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Wagner Ferdinand: Ein Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung  

An:  leserbriefe @ sueddeutsche.de
Sent: Monday, February 16, 2004 5:03 PM
Subject: Zu Georg Kleins "Panzerkreuzer Klontechnik" im Feuilleton
Die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte diesen Leserbrief überregional am 4. März 2004

 

Es droht wirklich die Gefahr, dass unser Gesundheitssystem zum "blähsüchtigen Homunkulus der näheren Zukunft" (G. Klein) wird. Gigantisch und beeindruckend das immer raffiniertere Waffenarsenal, mit dem die medizinisch-pharmakologisch-biologische Forschung einem menschlichen Organismus zu Leibe rückt, der, so hat es den Anschein, Gebrechen und Symptome in allen erdenklichen Variationen produziert.

Aber ist der Mensch tatsächlich nur eine mit fehlerhaften Genen ausgestattete Maschine, welche schließlich die verschiedensten Defekte hervorbringt? Warum werden Menschen krank? Warum leiden sie? Man/frau muss nur daran denken, dass jeder Mensch seine persönliche Geschichte hat, und diese Geschichte beginnt im Mutterleib. Es gibt diese frühen kritischen Perioden, die eine unglaubliche (positive und negative) Prägegewalt auf einen jungen, verwundbaren Organismus ausüben, dessen "sensorisches Fenster" weit offen steht. Wäre es zum Beispiel ein Wunder, wenn das Dopamin-System eines Menschen, der/ die aufgrund ungünstiger Verhältnisse in utero und aufgrund einer traumatischen Geburtserfahrung biochemisch auf "hyper", auf übermäßige Alarmbereitschaft eingestellt ist, nach Jahrzehnte währender Überbeanspruchung letztlich vorzeitig zusammenbricht und zu dem Leiden führt, das als Parkinsonsche Krankheit bekannt ist?

Oder wenn jemand, dessen/deren System bereits bei der Geburt "lahmgelegt" wurde (durch eine anästhetisierte Mutter) als Erwachsene(r) in höherem Maße zu Depressionen neigt als andere (das sogenannte "struggle-fail-Syndrom")? Beinahe jedes Individuum in unserer Kultur schleppt ein saftiges Päckchen an Urschmerz mit sich herum, genauer gesagt, verbirgt es in tieferen Regionen des Gehirns (limbisches System, Hirnstamm), sodass es dem unmittelbaren Zugriff entzogen ist. Und das ist gut so. Verdrängung frühen eingeprägten Schmerzes (das kollektive Unbewusste) lässt uns funktionieren im Hier und Jetzt, aber es ist ein Zustand, der nicht viel Gefühl ins Leben lässt und letztlich zwangsweise zu Symptomen führen muss.

Es geht hier um ein Forschungsfeld, in dem sich die Wissenschaft noch nicht einmal die Kinderschuhe angezogen hat, sondern immer noch in der Embryonalphase verharrt. Es gibt Einzelne, die auf diesem Feld weit vorgeprescht sind. Zu ihnen gehört der amerikanische Psychologe und Mediziner Arthur Janov. Aber im Allgemeinen handelt es sich um einen vernachlässigten Forschungsbereich, und das sollte sich ändern. Man/frau überlege nur: Wieviel Geld verschlingt die Entwicklung eines Medikaments wie z. B. Prozac, das letztlich inklusive diverser Nebenwirkungen genau das leistet, was liebevolle Behandlung in utero, bei der Geburt und in den ersten Jahren danach zustande gebracht hätte - nämlich das Gehirn in ausreichendem Maße mit Serotonin "aufzuladen", sodass Angst, Spannung und Schmerz verdrängt werden kann und Wohlbefinden dominiert? (siehe zu diesem Thema A. Janov, The Biology of Love, Prometheus Books, New York, 2000).

Die Bekämpfung von Symptomen ist zweifelsohne wichtig, hat aber nichts damit zu tun, Menschen gesünder zu machen. Und wenn hier kein Umdenken stattfindet, wenn die Wissenschaft weiterhin den dubiosen Pfaden der Biotechnologie folgt, dann wird sie sich schon  bald heillos im Dickicht der Gene und Moleküle verfangen und kleinlaut zugeben müssen, dass sie den ursprünglichen Sinn und Zweck des Unterfangens nicht mehr vor Augen hat. Und soll die schöne Idee der "Volksgesundheit" nicht einst als "rostiger Anachronismus in der Landschaft der Zukunft stehen" (G. Klein; ein großartiges sprachliches Bild), dann sollten wir uns eingehender mit den Geheimnissen unseres Gehirns befassen, das uns vielleicht mehr über die ontogenetische und phylogenetische Geschichte erzählen und wirksamere Problemlösungen anbieten kann, als es die Gene jemals könnten.

Ferdinand Wagner
(Adresse)

 

 

 

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