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6. Die drei Ebenen des Bewusstseins 

 

 

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Die drei Ebenen des Bewusstseins basieren auf den drei schon eingangs besprochenen Schlüssel-Gehirn­systemen: der Hirnstamm, das limbische (oder „fühlende") Gehirn und der Neokortex. In meiner Nomenklatur bezeichne ich sie als Linien. Die erste Linie umfasst das primitive Nervensystem, im Wesentlichen den Hirnstamm. Obgleich die Strukturen des Nervensystems erst bei der Geburt ausreichend leistungsfähig sind, beginnen sie tatsächlich schon während der Schwangerschaft zu funktionieren, um die physiologische Entwicklung zu koordinieren.

Erste Linie: INSTINKTIVES BEWUSSTSEIN 

Die erste Linie ist die viszerale Psyche, die Verwalterin von Empfindungen ((sensations)). Die vitalen Funktionen sind weitgehend unter ihrer Kontrolle: unter anderem Atmung, kardiovaskuläre Aktivität, Hormonausstoß, Verdauung und Harnprozesse. Traumen, die sich vor der Geburt und bis zu einigen Monaten danach ereignen, wirken sich wahrscheinlich auf diese Funktionen aus. Wenn also ein erwachsener Patient chronische Kolitis oder Herzklopfen aufweist, können wir voraussehen, dass ein Trauma der ersten Linie involviert ist – etwas, das geschah, bevor das Kind sechs Monate alt war, und möglicherweise bei der Geburt oder vorher. Das kann uns erklären helfen, warum einige Leute einen weit niedrigeren Puls, Blutdruck und Körpertemperatur haben als andere.

 

Die Sollwerte für diese Funktionen sind durch Ereignisse im Mutterleib festgelegt worden. Vielleicht sind sie partiell auch durch Vererbung vorgegeben worden. Da sich diese Sollwerte in der Therapie ändern können, scheint es, dass genetische Faktoren nicht der vorherrschende Grund sind. Unser Vertrauensarzt hat in den vergangenen zwanzig Jahren festgestellt, dass fortgeschrittene Primärpatienten, die ihn aufsuchen, ausnahmslos niedrigere Vitalwerte aufweisen.

Zwanghafter Sex ist ein Beispiel für Hirnstamm-Antrieb. Die Art, wie jemand seine Sexualität ausdrückt, hängt von den Lebensumständen ab, aber die Energie dieses Triebes wird schon ganz früh festgesetzt. Bei diesem Symptom haben wir ein Auge auf den Hirnstamm. Ich habe nie jemanden Tränen vergießen sehen, während sie/er die Geburt wiedererlebte. Und Sprechen ist unmöglich, weil Sprache eine Funktion höherer Ebene ist, die erst später kommt. Während des Geburts-Wiedererlebnisses gibt es eine charakteristische Fuß- und Armposition. (Ich übergehe sie, um zukünftige Probleme mit Patienten zu vermeiden, die versuchen könnten, diese Erfahrung zu simulieren). Dieses Merkmal kann nicht vorgetäuscht sein, weil die Patientin keine Ahnung hat, was sie während des Primals macht. In dem Augenblick, da die Patientin aus der Sequenz herauskommt und zu sprechen beginnt, ändert sich die Fußposition – ein klarer Beweis für die Vollständigkeit und Einheit einer jeden Bewusstseinsebene.

Der Gebrauch von Worten versetzt das Individuum automatisch auf eine höhere Bewusstseinsebene, weil es jetzt auf andere Gehirnstrukturen zugreift. In den Wiedererlebnissen können wir beobachten, dass die drei unterschiedlichen Linien den drei Schlüssel-Gehirnfunktionen entsprechen. Die erste Linie kann jedoch die katastrophale Empfindung ((sensation)) der Todesnähe speichern, das hektische Atmen und die gewundenen Körperbewegungen, wie sie auftreten, wenn traumatische Geburts­erinnerungen durch die repressiven Barrieren brechen. Diese nämlichen Erinnerungen belasten den Körper für Jahre und Jahrzehnte und können bei der Entwicklung kardiovaskulärer Krankheiten, Schlaganfall und auch Krebs eine Rolle spielen. Es gibt eine steigende Anzahl von Forschungsergebnissen, die belegen, dass Traumen in den allerersten Monaten des Lebens die Neurobiologie verändern. Diese Traumen können den Reifeprozess des limbischen Systems verändern.

Wie Martin Teicher vom McClean Hospital, Massachusetts, betont, „können (diese Traumen) das biologische Substrat für eine ganze Aufmachung späterer psychiatrischer Folgen sein, die affektive Instabilität, Unfähigkeit, Wut zu modulieren, schlechte Impulskontrolle, eingeschränkte Stresstoleranz, aggressive Episoden, Beeinträchtigung des Gedächtnisses und halluzinatorische Phänomene umfassen." Diese Autoren fanden heraus, dass von zweiundzwanzig Patienten, die als Kinder inzestuösen Beziehungen anheim gefallen waren, 77 Prozent Anomalien der Hirnwellen aufwiesen. Die Schlussfolgerung ist unausweichlich: Frühe schwere Traumen resultieren in Abweichungen der Gehirnwellen, und diese Abweichungen deuten auf mögliche psychiatrische Probleme hin, weil Gehirnabweichungen das Substrat für spätere Denkstörungen bilden.

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STEVE

Ich kam als Kaiserschnitt zur Welt, wurde entfernt, weil die Ärzte befürchteten, ich würde wegen der Medikamente bei der Geburt sterben. Schon mein ganzes Leben lang habe ich ein Muster ausgeprägter Aktivität, gefolgt von ausgeprägter Inaktivität. Ich habe Angelegenheiten immer so erledigt, als bliebe mir sehr wenig Zeit und als müsste ich sie zu Ende bringen, solange ich noch die Energie dazu hatte. Das konnte ich aber nur eine Zeit lang beibehalten, und dann kam immer der Punkt, wo ich sehr müde wurde und „zusammenbrechen" oder für eine Weile untätig sein musste.

Das manifestierte sich auf vielerlei Art, hauptsächlich durch Trinken und Drogen, gefolgt von Katerstimmung, in der ich nichts anderes tun konnte als auszuruhen und nicht zu funktionieren. Dann wiederholte sich der Kreislauf. Das Traurige daran ist, dass ich mein ganzes Leben verbracht habe, ohne das, was ich gemacht habe, zu erleben. Ich war immer ‚entfernt’, wenn ich mit Freunden beisammen war, solche Dinge machte wie Sport, Musik, und wenn ich mit Mädchen zusammen war.

Ich möchte immer zu diesen Erinnerungen zurückkehren und eine zweite Chance bekommen, oder ich erlebe sie ein zweites Mal und bin traurig darüber, wie vollkommen doch jede Erfahrung wirklich war, wie großartig meine Freunde wirklich sind, wie gut mein Leben doch in vielerlei Hinsicht war. Ich war einfach nicht wirklich „präsent", um es zu erleben. Und ich war ganz einfach zu sehr damit beschäftigt, Schmerz abzuschalten – den körperlichen Schmerz. Das zu erleben, was ich in meinem Leben gemacht habe, hätte bedeutet, auch diese Verletzungen in meinem Körper zu fühlen. Und das sind reale körperliche Schmerzen. Sie tun weh. Sie sind unangenehm. Aber ich glaube, ich fange an, sie in ihren richtigen Zusammenhang zu stellen. 

Ich bin „kontraphobisch", das bedeutet, dass ich mich zum Beispiel zum Weiterarbeiten zwinge, wenn ich anfange, müde zu werden. Gewöhnlich suche ich gezielt nach Herausforderungen und manchmal nach Gefahr. Das ist die einzige Art, wie ich mich lebendig fühlen kann. Wie schon erwähnt, brauche ich gewöhnlich Vernunftgründe für gewisse Dinge, wie den Kauf eines Autos, den Abschluss eines Geschäftes, etc., weil ich kein Gefühl dafür habe, was sich abspielt. Meine Schmerzanzeiger sind überlastet, deshalb versagen sie den Dienst. Ich muss mich auf andere Möglichkeiten verlassen, mein erfolgreiches Überleben zu gewährleisten. 

Ich kann nicht behaupten, dass sich das bereits geändert hat, aber ich weiß bestimmt, dass es mir irgendwie hilft, meinem Leben einen Sinn zu geben und dass es eine Erleichterung ist, wenn ich den Schmerz in meinem Körper fühle. Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass sich, wenn ich weiterhin diesen Schmerz fühle, die Überlastung verringert und ich Zugang zu den Gefühlen bekomme, die ich so sehr will und brauche. Für mich ist es nicht anders als irgendein anderes Handikap, wie z.B. ein fehlendes Glied, Taubheit, Blindheit. Vielleicht ist es weniger extrem, aber die Wirkung ist beinahe genau so einschränkend.

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Die Situation mit Steve ist selbsterklärend, während Myras Fall anders ist; ein äußerst atypisches Ereignis, das wir selten sehen. Hier ist ein dramatisches Beispiel dafür, wie Ereignisse im letzten Drittel der Schwangerschaft lebenslange Auswirkungen haben können.

Sie war überlastet und wurde unbewusst – der Prototyp für spätere Überlastung und späteren Blackout: nichts verstehen oder hören. Zeuge dieses (gefilmten) Ereignisses zu sein bedeutet, die schreckliche Gewalt früher Geschehnisse zu sehen und wie sie ein Leben lang in ihrer Ursprünglichkeit erhalten bleiben, sodass sie ((Myra)) in ihren Vierzigern ein Ereignis wiedererlebte, das sich vor vierundvierzig Jahren abgespielt hatte, als sei dazwischen nichts geschehen. Für die Einprägung ist das so. Sie bleibt von Erfahrung unbeeinträchtigt, weil Erfahrung sie nicht berührt. Nur die Erfahrung zählt; die Wiedererfahrung des ursprünglichen Ereignisses. 

Jetzt verstehen wir Marylin Monroe. Alle Bewunderung der Welt änderte nichts an der Tatsache, dass sie in einem Heim war und ganz am Anfang sehr wenig Liebe bekam. Diese Bewunderung fand niemals Zutritt zu ihrem System. Sie wurde durch Schmerz und Verdrängung blockiert. Nur wenn sie im richtigen Zusammenhang in ganzer Tiefe fühlen würde, dass sie am Anfang ungeliebt war, könnte sie sich schließlich geliebt fühlen.

 

 

MYRA

Eines Tages sahen wir in einer Therapiesitzung etwas Merkwürdiges, eine Patientin in Konvulsionen, in anfallsähnlicher Aktivität, die nicht auf die Geburt hindeutete; keine typische Arm- und Beinposition. Es ging tagelang so weiter, und auch die Patientin war verwirrt. Wir gingen der Sache nach, indem wir ihre Mutter befragten, und fanden heraus, dass sie in ihrem achten Schwanger­schaftsmonat einen Stecker in eine 220-Volt–Dose eingeführt und einen massiven Schlag erhalten hatte. Dieser Schlag traf auch das Baby. Das Kind wurde in komatösem Zustand geboren, der drei Tage anhielt; kein Lebenszeichen und keine Bewegung wie vorher. Dann kehrte sie ins Leben zurück. Aber alle Erinnerung an das Vorausgegangene war zunichte gemacht, und später war ihre prototypische Reaktion bei Überlastung der Blackout. Offensichtlich war der Schlag überwältigend. Wenn die Stimulierung zuviel war — z.B. wenn sie Anweisungen von ihrem Chef erhielt, die leicht kompliziert waren —, konnte sie nicht sehen oder verstehen, was direkt vor ihr war. Sie erlebte einen Blackout, weil das alte unbewusste Ereignis und die ursprünglichen Reaktionen zum Vorschein kamen, im zerebralen Kortex eintrafen und sie hilflos machten.

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Sie wurde tatsächlich 'bewusstlos’. Die meiste Zeit ihres Lebens war sie, wie sie sagte, „benommen." Der Schlag, den ihre Mutter in ihrem achten Monat erhalten hatte, war der gleiche wie bei Elektroschocktherapie. Ihre Reaktion auf eine Überlastung im Alter von zwei und drei Jahren war sofortiges Abschalten, es wurde zum Prototyp. Sie wuchs im Zustand von Unbewusstheit auf. Sie konnte den einfachsten Kursen in der Schule nicht folgen. In der Minute ihres Lebens, als sie überlastet wurde, war sie „wie in einem Koma oder wie benommen", sie wusste nichts und sah nichts. Spätere Überlastung — zuviele Aufgaben zugleich, sogar die Lektüre eines langatmigen Buches —, war genug, um sie völlig abzuschalten. Sie kaufte sich nur dünne Bücher. Alles war zuviel, weil ihr unbewusster Stresspegel bereits sehr hoch war.

 

Als sie begann, den elektrischen Schlag wiederzuerleben und ihn mit den verarbeitenden kortikalen Integrationszentren verknüpfte, ließ ihre Benommenheit immer mehr nach, und sie konnte die Dinge besser verstehen. Die Hirnstamm-Einprägung, die ihr Leben kontrollierte und ihr späteres Denken, reverbierte nicht mehr ausschließlich um ihre tieferen Gehirnzentren, sondern hatte Zugang zu höheren frontalen Integrationszentren. Das passiert vielen meiner Patienten, die bei der Geburt schweren Betäubungsmitteln ausgesetzt waren. Die physiologische Gleichung lautet ursprünglich und gegenwärtig: Stress führt zu Unbewusstheit. Oder eine Variation: Stress führt zu Alkoholkonsum, der zu Unbewusstheit führt. Warum ist das so? Weil der ursprüngliche Stress eine gegenwärtige (kursiv) eingeprägte Erinnerung ist. Neue Ereignisse räsonieren mit dieser Erinnerung und erzeugen die gleiche prototypische Reaktion. Der Prototyp kontrolliert das Verhalten, weil er die erste Erinnerung an Trauma und Überleben ist und sich in einer frühen Situation auf Leben und Tod abspielte.

 

Betrachten wir Anästhesie bei der Geburt. Eine neue Studie, die im Oktober 1999 von der Amerikanischen Gesellschaft für Anästhesieforschung veröffentlicht wurde, zeigt, dass sich die Anzahl der Fälle, in denen Müttern während der Geburt schmerz­stillende Medikamente verabreicht worden waren, zwischen 1981 und 1997 verdreifacht hatte. Die neuen Artikel, die diesen „Fortschritt" verkündeten, sagten, dass Frauen sich endlich dafür entschieden, sich besser zu fühlen, während Ärzte bemerkten, dass Frauen während der Kindgeburt nicht unnötig leiden sollten. Ich bin einverstanden, dass Frauen nicht unnötig leiden sollten — aber nicht auf Kosten des Babys, das den Rest seines Lebens leiden wird! Betäubungsmittel sind kein Fortschritt; sie sind ein Notbehelf, und der kann gefährlich sein. Die vollen Kontraktionen sind bei der Geburt aus vielen Gründen notwendig, einschließlich dem der Stimulierung des Atmungs- und Harnsystems des Babys. Kontraktionen sind kein Trauma, wenn sie den Geburtsprozess fördern.

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Wenn sich ein frühes Trauma ereignet, verbleibt das System — abhängig von der Art der Reaktion auf das frühe Ereignis — entweder lebenslang im erregten Modus oder im gedrückten, nach unten regulierten Modus. Es hängt nicht nur von der Reaktion des Babys ab, sondern auch von den Umständen, insbesondere von der Art der Medikamente, die der gebärenden Mutter — falls überhaupt — verabreicht werden. Schwere Anästhesie bereitet oft die Grundlagen für spätere Depression, vorausgesetzt, das familiäre Milieu ist so repressiv, dass das Kind sich nicht ausdrücken darf. Spätere depressive Reaktionen sind, wie ich erklärt habe, genau die gleichen wie die ursprünglichen Reaktionen auf die Geburt unter Anästhesie: „Ich kann nicht mehr. Es ist alles hoffnungslos. Was hat es für einen Sinn? Das bringt nichts". Anders gesagt verstärkt sich das Grundgefühl mit den Jahren. Es ist dasselbe Gefühl, das jetzt auf drei verschiedenen Ebenen basiert.

Eine depressive Person, der die Sitzung mit einer Körpertemperatur von 96,0 F ((35,6°C)), einem Blutdruck von 85/65 und einer Herzfrequenz von 55 beginnt, wird sie meistens mit den normalisierten Werten einer nicht-depressiven Person beenden, falls sie gefühlt und die Verbindung zu dem zugrunde liegenden Feeling hergestellt hat. Das heißt, mit einem Blutdruck von 120/80 und einer Körpertemperatur von 97,5 F ((36,4°C)) (Durchschnittswert meiner fortgeschrittenen Patienten). Wenn dann die Person aussagt, dass sie sich besser fühle, können wir ihr glauben. Die an Angst leidende Person beginnt mit den genau entgegengesetzten Werten. Nach der Sitzung normalisieren sich alle Vitalfunktionen.

Unter bedrohlichen Umständen, wenn zum Beispiel der Fetus von der Nabelschnur stranguliert wird, scheint die Produktion von Katecholaminen radikal anzusteigen. Das graviert das Imprint – als Überlebenserinnerung – tiefer in das System ein. Es wird zum Prototyp. Der nach unten regulierte Prototyp steuert viele Charakteristika später im Leben, wie Angst vor Veränderung, Rigidität und Mangel an Spontanität. Rühr’ dich nicht! Die Gefahr lauert! Der Prototyp ist die erste wesentliche Reaktion auf ein Ereignis, bei dem es um Leben oder Tod ging. Er wird zu einer Schablone für alle zukünftigen Reaktionen auf Gefahr.

 

DIE ZWEITE LINIE: 
EMOTIONALES BEWUSSTSEIN  

 

Die zweite Linie – die emotionale Ebene des limbischen Systems – beginnt mit der Entwicklung vor der Geburt und erreicht ihre volle Entfaltung im Alter zwischen zwei und drei Lebensjahren. Mit der Zeit bezieht sich das Kind auf eine immer größere Welt, die über Brust und Wange der Mutter hinausreicht, und stellt eine emotionale Bindung zu Freunden, Eltern, Geschwistern und anderen Verwandten her.

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Das ist die Ebene von Gefühlszuständen, Tränen und Schluchzen. Es gibt viele Individuen, die von der ersten Linie, dem Hirnstamm, gesteuert werden: impulsiv, voller Zorn, pausenlos angetrieben, ungeduldig und unaufmerksam, unfähig, sich zu konzentrieren. Sehr oft entwickeln diese Individuen keine angemessene limbische/fühlende Bindung. Es fehlt eine gewisse Art emotionaler Empathie. Ihre erste Linie dominiert und verhindert, dass sie die emotionale Ebene richtig entwickeln. Große Athleten stehen manchmal nahezu ausschließlich mit ihrer ersten Linie in Verbindung. Ein Interview mit einigen dieser Athleten ist keine intellektuelle Glanzleistung. Aber auf dem Feld weiß der Footballspieler instinktiv, wo er hinlaufen muss. Müsste er darüber nachdenken, wäre er kein guter Spieler.

Ein Patient beginnt eine Sitzung vielleicht auf der zweiten Linie mit Weinen im Alter von zehn, als seine Eltern seinen geliebten Hund fortgaben. Bald jedoch wird er das grundlegend andere Weinen eines Kleinkinds annehmen, da er in einen Modus wechselt, der die Kleinkind-Erinnerungen birgt, wie ihm zur Strafe der Teddybär weggenommen worden war, als er zwei Jahre alt war.

Kommt es zu Würgen und Husten inmitten einer Kindheitsszene (zweite Linie), bezeichnen wir das als Intrusion der ersten Linie. Wir sehen das ziemlich oft. Wir stehen dann vor der Entscheidung, die Energie der ersten Linie entweder abzuleiten oder sie mit Tranquilizern zu unterdrücken. Wenn sie weiterhin eindringt, dann kann der Patient kein integriertes Feeling haben und fühlt sich schlechter, wenn er die Sitzung verlässt. Wenn wir entsprechende Techniken benutzen, um dem Eindringen größeren Zugang zu verschaffen, kann der Patient einen Teil der Hirnstamm-Energie (erste Linie) ableiten und dann zu seinem Feeling zurückkehren.

Ein traumatisches Ereignis wie die Scheidung der Eltern im Alter von fünf oder sechs Jahren, betrifft weitgehend die zweite Linie, obgleich es wegen seiner katastrophalen Bedeutung (es gibt keine Familie mehr) Komponenten der ersten Linie beinhaltet. Die Leidenskomponente des Schmerzes wird auf der limbischen Ebene gespeichert. Auf dieser Ebene kann das Kind den Zustand von Anspannung erfahren. Angst ist eine viel primitivere Reaktion, die die Viszera oder Eingeweide einbezieht. 

Diese viszeralen Reaktionen bildeten die höchste Ebene der Gehirntätigkeit, als das Trauma geschah. Ist es einmal eingeprägt, diktiert es die viszeralen Reaktionen auf spätere schwierige Umstände: z.B. kam es in dem früher erwähnten Fall von Angst bei einer Präsentation zu Magenkrämpfen, Beklemmung in der Brust, Schmetterlingen im Bauch, Herzklopfen und häufigem Urinieren. Eine Möglichkeit, über den Ursprung eines Traumas Bescheid zu erlangen, ist die Art der sich zeigenden Reaktionen.

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Ein aufgewühlter Magen kann eine Reaktion auf Mutters Zorn sein, wenn das Kind sechs Jahre alt ist, aber die körperliche Reaktion an sich ist prototypisch und betrifft die erste Linie. Sie ist präverbalen Ursprungs, was ein eingeprägtes intrauterines Trauma bedeuten kann.

Aus diesem Grund sind Gedanken gegen Angst wirkungslos. Gedanken bedeuten den Versuch, den neuen Kortex zu benutzen, um eine 300 Millionen Jahre alte Instinktreaktion zu unterdrücken. Man kann niemals die eine Ebene des Gehirns dazu bringen, die Arbeit einer anderen Ebene zu erledigen. Angst muss als vollständig viszerale Reaktion ohne Worte erfahren werden, um zur Auflösung zu gelangen. Sie kann Worte haben, wenn die Reaktion mit Kindheitsszenen verknüpft ist, aber es kommt die Zeit, da der Prototyp in seinem nacktem Zustand erreicht wird, die Zeit, als der Kortex noch nicht entsprechend entwickelt war.

Wenn sich Individuen mit den limbischen Strukturen erinnern, erinnern sie sich an Bilder aus der Kindheit, an Szenen, Bilder und an die Küchengerüche. Insbesondere an Gerüche, weil es das uralte Geruchshirn der Reptilien ist, das sich zum fühlenden Gehirn des Menschen weiter entwickelte. Auf diese Weise bringen wir Patienten in ihre Kindheit zurück. Und wenn sie sich an ein Zimmer erinnern, als sie drei Jahre alt waren, können sie die Farbe des Linoleums und das Arrangement der Möbel beschreiben; diese Beschreibungen werden später von den Eltern verifiziert, und die Patienten hätten sie nie vor der Wiedererlebens-Episode zustande gebracht. Sie können Mutters Backwerk riechen, als wären sie wieder als Kinder in der Küche.

Das Ziel jeder tiefgreifenden Therapie sollte die Wiedergewinnung von Gefühlen aus limbischen und hirnstammlichen Strukturen sein, wobei darauf zu achten ist, dass man nicht bei limbischen Einprägungen stehen bleibt. Wenn die Wiedergewinnung vollständig zustande kommt, normalisiert sich die Person. Das erübrigt nicht Ratschläge, Kindererziehung, Eheberatung oder Hilfe bei Alltagsproblemen. Zu oft jedoch stammen Eheprobleme von ziemlich tiefen Imprints in einem oder beiden der Partner.

Wenn ein Patient sich in einem vergangenen Feeling befindet, kommt es zu einem Fluss an Worten und Gedanken, der von Gedankenbildung kortikalen Ursprungs nicht erreicht wird. Mühelos sprudeln die Einsichten, und das geht lange Zeit so weiter, ohne dass der Patient nach Ideen forscht oder bewusst und gezielt nach Gedanken sucht. Ich habe immer wieder festgestellt, dass sich diese Art von Gedankenmuster qualitativ von rein links-kortikalen Prozessen unterscheidet, die rein intellektuell sind.

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DIE DRITTE LINIE: 
INTELLEKTUELLES BEWUSSTSEIN  

 

Die präfrontalen und orbitofrontalen Kortices der dritten Linie beginnen ungefähr im Alter von zwei eine aktive Rolle zu spielen und entwickeln sich bis zum Alter von ungefähr zwanzig Jahren weiter. Unter Vermittlung des Frontallappens organisiert das Gehirn alle intellektuellen Angelegenheiten. Das Bewusstsein der dritten Ebene integriert die tieferen Ebenen, hilft Impulse zu hemmen, befasst sich mit der externen Welt und fügt den Gefühlen Bedeutung bei. Es ist der Sitz ausgeklügelter Konzepte. Es erledigt die Vorausplanung und kann die Folgen von Handlungen absehen.

Das Problem besteht darin, dass Konzepte allein auf der dritten Linie existieren können, ohne eine solide Verbindung zu den unteren Linien zu haben. In diesem Fall sind wir schlau, aber nicht intelligent. Unsere Gefühle können uns nicht führen. Leute, die nie Hunger haben, die tagelang auskommen können, ohne ans Essen zu denken, sind ein Beispiel. Einige Individuen können monatelang ohne Sex auskommen, fühlen keinen Mangel und kein Verlangen danach. Für guten Sex brauchen Sie Zugang zur ersten Linie. Zuviel Zugang aufgrund schlechter Schleusung erzeugt jedoch Hyperreaktivität, die mit schlechter Impulskontrolle einhergeht. Diese Individuen können ihre sexuellen Impulse und ihr Verlangen oft nicht kontrollieren. Schlechte Schleusung kann zu vorzeitiger Ejakulation oder zu Nymphomanie führen, ganz zu schweigen von Vergewaltigung.

Als unsere Vorfahren vor langer Zeit widrigen Umständen aus dem Weg gehen mussten, brachte ihnen die Wanderung von Gehirnzellen nach oben und außen einen evolutionären Vorteil. Dank dieser evolutionären Entwicklung erwarben wir die Fähigkeit des Verstehens und Sprechens. Die dritte Linie, der Neokortex, handelt in Logik, Rationalität, Konzepten, Kalkulation und Wirklichkeits­prüfung. Er kann „vernünftig" sein und komplexe Philosophien entwickeln.

Das Bewusstsein der dritten Linie findet "Vernunftgründe", um das Verhalten anderer und unser eigenes zu erklären, befähigt uns, Motive auf andere zu projizieren, falsch wahrzunehmen und Logik so zu biegen, dass sie mit unseren inneren Wahrheiten übereinstimmt. Das ist eine Methode, Kritik abgleiten zu lassen. Es ist die dritte Linie, die Zwangsgedanken organisiert. Die Gefühlszentren müssen wegen der frühen Entbehrung an Liebe Überstunden leisten, während der frontale Kortex versucht, sich gegen die Flut zu stemmen. Er benutzt Obsessionen, um Gefühle zu absorbieren und zu kontrollieren. Obsessionen entstehen aus der Kollision tiefsitzender Feelings erster und zweiter Linie mit dem frontalen Kortex. Das Ergebnis ist die Überlastung dieses Kortex und die Erzeugung von Obsessionen. Tranquilizer funktionieren, weil sie die Menge an Input dämpfen, die aus den zwei tieferen Ebenen aufsteigt.

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Unverwurzelte Einsichten kommen auf der dritten Linie vor. Wenn es keine Verankerung im Unterbewusst­sein gibt, bleiben Einsichten auf dieser Ebene, ohne die instinktive und fühlende Basis zu berühren. Wenn erste, zweite und dritte Linie in Zusammenhang und Verbindung gebracht werden, kann die Person schließlich sich selbst trauen und ihre eigenen Motive und ebenso die der anderen erkennen. Sie ist bewusst.

Die linke Hemisphäre gräbt in unserer Vergangenheit nach den Fakten des Fühlens, während das rechte Gehirn das Rohgefühl an sich hervorholt. Es ist die Zusammenarbeit der zwei Seiten, die amorphes Leiden in spezifisches Fühlen umwandelt. Es bedeutet das Ende von Obsessionen; endlich weiß die linke Seite, was die rechte fühlt. Das ist Verknüpfung.

Also haben wir drei nach ihrem evolutionären Zeitpunkt voneinander getrennte Ebenen des Bewusstseins, die verschiedene Gehirnstrukturen beinhalten und spezifische Funktionen erfüllen. Schaden auf einer Ebene muss nicht unbedingt Auswirkungen auf eine andere haben. Man kann beeinträchtigte motorische Funktionen haben und dennoch eine kristallklare Wahrnehmung behalten. Leute im Koma funktionieren auf der ersten Linie, wobei die zwei höheren Ebenen inaktiv sind. Sie agieren auf einer elementaren Ebene, aber sie „funktionieren." Wenn Sie sie mit einer Nadel stechen, zucken sie zurück. Die Hand eines Menschen zu halten, der unter Narkose steht, kann den Schmerz lindern helfen. Die Person fühlt den Kontakt, obgleich sie sich auf einer anderen Ebene aufhält. Körperlicher Kontakt ist wichtig. In der Primärtherapie halten wir die Hand von Patienten, um den Schmerz zu besänftigen und um sie in die Gefühlszone zu bringen. Wir achten darauf, nicht zu viel oder zu lange dauernden Körperkontakt anzuwenden, um die Patienten nicht aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu bringen. Zuviel Beruhigung blockiert Feelings. Es ist eine knifflige Angelegenheit.

Jede Ebene des Bewusstseins trägt zu vollständigem Bewusstsein ((conscious-awareness)) bei. Gewahr zu sein, ist die dritte Linie. Bewusst gewahr zu sein, oder voll bewusst zu sein, umfasst die fließende Zusammenarbeit aller drei Linien – die rechte und linke Hemisphäre und der Hirnstamm mit dem limbischen und frontalen Kortex in harmonischer Kofunktion. In einer normalen, gesunden Person entsprechen diese drei unterschiedlichen Psychen spezifischen Gehirnstrukturen und funktionieren als integrierter, ausgeglichener psychischer Apparat. Sie gestatten der Person, ein fühlendes und denkendes Wesen zu sein. Gedanken können tiefere Bewusstseinsebenen prompt erreichen. Bewusstsein hilft uns, ungesunde Tätigkeiten wie Rauchen oder Überessen zu vermeiden. Man ist kein Opfer seiner Impulse mehr.

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Gesundheit bedeutet optimale Kohärenz oder Zusammenhang zwischen Ebenen, harmonisches Funktionieren, das dem Überleben dient. Werden die Ebenen gewissermaßen auseinandergenommen, besteht die Neigung zu späterer Krankheit. Die instinktive erste Linie ist damit betraut, unser Leben in einem Notfall zu retten. Ein Trauma beeinträchtigt diese Harmonie, bringt jemanden dazu, etwas zu tun, das er wissentlich nicht tun sollte, wie z.B. Alkohol- oder Drogenkonsum. Ohne diese Hilfsmittel müssten wir uns mit zuviel Schmerz befassen.

Wenn meine Patienten in einem Feeling sind und sich von der Gegenwart zur fernen Vergangenheit bewegen, dann zur Gegenwart zurück, nennen wir das eine 3-2-1-2-3 Sequenz. Das ist ein vervollständigtes Feeling: Zugriff auf die tiefsten Gehirnebenen und dann Rückkehr zum integrierenden frontalen Kortex, wo die Erinnerung zur letzten Ruhe gebettet wird. Die Ebenen formen eine Kette des Fühlens oder eine Kette der Schmerzen. Deshalb kann jemand, der eine Kindheitserinnerung wiedererlebt, im weiteren Verlauf der Sitzung in etwas Tieferes eintauchen. Niemand muss den Patienten den Weg dorthin zeigen; es geschieht automatisch, weil frühes Trauma Repräsentationen auf jeder der aufeinanderfolgenden Ebenen hat. Wenn eine Mutter und ein Vater liebevoll und freundlich, warmherzig und glücklich waren, wird ein Baby diesen Zugang schließlich ohne Therapie erlangen. Wenn sie es nicht waren, bedarf es tief forschender Therapie, um diesen Zugang anzubieten.

Eine meiner Patientinnen war bestürzt, weil sie nicht auf eine Dinner-Party eingeladen worden war. Sie kam in die Sitzung auf der dritten Linie, fühlte sich „vergessen". Im weiteren Verlauf der Sitzung brachte sie das Feeling auf die zweite Linie hinab, wo sie von ihren Eltern ausgeschlossen wurde, deren emotionale Beziehung unter Ausschluss ihrer Kinder stattfand. (Den Kindern war nicht erlaubt, mit den Eltern zu essen.) Schließlich fühlte sie ihre Geburt. Sie war die zweite von Zwillingen. Die Ärzte hatten sie zuerst nicht wahrgenommen, und sie blieb für, wie sie es jetzt betrachtet, übermäßig lange Zeit im Mutterleib. Sie litt physiologisch, was später durch die limbisch-frontalen Verknüpfungen zu einem Gefühl des Vergessenwordenseins oder Ausgeschlossenseins ausgearbeitet wurde (tatsächlich drinnen gelassen, aber sich draußen gelassen fühlend).

Die erste Erinnerung ist strikt physiologisch, aber mit der Entwicklung des Gehirns interpretieren die Nervennetzwerke auf höheren Ebenen die Erinnerung auf ihre eigene Weise; das fühlende Gehirn im Sinne von Bildern, Poesie, Gemälden und Träumen, während der denkende Kortex dafür das Etikett oder die Bedeutung zur Verfügung stellt. Zum Glück können wir diesen Repräsentationen folgen, bis uns das Gehirn des Patienten zu den Ursprüngen zurückführt. Wir fangen nicht mit dem ursprünglichen Schmerz an. Wir versuchen immer, bei Schlüsselrepäsentationen auf den höheren Ebenen anzufangen. Das Gehirn erledigt den Rest, falls wir uns nicht einmischen und die Patienten zu „behandeln" versuchen. 

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Jetzt verstehen wir, warum ein Patient, der sich in der Gegenwart hoffnungslos und deprimiert fühlt, sich die Ebenen des Bewusstseins hinab zu einem Geburtstrauma bewegen kann, bei dem schwere Anästhesie jegliche Art von Reaktion verhindert hatte. Dieser Prototyp führt zu Resignation und zu Gefühlen des Scheiterns. Es standen keine Alternativen zur Wahl. Als mein Patient mit dieser Art von Einprägung sich von seiner Freundin verlassen fand, steckte er wieder im selben Gefühl, sah keinen Ausweg, fühlte sich überwältigt und geschlagen. Er war total handlungsunfähig, die ganze Strecke von Anfang an. Wenn wir ein gewisses Verhalten sehen, z.B. Handlungsunfähigkeit, und es als separate Angelegenheit behandeln, lassen wir alle mit der Erinnerung einhergehenden Aspekte aus.

Wenn ein Trauma seinen Ursprung auf der ersten Linie hat und der Therapeut nicht weiß, wie er den Patienten sicher dort hinbringen kann, wird der Patient nicht gesund werden. Kurz gesagt kann es Ihnen auf der dritten Linie „gut" gehen; Sie können gut angepasst sein, in der Schule gut zurecht kommen, eine gute Ehe führen, und dennoch mit Schmerz belastet sein. Wenn die Person mit diesem Ergebnis zufrieden ist, dann ist es gut. Aber sie sollte wenigstens darüber informiert sein, dass es vieles gibt, das darunter verborgen liegt.

Die oben genannte Patientin, die bei der Dinner-Party übergangen wurde, begriff ihre Angst. Das Unbewusste war bewusst gemacht worden. Keine Angst mehr. Sie wird nicht in einer einzigen Sitzung aufgelöst, weil unser Verdrängungssystem jeweils nur eine begrenzte Menge an Gefühl zulässt. Wenn zuviel Schmerz Zugang gewinnt, haben wir eine Überlastung und in der Folge entweder völliges Abschalten oder mystische Symbolisierung, weil der Kortex sich windet, um mit dem Schmerz fertig zu werden. Das ursprüngliche Trauma auf Leben und Tod ist von solcher Größe, dass es vieler, vieler Primals zur Auflösung bedarf. Wir würden gar nicht wollen, dass wir in einer einzigen Sitzung die Auflösung erreichen.

Der frontale Kortex ist wesentlicher Bestandteil des Fühlens. Er schreit oder weint nicht einfach für sich selbst. Er hat Zugang zu dem limbischen Gefühl, um es richtig verstehen zu können; er befasst sich mit den limbisch-kortikalen Schaltkreisen, die das Feeling vollständig machen. Solange Sie den frontalen Kortex nicht einbeziehen, können Sie brüllen und schreien, weinen und schluchzen und auf die Wände einschlagen, ohne jemals einen Fortschritt zu erzielen. Aber wenn Sie nur den frontalen Kortex benutzen, ohne Zugang zu tieferen Ebenen zu haben, werden Sie dennoch kein komplettes Feeling haben.

Ein Trauma erstreckt sich über alle Ebenen des Bewusstseins und wird letzten Endes im Neokortex hinterlegt. Therapie involviert das Zurückholen der Erinnerungen auf allen drei Ebenen. Endgültige Verknüpfung bedeutet, die Erinnerungen unter Einbeziehung aller drei Ebenen zurückzugewinnen: der instinktiven/das Überleben sichernden, der fühlenden, und der kognitiven Ebene.

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DIE HEMISPHÄREN DER LIEBE:  
DIE RECHTE UND LINKE HEMISPHÄRE

 

Wenn ein Baby Emotion bei einem Elternteil miterlebt, feuern Nervenzellen in der rechten Hemisphäre seines Gehirns, und der Blutzufluss in diese Region nimmt zu. Diese Zellen feuern auch, wenn das Baby die Emotion erwidert. Die rechte Seite antwortet auf Liebesimpulse, die von dem Elternteil kommen. Dem entsprechend leuchtet sie auf, wenn ein Patient ein emotionales Trauma aus der frühen Kindheit wiedererlebt. Für uns ist das eine weitere Möglichkeit, uns zu vergewissern, dass das Wiedererlebnis ein reales Ereignis ist. 

Wenn ein Patient ein altes Trauma erzählt, dann ist weitgehend das linke Gehirn involviert. Der zentrale Kern der Höllenqualen liegt indessen ein paar Zentimeter westlich und südlich. So ist die Route, wie wir sie in unseren Patienten sehen können, die eine Sitzung damit beginnen, dass sie von fehlender Liebe im Alter von sechs Jahren erzählen. Die kortikal-limbischen Netzwerke operieren mehr von der rechten Seite des Gehirns aus. Kurz gesagt kommunizieren Gefühle mehr mit dem rechten Gehirn als mit dem linken und enden im rechten frontalen Kortex.

Verbale, analytische, Probleme lösende Prozesse werden von der linken Seite des Gehirns ausgeführt, wogegen Gefühle, emotionale Bindung und Kreativität die Domäne der rechten Seite sind. Folglich würde ich die rechte Seite in der Tat als Hemisphäre der Liebe betrachten. R.J. Davidson glaubt, dass die rechte Seite die Hemisphäre ist, die das große Bild sieht, einschließlich der Gesamtheit der Beziehung zu den Eltern.

Die linke und rechte Hemisphäre haben ihre jeweils eigenen spezifischen Funktionen. Die rechte Hemisphäre ist größer als die linke und bearbeitet emotionale Einprägungen. Es ist die Seite des Fühlens, des ganzheitlichen und globalen Denkens. Die linke Seite steuert Denken, Planung und Begriffsbildung. Der frontale Kortex ist gegen Ende des zweiten Lebensjahres halbwegs entwickelt. Zu diesem Zeitpunkt ist das rechte Gehirn weitgehend reif, während das linke Gehirn erst mit dem Reifeprozess beginnt.

Es ist interessant, dass die rechte Seite mehr mit dem Rückzug aus der Konfrontation assoziiert ist. Es scheint, dass die Verschiebung zum parasympathetischen Modus das rechtsseitige sozial-emotionale Rückzugssyndrom begünstigt. Was ich hier diskutiere, ist gezwungenermaßen zum Teil Spekulation. Es ist jedoch nicht völlig aus der Luft gegriffen, weil dahinter viele Jahrzehnte klinischer Erfahrung stecken. Nichtsdestotrotz sollte der Horizont manchmal über die aktuellen Fakten hinausreichen; ein atavistischer Sprung in bloße Möglichkeiten. 

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Aber wenn wir das Mögliche nicht sehen, werden wir keine großen Sprünge machen. Diese Möglichkeiten müssen jedoch in gewisser Beziehung zur aktuellen Forschung stehen. Seit dreißig Jahren schreibe ich über das Geburtstrauma und eingeprägten Kindheitsschmerz. Jetzt zieht die Forschung nach. (Eine aktuelle Ausgabe der Newsweek schreibt in der Titelgeschichte über die Auswirkungen des Lebens im Mutterleib.) Wir sollten nicht davor zurückschrecken, Möglichkeiten zu postulieren. Das ist eine andere Art zu sagen, dass Wissenschaft nicht einfach Statistik ist. Auch Ideen zählen.

Vielleicht bin ich der Schuster, der nur Schuhe in der Welt sieht; da ich Therapeut bin, sehe ich nur Schmerz in Menschen. Alle Wissenschaftler müssen in dieser Hinsicht vorsichtig sein, denn wenn wir einen Hammer haben, sieht alles auf der Welt wie ein Nagel aus.

 

DIE EMPATHIE DES RECHTEN GEHIRNS

 

Das rechte Gehirn ist empathisch, fähig zu spüren, was andere fühlen, fähig wahrzunehmen, ob jemand aufrichtig ist. Es hält uns in Kontakt mit uns selbst und unseren Gefühlen. Weil es sich früher entwickelt, ist es sensibler für die Emotionen der schwangeren Mutter, geht eine Bindung mit ihr ein und organisiert die limbischen Strukturen, soweit sie zu kortikalem Wissen in Bezug stehen. Auch auf diese Weise wissen wir, dass Feelings Gedanken vorangehen, besonders abstraktem Denken, und stärker als Gedanken sind. Das rechte Gehirn ist von Gefühlen abhängig. Es braucht die „Liebe" der Mutter, um sich weiter zu entwickeln. Mit dem limbisch-fühlenden Strukturen steht es durch starke interaktive Kreisbahnen in Verbindung und dominiert deshalb, wenn Gefühle involviert sind.

Schore kommentiert, wie das Kleinkind das rechte Gehirn der Mutter „als Schablone für die Einprägung und feste Verdrahtung der Schaltkreise in seinem eigenen rechten Kortex (benutzt)." Diese Hemisphäre ist weitgehend dafür verantwortlich, wie sich Kind und Erwachsene aufeinander beziehen. Defekte Beziehungen in den ersten zwei Jahren des Lebens reduzieren die Anzahl kortikaler Synapsen und verändern die Struktur der rechten Seite.

Wenn das Interesse einer Mutter übermäßig ist und sie zuviel Aufmerksamkeit von ihrem Baby verlangt, wird das Baby überlastet und überwältigt. Wenn eine Mutter zu wenig Interesse hat und auf ihr Baby nicht eingeht, werden die sich schnell entwickelnden Nervenbahnen zwischen dem frontalen Kortex und dem limbischen System beeinträchtigt, und zwar mehr in der rechten Hemisphäre als in der linken. Das ist in der aktuellen Literatur als Mangel an Abstimmung ((lack of attunement)) bekannt. Das Gehirn braucht optimale Stimulierung, um sich zu entwickeln.

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Wenn es in der frühen Kindheit anhaltenden Stress gibt, ständiges Fehlen von Liebe, elterliche Gleichgültigkeit und kein Eingehen auf Bedürfnisse, dann leidet das rechte Gehirn. Oft wird oder kann es dem linken Gehirn nicht mitteilen, was nicht stimmt oder nicht einmal, dass etwas nicht stimmt. Der Grund mag sein, dass das linke Gehirn noch nicht voll entwickelt ist. Wenn wir älter werden, geht das linke Gehirn lustig seinen Weg weiter, blind für das Leiden des rechten Gehirns. Wollte man einen Psychopathen erzeugen, jemanden ohne wirkliche emotionale Bindung, müsste man Vernachlässigung, Mangel an Körperkontakt und Gleichgültigkeit am Anfang des Lebens zudiktieren. Dann schnellen die Kortisolwerte im Baby in die Höhe und „fühlende" Zellen beginnen zu sterben. Die rechte Hemisphäre ist dann unfähig, den Schmerz anderer mitzufühlen oder ihn auch nur zu sehen.

Früher Stress beeinträchtigt die Verknüpfungen zwischen dem rechten Gehirn und dem limbischen System und verursacht einen Dominanzwechsel von links nach rechts. In unserer Forschungsarbeit mit Dr. Erik Hoffman und Leonid Goldstein von der Rutgers Universität fanden wir eine Normalisierung und eine größere Ausgeglichenheit zwischen den Hemisphären nach einem Jahr Primärtherapie. Hoffman schreibt: „Im Verlauf der Therapie werden die bilateralen Amplituden symmetrischer." Das Gehirn befindet sich in größerer Harmonie. Bei eingeprägtem Schmerz scheint es zu einer Asymmetrie zwischen den Hälften zu kommen, die vielleicht auf unterschiedlich starken Druck aus tieferen Ebenen zurückzuführen ist. Der Druck scheint auf der rechten Seite größer zu sein. Therapie hilft, die Symmetrie wieder herzustellen.

Leute, die ein beeinträchtigtes Rechtshirn haben, können ein „hölzernes" Gesicht, Ausdruckslosigkeit oder Teilnahmslosigkeit an sich haben. Vielleicht fehlte ihnen in der Kindheit eine spontane, warmherzige, empfängliche Beziehung mit ihren Eltern. Im weiteren Verlauf der Zeit kommt es zu einem Kippen zur linken Seite hin, da die Gefühle vergraben werden. Die linke Seite denkt analytisch bis ins kleinste Detail über äußere Angelegenheiten nach, im Gegensatz zur rechten, die Selbst-Bewusstheit organisiert. Die linke Seite lauscht nur dem Text, während das rechte Gehirn sich zu der Musik bewegt.

Die rechte Hemisphäre ist in jegliche Art von Psychopathologie schuldhaft verwickelt, von Autismus bis Psychose und Depression. In Angstzuständen ist es das rechte Gehirn, das hochaktiv ist. Reaktivierung früher Erinnerungen stimuliert das rechte Gehirn und seine limbischen Ergänzungen. Kleinkinder, die schrieen, wenn sie von ihren Müttern getrennt wurden, zeigten größere rechtsfrontale Aktivierung als die Kinder, die nicht schrieen. Aber um genau zu sein: Auch das linke Gehirn ist mit Schizophrenie in Zusammenhang bebracht worden.

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Ich denke, das hat eine Menge damit zu tun, dass das linke Gehirn tut, was es kann, also paranoide Ideen gebraucht, um mit den Gefühlen von der anderen Seite fertig zu werden.

Es ergibt einen Sinn, dass die rechte Hemisphäre so vielen unterschiedlichen Störungen zugrunde liegt, da sie durch frühes Trauma und fehlende Liebe Schaden erleidet. Beim Wiedererleben dieser frühen Traumen ist es diese Hemisphäre, die schwer involviert ist. Eine stattliche Reihe von Krankheiten psychischer und physischer Art wurzelt in fehlender Berührung und Zärtlichkeit am Anfang des Lebens, in ungesunden Gewohnheiten der austragenden Mutter, in den chaotischen ersten paar Jahren des Lebens und in schweren Geburten, die den massiven Einsatz von Anästhesie erfordern.

Die Wirkung hält bis ins Erwachsenenalter an, wo dann vielleicht fortdauernde Lernprobleme wie Dyslexie ((Lesestörung)) auftreten. Ein Defizit im rechten Gehirn kann sich darauf auswirken, wie gut jemand stabile Freundschaften schmiedet und wie leicht sie/er starke emotionale Bande entwickelt. Es ist nicht so leicht, eine beständige warmherzige Beziehung mit einem Rechtshirndefekt zu unterhalten. Die linke Seite argumentiert vernünftig und entschuldigt sich, und zwei Monate später gibt es vielleicht einen weiteren gewaltigen Ausbruch der rechten Seite, die vergaß, was die linke in ihrer Entschuldigung gesagt hat. In einem zusammenhanglosen Gehirn ist das linke Gehirn unfähig, das rechte zu kontrollieren.

Die rechte Hemisphäre befasst sich im allgemeinen nicht mit Worten, zumindest nicht im komplexen Sinn von Worten. Das ist logisch, zumal sie genötigt ist, mit präverbalen Traumen fertig zu werden. Wenn meine Patienten lebendige frühe Szenen 'anzapfen’, folgt die Emotion gewöhnlich nach. Neurochemikalien wie Serotonin haben den Informationstransfer von der rechten Seite zur linken blockiert und lassen die Erwachsene in einem Zustand zurück, in dem sie keinen Zugang zu ihren Gefühlen hat. Sie glaubt, was immer ihr gesagt wird, weil sie keine Gefühle mehr hat, die sie leiten könnten. Es gibt eindeutig ein Rechtshirn-Bewusstsein und ein Linkshirn-Bewusstsein, aber vollständiges Bewusstsein ((conscious-awareness)) erfordert beide.

Emotionales Gedächtnis (implizites Gedächtnis genannt) gehört zum rechten Gehirn, während das Erinnern von Fakten und Figuren (explizites oder deklaratives Gedächtnis genannt) zum linken gehört. Wenn meine Patienten auf eine tiefere Bewusstseinsebene zurückgehen, kann sich das überwiegend auf Bahnen der rechten Hemisphäre abspielen, die sie zu limbischen Trakten hinabführen und von dort zum Hirnstamm. Unterdessen ist sich die linke Hemisphäre nur vage bewusst, was in der rechten los ist. Wenn jemand auf die tiefste Gefühlsebene hinabsteigt, kann das linke Gehirn ankoppeln und beginnen, das frühere Verhalten der Person zu erklären.

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DAS LINKE ANALYTISCHE GEHIRN

 

Das linke Gehirn analysiert und folgert, kann Erinnerung aber nur auf abstrakte Weise abrufen. Wenn wir versuchen, in der Therapie allein durch die Einsichten des linken Gehirns gesund zu werden, betreten wir ein Labyrinth von Konzepten ohne Ausgang. Es bedeutet, nur halbwegs gesund zu werden. Das linke wird gut angepasst sein, während das rechte dem Emotionalleben entsprechend ein Durcheinander ist. Aber das linke Gehirn kann noch immer einen Computer betreiben, gute Noten bekommen und erfolgreich arbeiten. Es ist nicht möglich, das linke Gehirn die Arbeit des rechten Gehirns machen zu lassen. Wir müssen die verletzte Seite mit dem Gehirn heilen, das verletzt wurde.

Wenn wir älter werden, entwickeln wir raffiniertere linkshemisphärische Rationalisierungen für unsere Gefühle. Gedanken können sich ändern, aber sie sind doch durch die Parameter der Gefühle und Einprägungen eingegrenzt. „Du kannst keinem trauen" ist das, was ein Zyniker jeden Tag ausagiert. Seine Vorstellungen folgen seiner vergangenen Geschichte. Wenn er niemals liebevolle Eltern hatte und sich niemals sicher fühlte, wenn er Eltern hatte, die nie ihr Wort hielten, dann traut er vielleicht anderen nicht. Viele Patienten haben diese Erfahrung gemacht. Sie gehen vorsichtig zu Werke und können sich einer Beziehung nicht voll hingeben. Auf diese Weise führt das linke Gehirn das Diktat des rechten Gehirns aus; es führt Befehle aus, die aus einer unsichtbaren, ungefühlten Quelle stammen.

Das rechte Gehirn fügt einer Situation Gefühl – Bedeutung – hinzu. Roboter haben kein Gefühl; sie reflektieren nicht über ihr Verhalten. Auch überwiegend vom Linkshirn dominierte Leute tun es nicht. Die rechte Seite ist sich innerer Zustände bewusst, sie erkennt zum Beispiel, was unsere Stimmungen verursacht. Die linke Seite ist sich der Außenwelt bewusst und benutzt diesen äußeren Brennpunkt, um sich weit von Gefühlen entfernt zu halten. Sie engagiert sich darin, sich über den Punktestand im Football, über die Entwicklung im Basketball, über Kasseneinnahmen und ökonomische Trends auf dem Laufenden zu halten. Sie kann auch fantastische Einsichten in der Psychotherapie loslassen, ohne je das geringste zu fühlen. Wenn die Erinnerung des rechten Gehirns wieder zum Vorschein kommt, kann sie durchaus wortlos sein, und sie beinhaltet den innersten Kern des Schmerzes, weil der limbische Hippocampus und die Amygdala verschwiegene Leidensbotschaften zum Kortex losschicken.

Die linke Hemisphäre bleibt auf Distanz. Sie kann uns sagen lassen: "Oh, wie schrecklich". Aber um zu fühlen und sich einzufühlen und zu "wissen", wie schrecklich etwas tatsächlich ist, brauchen wir die Kooperation und Assistenz der rechten Hemisphäre.

Die Wiedergewinnung emotionaler Erinnerung wird vom Hippocampus der rechten Seite zustande gebracht. Er bringt Gefühle zum frontalen Kortex, sodass es zu einer Verknüpfung kommt.

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Wir brauchen diesen frontalen Kortex, um uns unseres inneren Zustands bewusst zu sein. Der frontale Kortex kann mit Gefühlen alles Mögliche machen; das schließt ein, sie zu symbolisieren und sie in mystische Ideen umzuleiten. „Gott wacht über mich und lässt nicht zu, dass mir Böses widerfährt," sagt eine Person, über die zu Beginn des Lebens nie jemand gewacht hat und die nie beschützt wurde. Der Schmerz/das Bedürfnis ist ins Gegenteil transformiert worden: symbolische Erfüllung durch eine Gottheit. Es ist eine Erfüllung, die der Kortex ausgeheckt hat, indem er uns den trügerischen Glauben gibt, wir werden beschützt, wenngleich dem nicht so ist. Die Person fühlt sich sicher und beschützt, nicht von der Gottheit, sondern von dem Wort „Gott". Kortikale Ideen sind sehr gute Hemmer.

Der frontale Bereich bewirkt, dass wir uns durch die Freisetzung von Opiaten, die im obigen Fall durch die Idee „Gott" ausgelöst werden, „besser fühlen". Wenn die Menge an Opiaten, die im System aktiv sind, gemessen wird, finden wir, dass wir uns umso besser fühlen oder nicht fühlen, je höher der Grad der Hemmung oder Schleusung ist. Es ist ein Oxymoron: Nichts zu fühlen bewirkt, dass wir uns besser fühlen. Genau das verwirrt so viele von uns. Der frontale Kortex ist sehr erfinderisch, wenn es darum geht, mit Gefühlen fertig zu werden. Der linke Kortex kann beschließen: „Liebe ist ein Mythos. Niemand braucht Erfüllung," während die rechte Seite danach schreit. Dieser lautlose Schrei arbeitet sich durch das Körpersystem, bis schließlich ein blutendes Geschwür, ein Schlaganfall oder eine Herzattacke auftritt. Er erhöht den Blutdruck, weil das System für den permanenten Kampf gegen einen unsichtbaren Feind — gegen katastrophale Feelings — hochschaltet.

Das limbische System hat auf der rechten Seite des Kortex mehr zweibahnige Nervenfasernetze als auf der linken. Liebe trägt zur Entwicklung dieser Hemisphäre bei. Ein umsorgtes Kind ist empathischer und sympathischer, bereitwilliger, die Gefühle anderer anzuerkennen und zu verstehen und eines Tages eine bessere Mutter oder ein besserer Vater zu sein, weil es schon seit seiner frühen Kindheit die ausgeprägte Fähigkeit zu fühlen besitzt. Frühe Liebe formt das Gehirn im wahrsten Sinne des Wortes. Sie brauchen nicht zu resignieren. Sie können eine Menge tun, um frühen Schmerz und seine Folgen zu reduzieren, auch wenn er nicht völlig ausgelöscht werden kann.

 

DIE SCHLACHT IM GEHIRN 
ZWISCHEN GEDANKEN UND GEFÜHLEN

Gedanken können an eingeprägten Feelings nichts ändern. Es ist kontra-evolutionär, verkehrte Logik. Das Gehirn hält sich an seine Evolution: Die rechte fühlende Hemisphäre war und ist vor der kritisierenden linken entwickelt.

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Feelings ändern Gedanken, nicht umgekehrt. Es gibt viel mehr von limbischen Zentren zum Frontalbereich aufsteigende als vom frontalen Kortex absteigende Trakte. Gefühle gehen der Entwicklung von Gedanken voraus und sind stärker; wohingegen die dem Hirnstamm eingeprägten Empfindungen ((sensations)) weitaus stärker als Gefühle und Gedanken zusammen sind, weil sie mehr mit dem Überleben in Verbindung stehen.

 

Was geschieht mit unseren Gefühlen? Der emotionale Schmerz im limbischen Areal bewegt sich zum Kortex, damit wir uns seiner bewusst werden. Aber er wird von einer Reihe von Strukturen blockiert und abgelenkt, nicht zuletzt vom Thalamus. Er bewegt sich dann in Richtung Assoziationskortex, wo die Gefühle zerhackt und neu definiert werden. „Ich bin nicht wirklich eifersüchtig. Ich bin nicht wütend." Sie werden entschärft. Unterdessen greift unsere Hand sofort nach einer Zigarette, um das System ruhig und die Verdrängung aufrecht zu halten.

In einer Studie der Kinderärzte R. J. Harmon und Paula D. Riggs wurde fünf Kindern im Vorschulalter mit posttraumatischem Stress-Syndrom Clonidin (ein Hirnstammblocker) verabreicht. Die Kinder wurden weniger aggressiv und impulsiv, erlebten weniger emotionale Ausbrüche und schliefen besser. Clonidin ist bei der Behandlung von Erwachsenen mit Angst- oder Zwangsstörungen sehr effektiv, weil die Wurzeln der Angst in primitiven Gehirnstrukturen liegen, die Einprägungen aus der fernen Vergangenheit verarbeiten. All das tendiert dazu, unsere klinischen Forschungsresultate zu bekräftigen, dass sehr frühe Imprints Regionen des Hirnstamms beeinträchtigen und die Grundlage so vieler späterer Symptome bilden. Die Symptome können von Person zu Person differieren, aber die Startrampe ist die gleiche.

Bei zwanghafter Besorgtheit kann es sein, dass der Thalamus und die Amygdala der rechten Seite zusammen mit dem retikulären Aktivierungssystem zuviel Input zu höheren Zentren und insbesondere zum linken Frontalbereich zulassen, was den Kortex zu Überstunden veranlasst. Die Gedanken treiben die Person nicht zum Wahnsinn; die Gefühle treiben die Gedanken, was die Gedanken sodann verrückt erscheinen lässt. Furcht aus einem frühen Trauma bahnt sich seinen Weg zum frontalen Kortex. Ein Teil des Leidens gelangt durch die Schleuse und erreicht den frontalen Kortex, wo es in ständige Besorgtheit übersetzt wird: „Was , wenn ich einen Autounfall habe?" „Wenn es ein Erdbeben gibt?" „Und wenn ich meinen Job verliere?" Die schlechte Nachricht hat sich bereits ereignet. Wenn der Schmerz noch stärker ist, können die Gedanken in den bizarren Bereich ausstrahlen (z.B. „Ich weiß, es wird jeden Augenblick ein Erdbeben geben, und Kalifornien wird im Meer versinken").

Das Gehirn ist in der Tat eine wundersame Struktur in dem Sinne, dass es uns vor Schlimmem bewahrt, und in dem Sinne, dass die eine Hälfte nicht weiß, was die andere Hälfte gerade vorhat; eine Gabelung, die ein weiterer Überlebensmechanismus ist.

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Die Neuronen, die mit einer Art Gallert gefüllt sind, wissen, wann Gefahr im Verzug ist, und konstruieren die Kräfte, die sie zurückschlagen. Dieses Gallert kann farbenprächtige Bilder hervorzaubern und einen Teil des Gehirns „anweisen", Schmerzkiller zu produzieren. Letztlich ist es nur ein Stück Materie. Aber was für außergewöhnliche Kräfte!

Solange wir nicht unter den Kortex gehen, werden wir weiterhin dem Trinken, Stehlen, den Migränen, Geschwüren, Drogen und was immer Sie haben zum Opfer fallen. Es steht zur Wahl: entweder wir lassen die Gefühle nach oben zur Verknüpfung kommen und verbinden die rechte Seite des Gehirns mit der linken, oder wir unterdrücken sie, indem wir sie ignorieren, sie umleiten, betäuben oder indem wir uns selbst glauben machen, dass sie nicht existieren. Das ist das Dilemma, mit dem sich jede Psychotherapie auseinandersetzen muss. Wann immer tiefer Schmerz ignoriert wird, ist das gleichbedeutend damit, unsere Physiologie zu verleugnen.

Meine Kollegen und ich führten 1984 in England in Verbindung mit Open University und St. Bartholomews Hospital, London, Imipramin-Messungen durch. Es war eine Doppelblindstudie, die von Professor Steven Rose von der Open University geleitet wurde, unter Mitarbeit von Professor Bernard Watson vom St. Bartholomews.

Wir maßen die Imipramin-Bindung an Blutplättchen. Imipramin ist ein Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer und ebenso ein Norepinephrin-Hemmer1, also nahmen wir an, die Vorgänge im Blutsystem würden mit den Vorgängen im Gehirn übereinstimmen. Wenn wir von Aufnahme-Hemmern reden, brauchen wir nur zu wissen, dass das Endresultat mehr Serotonin und Epinephrin in der Synapse ist, und das bedeutet bessere Verdrängung oder Hemmung. Bei Depressiven ist die Imipramin-Bindung niedriger.

Blutplättchen ähneln in biochemischer Hinsicht den Neuronen, was den Besitz von Stellen zur Transmitteraufnahme und Transmitterbindung einschließt. Die Werte stiegen im Verlauf unserer Therapie an, sodass sich die Imipramin-Bindung an Blutplättchen in unserer Therapie normalisiert, obgleich sie bei Depressiven niedriger ist. Mit der Normalisierung stieg dann die Antischmerz- und Antiangstkapazität der Patienten. Das Verdrängungssystem arbeitete besser.

 

1)  Wenn ein „Aufnahme-Hemmer" in Aktion ist, bedeutet dies, dass die chemische Substanz Serotonin nicht aufgenommen oder nicht zurückgenommen wird. Das Resultat: mehr Serotonin in der Synapse, um die Verdrängung zu fördern. 

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Hier sind Professor Roses Schlussfolgerungen:

  1. Selbstbezogene Individuen zeigen zu Anfang der Psychotherapie einen Bindungsgrad von 3H-Imipramin an Bluttplättchen, der ungefähr die Hälfte des Wertes einer Kontrollgruppe von selbstdefinierten normalen Versuchspersonen beträgt, die nicht in Therapie sind.

  2. Sechs Monate nach Beginn einer primärtherapeutischen Behandlung hatte sich ihr durchschnittlicher Imipramin-Bindungsgrad erhöht, bis er nicht mehr von den Kontrollwerten zu unterscheiden war, und diese Erhöhung hielt weitere sechs Monate an.

  3. Elf von zwölf Versuchspersonen zeigten während dieser Periode Verbesserungen der Punktezahl auf einer willkürlichen psychischen Bewertungsskala, und es gab eine positive Korrelation zwischen dieser verbesserten Bewertung und erhöhter Imipramin-Bindung.

Wenn wir Imipraminbindung diskutieren, müssen wir uns „Serotonin" denken (oder noch leichter: „Prozac"). Wir messen etwas, das, wie wir glauben, im Gehirn nachgemacht wird. Die Bedeutung dieser Forschung liegt darin, dass neue Patienten, die oft äußerst ängstlich sind, eine niedrige Bindung aufweisen. Wenn die Therapie jedoch fortschreitet, kommen sie auf normale Werte. Durch die Auflösung von Gefühlen wird ihr Verdrängungssystem effektiver. Deshalb sind sie ruhiger und entspannter, was wir durch unseren Fragebogen herausfanden.

Diese Studie repräsentiert nach unserem Wissen den ersten Versuch, eine biochemische Messung, die in der biologischen Psychiatrie allgemein gebräuchlich ist, auf eine psychotherapeutische Behandlung zu beziehen. Sein positives Ergebnis sollte zu ausgedehnteren experimentellen und theoretischen Studien biochemischer Kennzeichen in der Psychotherapie ermutigen.

Wer soll sagen, dass ich mich nicht gut fühle, wenn ich mich tatsächlich gut fühle? Der Körper soll es, weil er vielleicht aufgrund dieser Selbsttäuschung einer Herzkrankheit, einem Geschwür oder Schlaganfall erliegt. Es mag sein, dass wir rauchen wollen, egal, was die Forschung sagt. Unser Kortex wird sich dafür einen Grund suchen. Wir argumentieren, dass ein Raucher in Russland 110 Jahre alt geworden ist, bringen uns selbst zu der Überzeugung, es sei möglich, ohne Schaden davonzukommen.  

Das Bedürfnis, den Schmerz zu unterdrücken, ist übermächtig; niemand ist schlauer oder stärker als dieses Bedürfnis, und niemand setzt sich je darüber hinweg. Es ist Grundlage des Überlebens. Wir müssen daran denken, dass Selbsttäuschung Teil des Abwehrapparats und somit zwingend notwendig ist, genau wie es die Illusionen des Paranoiden sind. Nichts ist so grenzenlos wie Selbsttäuschung. Es ist Teil der menschlichen Existenzbedingung. Wir sollten noch einmal nachdenken, ehe wir probieren unsere Patienten hinsichtlich ihrer sonderbaren oder irrationalen Ideen eines Besseren belehren, weil hier der Kortex versucht, unsichtbare und unbekannte Kräfte zu rationalisieren.

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NOLAN

Ich kam wegen der Primärtherapie von Australien nach Venice, Kalifornien, weil ich immer unglücklich, alleine und ängstlich war und mich vor den Leuten verbarg. Ich war nicht in der Lage, mich zu ändern. Achtzehn Jahre lang war ich schwerer Trinker, um Erleichterung zu finden und um es bei Leuten auszuhalten. Aber schließlich war alles zuviel — mein Verhalten, meine Schuld­gefühle und die gräßlichen 'Kater’ hinterher. Ich ging zu den Anonymen Alkoholikern, aber nach neun Jahren Nüchternheit im Zwölf-Schritte-Programm und nach vielen verschiedenen Therapeuten war ich verzweifelt. 

Als ich Dr. Janovs Bücher las, kam in mir Hoffnung auf. Ich war wütend auf meine Eltern. Mit meiner Lohntüte aus elf Jahren Arbeit kam ich hierher – was erstaunlich für mich war, weil ich so viel Angst hatte, alleine wohin zu gehen. Die Hoffnung auf ein glückliches Leben bedeutete mir alles. Ich bin nun seit zwei Jahren hier und zu einem großen Teil bestand die Therapie darin, mehr über mich selbst zu erfahren.

Es ist unglaublich, aber mir war nie klar, wie ängstlich und deprimiert ich immer gewesen war. Jahrelang habe ich versucht, alle meine Probleme durch Trinken zu lösen. Das war eine große Abwehr, um nicht fühlen zu müssen, wie sehr ich litt. Ich hatte immer Streit mit Leuten und war unfähig, mit den Gefühlen umzugehen. Entweder ging ich gekränkt weg oder ich attackierte sie rasend vor Wut. Wenn ich nun den Schmerz eines gegenwärtigen Ereignisses fühle und ihn zu ähnlichem Schmerz in der Vergangenheit zurückverfolge, kann ich verstehen, warum ich so sehr leide. Es befähigt mich auch, näher bei Menschen zu sein. Zum Beispiel sagte mir eine meiner Zimmergenossinnen hier, dass ich ihr Freund sei und dass sie mich möge – magische Worte für mich. Es bedeutet alles für mich, gemocht und erwünscht zu sein.

Wir wurden Freunde, aber allmählich begriff ich, dass sich unsere Beziehung allein um ihre Bedürfnisse drehte. Dass sie das zu mir gesagt hatte, damit ich mich um sie kümmern würde. Ich erkannte, dass meine Gefühle nicht zählten. Schließlich explodierte ich in der Gruppensitzung und fühlte die ganze Frustration und den ganzen Ärger. Ich wollte, dass sie für mich da ist, so wie für sie da war. Durch diese Beziehung war ich fähig zurückzugehen und zu fühlen, wie meine Mutter all die richtigen Worte sagte, sich aber nicht um mich kümmerte – all den Schmerz, nicht erwünscht zu sein – und wie ich darum kämpfte, dass sie mich liebte.

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Das Schlimmste an dieser Therapie ist, fühlen zu müssen, wie sehr ich meine Eltern lieben wollte und wie sehr ich es brauchte, dass sie das wissen. Aber sie mochten mich nicht. Das hat alle meine Beziehungen beeinträchtigt. Es fühlt sich für mich an wie der Tod – ungewollt zu sein. Vor kurzem fühlte ich, wie sehr ich wollte, dass meine Tante Maisie mich zu sich nahm. Ich liebte sie und wusste, dass sie mich wirklich mochte. Ich war erst drei Jahre alt und wusste schon damals, dass meine Eltern mich nicht wollten. Mein ganzes Leben drehte sich um Unglück und Hoffnungslosigkeit. Indem ich zurückgehe und den Horror meiner Kindheit fühle, gibt es mir Hoffnung auf eine Zukunft. Mein Vater beging Selbstmord — und ich fühlte, dass ich auch darauf zusteuerte. Da ich mehr von meinen Gefühlen erlebe, komme ich meinen Kindern näher. Vor der Therapie war es zu schmerzvoll, bei ihnen zu sein, weil es meine eigenen Gefühle auslöste. Indem ich diese Gefühle mit meiner Beziehung zu meinem Vater verknüpfe, kann ich sie nun mehr sie selber sein lassen und ihnen zuhören.

Ich möchte ein liebevoller Vater sein – mein Vater schien mich zu hassen. Es erreichte eine Phase, in der er mich mied, wo immer es möglich war. Ich war am Boden zerstört. Ich war in der Gruppe und redete über meine Kinder. Ständig und immer wieder sagte ich: „Es tut mir Leid". Ich hatte ein Bild in meinem Kopf, wie ich sie in meinen Armen hielt, und dennoch hatten sie Schmerzen. Ich begriff, dass ich derjenige war, der sie verletzte. Das ließ mich losschluchzen. Später hatte ich eine Erinnerung, wie ich in einem Laufstall war und sah, wie meine Eltern die Tür schlossen und mich allein ließen. Ich weinte und flehte sie an, mich nicht zu verlassen: „Ich tue alles – aber verlasst mich nicht." Der Schmerz darüber, nicht erwünscht zu sein, war zuviel – alles lieber als das.

Nachdem ich mich ausgeruht hatte, verspürte ich die Erleichterung darüber , den Schmerz gefühlt zu haben, und hatte ein paar Einsichten: Wenn meine Kinder mich brauchen, bringt es mein Bedürfnis nach meinen Eltern hoch, und ich laufe davon, genau wie meine Eltern es taten. Indem ich fühle, wie sehr ich leide, bin ich, wie mir scheint, viel mitleidsvoller mit meinen Kindern.

Es fällt mir so schwer, mich in Bewegung zu setzen. Ich warte immer ab. Dadurch, dass ich mehr in Kontakt mit meinem Körper bin, lerne ich, mich in meinem eigenen Tempo zu bewegen. Vorher leugnete ich immer die Gefühle, aufgeben zu wollen. Ich fühlte mich getrieben. Ich konnte nie entspannen. Ich konnte nie genug tun, um meinen Vater zu erfreuen. Jetzt komme ich dem Gefühl näher, dass es alles zuviel ist. Ich fange an, um Hilfe zu bitten – zu akzeptieren, dass ich sie brauche. Es war mir schon ganz am Anfang eingeimpft worden, um nichts zu bitten – stark zu sein und keine Anzeichen von Schwäche zu zeigen. Nun ist es so eine Erleichterung, endlich menschlich sein zu können. Über meinen ganzen Schmerz weinen und schluchzen zu können.

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Für mich geht es in der Primärtherapie darum, meine Erlebnisse in der Vergangenheit mit meinem gegenwärtigen Verhalten zu verknüpfen – die wunderbare Erleichterung von: „Oh, deshalb mache ich das!" Ich beginne zu begreifen, warum ich soviel Angst vor den Leuten habe, indem ich die Gefühle wiedererlebe, wie schrecklich die Angst war, die ich vor meinem Vater hatte – totaler Terror, der mich lähmte. Ich dachte, ich sei ein Feigling, weil mich das Feeling so total durchdrang. Ich lerne, dass ich tatsächlich funktionieren kann, wenn ich mich fürchte. Vorher waren die Feelings so überwältigend, dass ich handlungsunfähig war. Jetzt weiß ich, es sind Gefühle und ich weiß, woher sie kommen und wie sie mich beeinträchtigen. Es ist nicht leicht, aber nach und nach schaffe ich es.

Ich komme immer wieder auf die Primärtherapie zurück, weil ich ein voll fühlender Mensch sein will. Vorher habe ich überlebt, nicht gelebt. Ich fühle mich, als wäre ich eingefroren und taute langsam auf. Nach jahrelanger Suche glaube ich, dass dies der richtige Weg für mich ist.

*

 

ROGER

Warum Primärtherapie? Die Antwort schien so offensichtlich, dass ich es niemals richtig durchdacht hatte. Warum durch all diesen Schmerz gehen? War es nicht beim ersten Mal schon schlimm genug? Warum ihn ausgraben? Welcher Vorteil lässt sich erzielen? Ich werde versuchen, während des Schreibens an diese Fragen zu denken.

Ich fange damit an, dass ich Ihnen von meiner jüngsten Sitzung erzähle. Ich möchte Sie daran erinnern, dass ich nun seit ungefähr sechzehn Monaten in der Therapie bin. Es war eine unglaubliche Reise.

20. April

Ich begann vorige Woche in der Gruppe davon zu erzählen, wie unehrlich meine Chefin meinem Empfinden nach gewesen war. Sie hatte jedem erzählt, wie gut sie ihre Angestellten behandle. Es hatte mich damals nicht gestört, aber an diesem Morgen quälte mich die Nachricht, dass sie mich aus meinem Job feuern wolle. Ich hatte nichts falsch gemacht. Es schien so unfair. Sie traute mir nicht. Ein paar Tage zuvor hatte sie meine Bezahlung kürzen wollen, wegen einer Sache, die nicht mein Fehler war. Ich erhob mich gegen sie, aber ich fühlte mich schuldig, als hätte ich etwas Falsches getan. Ich wollte ihr wirklich sagen, dass sie Unrecht tat – mich alleine zu lassen. Eine Therapeutin ermutigte mich, und ich geriet sofort in Wut.

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Sie platzte aus meinem Bauch heraus, füllte meine Arme und Beine aus – unglaubliche Wut. Ich wollte einfach, dass sie damit aufhört. Ich beruhigte mich, und dann schoss es mir durch den Kopf. Ich hatte mir immer gewünscht, eine solche Wut zu bekommen – machtvoll in meinem Umgang mit Leuten zu sein.

Mir wurde klar, dass ich mich immer schuldig gefühlt hatte, wenn mich eine Autoritätsperson zur Rede gestellt hatte, auch wenn ich nichts falsch gemacht hatte. Sie müssen mich als Kind dazu gebracht haben, dass ich mich so schlecht fühle. Die Wut und die Frustration war noch immer da. Ich wollte alles in Stücke reißen. Ich begann, heftig und unkontrolliert zu atmen. Ich ging mit dem Gefühl mit. Die Frustration brachte mich um. Mein Körper krümmte und streckte sich. Mir war, als könnte ich nicht atmen. Dann reißender Husten, der bis zu meinem Unterbauch hinabreichte.

Als ich da raus kam, hatte ich plötzlich eine gewisse Lücke. Es fühlte sich so vertraut an – klein sein und gesagt bekommen, ich sei schuldig und schlecht. Dann kam es mir wie ein Schatten in den Sinn: „Es ist, wie wenn mein Vater mich schlägt." Ich war beschämt und wollte nicht darüber reden. Ich rollte mich zusammen. Ich weinte jetzt. „Bitte Papi, bitte. Es tut mir Leid, Papi." Ich fühlte mich so schuldig. Es machte mich betroffen, wieviel mir mein Vater bedeutete. Ich würde alles für ihn tun. Er war riesig. Er war alles. Ich liebte ihn so sehr. Ich hatte nichts wirklich Schlimmes getan – vielleicht zuviel Lärm gemacht. Gewöhnlich wachte er aus seinem Nachmittagsschlaf auf und kam über uns wie ein wahnsinniges Tier, verdrosch zuerst den von uns, der ihm gerade am nächsten war. Ich konnte mich beobachten sehen, wie mein Bruder verprügelt wurde, und ich konnte den qualvollen Ausdruck in seinem Gesicht sehen. Ich wusste, ich würde als nächster drankommen. Ich bettelte: „Tut mir Leid, Papi", und rollte mich zusammen, um mich selbst zu schützen. Ich ließ soviel davon zu, wie ich konnte.

Ich wollte wirklich, dass jemand den ganzen Schmerz wegnimmt. Ich dachte an meine Mutter. Sie beschützte mich nicht. Sie hatte ebenso Angst vor meinem Vater. Ich war sprachlos. Wie konnte sie das tatenlos zulassen? Sie ist meine Mutter. Ich konnte es nicht fassen. Ich hörte für eine Weile zu weinen auf und lag einfach da. „Ich fühle mich noch immer traurig", sagte ich zu meiner Therapeutin. Ich bat sie, mich zu halten und ließ mich einfach gehen. Ich versank in furchtbarer Verlassenheit.

Nach dem Weinen redete ich ruhig darüber, was bei meiner Chefin passiert war. Ich wusste, dass ich mich in Zukunft gegen sie behaupten müsste. Es war noch immer schwer für mich, das ich das tun musste – dass ich sie nicht ändern konnte – aber es war in Ordnung.

Wie also hilft es mir, wenn ich Gefühle wie diese wiedererlebe? Nun, ich hörte sofort auf, mir über die Situation am Arbeitsplatz den Kopf zu zerbrechen, und fühlte mich ganz wohl mit meiner Chefin, als ich sie nächstes Mal sah. Ich weiß, es wird wieder geschehen. 

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Ich werde mein ganzes Lebensmuster nicht in einer einzigen Sitzung verändern. Aber nächstes Mal wird es ein bisschen leichter sein. Der Punkt ist, dass das Wissen über die Ursachen das Verhalten nicht ändert. Als ich mich nervös gegen meine Chefin erhob, ging mir als letztes die Art durch den Sinn, wie meine Eltern mich behandelten. Zu diesem gegenwärtigen Zeitpunkt konnte ich die Verknüpfung nicht herstellen. Diese Therapie gestattet mir, dem Gefühl von der Gegenwart zu den realen Ursachen in der Vergangenheit zu folgen. Ich kann dann die Verknüpfung herstellen und den ganzen Schmerz hinausschreien, der mich davon abgehalten hatte, normal auf meine Chefin zu reagieren. Vor der Therapie wusste ich, dass mein Vater mich schlug und dass meine Mutter schwach war und nie da, aber das änderte nichts daran, wie machtlos ich mich fühlte, wenn eine Autoritätsperson mich zur Rede stellte. Die Fakten waren nicht unbewusst — aber die Wahrheit war es. Nur die Verknüpfung zu Gefühlen wie diesen ändert etwas.

Ich erkenne auch, wie wenig ich über mein eigenes Verhalten wusste. Ich dachte, ich funktioniere gut. Die meisten Freunde, die wussten, dass ich in die Primärtherapie gehe, konnten nicht verstehen warum. Ich schien gut anpepasst und hatte eine enge und beständige Beziehung zu meiner Frau. Es war ein Akt, und zwar einer, an den ich beinahe selbst glaubte. Meine Freunde sahen nie die Wutausbrüche, zu denen ich neigte. Oft unterrichtete ich eine Klasse von Zwölfjährigen und geriet plötzlich in Wut. Gewöhnlich bestand der Auslöser darin, dass meine Autorität von einem Kind in Frage gestellt wurde. Wenn dann die Situation zunehmend frustrierend wurde, drehte ich gewöhnlich durch. Ich hatte zu der Zeit keine Ahnung, dass dies etwas mit meinen eigenen Erfahrungen als Kind zu tun hatte. Gewiss assoziierte ich es nicht mit den Schwierigkeiten bei meiner Geburt.

Ich erinnere mich, dass ich als Kind von Superhero-Comics fasziniert war und später von dem Gedanken besessen war, stark zu sein und meinen Körper aufzubauen. Jedoch schien es, dass ich nie stark genug war. Ich konnte noch immer verletzt werden. Als junger Erwachsener las ich Bücher darüber, wie man Freunde gewinnen und Leute beeinflussen konnte. Ich war auf dem Weg, meine Erwachsenen-Persönlichkeit zu entwickeln. Nach und nach schob ich die schmerzvollen Erinnerungen meiner Kindheit beiseite. Erst seit den letzten paar Monaten bin ich wieder bereit, meine Eltern in mein Leben zurückkehren zu lassen – einzugestehen, dass ich sie noch immer brauche und liebe. Ich sehe sie in klarerem Licht. Ich weiß, dass ich vielleicht anfangen sollte, ihnen Fragen zu stellen, z. B. warum sie sich scheiden ließen. Ich habe es nie wirklich erfahren. Nun könnte ich vielleicht das wagen, wozu ich damals nie in der Lage war.

Vor der Therapie klammerte ich mich an die Hoffnung, dass sich die Dinge für mich eines Tages wunderbarerweise ändern würden. Ich wollte, dass es jemand für mich machen würde. Ich agierte das in meinen Beziehungen aus. Auch die Therapie wurde zum Bestandteil dieser Hoffnung.

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Es war erforderlich, die Hoffnungslosigkeit zu fühlen — die bis zu meiner Geburt zurückreicht — um alles zu ändern. Bei meiner Geburt brauchte ich „jemanden, der es für mich machen würde", der mich ins Leben bringen würde. Ich schaffte es nicht alleine. Das Fühlen des Erlebnisses, dass ich von den Medikamenten im System meiner Mutter nach einem gewaltigen Kampf, auf die Welt zu kommen, gelähmt worden war – das hat mir in der Gegenwart eine gewisse Freiheit gegeben, Dinge in Bewegung zu setzen. Ich habe das Bedürfnis nach Hilfe hinausgeschrien, und das hat mir erlaubt anzufangen, mir selbst zu helfen. Ich weiß, niemand wird es für mich machen. Es ist der Anfang des Erwachsenwerdens. Der Anfang der Freiheit.

Gegenwärtig verspüre ich einen neuen Kreativitätsschub. Ich war ein Maler und jahrelang haderte ich mit meiner Kunst. Ich hatte Tage, an denen ich mich wie Picasso fühlte, gefolgt von Tagen, an denen ich mich wertlos fühlte. Das Wiedererleben der Höhen und Tiefen meiner Geburt hat diesen Kampf vermindert. Ich weiß, ich benutzte meine Talente, um für meine Eltern was Besonderes zu sein. Ich habe über dieses Bedürfnis geweint. Ich wollte etwas wert sein – geliebt werden, ohne mich darum bemühen zu müssen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, etwas machen zu können, ohne mir selbst einzureden, dass es nicht gut genug ist. Dass ich nicht gut genug bin. Ich kann sogar diesen Artikel hier schreiben, ohne von dem Gedanken gelähmt zu sein, dass es nicht der richtige Stil sei. Es ist ein großartiges Feeling. Die Dialektik ist überall in dieser Therapie sichtbar – je mehr ich die Vergangenheit fühle, desto mehr kann ich in der Gegenwart machen.

Warum also Primärtherapie? Warum diese alten Gefühle ausgraben? Ich denke, die einfache Antwort lautet: weil ich jetzt fühlen kann. Ich hatte vor der Therapie keine Ahnung, was das bedeutet. Ich lebe nicht mehr in meinem Kopf oder in den furchtbaren Empfindungen ((sensations)) meines Körpers. Ich kann jetzt so zu den Leuten sein, wie ich es zuvor nie konnte.

*

 

DIE SCHMERZKETTE

 

Lange Nervenbahnen erstrecken sich vom Hirnstamm und limbischen System zum frontalen Kortex. Wenn ein aktuelles Ereignis eine traumatische Erinnerung der Vergangenheit auslöst, weiß das Gehirn nur eines zu tun: entweder die Botschaft auszuliefern oder abzuschalten. Wenn jemand kritisiert wird und große Angst fühlt, kann das zugrunde liegende Gefühl sein: „Ich bin schlecht, und ich werde nicht geliebt werden (von meinen Eltern)."

Wenn Sie eine pure Empfindung ((raw sensation)) haben, die dem Hirnstamm eingeprägt ist, muss sie, um aufgelöst zu werden, erkannt, benannt und integriert werden – das heißt, sie muss erfahren werden. Nicht wiedererfahren, sondern zum ersten Mal erfahren. Die Erinnerung kann im Kortex mit absoluter Klarheit enthalten sein, aber die Leidenskomponente, die subkortikal gespeichert wird, ist nur partiell erfahren worden.

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Wenn ein Bluterguss aus einer Tracht Prügel im Alter von sechs Jahren auf dem Körper einer erwachsenen Patientin an derselben Stelle wieder erscheint, sehen Sie, wie Erinnerung von den Jahren der Erfahrung unangetastet bleibt und wie Aspekte der Erinnerung ein Leben lang verborgen bleiben können. (Fotos davon erschienen in früheren Werken des Autors.) Letztlich wird Ihnen klar, dass Erinnerung weit mehr ist als intellektuelles Abrufen.

Tritt eine Erinnerung einmal hervor, scheint sie alle verwandten Traumen aus den Tiefen des Gehirns mitzubringen, und die Person wird überwältigt. Der Kortex kann einfach die verschiedenen Arten des Traumas nicht auseinanderhalten und nicht speziell auf jedes einzelne in der richtigen Zeitfolge reagieren. Wir können bei unserer Arbeit Tranquilizer verabreichen, um die tieferen Aspekte der Schmerzkette zu unterdrücken, sodass spätere weniger traumatische Verletzungen gefühlt und integriert werden können. Wir wenden Medikamente lediglich als Zwischenstation auf dem Weg zur Auflösung an. Sie sind nicht die Therapie und nicht das Endziel, aber wir wollen jede Chance nutzen, dass die Therapie gelingt. Die Medikamente dienen als Ersatz für die Entbehrung früher liebevoller Pflege und Berührung. Sie sind wahrlich das, was mit der Gehirnchemie geschehen wäre, wenn es frühe Liebe gegeben hätte.

Eine Patientin von mir fing in einer primärtherapeutischen Sitzung nach ungefähr einem Jahr Therapie an, sich schwach zu fühlen. Es war eine Frau, die in ihrem Leben ständig in Bewegung war, aber jetzt konnte sie sich kaum bewegen, kaum atmen. Zuerst ging sie durch ein Gefühl, in dem sie alles versuchte, die Liebe ihrer Mutter zu bekommen, aber nichts half. Zwei Stunden später glitt sie voll in den Zustand von Schwäche und Hilflosigkeit, den sie bei der Geburt erlebte, nachdem sie anästhetisiert worden war (durch die ihrer Mutter verabreichten Medikamente) und nichts hatte tun können, um sich selbst zu helfen. Wir ermutigten sie, sich von dem Gefühl der Erschöpfung völlig überwältigen zu lassen.

Ihr ständige Aktivität in ihrem gegenwärtigen Leben hatte dazu gedient, sie davon abzuhalten, diese Hilflosigkeit zu fühlen. Sie musste sich immer auf Trab halten mit diesem oder jenem Projekt, um das Gefühl der Hilflosigkeit fern zu halten („Ich kann an meiner Situation nichts ändern").

Die Empfindung von Schwäche, die meine Klientin verspürte, wurde durch ihr Verhältnis mit ihrer Mutter noch verstärkt. Ihr Vater hatte die Familie nach ihrer Geburt verlassen, und die Mutter musste arbeiten gehen, um den Unterhalt der Familie zu sichern. Sie ließ ihren Zorn an ihren Kindern aus, gab ihnen an allem, was schief ging, die Schuld. Von Anfang an hatte meine Patientin das Gefühl, dass sie im Weg stand. Dieses Gefühl dauerte an. Als Erwachsene hielt sie sich in der Gruppe zurück und entschuldigte sich ständig für alles, was sie tat oder sagte.

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Diese Frau kämpfte so sehr darum, geliebt zu werden, dass sie nie wirklich die Tiefen des Ungeliebtseins fühlte. Ihr Verhalten glich einem verzweifelten Spurt, der sie von ihren Gefühlen fern hielt. In unseren Sitzungen unterbanden wir ihre Versuche, die „perfekte" Patientin zu sein, und das brachte ihre Ängste, unerwünscht zu sein, an die Oberfläche.

Weil die ursprünglichen traumatischen Empfindungen ((sensations)) in den limbischen Gefühlszentren ausgearbeitet werden und später im frontalen Kortex repräsentiert sind, müssen wir erst mit der Wahrnehmung von Schwäche (die Empfindung) in der Gegenwart beginnen, dann dem Patienten gestatten, voll in die Empfindung der Müdigkeit zu fallen und von da in die Hilflosigkeit (das ursprüngliche Trauma) und die Erschöpfung. Wenn die Patientin mit einer Empfindung — extremer Müdigkeit — beginnt, können wir sicher sein, dass dem Feeling tiefe Hirnstammaspekte zueigen sind. Dann helfen wir der Patientin, sich ihren Rückweg durch alle Ebenen zu bahnen. (Dieser Prozess kann Stunden dauern und sich über viele Sitzungen erstrecken; es ist nicht so einfach, wie es sich vielleicht anhört.)

Das System kann jeweils nur auf eine bestimmte Menge Schmerz reagieren. Dann verschließt es sich wieder. Also bestimmen wir den Schmerzgehalt, lassen je Sitzung dieses Maß zu und warten dann bis zur nächsten Sitzung, um mit demselben Schmerz weiter zu machen. Die Menge an Schmerz in diesen Traumen ist unbeschreiblich; buchstäblich Furcht einflößend, etwas, das ich als konventioneller Therapeut nie gesehen hatte.

Nachdem sie die Ebene der Empfindungen ((sensation)) erreicht hatte, begab sich meine Patientin direkt in die Erschöpfung / Hilflosigkeit bei der Geburt. Als sie zur Geburt hinabstieg, gab sie kein Wort von sich. Über vierzig Minuten lang krümmte sie ihren Rücken und stieß mit dem Kopf gegen die gepolsterte Wand. Sie schien zu ersticken. Als sie sich schließlich ihren Weg zurück auf die fühlende Ebene und dann zum Kortex bahnte, konnte sie schreien: „Ich gebe auf! Du liebst mich sowieso nicht!" Die Müdigkeit sagte: „Ich kann nicht mehr. Lasst mich." Sie kehrte danach in vielen Sitzungen Dutzende Male zu diesem Feeling zurück, so stark und anstrengend war die Kraft des Feelings.

Wenn eine Patientin aus einer Sitzung herauskommt, liegt sie einige Augenblicke still da, blinzelt und öffnet dann ihre Augen. Alle Patienten berichten, dass sie weit weg waren. Sie sehen aus, als seien sie gerade aufgewacht, und in gewissem Sinne sind sie das auch. Sie kommen vom Traum-Gehirn in den präfrontalen Wachzustand, genau so, als kämen sie gerade ins Leben. Es dauert einige Minuten, bevor die Integration und die Einsichten beginnen. Sie ((die Patientin)) ist in der Sitzung geblieben, solange es nötig war. Es ist das Ende der Fünfzig-Minuten-Stunde. Ich könnte mir nicht vorstellen, eine Sitzung zu beenden, wenn ein Patient sich noch schlecht fühlt oder weint.

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Dieses Eindringen in tiefe und ferne Ereignisse der Vergangenheit geschieht nicht in den ersten Wochen der Therapie und sollte es auch nicht. Hat ein Patient von Anfang an solchen Zugang, so ist es gewöhnlich ein Anzeichen tiefer Störung, fehlerhafter Schleusung. Das bedeutet, dass der Schmerzspiegel sehr hoch ist und das Verdrängungssystem defekt. Es kann bedeuten, dass Hirnstamm-Einprägungen von hoher Valenz vorhanden sind. In jedem Fall ist es oft ein Zeichen für die Dominanz der Hirnstamm-Erinnerung. Wenn es in der Therapie vorzeitig passiert, so ist das genau der Fall, für den wir Tranquilizer verwenden. Diese Medikamente arbeiten genau wie Schleusen; eine Funktion, die das Gehirn selbst erfüllen sollte.

Der präfrontale Kortex konzentriert sich auf die Gegenwart, gibt dieser oder jener Person die Schuld. Diejenigen, die von ihrer Geschichte getrennt sind, handeln, als würde sich das alte Trauma jetzt gerade entfalten. Es gibt keine andere Wahl. Es wiederzuerleben ist im Wesentlichen eine kortikale Anerkennung, es ist die Integration früher Empfindungen ((sensations)) und Gefühle und deren Platzierung in den historischen Zusammenhang.

Empfindungen (sich zerquetscht, begraben, erstickt zu fühlen) bahnen sich ihren Weg aus den Tiefen des Gehirns zum rechten frontalen Kortex, wo sie in „reinen", einfachen Worten oder kurzen Sätzen Ausdruck finden. Der Patient schreit vielleicht: „Ich gebe auf! Ich ertrinke! Ich komme nicht vorwärts!" In diesem Schrei liegt eine ganze Geschichte von Versuch, Scheitern und schließlich völliger Aufgabe....... das Kämpfen-und-Scheitern-Syndrom. Die Verknüpfung zwischen Hirnstamm und Kortex findet weitgehend im rechten Gehirn statt, wo die Sätze kurz, genau und unkompliziert sind und direkte Ausflüsse tiefer Einprägungen sind. Es ist das linke Gehirn, das die Dinge verkompliziert, die Realität verdreht und gewundene Gedanken und komplexen Satzbau produziert.

Lassen Sie uns soweit zusammenfassen: Wenn ein Neugeborenes unmittelbar nach der Geburt und später liebevoll gepflegt und berührt wird, bringt das in jeder Hinsicht ein neues Gehirn in Gang. Diese Behandlung baut das innere Serotonin-/Verdrängungs­system auf, das dafür sorgt, dass das Individuum sich dauerhaft wohl fühlt und entspannt bleibt. Sie vergrößert und verstärkt den frontalen Kortex, der in oberster Instanz für das Aussperren unwesentlichen Inputs im Leben, für die Organisation der Gefühle, für Denken und Reflektieren und vor allem für die Hemmung von Empfindungen und Gefühlen aus tieferen Gehirnschichten verantwortlich ist. Wenn wir unwesentlichen Input nicht aussperren können, haben wir eine Aufmerksamkeitsdefizit-Störung, können uns nicht sammeln oder konzentrieren und sind leicht ablenkbar.

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Wenn es frühe Liebe gibt, werden die mobilisierenden Kräfte im Hirnstamm durch den frontalen Kortex moduliert. Wenn Liebe fehlt und der Frontalbereich schwach ist, kommt es zu Aktivierung, die die Gedanken abschweifen lässt, und zu mangelhafter Kontrolle. Die Neuronen werden nicht richtig reif. Ein starker frontaler Kortex dämpft Gefühle im limbischen System. Ein schwacher führt zu Hyperaktivität. Dasselbe frühe Trauma, das die beeinträchtigte Kontrollfähigkeit des frontalen Kortex bewirkt, erzeugt auch die Hyperaktivität. Die aufsteigenden Impulse zwingen das Kind und dann den Erwachsenen zu ständiger geschäftiger Tätigkeit.

 

DIE ÜBERSETZUNG VON 

GEFÜHLEN IN SYMPTOME

 

Es gibt direkte Verbindungen vom frontalen Kortex zum Hypothalamus, die dafür verantwortlich sind, dass Stress in körperliche Symptome übersetzt wird. Durch sie wird der Hypothalamus „instruiert", die Hypophyse anzuweisen, bestimmte Hormone abzusondern, einschließlich der Stresshormone. Der Frontalbereich kann die Katecholamine nicht herstellen, aber er kann anderen Gehirnstrukturen dazu die Order erteilen. Es ist der frontale Kortex, der Aktivierung von unten durch den Gebrauch von Vorstellungen und Glaubensüberzeugungen absorbiert. Es gibt direkte Fasergeflechte vom Hirnstamm zur frontalen Region, die als Zweiwegesystem funktionieren, indem sie Impulse zurückhalten und den Kortex, falls nötig, stimulieren. Sie stimulieren die frontale Region auch dann, wenn es nicht nötig ist – z.B. ein ruheloser Geist, wenn man einschlafen will.

Der frontale Kortex sendet aktivierende chemische Substanzen zur Amygdala, sodass wir fühlen können, was wir denken, und umgekehrt. Jede limbische/fühlende Struktur hat sowohl aufsteigende als auch absteigende Fasernetze. Wenn sie blockiert werden, baut sich in unseren Systemen der Druck auf. Alles, was Fühlen und emotionales Wohlergehen ganz zu Anfang positiv beeinflusst, unterstützt den Aufbau des integrierenden frontalen Kortex. Die meisten konventionellen Therapien zielen darauf ab, die Abwehr des frontalen Kortex gegen tief verborgene Impulse zu stärken. Das ist die eine Methode, die Sache anzugehen, wenn man lediglich Kontrolle haben will. Wünschen wir Integration, sieht die Sache anders aus. Wir müssen diese Impulse dämpfen, sodass der frontale Kortex nicht so viel zu tun hat. Auch wenn es im frontalen Kortex Entsprechungen zu Gefühlen gibt, entwickeln sich die tieferen Gefühlsstrukturen doch früher. Aus diesem Grund müssen wir in das Babygehirn hinabgelangen, um Erfahrungen wiederzuerleben, die sich, lange bevor wir die Fähigkeit zu denken besaßen, stark auf uns auswirkten. Nach einer Wiedererfahrung sind Gedanken wichtig. Sie helfen uns zu verstehen, was wir durchmachten und wie es uns ursprünglich verändert hat.

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Das Fehlen von Liebe bringt das System in Gefahr. Das Gehirn sendet Stresshormone aus, um den Alarm zu bekräftigen, und diese anhaltende Sekretion schädigt das Wachstum der Gefühlszentren und des frontalen Kortex. Dies wiederum reduziert die Funktion des Immunsystems, indem es die Anzahl der Lymphozyten mindert, die eindringende Bakterien überwachen und töten. Es gibt einen Grund, dass die Mehrheit der Gefängnisinsassen auf Drogen ist, bevor sie ins Gefängnis kommt: emotionale Deprivation unmittelbar nach der Geburt und in den ersten zwei Jahren. Die meisten dieser Leute waren von Schmerz beherrscht und brauchten Drogen, um ihn zu kontrollieren. Sie waren auch Opfer von so frühem und durch Deprivation in der Kindheit verschlimmerten Schmerz, dass die kortikalen Kontrollzentren beeinträchtigt wurden. Impulse lassen ihre Wutausbrüche außer Kontrolle geraten und setzen viele von ihnen außer Stande, einzuhalten oder die Konsequenzen ihrer Handlungen zu durchdenken und abzusehen. Man braucht einen starken frontalen Kortex, um sich selbst gegen übergreifende Impulse abzuschirmen.

Eine weibliche Patientin von mir provozierte ständig den Zorn ihres Gefährten, obgleich sie wusste, dass er sie schlagen würde. Den einzigen körperlichen Kontakt mit ihrem Vater hatte sie, wenn er sie übers Knie legte und sie mit bloßen Händen verprügelte. Sie brauchte es noch immer, wusste, es war „verrückt", und tat es dennoch. Sie brauchte körperlichen und emotionalen Kontakt.

 

 

SUZANNE

Das Folgende ist die partielle Niederschrift zweier Sitzungen. Suzanne beschreibt ihr Wiedererlebnis eines Abtreibungsversuchs, den ihre Mutter mit ätzenden Substanzen durchgeführt hatte. Er wurde später bestätigt. Im dritten Monat ihrer Schwangerschaft versuchte ihre Mutter erfolglos, sie abzutreiben. In ihrer Primärsitzung kugelte sie sich so klein wie möglich zusammen und zwängte sich in eine Ecke. Weil sie nicht die charakteristische Arm- und Fußposition aufwies, wurde der Therapeut, der zuerst dachte, es sei ein Geburtsprimal, argwöhnisch und forschte genauer nach, was geschehen war. Hier nach dem Primal diskutiert und weint sie über all das, was es für sie bedeutete. Die meisten Techniken des Therapeuten sind ausgelassen worden. Suzannes Ausagieren hatte darin bestanden, dass sie versuchte, eine unverschmutzte Atmosphäre zu schaffen und in ihr zu leben: einmal, weil ihre Familiensituation „toxisch" war, und auch wegen der versuchten Abtreibung durch Chemikalien, die ihre Mutter einnahm. Sie war auf der Suche nach einer schützenden Umwelt. Schließlich entdeckte sie die Quelle dieser Toxizität, und erkannte, dass sie dieses toxische Gefühl auf ihre Umwelt projizierte. Der Prototyp wurde hier lange vor der Geburt etabliert, nämlich der Rückzug vor der Gefahr.

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Wir alle ziehen uns vor Gefahr zurück, aber in ihrem Fall wurde es zu einer übertriebenen und oft unangemessenen Reaktion. Es ist nichts anderes als das auf kürzlich gemachten Aufnahmen ersichtliche Phänomen, dass Feten sich angesichts einer Nadelpunktur zurückziehen und schmerzhaft ihr Gesicht verzerren.

 

Sitzung I

Ich sage dir, ich musste wieder mit dem Rauchen anfangen, weil ich merkte, dass wegen der Woche, die ich aufhörte, das Zeug so schnell hochschoss, dass ich nicht damit klar kam. Ich hatte mein Zyban verdoppelt (ein Medikament gegen das Rauchen). Aber was ich bemerkte, war, dass es nach dem fünften Tag ohne Zigarette am sechsten Tag und am siebenten Tag so stark hochkam, dass ich den ganzen Tag ein emotionaler Krüppel war. Also bin ich wieder zum Nikotin übergegangen.

Was in den vergangenen zwei Wochen, seit ich hier bin und mit dem Rauchen aufhörte, passierte, ist, ich wache jeden Morgen auf und mir ist schlecht im Magen. Ganz schön widerlich. Gefühle wie „Ich will nicht leben." Jeden Morgen. Allmählich macht mich das wirklich fertig, weil, was ich will, ist einfach einmal die Erfahrung machen, dass ich morgens aufwache und mich freue, wach zu sein... zu leben... so wie „Was für ein schöner Tag." Hinzu kommt noch das Gefühl von Angst. Was ich wirklich sterben lassen will, ist dieses Gefühl, dass ich sterben will. Aber es wird mich nicht in Frieden lassen; es hat mich so im Griff. Es bestimmt meinen Willen. (ihre Mutter versuchte, sie mit einer sehr starken Salzlösung und noch einer anderen ätzenden Substanz abzutreiben).

Überall in meinem Körper war diese Chemikalie, von der mir übel wurde. Viele meiner Probleme scheinen da herzurühren. Angst zu haben. Sich vergiftet fühlen. Sich nicht bewegen wollen. Ein übles Gefühl. Um 5 Uhr morgens liege ich im Bett, und ich möchte mich zu einer Kugel zusammenrollen und dieses Gefühl zum Aufhören bringen. Ich hasse es einfach, meinen Tag so zu beginnen. Ständig bringt es mich zum Weinen. Ich hielt es einfach nicht mehr aus, also greife ich zu den Zigaretten, weil sie mir helfen und mich beruhigen. Ich musste funktionieren, und trotzdem bin ich überschwemmt von dem Gefühl, dass ich sterben will. Ich will nicht leben, wenn ich mich so fühlen muss. Das holt auch Janis (Tochter) ein, weil sie in meiner Welt lebt und weil die extrem vergiftet ist. Wieviel kann sie verkraften? Ich bin nicht da für sie, und sie muss mit einer Mam’ auskommen, die die ganze Zeit weint.

Es verzerrt alles in meiner ganzen Welt. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, sind meine Hände heiß, meine Füße sind heiß, mein ganzer Körper ist heiß. Es lässt mich nicht los. Aber ich kann noch nicht zulassen, dass ich es fühle, weil ich nicht genau weiß, wohin es mich bringt.

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Therapeut: Was ist es genau?

Das Gefühl, dass mir schlecht ist im Magen. Ich kann nichts Schönes sehen im Leben. Es ist etwas in mir, das ständig hochkommt. (Weint und schluchzt)
Ich hasse es...
Ich hasse es...

Ich will Schluß machen. Ich will mich nicht so fühlen. Es lässt mich nicht los. Es schüttelt meine Eingeweide. Es fühlt sich so schrecklich an. Genau das tut es. Ich will mich übergeben, ich fühl’ mich widerlich. Es ist so stark (Ein Häufchen Elend, rollt sich zu einem Knäuel zusammen).

Ich schätze, ich war einundzwanzig, und ich verließ New York, um nach Kalifornien zu kommen. Es ist so interessant, weil da diese Lebensangst war, diese Angst vor mir selbst. Als dieses Gefühl in meinem Leben immer wieder hochkam, verstand ich nie, was es war. Warum hatte ich Angst? Es war die Sch......-Erinnerung!

Ich weine einfach, weil ich es hasse. Mir wird so schlecht davon. Und es klebt an mir wie Leim. Es saugt mich einfach auf. Es ist eine Ganzkörperempfindung. Und es zieht mich aus der Gegenwart raus. Ich will nicht dahinvegetieren. Dieses Gefühl ist mit so vielen anderen Gefühlen verknüpft, es ist mit meinem Gehirn verknüpft.

Es gibt soviel, worüber ich weinen muss. Janis sagte mir heute, dass sie mein Rauchen überwacht. Sie hat sich einen kleinen Kalender gemacht. Sie fragt mich, wieviele Zigaretten ich heute geraucht habe, und sie schreibt es auf; sie sagt: „Mama, du hast wieder zu rauchen angefangen." Und ich sagte, es ist, weil zuviel Schmerz zu schnell hochkam und weil die Zigaretten mir helfen und mich beruhigen. Sie sagt: „Ich will wirklich, dass du mit dem Rauchen aufhörst, Mama," und ich sagte: „Du willst mir also sagen, du hättest es lieber, dass ich eine Menge mehr weine, als dass ich Zigaretten rauche?" Sie sagte: „Ja." Ich sagte: „Bist du sicher, dass du damit klar kommst?" Darauf sie: „Mir wäre es lieber, wenn du weinst anstatt Zigaretten zu rauchen." Ich glaube, ich glaube total, dass ich eine schädliche Wirkung auf sie habe. Sie hat eine Mam’, die sowas durchmacht, und wir sind nicht 100 Prozent zusammen. Ich fühle mich so schuldig, weil ich diese Woche daran dachte, dass meine Mutter Asthma hatte, als ich aufwuchs, und ich es hasste, wenn sie krank wurde. Und ich schätze, Janis muss es genauso empfinden. Und dann denke ich, dass es nicht fair ist.

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So fühle ich mich, wenn das Feeling hochkommt, dass ich diese kranke Person bin. Ich schaff’ es nicht, es verschlingt mich. Und es bleibt mir treu, tagein, tagaus. Und ich fühl’ mich so verpfuscht. Ich will mich nicht bewegen, ich will nicht hinaus. Ich will nicht reden. Die Einprägung ist so groß! Es ist wie eine Folter.

Da ist ein ganz großes Feeling im Inneren meines Körpers. Es ist wild. Ich will nicht den Atem verlieren. Es macht was aus zu wissen, wo das Gefühl herkommt (sie hatte das Mutterleib-Primal am Tag zuvor). Ein paar Mal in diesen zwei Wochen, als das Gefühl hochkam, hat es mir geholfen zu wissen, wo es herkam.

Ich habe immer gewusst, dass ich eine sehr naive und unschuldige Seite an mir habe. Und ich kann sehen, dass sie ganz gelegen kam, denn wenn ich wirklich alles begriffen hätte, was ich durchgemacht hatte, so hätte ich es nie geschafft. Ich denke, naiv zu sein, nichts zu begreifen, half mir, es nicht durchdenken zu müssen. Janis sieht, was ich durchmache, sie sieht meine Höhen und Tiefen. Ich hasse es, ich fühle mich so schuldig. Ich lasse sie wissen, dass sie so etwas nie erleben muss, weil sie erwünscht war, weil sie von Anfang an geliebt wurde, und sie wird das nie erleben. (Weint noch immer) Jede Nacht kommt dieses Fieber, das so um 4 oder 5 am Morgen losgeht, und meine Füße sind so heiß und meine Hände sind so heiß. Es ist, als versuchte mein Hirn, das geradewegs aus meiner Seele rauszubrennen.

 

Sitzung II

Ich fand es sehr interessant gestern, als ich hier wegging. Ich freute mich, weil ich in die Abtreibungs­erinnerung eingetaucht war. Ich fühlte mich einfach glücklich, lebendiger. Ich spürte einfach, dass ich irgendwie glücklich darüber war, durch den ganzen Prozess zu gehen, und über die Intensität der Wirkung, die es hatte. Mag sein, es hat damit zu tun, dass ich weiß, es ist eine ganz bestimmte Erinnerung, und mit der Erleichterung, dass ich nicht verrückt bin. Weißt du, wenn du nicht weißt, woher katastrophale Feelings kommen, musst du denken, du sei'st verrückt. Dass meine Körperreaktion irgendwie erfreut war, als sie den Prozess durchlief, dass sie endlich Gelegenheit hatte es auszudrücken.

Ich schlief gut, aber um 4:30, 5 Uhr war ich auf, nur das üble Gefühl war nicht so intensiv, es kam noch immer hoch, und je länger ich im Bett blieb, ohne mich zu bewegen, umso stärker kam es. Um 6 Uhr dachte ich, oh, jetzt kommt das vertraute Gefühl von Übelkeit hoch. Aber ich spüre dieses üble Gefühl noch immer. Um 6:30 ist es stärker; ich möchte mich zusammenkauern, dieses kleine Knäuel bilden. 

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Es ist jetzt noch immer da. Ziemlich stark sogar. Und ich komme wieder dahin, dass ich mich nicht bewegen will. Also stand ich auf und setzte mich auf die Couch im Hotelzimmer. Und ich will mich nicht bewegen. Ich könnte den ganzen Tag so verbringen, wenn ich mich so fühle. Und die einzige Sache, die mich in Gang bringt, ist Bewegung, Aktion. Das Feeling hat einen lähmenden Effekt auf mich. Ich habe keinen freien Willen. Es ist, als würde jemand ständig auf mir herumhacken, mich nicht zufrieden lassen.

(Schreit ständig: „Lass mich zufrieden !!!!")

Und ich wollte, dass mein Stiefvater mich zufrieden ließ, als er mich belästigte. Manchmal fühle ich mich so traumatisiert, so als wollte ich mich einfach in eine Ecke verkriechen. Es ist, als bräuchte ich sowas wie Berührung. Einfach eine freundliche Hand auf meiner Schulter. Ich verlange nicht viel. Ich wäre in der Lage gewesen, etwas zu fühlen. Und mein Körper fühlt sich wie glühende Kohlen an. Es ist, als suche ich nach sowas wie Berührung. (Halt mich, Mama, bitte halte mich..... Weint lange Zeit tief. Streckt flehend die Hände aus.)

(Zurück in der Gegenwart)

In diesen Augenblicken ist es, wie wenn ich tanze. Es ist, als sei alles in Ordnung. Manchmal hört es auf, weh zu tun, und es ist wie ein Hauch frischer Luft und ich fühl’ mich okay. Ich fühle, dass ich keine Schmerzen habe. Ich habe so das Gefühl, dass mein Optimismus und meine Freude daher kommen. Diese kleinen Fenster, wenn einfach nichts mehr weh tut und das Feeling so phantastisch ist.

Ich denke ständig daran, als ich vierzehn war und hatte, was ich als „Haupt-LSD-Trip" bezeichne. Und jetzt sehe ich die Parallelen so klar; was hochkam, war die Geburtserfahrung, nicht die Geburtserfahrung, aber was mir passierte, war, dass ich über zehn Stunden an einem Platz saß und Angst hatte, mich zu bewegen. Und mein ganzer Körper, er war einfach so sensibel. Es war, als könnte ich durch die Wände hören, alles fühlen und mich einfach nicht bewegen. Ich musste dort bleiben. Jetzt sehe ich, ich habe diese ganze Sache wiedererlebt. „Bewege dich nicht. Es ist okay, wenn du dich nicht bewegst."

Mein Körper war so sensibel, wie ein einziger großer Nerv. Und dann, nach diesem ganzen Erlebnis habe ich dann mit Barbituraten und Beruhigungsmitteln angefangen, weil das das einzige war, das meinem Körpergefühl wie ein einziger riesiger Nerv die Schärfe nehmen konnte, und es war das einzige, das meinen Körper beruhigen konnte. Ich fing mit den Barbituraten an, mit Tuanols und Quaaludes. Ich fühlte einfach zu sehr. Der einzige Grund, warum ich sie absetzte, ist, weil süchtig nach ihnen wurde und zuviele nahm. Ich ging zu einem Arzt, und sagte ihm, was ich tat, rechnete damit, dass er es verstehen würde und mir helfen könnte, es zu verstehen. Er konnte es nicht.

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Es ergibt einen perfekten Sinn für meine Reaktionen im Leben, wenn ich zu sehr fühle oder wenn der Input zu groß ist. Ich ziehe mich zurück. Das ist die Einprägung, sich zurückziehen von dem, was mich umbringen will. Was auf mich bis zum heutigen Tag zutrifft, ist, dass ich nie verbergen konnte, wie ich mich fühlte. Ich gehörte zu den Leuten, denen ihre Gefühle ins Gesicht geschrieben sind. Ich hatte kein Geheimnis. Wie ich mich fühlte, lag da wie ein offenes Buch. Du konntest es einfach lesen. Und die Art, wie ich durchs Leben navigierte, war mit meinen Gefühlen. Es ist so, wenn ich mich sicher fühlte, bewegte ich mich vorwärts. Wenn ich mich nicht sicher fühlte, kam ich vom Weg ab.

Es scheint mir, dass ein Teil dieser Erfahrung, der Effekt, den sie hatte, war, dass sie sich auf mein Nervensystem auswirkte; dass ich sensibler bin. Ich habe ein sehr gutes Gespür dafür, wie sich andere um mich herum fühlen. Mein Nervensystem war einfach überlastet und als Ergebnis hat es alles aufgebauscht, sodass ich fühlte und dachte, es ist alles zuviel. Also war meine Reaktion im Mutterleib, es abzustellen, indem ich mich zurückzog und so klein wie möglich wurde, mich zusammenzog. Und ich mache es noch immer. Ich nehme an, das ist es, was Dr. Janov als Prototyp bezeichnet. Es scheint so, dass ich vorprogrammiert bin. Ich muss stark sein, gleich, wie schlecht die Dinge stehen. Ich meine, offensichtlich habe ich die ganze Zeit überlebt, weil ich in den schlimmsten Situationen in der Lage war, etwas Gutes zu finden, etwas, das ich lerne, etwas, das mich weise und stärker gemacht hat.

Therapeut: Zum einen hat es dir das Leben gerettet.

Ich hatte immer diesen Optimismus. Der Optimismus ist die Möglichkeit im Leben. Weißt du, ich denke nicht, dass ich sonst überlebt hätte. Daran klammere ich mich. An diese kleinen Fenster. Und ich trachte immer danach, darauf zurückzukommen. Aber es ergibt einen Sinn, weil der Schmerz dann aufhört. So intensiv der Schmerz auch ist, wenn ich zum anderen Ende des Spektrums schwingen wollte, dann bedeutet es, wie großartig es ist, den Schmerz nicht zu fühlen, es ist wie Tanzen auf den Dächern, die Freude, das ist magisch.

Nichts ist so, wie nichts zu wollen; außer die Schönheit des Tages zu genießen, der Zauber, wenn du eine Blume betrachtest, wenn du die Sonne scheinen siehst. Es ist alles ganz einfach. Es gibt kein Streben, es gibt nichts als atmen wollen. Ich muss dir sagen, es ist alles ganz faszinierend für mich. Was für eine Erleichterung darin liegt, wenn du weißt, woher der Schmerz kommt und wo der Optimismus ist!

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Anmerkungen 1-13

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