gilt das nicht.

Aber mein Schluß von der Existenz der Verantwortungsfähigkeit auf die tatsächlich geltende Verantwortlichkeit des Menschen leidet — glaube ich — nicht an derselben logischen Schwäche wie der ontologische Gottesbeweis des Anselm von Canterbury. Ich gebe aber zu, daß da ein Element einer Urentscheidung drin liegt. Der Anhänger des Nirwana würde sagen, die Existenz individueller Wesen, eines individuellen Ichs und Bewußtseins ist keineswegs ein ultimativer Wert: vielmehr ist deren Auslöschung, ihr Aufgehen in dem eigentümlichen Nichts des Nirwana gerade der bessere Zustand. Dem kann man nur die abendländische Entscheidung für den Willen und die Individuation entgegensetzen - dahinter zurückzugehen ist vielleicht unmöglich.

Herr Prof. Jonas, Sie halten Kant zugute, daß er mit dem Prinzip der Verallgemeinerbarkeit womöglich ein universales Kriterium der Richtigkeit moralischer Normen und Entscheidungen entdeckt habe. Dennoch sei dieses Prinzip wegen seiner Formalität für sich allein unzureichend, weil es nicht "das rechte Gefühl" in uns wachrufen könne. Für die Motivation zum richtigen Handeln bedürfe es der Gefühle der Ehrfurcht, Sorge, Furcht usw. Kant könne aus seinem Prinzip der Verallgemeinerbarkeit keinen Inhalt und damit auch nichts, was diese Gefühle in uns hervorrufen kann, ableiten. Können Sie sich vorstellen, daß sich durch eine intersubjektivitätstheoretische Deutung des solipsistischen Ansatzes Kants, die seinen Universalismus konsequent weiterentwickelt, die Begründungslage für die Ethik verbessern könnte? Dadurch etwa, daß aus der Anerkennung aller Menschen als vernünftiger Wesen, die daher nach Möglichkeit alle an der moralischen Entscheidungsfindung zu beteiligen sind, Rechte der einzelnen auf Freiheit und Leben ableiten lassen?

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J.  Ja, aber das bezieht sich doch nur auf Wesen, die schon da sind, auf Mitmenschen, Mitbürger sozusagen im Kosmos der Vernunft, auf andere Vernunftwesen, die mit mir gleichzeitig existieren und zum Teil auch Objekte meines Handelns werden, davon affiziert werden. Und da ist in der Tat das Kantische Prinzip der Verallgemeinerbarkeit von Bedeutung, daß eine Handlung sittlich zulässig ist (obwohl darum nicht notwendig geboten), deren Maxime man sich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung vorstellen kann. Also die einfache Fragestellung, kann diese Handlung eigentlich bestehen, wenn alle so handeln würden. Und da ergibt sich ohne weiteres, daß es, wenn alle vertragsbrüchig sind, überhaupt gar nicht erst zu Verträgen kommen würde. Die Maxime meines jetzigen Handelns, nämlich diesen Vertrag mit der geheimen Absicht abzuschließen, ihn später nicht einzuhalten, ist gar nicht existenzfähig als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung.

Das ist aber eine Ethik unter Gleichzeitigen, da fällt doch eigentlich die Dimension einer Zukunft der Menschenart auf Erden weg, die Kant quasi als gegeben voraussetzt. Für Kant ist es eine selbstverständliche Voraussetzung, daß es auch in Zukunft Menschen geben wird. Und er hatte dann gewisse wunderbare Ideen von einem höchsten Gut, wo die Glückseligkeit mit der Würdigkeit dazu zusammenfällt, das heißt, wo alle glücklich sein können, weil alle moralisch geworden sind. Gut, er hat eine Zukunftsvision, aber aus seinem kategorischen Imperativ läßt sich nicht ableiten, daß es künftig Leben geben soll und daß vor allen Dingen auch eine dem Leben freundlich gesinnte lebendige Umwelt weiter bestehen soll. 

Diese Dimension ist erst in den Blick getreten in jenem Augenblick — eigentlich kann man sagen nach dem Zweiten Weltkrieg, in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts —, da es offenbar wurde, der Mensch ist nicht nur ein Vernunftwe-

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sen, für den die Natur gewissermaßen zum Gebrauch bereit daliegt, sondern er ist selbst eine Naturkraft hohen Ranges geworden, welche die Bedingungen zukünftiger Menschen oder Menschenwürde, schöpferischer Freiheit, Menschenglück plus Weiterexistenz dieser reichen Lebenswelt, in die der Mensch eingebettet ist, in Frage stellt. 

Eine neue und allmählich erschreckend aufkommende Einsicht, die heute schon banal ist, wenn man sie äußert, die aber eigentlich erst in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts ins Bewußtsein getreten ist. Infolgedessen kann man Kant nicht etwa einen Vorwurf daraus machen, daß er diesen Horizont, diese Perspektive vernachlässigt hat. Sie ist erst real geworden in jüngster Zeit. Kant sprach zu seiner Zeit vom Unglück, das die Menschen durch den Wahnsinn der Kriege sich selber zufügen und hat jenen herrlichen Entwurf "Zum Ewigen Frieden" verfaßt, in dem sozusagen die ganze Völkerbundidee und anderes vorweggenommen ist. Aber über das Verhältnis des Menschen zur Natur brauchte er nicht nachzudenken, in diesem dringenden Sinne, in dem man heute darüber nachdenken muß, weil von einer Gefährdung der Natur damals nicht die Rede sein konnte.

Es ist die gewachsene menschliche Macht und die zunehmende Einsicht in die Wirkungen dieser Macht auf eine begrenzte Umwelt, d.h. die Kollision, die eingetreten ist zwischen der Quasi-Unendlichkeit menschlichen Könnens und Begehrens einerseits und der Endlichkeit einer Natur andererseits, die dafür da ist, das dazu Nötige zu liefern, die diese neue Dimension der Ethik eröffnet hat. Und das ist wirklich ein objektiver Grund dafür, daß der ethischen Perspektive eine neue Dimension hinzugefügt werden muß.

Ich zögere zu sagen, die Ethik im ganzen müsse nun erneuert werden — die Gebote der Nächstenliebe, der Barmherzigkeit, der Gerechtigkeit, der Treue bleiben bestehen. 

Aber das wird heute überwölbt von einem Horizont, den es früher nicht gab und der nicht nur eine Bewußtseinstatsache ist, sondern höchst real vor unseren Augen liegt und womit auch zum

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erstenmal — und das ist das zweite, was ich über meine Beziehung zu Kant zu sagen habe — ein sehr nahes Verhältnis zwischen sittlicher Überlegung und Kenntnis der Naturwissenschaft und der Lehren der Naturwissenschaft eintritt und notwendig wird. 

Das ist etwas, was für Kant gar keine Rolle spielte. Was die Naturwissenschaft lehrte, war für ihn — obwohl er selbst ein bedeutender Naturphilosoph war — in bezug auf die Ethik völlig irrelevant. Daß wir das Naturwissen in unsere ethischen Überlegungen einbeziehen müssen, ist eine neue Situation.

 

In Ihrem Buch "Das Prinzip Verantwortung" haben Sie eine Reihe zumindest instrumentaler Vorzüge totalitärer kommunistischer Gesellschaften gegenüber den Demokratien westlichen Modells bei der Lösung der ökologischen Probleme, vor denen die Menschheit steht, erblickt. Nun sind die "realsozialistischen" Diktaturen Osteuropas von den in ihnen entstandenen demokratischen Bewegungen gestürzt worden. Unübersehbare ökologische Schäden bilden eine der traurigen Hinterlassenschaften. Hat sich angesichts dieser Erfahrungen Ihre skeptische bis pessimistische Einschätzung der Möglichkeiten und Chancen demokratischer Gemeinwesen bei der Einlösung des von Ihnen so wunderbar eindringlich postulierten Imperativs der Bewahrung des Daseins und der Würde des Menschen geändert?

J.  Erwogen habe ich solche Vorzüge, nicht erblickt, sondern erwogen. Das ist ein Unterschied. Und man mußte das erwägen.
Skeptisch war ich und bin ich und bleibe ich nach beiden Seiten. Es gibt jetzt den Triumph der freien Marktwirtschaft gegenüber der kommunistischen Zwangswirtschaft. Man kann aber nicht sagen, das sei ein Beweis für die Zulänglichkeit dieser freien Marktwirtschaft, die Probleme zu bewältigen, vor die uns deren eigener, wirtschaftlich so viel erfolgreicherer Umgang mit der Natur stellt. Es scheint mir eine gefährliche Verwechslung zwischen einem Moment des äußeren Erfolges und den Hoffnungen, die man an die Fähigkeit dieses Systems knüpfen darf, zu sein, wenn man nun annimmt, daß es die von ihm ja ungeheuer beförderte, zur Krise treibende Problematik des Umweltverhältnisses selber meistern könne.

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Bewiesen worden ist, daß jene sozialistische Zwangswirtschaft, deren Chancen ich mit erwogen habe, und von der ich glaubte, daß sie in gewisser Hinsicht eigentlich vielleicht besser imstande ist, der Problematik Herr zu werden, weil sie ja die Gewalt hat, das Maß der Bedürfnisbefriedigung ihrer Bevölkerung zu steuern, hart zu drücken und infolgedessen sparsamer mit der Natur umzugehen, es nicht vermochte. Es hat sich herausgestellt — und das ist eine große Überraschung für mich gewesen, übrigens für viele andere auch —, daß sie es schlechter gemacht hat als die kapitalistische Profitwirtschaft des freien Westens. Die Umweltverschmutzung ist dort viel schlimmer, und ich habe bis heute eigentlich noch nicht recht verstanden, warum der Versuch so kläglich gescheitert ist. Aber es ist eine welthistorische Tatsache, daß jedenfalls dieses große Experiment unseres Jahrhunderts, das 1917 mit der Oktoberrevolution in Rußland begann, Schiffbruch erlitten hat.

Daraus folgt nicht, unsere jetzige Demokratie mit der Wahl alle vier Jahre, diese ganze plebiszitäre Demokratie wäre auf lange Sicht besser, ich meine in dem Sinne, daß wirklich mit ihren Mitteln die drohende Umweltkrise zu vermeiden ist. Sie ist darauf nicht sehr eingestellt, sondern vielmehr auf die Befriedigung der Tagesinteressen und der Nahinteressen. Das ergibt sich einfach daraus, daß dem Wähler natürlich sein eigener Beschäftigungs- und Lebenserhaltungszustand in den nächsten Jahren wichtiger ist als die Zukunft des Planeten. Es ist ganz klar, die Kurzinteressen überwiegen zunächst mal immer die Fernpflichten.

Was an Stelle der jetzigen Demokratie besser dazu imstande wäre, davon habe ich keine Ahnung. Ich bin nur der Ansicht, man soll sich nicht zu sehr auf die Schulter klopfen als Sieger in dieser großen Auseinandersetzung.

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Das eine ist gescheitert, das heißt nicht, daß die Demokratie nun eine Art Patentlösung von Regierungsform überhaupt für jede Situation ist. Wenn Sie also fragen, ob ich nun nach dieser großen Pleite, diesem großen Bankrott im Osten denke, das hat bewiesen, daß die freie Marktwirtschaft und die damit verbundenen demokratischen Regierungsmethoden auf Dauer die richtige politische und wirtschaftliche Form sind, die uns auch vor dem Abgrund bewahrt, der sich da vor unseren Augen auftut, wünschte ich, es wäre so, aber ich kann mir dessen nicht sicher sein. Und ich finde, niemand kann sich dessen sicher sein.

 

Da würden wir Ihnen auch zustimmen, in dem Sinne, daß die jetzt siegreiche Form ja wohl alles andere als eine bereits vollendete Form von Demokratie ist, da bleibt vieles noch offen, gibt es viel zu tun, und eine Gewähr dafür, daß die Katastrophe abzuwenden ist, gibt sie nicht unbedingt. Die gerade abgelaufene Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio hat gezeigt, daß ein Fortschritt in der Sorge für die Menschheit und die Natur nur erzielt werden kann, wenn die Teilnehmer bereit sind, sich miteinander zu verständigen und dabei ihre egoistischen Interessen zurückzustellen. Heißt das nicht, Herr Prof. Jonas, daß die Sorge für die Menschheit und die Natur abhängig ist - eigentlich - von einem Fortschritt der Verständigungs­verhältnisse? Daß man sich also immer besser vernünftig verständigen und einigen muß? Und wenn die Pflicht zur gegenseitigen Verständigung, etwa über die Berechtigung der eigenen Interessen der Naturverfügung, jetzt als Demokratieprinzip verstanden wird: Könnte man dann nicht sagen, das Demokratieprinzip ist eine Bedingung der Möglichkeit dafür, daß für die Menschheit und für die Natur etwas getan werden kann, dies sei eine Voraussetzung dafür?

J.  Das ist ein ganz gutes Argument. Und ein freiwillig zustandegekommener Konsensus wäre eben ein demokratischer Konsensus, und der wäre natürlich die beste Grundlage für eine künftige Behandlung und Steuerung des menschlichen Verhältnisses zur Umwelt — er müßte jedoch global sein.

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Aber das macht die Sicht in die Zukunft so sehr problematisch und so sorgenvoll: Wie kommt ein solcher Konsensus zustande, z.B. zwischen Norden und Süden, zwischen Arm und Reich. Kann der Weg, der zu einem solchen Konsensus führt, rein demokratisch sein im Sinne der reinen spontanen Freiwilligkeit aller Teilnehmer?

Ich hoffe, ja. Aber woher können wir dabei eigentlich die Zuversicht nehmen, daß sich wirklich in freier Verständigung, in wachsender internationaler Verständigung eine einheitliche Formel der Verwaltung der Erde durch den Menschen erzielen läßt? Doch selbst wenn der Konsensus erst mal da ist, womit die Hauptsache ja getan wäre, selbst dann bleibt noch die Frage, ob es gelingen wird, zu einem wirklichen Frieden mit der Natur zu kommen. Vielleicht verhindert es die pure Anzahl der Menschen, vielleicht ist sie schon so groß geworden, daß sich quasi bereits daraus unmögliche Anforderungen an die Natur ergeben. Das würde dann heißen, daß die ganze Bevölkerungspolitik - auch in bezug auf das Problem der Vermehrung: Wie viele Kinder sind erlaubt?, etc. - in die internationale Vereinbarung mit hineingenommen werden muß.

Um die Antwort auf Ihre Frage abzuschließen. Ein demokratischer Weg, zu einem globalen Konsensus zu kommen, wäre natürlich der erwünschteste. Ich sehe ihn nicht, aber ich sehe auch keine Alternative. Mit anderen Worten: Man darf doch einen Zustand der Ratlosigkeit eingestehen, das muß jedenfalls ein ehrlicher Philosoph, finde ich.

Herr Prof. Jonas, was bedeutet es für Sie, angesichts der ja auch in unserem heutigen Gespräch angesprochenen verständlichen Furcht vieler Menschen vor der ökologischen Situation auf unserem Stern Erde, nicht in Resignation und Fatalismus zu verfallen? Wieviel Hoffnung birgt Ihr Prinzip Verantwortung in sich?

J.  Es braucht gar keine Hoffnung in sich zu bergen, es birgt eine Pflicht in sich, nämlich sich nicht dem Fatalismus zu überlassen, weil man damit aufgegeben hat und das Schicksal, das ja doch vermieden werden soll, damit eigentlich nur besiegelt. 

Das Denken, das noch eine Chance erspähen und damit aufrufen kann, etwas zu tun, ist ja schließlich dasselbe mächtige Denken wie das, was uns in die Krise und die unmögliche Misere hineingeritten hat. Eben dieses Denken muß für jene Chance offen bleiben, wenn überhaupt eine Hoffnung sein soll. 

Aber damit habe ich nicht gesagt, daß ich die Hoffnung habe, sondern daß ich die Pflicht sehe, sich nicht der Resignation zu überlassen.

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