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1.  Die Struktur des Gehirns    Janov-2000

 

 

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Das Gehirn spiegelt unsere evolutionäre Geschichte wider. Vom Reptiliengehirn, das den Instinkt steuert, bis zum limbischen System, das Gefühle verarbeitet, und zum frontalen Kortex, der den Verstand und das Denken regelt, ist das Gehirn eine Karte zu unseren Ursprüngen. Dieses bemerkenswerte selbst-konstruierte Organ befindet sich seit vielen Hundertmillionen Jahren in der Entwicklung.

Gedanken liegen im intellektuellen Bereich, Gefühle im emotionalen Bereich. Wenn eine Person sagt "Ich fühle mich minder­wertig“, so spricht sie von zwei Ebenen aus. Der Gedanke der Minderwertigkeit ist eine Begebenheit der obersten kortikalen Gehirnebene. Das Gefühl der Minderwertigkeit ist ein Ereignis der unteren Gehirnebene. Es ist das limbische System, das uns das Fühlen des Gefühls anbietet. Hierin liegt der erste bedeutende Kernpunkt: es reicht nicht, über Gefühle nachzu­denken. Es ist wesentlich, sie zu fühlen, sodass wir die Fähigkeit zu fühlen erlangen. Gefühle sind unsere Menschlichkeit.

Wenn wir in unserer Kindheit nicht geliebt und bewundert werden, sondern stattdessen mit Gleichgültigkeit und Missachtung behandelt werden, können wir uns wohl als „nicht gut genug ... nicht gut genug, um geliebt zu werden“ fühlen. Das wird zu einer Einprägung (Imprint). Sie dauert an. Wenn diese Art von Behandlung durch die Eltern die ganze Kindheit weitergeht, dann wird die Einprägung eingeschlossen. Das bedeutet, dass alle Ermutigung der Welt im Alter von zwanzig Jahren dieses Gefühl nicht auslöschen wird. Ermutigung – „Du bist wunderbar, weißt du“ – ist ein Gedanke; Gedanken können an Gefühlen nichts ändern. Nur Gefühle können das. 

Diese scheinbar simple Auffassung hat tiefgreifende Implikationen. Denn wenn wir unsere Menschlich­keit wiedergewinnen wollen, müssen wir unsere Gefühle wiedergewinnen; und das schaffen wir nicht allein auf dem Gedanken­weg.

Um das Fühlen wiederzuerlangen, müssen wir all die Verletzungen voll erfahren, die es blockieren, und den Schmerz zu vollständigem Bewusstsein (conscious-awareness)1 bringen. Nur dann kann ein „Gedanke“ Veränder­ungen bewirken, wenn er Gefühlen entspringt. Vollständiges Bewusstsein (conscious-awareness) beraubt das Unbewusste seiner Macht, das Verhalten zu steuern. Gedanken und Gefühle residieren an verschiedenen Orten im Gehirn. Wir dürfen nicht versuchen, die eine Ebene die Arbeit einer anderen Ebene machen zu lassen. Wir dürfen nicht danach trachten, Gedanken als Ersatz für Gefühle zu benutzen. Das Fühlen der Gefühle involviert bestimmte Strukturen im Gehirn, wie den Hippocampus und die Amygdala. Gedanken über diese Gefühle  werden in der obersten kortikalen Ebene verarbeitet, besonders im vorderen Gehirnteil der linken Hemisphäre. Wenn wir allein den frontalen Kortex zum Fühlen benutzen, stecken wir in Schwierigkeiten. Was wir bestenfalls erwarten können, ist ein Weinen „darüber“, ein Rückblick eines Erwachsenen zur Kindheit, aber nicht das Kind, das tatsächlich seine Verletzungen fühlt.

Die Kräfte, die unser Verhalten steuern, befinden sich weitgehend in drei unterschiedlichen Gehirnsystemen: (1) der Kortex, der vollständiges Bewusstsein (conscious-awareness) bewirkt; (2) das limbische System, das Fühlen steuert; und (3) der Hirnstamm, der Instinkte und Überlebensfunktionen verarbeitet. Einprägungen (Imprints) finden in verschiedenen Teilen des Gehirns statt, abhängig von ihrer Kraft und vom Zeitpunkt ihres Auftretens. Ganz frühe Entwicklungen – vor und während der Geburt – werden sich auf das zu dieser Zeit kompetenteste Nervensystem auswirken – auf den Hirnstamm.

Traumen in der frühen Kindheit werden den Hirnstamm und das limbische System beeinträchtigen. Später, wenn sich der Neokortex entwickelt, werden Denkprozesse einbezogen. Der Hirnstamm ist ein 3-Zoll (circa 7,6 cm) — großer Stiel, der das Gehirn mit der Wirbelsäule verbindet und sich aus drei Hauptteilen zusammensetzt: Medulla, Pons und Mittelhirn. Zu seinen weiteren Strukturen gehören das retikuläre Aktivierungssystem (Gruppen von Nervenzellen, die höhere Ebenen des Gehirns auf Stimuli aufmerksam machen) und der Locus caeruleus ( eine Ansammlung von Neuronen, oder Nervenzellen, die das Nerven­system als Reaktion auf Schmerz und manchmal auch auf Lust aktivieren).

Erst einmal ist das Gehirn horizontal in zwei Hemisphären geteilt, jede mit ihren eigenen speziellen Funktionen. Die rechte Hemisphäre, größer als die linke, ist der Sitz der Gefühle und Emotionen und des ganzheitlichen, globalen Denkens. Gedanken, Planung und Konzepte sind die Domäne der linken Hemisphäre. Das rechte Gehirn ist im zweiten Lebensjahr weitgehend gereift; das linke Gehirn beginnt zu dieser Zeit erst mit dem Reifeprozess. Gefühle gehen Gedanken voraus.

Anm. d.Ü.: Conscious-awareness: “Bewusste Bewusstheit” oder “Bewusstes Gewahrsein” oder „Bewusstsein-Bewusstheit“. Laut Janov ein Zustand, der gute wechselseitige Verbindungen zu tieferen Gehirnebenen voraussetzt. Der Einfachheit halber und mangels einer besseren Idee übersetze ich in Zukunft mit „vollständigem Bewusstsein“ und füge in Klammern „conscious awareness“ hinzu.

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Im Sinne der Evolution sind wir schon lange fühlende Geschöpfe, ehe wir denkende sind. Wenn wir zeitlich in unseren Gehirnen zurückgehen wollen, müssen wir mit einem geeigneten Vehikel reisen. Gedanken sind der falsche Zug. Wir müssen die Zeitreise mit dem Gehirn abstimmen, das zu jener Zeit mit der Einprägung beschäftigt war; so kann ein Geburtstrauma weit unterhalb der Gedanken und sogar unterhalb der Gefühle angesiedelt sein; eingraviert in den Hirnstamm, der der primitivste Aspekt unseres Nervensystems ist. Diese Einprägung (Imprint) kann nur in Form von Salamander-Bewegungen „erklärt“ werden, ein Winden und Drehen ohne Benutzung der Glieder. Das ist die Sprache des Hirnstamms. Später wird es hilfreich sein zu verstehen, was wir durchgemacht haben, aber wir können nicht evolutionäre Stufen überspringen und Veränderung erwarten. Das ist mein zweiter gewichtiger Kernpunkt: Wir können uns nicht über die Evolution hinwegsetzen, wenn wir Probleme verstehen und behandeln wollen. Das Gehirn wird es nicht zulassen.

Der Hirnstamm spricht die Sprache des hohen Blutdrucks, des Herzjagens und der Angina; die lautlosen Killer, die sich ohne Worte ausdrücken. Er beinhaltet die Geheimnisse unserer Geburt und unseres Lebens vor der Geburt im Mutterleib. Wenn wir wissen wollen, wie unsere Geburt war, wird er es uns auf seine eigene Art sagen. Sie wird präzise und unmissverständlich sein. Seine wunderbare Beschaffenheit besteht darin, dass er nicht lügen kann und es nicht tun wird. Wenn die Erinnerung eine Herzfrequenz von 180 Schlägen pro Minute einschloss, dann gibt es im Wiedererlebnis exakt 180 Schläge pro Minute. Das ist eine Möglichkeit, wie wir Erinnerung auf ihre Richtigkeit überprüfen.

 

Die Struktur, die ganz zuletzt etwas über uns selbst weiß, ist der linke frontale Kortex. Ereignisse früh im Leben können von der rechten fühlenden Hemisphäre verarbeitet werden, ohne dass sich die linke Seite dessen bewusst ist. Sie muss über Gefühle rätseln und liegt oft falsch. Deshalb kommt es zu Fehlwahrnehmungen und Fehlinterpretationen. Das Paradoxon besteht darin, dass der höchstentwickelte Teil unseres Gehirns oft am wenigsten über den Rest von uns selbst und über andere weiß. Ich werde mich bemühen zu zeigen, dass die alleinige Benutzung des frontalen Kortex in keinem Menschen tiefgreifende Veränderungen bewirken kann. Das bedeutet, dass Einsichten in Verhalten und Symptome eine vergebliche Übung sind. Verstehen ist manchmal hilfreich, ist aber nicht die sine qua non (unverzichtbare Bedingung, Anm. d.Ü.) der Persönlichkeitsentwicklung. Es ist möglich, auf kortikaler Ebene “gesund zu werden“ und dennoch weiter unten „krank“ zu bleiben. Aus diesem Grund ist Traumanalyse – Gedanken über Gefühle – nicht hilfreich. Die beste Art von Traumanalyse besteht darin, das Gefühl innerhalb des Traums zu fühlen, und all seine Symbole werden sich uns offenbaren.

Das Gehirn besteht aus drei unterschiedlichen Bereichen. Die tiefste Ebene ist als Hirnstamm oder Reptiliengehirn bekannt. Über dem Hirnstamm liegt das fühlende oder limbische Gehirn. Das limbische System übersetzt Instinkte in Gefühle (26) und sendet die Kombination an den frontalen Kortex, das Areal an der oberen Front des Gehirns. Der neueste Teil des Gehirns ist der Neokortex (bedeutet „neuer Kortex“), die Deckschicht des Gehirns.

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Fig. 1:  An Gefühlen beteiligte Schlüsselstrukturen

Der Hirnstamm kontrolliert basale, automatische Funktionen wie Augenreflexe, Herzschlag, Verdauung, Atmung und Erbrechen. Er beherbergt die meisten unserer Instinkte und Überlebensmechanismen. Er umfasst unsere fest verankerten Bedürfnisse. Der Hirnstamm produziert die Antriebskraft, die unseren Gefühlen Energie verleiht. Er fügt den Gefühlen den "Schwung“ hinzu. Unverfälschte Wut und Furcht können ihren Ursprung im Hirnstamm haben und sich dann zur Scharfeinstellung ins limbische System  bewegen, oder sie finden Auslaß in künstlerischem Ausdruck wie zum Beispiel in Bildern oder Geschichten, die Gewalt­tätigkeit beinhalten.

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Die Medulla beinhaltet Gruppen von Nervenzellen, die mit der Regulierung des Herzschlags, des Blutdrucks, der Verdauung und Atmung befasst sind. Der Pons sitzt über der Medulla und ist über Nervenfasern mit dem Cerebellum (Kleinhirn, Anm. d.Ü.) verbunden, einem separaten Organ, das der Rückseite des Hirnstamms angehängt ist. Sensorische Information von den Ohren, vom Gesicht und den Zähnen wird vom Pons weitergegeben. Über dem Pons liegt das Mittelhirn, das der kleinste Teil des Hirnstamms ist und Augenbewegungen, Pupillenerweiterung und die Koordination der Gliedmaßen-Bewegung abwickelt.

Im Idealfall bringen Hirnstamm, limbisches System und Neokortex unsere Instinkte, Gefühle und Gedanken in harmonischen Zusammenhang. Über weite Strecken jedoch werden die drei Ebenen auseinandergehalten, sodass beispielsweise unsere Gefühle in einem Blizzard von Gedanken zermalmt werden. Wir werden sehen, wie frühes Trauma eine Blockierung von einer Ebene zur anderen erzeugt, sodass andere Ebenen davor bewahrt werden, von Eingaben (input) überwältigt zu werden. Sehr oft produzieren das limbische System und der Hirnstamm ihre eigenen hemmenden Chemikalien, um die Schmerzbotschaft nicht in die Hände des frontalen interpretierenden Kortex geraten zu lassen. Das gestattet dem Kortex zu denken, planen und weiter seinen Geschäften nachzugehen ohne zuviel Einmischung von unten. 

Manchmal jedoch sind die Einprägungen (imprints) der unteren Ebenen so mächtig, dass sie durch die schützenden Barrieren brechen; und genau dann leiden wir unter Ängstlichkeit, Panik, Phobien und Zwangsvorstellungen. Genau dann können wir nicht schlafen, weil Impulse vorwärts eilen und den frontalen Bereich veranlassen loszustürmen, um die Dämonen in Schach zu halten. Der diabolische Aspekt der Sache besteht darin, dass genau dieselben Traumen - auch jene im Mutterleib -, die hohe Pegel an inhibitorischen Neurohormonen erfordern, diejenigen sind, die diese Pegel absenken. Das heißt, diese Traumen sind von solcher Größe, dass sie das Verdrängungs­system lebenslang schädigen.

Die tiefer gelegenen Einprägungen versuchen ständig, das vollständige Bewusstsein (conscious-awareness) über Dinge zu informieren, von denen es nichts wissen will. Die tiefere Ebene will dem Kortex erzählen, dass sie sich ungeliebt und verletzt fühlt, aber der Kortex ist zu sehr mit dem Versuch beschäftigt, Liebe zu bekommen, als dass er der Botschaft Gehör schenken könnte. Er weiß nicht einmal, dass er sich ungeliebt fühlt, agiert es aber jeden Tag aus. Die zerebrale Schaltstation verweist die Botschaft der "Nichtliebe“ anderswohin; an das Herz, um Herzklopfen zu erzeugen, an den Kopf, um Migräne hervorzurufen, an die Blutgefäße, um Bluthochdruck auszulösen. Sie akzeptieren die Botschaft und übersetzen sie in ihre eigene Sprache. Wenn wir die Geheimsprache des Gehirns erlernen, können wir das Symptom in die reale Information zurückübersetzen und somit den Schmerz aus seiner Behausung in tieferen Ebenen entfernen. Es bedeutet, „den Code zu brechen.“ Das bedeutet, die Einprägung (imprint) anzuerkennen, die verschlüsselte Erinnerung, die vielleicht bis zur Geburt zurückdatiert. Deshalb ist das Konzept der Einprägung (imprint) so entscheidend. 

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Ohne dieses Konzept treiben wir hilflos umher, können die Urgründe vieler Dinge nicht verstehen, oder nicht einmal, dass es Urgründe gibt, die in den Antipoden des Gehirns liegen. Wir sind sodann gezwungen, alles in den gegenwärtigen Kontext zu platzieren. Nichtsdestotrotz sind wir historische Geschöpfe, und die Wahrheit über uns selbst liegt in der Geschichte, und die Geschichte liegt im Gehirn. Sie kann in Erfahrung gebracht werden.

 

DER FRONTALE KORTEX UND GEFÜHLE 

 

Der vordere Teil des Kortex sitzt auf Höhe der Augäpfel und bildet die oberste Schicht des Gehirns. Er wird als orbitofrontaler Kortex (OBFK) bezeichnet und verarbeitet Informationen von außen zusammen mit Erinnerung und persönlicher Geschichte, um Bewusstheit herzustellen, nicht zu verwechseln mit Bewusstsein. Bewusstsein wird definiert als ein Zustand, in dem alle drei Ebenen der Gehirnaktivität in Harmonie funktionieren. Wenn es zwischen dem frontalen Kortex und tieferen Zentren angemessenen Zugang gibt, spricht man von „bewusster Bewusstheit“ („conscious-awareness“).

Der präfrontale Kortex, der sich hinter der Stirn befindet, und der OBFK spielen im Alter von etwa zwei Jahren zum ersten Mal eine aktive Rolle, indem sie Verstehen und Nachdenken abwickeln. Weil nur wenige von uns in der nahen Zukunft Gehirnchirurgie praktizieren werden, werde ich mir die literarische Freiheit nehmen und den OBFK und präfrontalen Kortex einfach als frontalen Bereich oder frontalen Kortex erwähnen. Der OBFK ist im allgemeinen der „Stop“-Mechanismus zur Hemmung von Impulsen. Wenn diesem Bereich schwerer Schaden zugefügt wird, finden wir Ruhelosigkeit, Mangel an Hemmung, Hyperaktivität und Ablenkbarkeit. Das kann ohne einen Schlag auf den Kopf geschehen, nämlich durch Schwächung in der Entwicklungsphase aufgrund von Liebesmangel sehr früh im Leben. Der Kortex ändert sich dramatisch, wenn frühe Deprivation stattfindet. Seinen Platz nimmt ein anderes Gehirn ein, das weniger Zellen hat, um seine Arbeit zu erledigen.

 

DAS LIMBISCHE SYSTEM

Das limbische System, bestehend aus mehreren Strukturen, ist im Alter von zwanzig Monaten weitgehend entwickelt. Der Hippocampus dieses Systems ist im Alter von zwei Jahren ziemlich gereift, aber neues Beweismaterial deutet darauf hin, dass im späten Erwachsenenalter durch intellektuelle Stimulierung neue hippocampale Zellen erzeugt werden können. Das Gehirn kann neue Zellen hervorbringen, vielleicht für den Rest unseres Lebens.

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Die Amygdalae sind ein Paar mandelförmiger Strukturen auf der inneren Oberfläche der Temporallappen, am Hippokampus anliegend. Sie agieren als eine Art Kreuzung im Gehirn. Der Forscher Joseph LeDoux schreibt: „Die Amygdala hat direkte und ausgedehnte Verbindungen mit allen sensorischen Systemen des Kortex ....... und kommuniziert auch mit dem Thalamus ..... Derselbe Teil der Amygdala, in dem sensorische Eingaben zusammenlaufen, sendet Fasern tiefer ins Gehirn an den Hypothalamus, der als endgültige  Quelle emotionaler Antworten angesehen wird.“ 

Die Amygdala scheint der Brennpunkt des Fühlens zu sein, indem sie Botschaften erhält und via Hypothalamus an die Organsysteme sendet. Sie übermittelt auch emotionale Information - Leiden - an den Thalamus, der sie dann für den frontalen Kortex übersetzt, welcher uns unserer Gefühle bewusst werden lässt.

Aktuelle Beweise zeigen, dass die Amygdalae sich lange vor dem Neokortex entwickeln, sowohl in der persönlichen Entwicklung (ontogenetisch) als auch in unserer langen Geschichte vom Tier zum Menschen (phylo­genetisch). Es ist eine der ältesten Strukturen des Gehirns, mit einer Seite nahe am Hippokampus, der auch uralt ist, aber nicht so alt wie die Amygdala. Die Amygdala ist in der Verarbeitung emotionaler Information bis zur Mitte des ersten Lebensjahres dominant. Wenn wir erfahren wollen, was das Unbewusste bereithält, müssen wir auf diese Struktur zugreifen. Das ist machbar.

 

Die Amygdalae scheinen ihr eigenes Opium „anzubauen“. Sie sondern Opiate ab, die Schmerz unterdrücken und schmerzvolle Information von vollständigem Bewusstsein (conscious awareness) fernhalten. Ich finde es verblüffend, das dieses Stück gallertartiger Materie, das wir Gehirn nennen, sich selbst anweisen kann ein Mohnblumenderivat freizusetzen, um die Wahrnehmung von Schmerz auszuschalten. Mehr noch, es erteilt sich selbst genaue Anweisung, wieviel und wann sie es freisetzen soll und auch, wann sie damit aufhören soll. Tatsächlich ist es nicht ganz so überraschend, wenn wir betrachten, dass viele Pflanzen, die Sonne brauchen, um Energie für ihr Wachstum zu produzieren (Sauerstoff erzeugende Photosynthese), zum Verschließen tendieren, wenn sie zu sehr dem Sonnenlicht ausgesetzt sind. Das Konzept von Überlastung und Stilllegung ist kurz gesagt etwas, das wir ins Pflanzenleben zurückverfolgen können. Für einige Pflanzen wird beständiges und unvermindertes Sonnenlicht gefährlich, weil es den Umsatz der Photosynthese fallen lässt. Hier ist, was zwei Pflanzenforscher sagen: „Wenn die schützenden Prozesse überwältigt werden, wird Photoinhibition (meine Betonung) die Effektivität und Kapazität der Photo­synthese absenken.“ 

Der Blattschaden ist gleichbedeutend mit einem Sonnenbrand. Vielleicht trete ich die Sache jetzt breit: Sie fanden heraus, dass extrem intensives Sonnenlicht ein Signalsystem aktiviert, das die Regionen der Pflanze, die noch nicht dem Licht ausgesetzt sind, vor drohender Gefahr warnt.

Sie verschließt sich und wird wortwörtlich „das Licht nicht herein lassen“; das könnten wir auf Menschen extrapolieren. Das Schlüsselprinzip ist Überlastung und Stilllegung (overload and shutdown).

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ÜBERLASTUNG UND STILLLEGUNG: WIE WIR VERDRÄNGEN 

Unser Gehirn kann in der Evolution auf pflanzliches Leben zurückgreifen, um schützende Maßnahmen zu ergreifen. In dem Pflanzenparadigma können wir Anhaltspunkte finden, wie unser Gehirn arbeitet. Es gibt eine Anzahl von Studien über Nerven­zellen, die zeigt, dass Zellen „ruhig“ werden, wenn es zu einer überwältigenden Menge von Eingaben (input) kommt. Sie hören auf weiter zu reagieren. Das ist eine weitere Art zu demonstrieren, wie Überlastung Stilllegung erzeugt. Wenn  es in einer nuklearen Pflanze geschieht, läuten die Alarmglocken. Wenn es mit dem menschlichen System geschieht, passiert nichts. Zumindest nichts Offensichtliches. Unterdecks gibt es ein ständiges hastiges Treiben, weil Hormone sich in das System ergießen: Die Körperwärme geht nach oben, weiße Zellen huschen hin und her, und Hirnzellen rekrutieren Helferzellen im Dienste der Verdrängung. Leider ist der Alarm lautlos, und keiner kann ihn hören. Der Alarm schrillt und brüllt, doch wir sind taub. Die Eingeweide schreien auf, während wir mit einem glückseligen Lächeln herumlaufen, als sei alles in Ordnung mit der Welt, oder wir sind so in unsere Geschäfte vertieft, dass wir das Desaster ignorieren, das sich gerade in der Entwicklung befindet. Dieses Desaster kann das Ende unseres Lebens bedeuten.

DER HIPPOCAMPUS

Hinter den Amygdalae bildet der Hippocampus die Spitze des Widderhorns; das Wort bedeutet ”Seepferdchen“, dem diese Struktur ähnelt. Er ist eine sehr alte Struktur des Gehirns und offenbar für das ”deklarative Gedächtnis“ verantwortlich, für den Kontext und die Umstände eines Ereignisses, im Gegensatz zu seinem emotionalen Inhalt, welcher zum Kompetenzbereich der Amygdala gehört.

Der Hypothalamus liegt an der Anschlussstelle zur Widderhorn-Form des limbischen Systems und hat etwa die Größe einer Kirsche. Er befindet sich hinter den Augen und unterhalb des Thalamus und ist mit anderen Gebieten des Nervensystems verbunden. 

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Der Hypothalamus reguliert die Hormonproduktion und stimuliert das Immunsystem über die Hirnanhang­drüse, die genau unter ihm sitzt. Er hilft auch bei der Regulierung vitaler Körperfunktionen, einschließlich Blutdruck, Herzschlag und Körpertemperatur. Der Hypothalamus steuert sowohl das parasympathische als auch das sympathische Nervensystem, die das autonome Nervensystem bilden. Das autonome Nervensystem kontrolliert die Funktion der inneren Organe. Wir werden sehen, wie wichtig dieses System ist.

Wir haben einen flüchtigen Blick auf einige Schlüsselstrukturen des Gehirns geworfen, die sich mit Fühlen befassen. Im nächsten Kapitel werden wir untersuchen, wie diese Strukturen interagieren und einander Botschaften zusenden und wie Informationen in neuralen Highways, die als „Bahnen“ bekannt sind, verstärkt oder blockiert werden. Wir werden sehen, wie das Unbewusste zum „Unbewussten“ wird. Wir werden entdecken, was mit unseren Gefühlen geschieht, wenn wir keinen Zugang zu unseren höheren Zentren finden, wo die Bewusstheit (awareness) liegt. In Kapitel 7 werde ich zwei neue Begriffe einführen: das Imprint (Einprägung) und die kritischen Perioden.  Wir werden herausfinden, wie Ereignisse außerhalb unserer selbst – ein Blick, ein finsterer Gesichtsausdruck oder ein harsches Wort – ein Leben lang  in unser Gehirn eingeprägt werden. Und wir werden entdecken, dass es entscheidende Zeiten gibt, in denen Einwirkung von außen den größten Einfluss auf uns hat und somit die Entwicklung des Gehirns verändern kann.

Es gibt Perioden vor der Geburt und gleich danach, in denen sich das Gehirn mit unglaublich hoher Geschwindigkeit entwickelt. Diese Perioden umfassen die Zeit, in der Nervenzellen des Gehirns – Neuronen – ihre Verknüpfungen zu anderen Neuronen entwickeln, um Nervenbahnen zu formen. Ein schweres Trauma während dieser Perioden - eine ängstliche oder deprimierte Mutter oder eine Mutter, die viel trinkt oder raucht, - kann das Gehirn permanent abweichen lassen.

BOTEN DES GEHIRNS 

Das Nervensystem als Ganzes besteht aus Milliarden von Neuronen, die untereinander in Verbindung stehen. Diese Nervenzellen erhalten Signale - oder Information - von den Sinnesorganen des Körpers und übermitteln sie an das zentrale Nervensystem. Jedes Neuron besteht aus einem Zellkörper und Verzweigungen, die man Dendriten nennt. Signale reisen zwischen den Neuronen über leitende Fasern, Axone genannt, die sich am Ende verzweigen und Axon-Terminale bilden. Der Spalt zwischen einem Axonterminal und der empfangenden Nervenzelle wird als Synapse bezeichnet. Signale überqueren diesen Spalt mit Hilfe von chemischen Substanzen, die man Neurotransmitter nennt. 

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Die Anzahl der Synapsen ändert sich durch frühes Trauma und schafft dadurch eine andere Art von Gehirn. Wenn wir nicht von früh an gliebt werden (und was ich diskutiere, das findet immer ganz früh im Leben statt, vor der Geburt und in den ersten achtzehn Monaten nach der Geburt), haben wir in gewissem Sinne „nicht alle unsere Tassen im Schrank“, um den Lebenskampf antreten zu können. Diese „Tassen“ sind unter anderem die synaptischen Anschlussstellen. Dort werden die chemischen Boten abgeladen, die Information entweder zurückhalten oder ihre Kommunikationsfähigkeit verbessern, besonders zu den höheren Ebenen, die aus all dem einen Sinn machen könnten. Tranquilizer wirken in diesen Spalten meistens dahingehend, dass sie die Botschaft verhindern, eine sehr alte.... “niemand kümmert sich um mich.“ Das Gehirn, das limbische System und der Hirnstamm sind mit mit Botschaften wie dieser beladen.

Die spinnenartigen Zweige, die von einer Nervenzelle zu anderen Neuronen führen, werden Dendriten genannt; sie liefern Informationen zu anderen Nervenzellen. Wenn Liebe fehlt, leiden die Dendriten. Es gibt weniger Verzweigungen, und das Resultat ist ein anderes – und permanent anderes – Gehirn. Die Stresshormon (Kortikosteroide) – Rezeptoren sind auch reduziert, sodass es wahrscheinlich mehr frei-fließende Stresshormone im Gehirn gibt. Was besonders in den limbischen Gefühlszentren übrig bleibt, ist ein toxisches Gehirnmilieu mit weniger Synapsen, die Information von einer Region zur anderen tragen könnten. Das mag erklären, warum jemand anderen nicht sympathisch und für deren Schmerz nicht empfindsam ist; weil er nämlich sich selbst gegenüber unempfindsam ist. Seine Gefühlszentren sind geschwächt.

Viele verschiedene Chemikalien erfüllen die Funktion dieser Boten. Sie helfen dabei, Informationen einer tieferen Ebene zu höheren Arealen zu befördern. Serotonin, zum Beispiel,  unterstützt die Hemmung von Schmerz und hat auch mit Sattheit zu tun — ein ganz positiver Aspekt. Ich werde mich jedoch auf seine repressiven Komponenten konzentrieren, weil es im Grunde ein hemmender Neurotransmitter ist.

Acetylcholin befördert Informationen zwischen dem Gehirn und dem Rückenmark. Norepinephrin kontrolliert Herzfrequenz und Stressreaktion. Es steht mit Belohnung in Zusammenhang. Dopamin hilft bei der Koordination von Körperbewegungen und hilft dabei, uns und unseren Kortex zu stimulieren, damit wir wachsam werden, und ist assoziiert mit Zielstrebigkeit.

Zuviel Dopamin kann jedoch den Kortex überstimulieren und uns buchstäblich “verrückt machen“. Die Endorphine spielen eine Hauptrolle in der Kontrolle unserer Empfindlichkeit für Schmerz. Diese Neurotransmitter werden in späteren Kapiteln ausführlicher diskutiert, aber für jetzt müssen wir uns bewusst sein - und die meisten von uns sind es bereits -, dass das Gehirn seine eigenen Schmerzkiller produziert. Gelegentlich werde ich mich auf bestimmte Transmitter konzentrieren, insofern sie sich auf emotionale Verstimmungen beziehen; ich denke aber immer daran, dass diese chemischen Substanzen einen weitgefächerten Funktionsbereich haben.

Wir dürfen nicht vergessen, dass hinter all den “Gefühlszuständen“, die in der psychiatrischen Literatur erörtert werden, ein Gehirn liegt, eines, aus dem Angst und Depression aussickern. Wir wollen herausfinden, wo dieses Phänomen stattfindet und warum. Was ist verantwortlich dafür, dass es geschieht? Sollen wir schmerzvolle Information auf ihrem Weg zu bewusster Bewusstheit (conscious-awareness) automatisch unterdrücken? Wenn sich der Mensch mit Tranquilizern besser fühlt — können wir das als Heilung betrachten? Reicht das? Oder gibt es einen Preis zu zahlen für die Verdrängung?

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Quellenverweise und Anmerkungen 

www.detopia.de      ^^^^