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3  Verdrängung:  Die Schleusen des Gehirn und der Verlust des Fühlens

 

Janov 1991

 

 

  Schleusen: der Mechanismus der Verdrängung  

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Der Hauptmechanismus, durch den Schmerz unterdrückt wird, wird Schleusen­mechanismus genannt. Er ist ein Prozeß, der die Wahr­nehmung des Schmerzes kontrolliert, nicht den Schmerz selbst, indem er die Masse elektrischer Impulse, die den Schmerz bilden, daran hindert, die höheren Ebenen des Gehirns zu erreichen.

Mittels dieses Schleusensystems stimuliert überwältigender Schmerz, physisch oder psychisch, seine eigene Verdrängung. Dies geschieht durch einen elektro­chemischen Prozeß, bei dem bestimmte Nervenzellen und ihre Verbindungs­punkte die Übertragung von Informationen hemmen. Das Schleusen­system wirkt im ganzen Gehirn, ist aber in bestimmten Schlüssel­bereichen konzentriert, welche die Schmerz­reaktion organisieren.

Das Schleusensystem trennt Denken, Fühlen und Empfindungsebenen vom Bewußtsein und kontrolliert die Eingaben überall im Nervensystem. Sobald einmal das Schleusensystem und die Verdrängung aktiv werden, werden Neuralkreisläufe funktional auseinander­gerissen und scheinen ein unabhängiges Leben zu führen. Gedanken, von Gefühlen getrennt, haben eine eigene Lebens­fähigkeit. Die Energie der Gefühle hallt inzwischen in Schleifen auf den niedrigeren Ebenen des Gehirns wider, von den Denk­prozessen abgetrennt.

Das Schleusensystem wirkt also in zwei Richtungen: Es hält Fühlen und Empfinden von der Denkebene fern und hindert Gedanken und Vorstellungen daran, unsere emotionale Ebene zu beeinflussen. Wenn wir sagen, daß jemand »den Kontakt mit der Realität« verloren hat, beziehen wir uns, ohne es zu wissen, auf den Schleusenprozeß, der wirkungsvoll eine Ebene des Bewußtseins von einer anderen losgelöst hat. Man verliert den Kontakt mit der Außenwelt erst, nachdem man den Kontakt mit der Innenwelt verloren hat. Der Kontakt­verlust mit dem Inneren ist die Vorbedingung für den Kontaktverlust mit der äußeren Welt.

Es gibt viele anschauliche Beispiele für das Wirken des Schleusensystems. Beim Football können Spieler oft mit schweren Knochen­brüchen eine ganze Partie durchstehen. Ihre Schmerzen werden ihnen erst nach dem Spiel bewußt, wenn die Intensität ihrer Aufmerksamkeit nicht mehr auf den Wettbewerb gerichtet ist. Trunkenheit ist ein weiteres Beispiel.

Nach einer in Kneipen verbrachten Nacht hat ein Mensch möglicherweise keine Erinnerung mehr an das, was er getan hat. Trotzdem ist er nach Hause gefahren, obwohl er praktisch bewußtlos war. Er funktionierte dabei auf einer anderen Bewußtseinsebene. 

  Die Schleusen des Gehirns und die Verdrängung  

Durch eine glückliche Fügung des Schicksals, die allerdings nicht ohne unheilvolle Folgen ist, wird das Gefühl von großem frühem Schmerz zu seinem Gegenteil — keinem Gefühl. Das Schleusenphänomen läßt uns verstehen, wie dies vor sich geht. Zunächst müssen wir erörtern, wie Schmerz in das Bewußtsein eintritt.

Die Erforschung des Schmerzes und seiner Mechanismen hat bedeutsame Einsichten in emotionales Leiden und seine Verarbeitung ermöglicht. Tatsächlich ist die Grenze zwischen sogenanntem physischem Schmerz und emotionalem Schmerz, der zweifellos eine physiologische Reaktion auf psychologische Ereignisse ist, schwer zu ziehen. Daher ist die Schmerztheorie, die im mittleren Hirnstamm ein Schleusensystem postuliert, für physischen und emotionalen Schmerz gleichermaßen relevant.

Die Schleusentheorie bezüglich der Schmerzkontrolle wurde von Ronald Melzack und Patrick Wall entwickelt. Bei der Untersuchung eines Phänomens namens TENS, transkutane Elektroneurostimulation, entdeckten Melzack und Wall, daß im zerebrospinalen System ein Schleusensystem existiert. Durch das Einpflanzen einer elektronischen Vorrichtung oben im Rückenmark war ein Patient in der Lage, an einem Transmitter einen Knopf zu drücken und das Gebiet mit elektrischen Impulsen zu überfluten. Dies wiederum stellte den Schmerz ab, der vom Rückenmark übertragen worden war. Bei der Stimulation stellte diese Vorrichtung starke Schmerzen wie die bei einer Krebserkrankung ab. Die elektrischen Impulse haben keinen Inhalt. Sie sind neutral und senden trotzdem die Information an das Schleusensystem, den Schmerz zu hemmen.

TENS läßt auf den Mechanismus schließen, durch den wir emotionalen Schmerz verdrängen. Dies geht klar aus der Tatsache hervor, daß Schmerz letztlich eine Masse elektrochemischer Impulse ist. Wenn diese Masse zu groß wird, überfluten die Impulse das Gehirn und erzeugen eine Überlastung. Diese Überlastung stimuliert das Gehirn, die Schmerzzufuhr zu stoppen und Verdrängung zu erzeugen. Der Mechanismus ist automatisch.

Das Schleusen emotionalen Schmerzes geschieht auf zwei Arten: wenn die Intensität so groß ist, daß sie die Schwelle zu über­wältigen droht, und wenn ein kumulativer Effekt besteht, der dieselbe Schwelle erreicht.

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Jeder Schmerz, der die Toleranzschwelle bedroht, setzt einen eingebauten Anti-Leidens-Mechanismus in Gang, der dafür sorgt, daß wir nicht übermäßig leiden.

Wir sehen das Schleusenprinzip bei der Schocktherapie. Der Mensch hat nach einem massiven elektrischen Schlag gegen das Gehirn keine Schmerzen mehr, weil er nicht mehr fühlt. Der massive Schock im Gehirn hat auch einen Teil seiner Erinnerung gelöscht. Der Schock hat bei der Aufgabe der Verdrängung geholfen, als das System nicht genügend eigene Chemikalien produzieren konnte, um den Schmerz unter Kontrolle zuhalten.

Die Schocktherapie ist übrigens eine massive Eingabe, die im System verbleibt. Ich habe Patienten ihre Schocktherapie genauso wiedererleben sehen, wie sie sich abspielte. Was hineingeht, muß schließlich wieder herauskommen, ob es sich um Impulse eines Schockgerätes handelt oder Impulse einer Traumatisierung als Kind.

 

    Schleusen der Schmerzerinnerung in der Primärtherapie   

 

Was wir in der Primärtherapie beobachtet haben, unterstützt die Schleusentheorie. Patienten, die einen Geburts­vorgang wieder­erleben, weisen auf der Stirn wieder die Male der Geburtszange auf. Wo waren die Male in all den dazwischenliegenden Jahren? Abgeblockt, als starke Erinnerung gespeichert, aber nie verschwunden. Was ist mit dem Babywimmern, den Lauten eines Einjährigen, die ein vierzigjähriger Patient unwillkürlich von sich gibt, während er frühere Traumata wiedererlebt? Wegge­schlossen, aber nach Freisetzung drängend. Das Wegsperren einer massiven Quantität von Primärenergie erzeugt die gleiche Quantität an körperlicher Spannung. Wenn Patienten ihren Schmerz wiedererleben, wird das Spannungsniveau radikal reduziert. Elektro­myographische Untersuchungen weisen auf eine reduzierte elektrische Aktivität der Muskeln hin.

Emotionale Schocks unterscheiden sich nicht von der Schocktherapie. Wenn die Mutter in eine Anstalt für Geisteskranke eingewiesen wird, wenn man den Bruder bei einem Unfall verliert, wenn man in frühen Jahren in ein Heim gegeben wird oder Inzest erleidet, so wird das Gehirnsystem jeweils mit einem Übermaß an elektrischen Impulsen überschwemmt, das zu einer Sperre führt. Wir sprechen hier von einer Informations­überlastung. Die Schleuse kümmert sich nicht weiter um den Inhalt. Es ist die Stärke des Traumas, die zählt. Wenn es intensiv genug ist, beispielsweise bei einem Inzest, dann schließt sich die Schleuse.

Wenn die Schleuse im Gehirn sich vor dem Schmerz verschließt, so verschließt sie sich leider gleichzeitig auch unserer Geschichte. Wir erinnern uns nicht mehr an das Trauma und auch nicht an die Bedürfnisse und Gefühle, die es begleiteten. Wir sind genau der Art von Erinnerung beraubt, die wir brauchen, um die unglückseligen und verkrüppelnden Effekte dieser alten Traumata aufzulösen. Wir verdrängen nie ungestraft. Es ist immer ein Preis zu bezahlen.

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  Schleusen und Schmerzverdrängung: das klinische Bild  

 

Der Grad des Verschließens oder der Verdrängung entspricht dem Ausmaß des Schmerzes. Massiver Schmerz bei der eigenen Geburt kann zu der Art von Verdrängung führen, über die wir gesprochen haben. Danach wird immer eine große Menge an Energie nötig sein, um diesen Schmerz an seinem Platz zu halten. Dieser Energieausstoß ist kontinuierlich, weil die Prägung durch das Trauma nie mehr vergeht. Die Menge der benutzten Energie ist meßbar. Patienten, die gewisse sehr frühe Traumata wieder­erleben, können innerhalb weniger Minuten Sprünge der Körpertemperatur um mehrere Grade aufweisen. Solche Werte scheinen unmittelbar die Schmerzebene und den Grad der eingetretenen Verdrängung zu demonstrieren.

 

Schleusen und abgeschnittene Kommunikation 

Der Schleusungsvorgang führt zur Blockierung der Kommunikation von einer Bewußtseinsebene zu einer anderen. Deshalb bleiben so viele Erinnerungen unbewußt. Deshalb ist ein Teil unseres Gehirns — der denkende, bewußte Teil — oft nicht in Verbindung mit anderen Teilen des Gehirns, die wichtige Informationen enthalten.

Blockierte Kommunikation oder Verdrängung läßt sich gut in der Hypnose zeigen, wo psycho­logische Techniken die Erfahrung von Schmerz und die Erinnerung daran abschalten können. In der Hypnose ist es möglich, ein so tiefgreifendes Absperren zu erreichen, daß eine Person steif wird, zwischen zwei Stühlen ausgestreckt werden kann (den Kopf auf einem Stuhl, die Fuß­knöchel auf einem anderen) und ein Gewicht von zweihundert Pfund auf ihrem Bauch nicht spürt.

Das Beispiel der Hypnose ist wichtig, weil es zeigt, wie psychologische Faktoren, einfache Gedanken, die Gehirnchemie verändern und eine Absperrung erzeugen können — eine so tiefgreifende Absperrung, daß sie nur einen primitiven Organismus zurückläßt. Diese Absperrung kann nicht nur Gedanken von Gefühlen trennen, sondern auch Gefühle unterdrücken, so daß nur das primitive, auf Überleben gerichtete Gehirn zurückbleibt. Sie arbeitet, kurz gesagt, auf drei Ebenen des Bewußtseins.

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Unbewußte Erinnerung kann auch eine Vielfalt koordinierter Aktionen steuern. Da gibt es den Schlafwandler, der in die Küche geht und eine Mahlzeit zubereitet, während er fest schläft, wobei er komplexe Funktionen ohne Aktivierung des Ober­flächen­bewußtseins durchführt. Es gibt Menschen, die epileptische Anfälle haben und denen es trotzdem gelingt, ein Auto zu fahren, Straßen zu wählen und Abbiegesignale zu geben. Außerdem haben sie später keinerlei Erinnerung daran. Eine Bewußt­seinsebene war versperrt, während eine andere perfekt funktionierte.

Klinisch wird diese Blockierung auf viele Arten sichtbar. Eine Patientin, die Opfer eines Inzests war, entdeckte diese Tatsache erst, als sie schon zwei Jahre in Primärtherapie war. Sie begann, auf der Straße mit sich selbst zu reden, und hatte das Gefühl, »den Faden zu verlieren«. Sie kam in die Therapie, ohne zu wissen, was mit ihr nicht stimmte. Viele Wochen lang erlebte sie Aspekte des Inzests wieder, bis sie ihm eines Tages in entsetzlicher Qual von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Selbst die Erinnerungsstücke waren weggesperrt, so daß sie sich zunächst nur an die harmlosesten Dinge erinnern konnte.  

Ihre ersten Urerlebnisse, das Wiedererleben verdrängten Schmerzes, bezogen sich auf Furcht in der Dunkelheit als Kind; dann auf Schritte, die den Flur entlang kamen; später auf einen Schatten im Zimmer; noch später kam das Gefühl von etwas Großem und Scharfem zwischen ihren Beinen; und, Monate später, der Vater! Die Stärke der Sperre hat also etwas mit dem Ausmaß des Schmerzes zu tun. Das System läßt automatisch jeweils nur ein Bruchstück auf einmal in das Bewußtsein treten. Es gestattet gerade so viel, wie integriert werden kann, nicht mehr.

Physiologisch wissen wir einiges über die Art, wie das Schleusensystem oder die Blockierung funktioniert. Es gibt eine Reihe von Studien über Nervenzellen, die zeigen, daß bei einem Sperrfeuer von Eingaben bestimmte assoziierte Zellen »still« werden; sie reagieren nicht mehr. Auch dies zeigt wieder, wie Überlastung ein Abschalten erzeugt. Wenn dies in einem Atomkraftwerk geschieht, ertönen Glocken und Alarmsignale. Wenn es in einem menschlichen System geschieht, passiert gar nichts. Zumindest nichts Sichtbares. »Unter Deck« jedoch herrscht ständig rege Aktivität, während Hormone in das System ausgeschüttet werden — die Körpertemperatur steigt, weiße Zellen huschen hin und her, Gehirnzellen rekrutieren Unterstützung im Dienste der Verdrängung.

Doch leider geht der Alarm stillschweigend vor sich, und keiner hört ihn. Der Alarm schrillt und schreit unser ganzes Leben lang hinter der Ursperre.

Alles, was künstlich unternommen wird, um Kommunikations­barrieren im Gehirn niederzureißen, die Folge der Schleusen sind, ist gefährlich, weil es Schmerzen aufwühlen kann, die noch nicht an der Reihe sind.

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Drogen oder eine schlechte Therapie laufen auf das gleiche hinaus — auf mögliche Überflutungen des Kortex oder des bewußt denkenden Gehirns mit Schmerz, der nicht integriert werden kann. Für die Existenz des Schleusensystems gibt es einen wichtigen Grund, und zwar keinen geringeren als das Überleben.

 

Das Schleusensystem als Grundlage der Neurose 

Das Schleusensystem erlaubt uns, auf eine Weise zu fühlen und auf eine andere zu handeln. Es ermöglicht uns, mit uns selbst im Widerspruch zu stehen. Es gestattet uns, uns an Stundenpläne zu erinnern, die wir mit sechs in der Schule hatten, aber nicht an die Emotionen zu jener Zeit. Der Grund dafür ist, daß wir erst den Schmerz wegsperren, dann die Assoziationen, die ihn wieder aufwühlen könnten, bis wir alle umgebenden Erinnerungen abgeblockt haben — Orte, Zeiten, Schauplätze etc. Wenn wir einen Schock erleiden, wie etwa bei einem Autounfall, kommt es oft zu einer Amnesie. Das gleiche gilt für frühe emotionale Schocks. Die Art, wie die meisten von uns geboren werden, läßt uns unmittelbar nach der Geburt in einem Schockzustand zurück. Kein Wunder, daß nur so wenige von uns sich an ihre Geburt erinnern können!

Die Schleusen bewirken eine Selbsttäuschung. Jemand ist sicher, entspannt zu sein, während verdrängte Wut seinen Blutdruck erhöht. Er sieht keinen Zusammenhang zwischen seinem Blutdruck und seinen Gefühlen. Sollte er gefragt werden: »Was macht dich so angespannt?«, so wüßte er nicht, wovon die Rede ist. »Ich bin überhaupt nicht angespannt«, würde er antworten. Die Schleusen haben das Bewußtsein ausgesperrt.

Es gibt auch gewisse Arten von Hirnschäden, bei denen die Person Schmerzen haben kann, aber mit der Einstellung: »Ich weiß, daß ich leide, aber es macht mir nichts aus.« Ihre Einschätzung des Schmerzes und seines Zusammenhangs mit dem Leiden ist gestört. Früher, als Chirurgen noch frontale Lobotomien durchführten (bei denen der Frontal-kortex von emotionalen Zentren abgetrennt wurde), geschah das gleiche. Der Mensch hatte Schmerzen, schien sich aber nichts daraus zu machen.

Das normale Individuum erhält seine Kohärenz durch eine flüssige Interaktion aller Ebenen des Bewußtseins aufrecht. Der Neurotiker bewahrt seine Kohärenz oder Inkohärenz durch das Gegenteil — ein System gut funktionierender Schleusen, das alles getrennt hält. Ohne diese Schleusen gäbe es keine Möglichkeit, das Leben zu bewältigen. Man würde dauernd qualvoll leiden.

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Also erlauben die Schleusen einer Patientin, zu uns zu kommen und über Migräne zu klagen, wobei sie uns versichert, sie habe eine glückliche Kindheit gehabt, nur um ein Jahr und hundert Urerlebnisse (Episoden des Wiedererlebens früher Traumata) später zu entdecken, daß es ganz und gar nicht an dem war.

Der Preis der Verdrängung ist immer verringertes Bewußtsein. Die Neurose ist einfach die Ausdehnung des natürlichen Prozesses, überwältigende Informations­mengen (mit denen wir alle bombardiert werden) auszuschließen, um den Organismus vor Überlastung zu schützen. Es sieht so aus, als sei Schmerz universal. Der Sinn jeder Therapie würde dann darin bestehen, ihn innerhalb des Systems auf ein akzeptables Maß zu verringern. Meiner Meinung nach ist hundertprozentige Schmerzfreiheit angesichts der Gesellschaft, in der wir leben, nur theoretisch möglich.

 

Die Evolution des Schleusensystems

Das Schleusensystem bildet sich entsprechend der allgemeinen Entwicklung des Gehirns. Ein Säugling oder Fötus kann verdrängen. Man hat gemessen, wie Föten im Mutterleib laute Geräusche »ausblenden«. Doch die Verdrängung wird mit dem primitiven Nervensystem bewerkstelligt. Erst Jahre später ist der Mensch in der Lage, auf der höchsten zerebralen Ebene die Schleusen in Gang zu setzen: Gedanken zu benutzen, um Gefühle abzublocken, zu rationalisieren, um nicht zu leiden, eine Realität zu leugnen, die er unmittelbar vor sich hat.

Die Gehirnentwicklung berücksichtigt nicht nur Emotionen, sondern auch emotionalen Schmerz. Bei sämtlichen Schmerzen gibt es auch den Mechanismus für ihr Gegenteil — Verdrängung. Ein Kind kann, bevor es Gedanken benutzt, um Schmerz auszusperren, gegen seine Gefühle handeln. Der kleine Junge kann sich als unabhängiger »Macho« geben, um sein Bedürfnis zu verleugnen, ein Baby zu sein. Das ist eine emotionale Vertuschung. Und da wir gerade von Vertuschung sprechen: Diejenigen, die einen guten Teil ihrer inneren Realität vertuschen, werden wahrscheinlich das gleiche tun, wenn sie später mit der äußeren Realität konfrontiert sind. Ihr erster Impuls wird Leugnen und Vertuschen sein, eine Ausdehnung dessen, was innerlich vor sich geht.

Schleusen bewahren unsere innere Realität in ihrer reinen Form. Sie puffern Gefühle ab und schützen sie; sie sind dazu gedacht, nützlich zu sein. Das Problem besteht darin, daß wir, wenn wir uns selbst gegenüber unsensibel werden, auch anderen gegenüber unsensibel sind. Wir sehen ihren Schmerz nicht; wir können uns nicht in sie einfühlen oder Mitgefühl mit ihnen haben. Wir nehmen nicht wahr, was wir wahrnehmen sollten, und uns entgeht das Offensichtliche.

Später im Leben leidet ein Mensch mit starken Schleusen oder starker Verdrängung vielleicht an einer Autoimmunkrankheit wie etwa Arthritis, bei der die reale Person, ihre Zellen und Gewebe, angegriffen wird, als sei sie ein zu attackierender Fremder. Wir werden allergisch gegen uns selbst.

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Messen der Stärke des Schleusensystems 

Jeder Aspekt des Schleusensystems scheint eine spezifische Toleranz zu haben. Als Schleuse der ersten Linie bezeichnen wir die Verdrängung von Ereignissen, die vor, während oder rund um die Geburt eintreten. Dies schließt Geschehnisse einige Monate nach der Geburt ein. Schleusen der ersten Linie können beispielsweise die Kapazität zehn haben. Andere Schleusen im höheren Gehirn haben vielleicht eine Kapazität von fünf oder sechs. Ein Trauma wie der Inzest mag die Schleuse mit einem Wert von sieben oder acht überwältigen; die Ansammlung von Schmerzen im Lauf der Zeit setzt ein Schleusensystem vielleicht außer Funktion. Dann brauchen wir Drogen, um es aufzuputschen. Erkennen kann man den Zusammenbruch des Schleusensystems bei offenen Angstzuständen, Psychosen, infantilem Autismus oder schwerer Krankheit.

Ein LSD-Trip ist der schnellste Weg, die Schleusen zusammenbrechen zu lassen, welche die integrative kortikale Aktivität verringern, und gleichzeitig Schmerzen freizusetzen, die früh und niedrig im Nervensystem gespeichert wurden.

Was wir auch bei einigen unserer Patienten sehen, ist ein zerbrechliches Schleusensystem aufgrund des Zusammenkommens von Schmerzen während der ganzen Kindheit — etwa, wenn jemand eine besonders schlimme Geburt hatte und dann seine ganze Kindheit hindurch abgelehnt wurde. Das ist die Art von Person, die überschwemmt von Gefühlen zu uns kommt und später diese Gefühle nicht sortieren kann. Sie kommt in die Therapie und hat in bezug auf ihre Kindheit Empfindungen, die mit allen möglichen Geburtstraumata durchsetzt sind. Diese verwirrende Mischung hindert die Person daran, ein einziges, integriertes Gefühl zu haben. An diesem Punkt sind Schmerz- oder Beruhigungsmittel erforderlich, um den hochgradigen Schmerz niederzuhalten und die Schleusen zu stärken, damit die Person jeweils ein Gefühl auf einmal in ihr Bewußtsein integrieren kann.

Mit Hilfe unserer Gehirnwellenuntersuchungen sind wir in der Lage, das Verdrängungs- oder Schleusensystem zu messen. Eine verdrängende Person hat ein typisches Gehirnwellenmuster. Wenn sie nicht offen ängstlich ist, hat sie ein Ruhe-EEG (Elektroen­zephalogramm) von 20-40 Mikrovolt bei 11-15 Zyklen pro Sekunde. Das ist leicht beschleunigte Niederspannung. Eine weniger verdrängende Person, die offene Angst zeigt (der Durchbruch von Schmerz), hat eine höhere Spannung von 50-150 Mikrovolt bei 10-13 Zyklen pro Sekunde. Wenn der Schmerz wiedererlebt wird, kann der Wert des Patienten auf 20 Mikrovolt (Alphawelle) bei 7-10 Zyklen pro Sekunde zurückgehen.

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Individuen, die aktiv leiden, haben oft ein EEG von 150-250 Mikrovolt. Und wenn Patienten frühe Schmerzen wiedererleben, während sie an ein EEG-Gerät angeschlossen sind, kann es noch höher gehen. Hier sehen wir klare Nachweise für das Wirken von Schmerz und Schleusensystem. Wir sehen, was geschieht, wenn es überlastet ist. Die Hochspannung stellt einen Durchbruch tiefen und frühen Schmerzes dar. Der Kortex tut sein Bestes, um damit fertig zu werden, aber er muß Überstunden machen. Die Amplitude der Gehirnwellen nimmt signifikant zu, ebenso die Körpertemperatur. Beides sind Anzeichen dafür, daß heftig gearbeitet wird, um den Eindringling zurückzuwerfen. Wenn der Schmerz sich dem Bewußtsein nähert, scheint das Gehirn hektisch zu werden. Das Gefühl wird als Feind behandelt. Warum ist das so? Warum sollte etwas, das so sehr Teil unserer selbst ist, als Feind angesehen werden? Diese Frage werden wir später untersuchen. Wir werden sehen, wie wir fremde Kräfte absorbieren, um sie unschädlich zu machen.

In der Minute, in der der Patient in wirkliches Fühlen fällt, sinken alle biologischen Indizes. Das ist deshalb wichtig, weil wir hier die Mittel haben, um das Schleusen­system in Aktion zu sehen. Wir können sehen, wann es überlastet ist und wann es gut funktioniert. Es funktioniert gut bei Patienten, die nichts fühlen und darüber klagen, das Leben gäbe ihnen nicht viel.

Im Gegensatz zu der alten Redensart, wir benutzten nicht viel von unserer Gehirnkapazität, benutzt der Neurotiker immer einen zu großen Teil seines Gehirns im Dienst der Verdrängung.

 

Schmerz und das höhere Gehirn 

Vielleicht ist Schmerz einer der Hauptgründe für die Entwicklung des denkenden Gehirns. Ungünstige Umstände »verlangten« ein höheres Gehirn, um überwältigende Eingaben zu handhaben. Auf die gleiche Weise, wie wir zu unserem Kortex und seinen Gedanken fliehen, um aufkommenden Schmerz zu bewältigen, scheinen die niedrigeren Gehirnzellen in der Evolution aufwärts gewandert zu sein, um angesichts ungünstiger Umstände einen Kortex zu formen.

Man hat festgestellt, daß die einfachsten Erinnerungen weite Bereiche des Gehirns mit Millionen Nerven­zellen einbeziehen. Wenn es einen großen Speicher mit schmerzhaften Erinnerungen gibt, kann man die Milliarden arbeitender Nervenzellen nur erahnen. Es scheint nichts zu geben, das das Gehirn und dann sein Schleusensystem so aktiviert wie Schmerz.

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Rekapitulieren wir: Es gibt eine Serie von Schmerzen, die das System beeinträchtigen und eine einzige Neurose erzeugen. Mehr ist es nicht — eine einzige Neurose, die auf verschiedenen Ebenen des Bewußtseins wirkt und sich in tausend Arten manifestiert.

Es gibt eine einzige Hauptmethode der Abwehr — Verdrängung — mit einer Vielzahl von Symptomen, die aus dieser Abwehr hervorgehen. Bis heute geht die Tendenz in der Psychotherapie dahin, sich auf alle jene Ableitungen von der Abwehr zu konzentrieren und die vielen Formen der Neurose statt der sie erzeugenden Quellen ins Auge zu fassen. Das gilt für die Medizin genauso wie für die Psychologie. Wir behandeln Zwänge und Phobien, Migräne und Magengeschwüre als lebensfähige und eigenständige Gebilde, die verschiedene Spezialisten erfordern, ohne uns bewußt zu machen, daß alle möglicherweise die gleiche Quelle haben.

Der Grund dafür, daß es eine einzige Abwehr gibt, ist, daß die physiologischen Prozesse der Verdrängung in Gang gesetzt werden, um jedem Schmerz zu begegnen, ungeachtet seiner Quelle. Wenn die Schmerzen massiv und anhaltend sind und die Verdrängung ihrer Aufgabe gewachsen ist, dann kommt es zu einer globalen Repression mit wenig Chancen auf größeres Ausagieren. Doch häufiger hat die Verdrängung sozusagen Lecks, durch welche die Gefühle nach oben in Richtung auf das Bewußtsein aufsteigen können. Die Person geht mit diesen Lecks um, indem sie sekundäre Abwehrmechanismen anwendet. Diese sind das, was die Freudianer als primäre Abwehr­mechanismen bezeichnen: Verleugnung, Projektion, Reaktionsbildung etc.

Die Arten der Abwehr jedoch sind so verschieden wie die Menschen. Einige wehren ab, indem sie in ihren Kopf flüchten und sich mit Ideen, Philosophien und Glaubens­systemen beschäftigen. Andere wehren mit einer Flut von Aktivitäten ab, die das Gefühl fernhalten. Wieder andere reden unablässig.

Die Funktion der sekundären Abwehrmechanismen besteht darin, in die Bresche zu springen, wenn die Verdrängung versagt. Sie haben sowohl einen qualitativen als auch einen quantitativen Aspekt. Der qualitative Aspekt bedeutet, daß das betreffende Gefühl ein Verhalten fördert, das gewöhnlich Hoffnung und Schmerzvermeidung verkörpert. Der quantitative Faktor beinhaltet die Energie der Einprägung. Die Stärke des Traumas oder das Maß der Entbehrung bestimmt die Kraft der Abwehr. Dann kann die Person nicht aufhören zu reden und muß ständig ihre Energie über andere »ausgießen«. Der qualitative Aspekt könnte das Gefühl sein, daß keiner jemals zuhörte, keiner interessiert war. So forciert die Person ihre Sache und zwingt die anderen, dauernd zuzuhören. Die Stärke der Abwehr ließe sich auch daran erkennen, wie laut sie spricht und mit welcher Geschwindigkeit sie ihre Sätze hervorbringt. In der Therapie reden solche Menschen die ganze Zeit über Gefühle.

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Wir haben also einen Abwehrmechanismus, die Verdrängung, und dann sekundäre Abwehrmechanismen, die bei jedem von uns eigenwillige Mittel sind, die wir gefunden haben, um Schmerz zu vermeiden und unsere unerfüllten Bedürfnisse zu befriedigen, während sie die Energie des Fühlens binden oder freisetzen.

Zwar benutzen manche Personen Verleugnung und andere Projektion, doch in Wahrheit ist Verdrängung in allen Fällen Verleugnung des wirklichen Gefühls. Jeder Mensch, der Schmerzen hat, leugnet. Die Biologie läßt nichts anderes zu. Man braucht nicht alle Abwehrvorgänge auswendig zu lernen, die in der freudianischen Literatur aufgezählt sind; die Zahl der sekundären Abwehr­mechanismen ist unendlich. Eine Patientin von mir pflegte unmittelbar vor einem Gefühl fest die Fäuste zu ballen. Als ich darauf bestand, sie solle sie lockern, konnte sie sofort in alte Gefühle eintreten.

Bei der Neurose geht es in Wirklichkeit darum, daß Menschen ihren Schmerz zu lösen und Wege zu finden versuchen, das zu bekommen, was wie Liebe aussieht. Das ist das natürlichste menschliche Unterfangen. Daß wir uns vor unserem Schmerz verstecken, bedeutet nicht, daß er nicht existiert. Wir tun nichts weiter, als uns vor uns selbst zu verstecken. Ist das nicht ein Paradox? Wir mißachten ständig die eine Sache, die uns befreien kann. Kein Wunder, daß wir bei allen anderen objektiv sein können, aber niemals bei uns selbst. Dieses Selbst ist verborgen, so daß wir nichts von ihm wissen. Das verdrängte Gefühl verschmilzt mit unserem Verhalten. Es ist die Vergangenheit, die ständig in der Gegenwart zu finden ist. Deshalb bringt der Neurotiker Vergangenheit und Gegenwart durcheinander. Der Schmerz, nicht geliebt zu werden, bleibt im Unbewußten verdeckt bestehen, während wir uns bemühen, uns geliebt zu fühlen.

Schmerz ist ein Segen, denn wenn er gefühlt wird, setzt er heilende Kräfte in Gang. Wir dürfen ihn nicht als Fluch betrachten. Auch wenn er wie eine Bedrohung aussieht, ist er eine wohltätige Kraft. Er wartet, bis wir alt und stark genug sind, um ihn zu fühlen.

 

Endorphine: natürliche Schmerztöter 

Wie bleibt verdrängter oder weggesperrter Schmerz verdrängt und besteht weiter? Die Antwort auf diese Frage liegt in der Existenz einer natürlichen Substanz, die der Körper zur Kontrolle und Bewältigung von Schmerz erzeugt.

Wir wissen heute, daß Schmerz sowohl durch das elektrische System als auch durch ein mitwirkendes chemisches Gegenstück abgeblockt wird. Wenn man eine Elektrode beispielsweise tief in das Gehirn einer Katze einsetzt, in eine als das peri-aquä­duktale Grau bekannte Struktur, dann stellt die elektrische Stimulation das Schmerzempfinden ab.

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Diese Sperre kann aufgehoben werden, indem man eine Chemikalie injiziert, welche die eigene Produktion einer morphinähnlichen Substanz stoppt. Die elektrische Stimulierung verursacht die Herstellung dieser morphin­ähnlichen Substanz im oberen Hirnstamm. Die Menge der so produzierten Substanz scheint dem Ausmaß des Schmerzes zu entsprechen.

Diese morphinähnliche Substanz ist jetzt durch die Entdeckung einer natürlich erzeugten Chemikalie isoliert worden, die in ihrer Molekularstruktur mit dem Morphin identisch ist. Man bezeichnet sie als Endomorphin oder Endorphin. Schmerz wird von diesen Endorphinen und anderen hemmenden Molekülen sowohl abgestellt als auch bewältigt. (Ich werde mich auf die Endorphine konzentrieren). Es gibt eine große Familie von Endorphinen, jedes mit einer anderen Funktion. Durch die Endorphine und ihre Wirkung wird die Verdrängung von Schmerz zeitlich aufrechterhalten.

Die Entdeckung der Endorphine ist erst ein Jahrzehnt alt und stellt eine der aufregendsten Entwicklungen in der wissen­schaft­lichen Forschung unseres Landes dar. Ehe die Endorphinmoleküle selbst identifiziert wurden, hatte man ihre Rezeptoren entdeckt. Hans Kosterlitz und John Hughes in Schottland machten die anfänglichen Entdeckungen in bezug auf Opiat­rezeptoren im Gehirn. Im Jahre 1973 zeigten Solomon Snyder und sein Mitarbeiter Candace Pert das erste unglaubliche Verbindungs­glied in der Kette: Der Körper hat ein breites Spektrum von Rezeptoren, an die Drogen auf Morphinbasis sich anheften können. Diese Rezeptoren sind der Grund dafür, daß solche Drogen einen Einfluß auf uns haben. Ohne die Rezeptoren würden die Drogen durch das System gespült, ohne irgendwo festzumachen, und wären im Grunde harmlos.

Implizit besagt diese Entdeckung, daß der menschliche Körper, wenn er mit Rezeptoren ausgestattet ist, deren spezifische Ausgabe darin besteht, Drogen des Morphintyps zu empfangen und zu binden, seine eigenen inneren (endogenen) morphin­ähnlichen Substanzen herstellen muß. Tatsächlich haben Morphin und Heroin nur deshalb eine Wirkung, weil ihre Molekular­struktur die Molekularstruktur dieser intern hergestellten Opiate nachahmt.

Endorphine werden im ganzen Gehirn erzeugt, aber besonders in jenen Bereichen, die sich mit der Verarbeitung und Speicherung von Schmerz befassen. Die Bedeutung dieser Tatsache liegt darin, daß Schmerz nicht nur die Erzeugung seines Gegenteils, seines »Antagonisten«, bewirkt, sondern dies sozusagen im gleichen Hause tut. Wenn massiver Schmerz besteht, können sich die Rezeptor­stellen für Endorphine vermehren, um sich der zunehmenden Belastung anzupassen. Langfristiger Streß verbraucht möglicher­weise unsere Endorphinvorräte, so gut wir diese auch herzustellen vermögen.

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  Endorphine: Schlüssel und Schlösser beim Schmerzabblocken  

Zwischen den Nervenzellen besteht ein Synapse genannter Graben. In dieser Synapse werden alle Arten von Chemikalien oder Gehirnhormonen sekretiert, die als Neurotransmitter bekannt sind. Chemikalien wie die Endorphine behindern also das Schmerz­signal und helfen bei der Erzeugung von Analgesie. Neuere Informationen deuten darauf hin, daß die hemmenden oder verdrängenden Transmitter möglicherweise auf globale Weise arbeiten, indem sie dahin gehen, wo sie gebraucht werden, und nicht nur über spezifische Synapsen.

Sie haben die Wirkung, daß uns der Schmerz nicht bewußt ist. Wenn wir Patienten auf niedrigere Bewußtseins­ebenen hinunter­helfen, spüren sie diesen Schmerz sofort. Der Körper weiß immer um den Schmerz und schreit seine Botschaft heraus, aber diese Botschaft kann die neurale Schranke nicht durchdringen. Statt dessen steigert sie den Spiegel der Streßhormone und die Körpertemperatur und bewirkt eine starke Zunahme der Anzahl arbeitender Gehirnzellen — die alle an der Sperre mitwirken.

Die Endorphine können nur einschränkende und hemmende Botschaften zwischen den Nervenzellpfaden hin und her schicken; sie können den Schmerz selbst nicht aus dem System verschwinden lassen.

Wenn man die erschütternden Schmerzen meiner Patienten aus ihrer frühen Kindheit gesehen hat, dann ist die Endorphin­produktion verständlich. Im Verlauf einer langen evolutionären Periode hat diese Art von Schmerz die Schaffung immer potenterer schmerzhemmender Substanzen verursacht, was darauf hinweist, daß im menschlichen System nichts ohne Grund existiert.

Endorphine und ihre Rezeptoren wirken wie Schlüssel und Schlösser. Endorphine sind die Schlüssel, die in die Schlösser (die Rezeptoren) der Zellwände passen. Dann öffnet sich die Zellwand, um die Endorphine einzulassen. Dieser ganze Vorgang ist das Mittel, durch das Informationen in einem Teil des Körpers an andere Teile weitergegeben werden. Deshalb sind Endorphine und ihre Rezeptoren als informationelle Substanzen bekannt.

Bei der Heroinabhängigkeit nimmt die Droge den Platz der Endorphine an den entsprechenden Stellen ein und kann ebenfalls einen Aufbau von weiteren Rezeptoren zur Aufnahme wachsender Dosen der Droge aufbauen. Bei der Abhängigkeit bestehen jetzt mehr Rezeptoren, die nach Befriedigung verlangen, so daß der Abhängige, wenn er sich von der Droge zu befreien versucht, das Entzugssyndrom erlebt. Der Schmerz wird akut. Wenn die eingeprägte Erinnerung an den Schmerz so massiv ist, daß unsere innere Endorphinproduktion nicht genügend Vorräte bereitstellen kann, um ihn zu bezwingen, dann braucht der Betreffende einen äußeren Stoff, um das Endorphinsystem zu stärken. Zu diesem Zweck werden häufig Beruhigungs- und Schmerzmittel zu Hilfe genommen.

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Meinen eigenen Beobachtungen zufolge sind Menschen, die eine schreckliche Kindheit oder eine traumatische Geburt erlitten haben, leicht Opfer einer Abhängigkeit, weil die natürlichen Schmerztöter, die Endorphine, trotz ihrer Stärke die Aufgabe nicht bewältigen können.

Ein Mensch, der die heftigen Schmerzen eines Herzanfalls erleidet, erhält eine Morphinspritze und fühlt sich plötzlich wohl. Wenn die Wirkung vergangen ist, hat er wieder Schmerzen. Durch die Endorphin­produktion sorgen wir in ähnlicher Weise dafür, daß wir uns wieder gut fühlen und keine Berührung mehr mit dem haben, was wehtut. Wenn das geschieht, hören wir zu fühlen auf. Im Unterschied zum Herzpatienten und seiner Morphinspritze haben wir etwas, das einer ständigen Zufuhr von Endorphinen zur Bewältigung eingeprägten Schmerzes entspricht.

Endorphine besitzen die Geheimnisse, mit denen man die Ursachen vieler Krankheiten aufdecken kann. Man könnte sie geradezu als Barometer des Mißbehagens in unserem System bezeichnen, denn ihr Spiegel deutet auf das Ausmaß des Schmerzes hin, mit dem wir umzugehen haben. Aufgrund dieser engen Beziehung wird das Auftreten einer Krankheit oft von hohen Endorphin­spiegeln begleitet. Sobald die Verdrängung einmal besteht, hören wir nicht nur zu fühlen auf, sondern ihre Existenz hindert uns auch an der Erkenntnis, daß wir verdrängen. Wenn die Verdrängung ein Depression genanntes kritisches Niveau erreicht, fühlen wir die Auswirkungen der Verdrängung.

Interessant an der Verdrängung ist, daß sie das Fühlen begrenzt. Fast jedermann glaubt, er hätte Gefühle. Er fühlt tatsächlich — bis an die Grenze seiner Verdrängung. Daß er nicht voll gefühlt und sich selbst nicht ganz erfahren hat, entdeckt er erst, wenn die stärkste Verdrängung beseitigt ist. Wer mehr verdrängt, hat engere Gefühlsgrenzen als andere. Da er aber keinen anderen Bezugs­rahmen hat, mag er sich dennoch als fühlenden Menschen betrachten, selbst wenn er auf einer Skala, die bis zehn reicht, nur bis vier empfinden kann. Erst dann, wenn man seinen Schmerz fühlt, wird die volle Breite der Gefühlsskala offenbar.

Wir haben gesehen, daß Endorphine durch Elektrodenstimulation bestimmter Teile des niederen Gehirns hervorgerufen werden können. Sie können auch durch Akupunkturnadeln stimuliert werden und, was sehr wichtig ist, durch Gedanken. Gedanken, die Hoffnung und/oder Glauben erzeugen, können ebenfalls deren Produktion auslösen. Man hat zum Beispiel festgestellt, daß ein Zahnpatient, wenn man ihm sagt, er habe ein Schmerzmittel erhalten, obwohl er in Wirklichkeit nur ein Placebo bekommen hat, dennoch weniger Schmerzen empfindet und mehr Endorphine erzeugt. Wenn wir denken, etwas werde bewirken, daß wir uns besser fühlen, dann wird es das auch tun.

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Warum gibt es Endorphine?  

Warum gibt es überhaupt Rezeptoren im Gehirn, vor allem solche, die dazu bestimmt sind, Pflanzen­(Mohn)­derivate zu empfangen? Sicher haben wir bei der Evolution von Pflanzen zu höher entwickelten Organismen niemals unsere Ursprünge verloren. Wir benutzen Elemente unserer langen Entwicklungsgeschichte, die uns beim Überleben geholfen haben. Endorphine findet man in den niedersten Tierarten, sogar in Würmern. Noch erstaunlicher ist, daß sie selbst von zweizelligen mikro­skopischen Protozoen hergestellt werden! Sie sind das Fundament der Evolution.

Es ist also kein Wunder, daß Endorphine eine Geschichte haben, die vielleicht bis zu den Pflanzen zurückreicht. Unsere Systeme scheinen irgendeine historische Abtast­vorrichtung aus unserer evolutionären Vergangenheit zu haben, die vielleicht hilfreich ist. Selbst menschliches Sperma enthält Opiate. Es scheint, als sei fast jede Körperöffnung ein Mittel, einige der Stressoren zu entladen, die im menschlichen System existieren. Fast jede Flüssigkeit im Körper (einschließlich der Tränen) weist Anzeichen von schmerztötenden Substanzen auf.

 

  Die Vergangenheit ist der Schlüssel zum Überleben  

Warum speichern wir die Vergangenheit? Weil in ihr die Schlüssel zum zukünftigen Überleben liegen. Erinnerungen werden gespeichert, damit sie zur Lösung und Integration an die Oberfläche steigen können. Es ist nicht so, als würden Traumata auftreten, ihren Schaden anrichten und dann wieder verschwinden. Ganz und gar nicht. Sie bleiben im System, so daß wir uns mit ihnen befassen können, wenn wir älter und stärker sind. Etwas Derartiges muß im langen Prozeß der menschlichen Evolution geschehen sein. Nichts geht bei der Evolution jemals verloren; statt dessen wird es unterdrückt und gespeichert. Wir haben die Kapazität, Schwänze zu entwickeln, aber der genetische Kode hat sich verändert. Wenn wir es für nützlich hielten, könnten Techniken des genetischen Engineering vielleicht eines Tages so weit sein, daß wir wieder Schwänze einprogrammieren!

Endorphine werden ungeachtet der Natur des Stresses eingesetzt, sei er physisch oder psychisch. Das System sagt einfach: »Schmerz ist Schmerz.« Dieses System erlaubt uns, unbewußt zu sein, und diese Unbewußtheit ist unser genetisches Erbe.

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Es bedeutet, daß wir eine große Menge von Traumata ignorieren, verleugnen und nicht zur Kenntnis nehmen können, während wir unser alltägliches Leben leben. Die Endorphine sind die Agenten und der Ursprung der Unbewußtheit. Sie sind auch teilweise für unsere gegenwärtige Zivilisation verantwortlich. Ohne Verdrängung würden die meisten von uns so sehr leiden, daß es zweifelhaft ist, ob die Zivilisation überhaupt hätte fortschreiten können. Dank der Verdrängung jedoch können wir weiter produzieren und arbeiten, auch wenn uns Schmerzen quälen; tatsächlich ist es oft der Schmerz, der uns zum Produzieren treibt. Gewöhnlich wissen wir nicht, daß wir Schmerzen haben; wir nehmen nur den Antrieb wahr, den der Schmerz bildet.

Neurose ist das Geschenk der Endorphine. Sie sind ein Segen und eine Geißel. Sie machen uns unseren eigenen Körper zum Geheimnis, unser Verhalten zu einem Puzzle, unsere Symptome zu einem Rätsel. Sie retten uns und verlangen dann, daß wir dafür mit unserem Leben bezahlen. Das ist ihr Erbe.

 

Schmerz, Verdrängung und die Endorphine bei Krankheit

Beim Nationalen Kongreß für Endokrinologie 1984 in Kanada legte K. Tsunashima dar, daß die Hemmung der Endorphine eine nützliche Krebstherapie bei Tieren sei. Nachdem man ihnen Krebszellen eingepflanzt hatte, wurden Mäusen bestimmte Arten von Endorphinen injiziert. Das Ergebnis war, daß die Injektionen das Krebswachstum förderten. Seltsam! Schmerztötende Chemikalien fördern die Krankheit; noch prägnanter ausgedrückt, könnte man sagen, daß Verdrängung der Krankheit gleichkommt. Wenn man denselben Tieren dann Naloxon injizierte, einen Endorphin-Antagonisten, nahmen sowohl ihr Leiden als auch ihre Überlebensrate meßbar zu. Viele Studien sind zu der gleichen Schlußfolgerung gelangt. Im wesentlichen fördert aktives Leiden das Überleben, während Verdrängung es behindert. Schmerz plus Verdrängung kommt also der Krankheit gleich, während Angst ohne Verdrängung Überleben bedeuten kann.

Es ist also nicht bloß der Schmerz, der uns anfällig für Krankheit macht; es ist der Schmerz plus Verdrängung. Man hat mit Ratten ein Experiment durchgeführt, bei dem den Tieren ständig in die Schwänze gekniffen wurde. Diese Ratten wurden zu gierigen Fressern, und, was nicht überraschend ist, ihr Endorphinspiegel stieg zu Beginn an. Wenn man ihnen jedoch Naioxon injizierte, verhielten sie sich zunächst, als hätten sie Schmerzen, und zogen sich dann zurück, wobei sie sich schüttelten wie nasse Hunde. Schließlich hörte das Symptom des Überfressens auf. Dieses Symptom wurde also durch Naioxon umgekehrt, doch gegen den eigentlichen Schmerz bewirkte Naloxon nichts; es beeinflußte nur die Neurotransmitter, welche die Verdrängung des Schmerzes weitergaben.

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Die gegenwärtige Forschung weist darauf hin, daß alles, was Schmerzen dämpft — seien es Beruhigungs­mittel, Anästhetika oder endogene Schmerztöter —, auch das Immunsystem dämpft. Schon eine einzige Morphinspritze beeinträchtigt die natürliche Reaktion der Killerzellen. Natürliche Killerzellen sind die Zellen des Immunsystems, die eindringende Antigene, die Träger von Krankheit, umbringen. Wenn andere Chemikalien das Morphin am Wirken hindern, wird die natürliche Aktivität der Killerzellen gesteigert. Dieser wichtige Aspekt des Immunsystems variiert daher je nach dem Grad der Verdrängung. Verdrängung wirkt im Gehirn wie auch in den winzigen Zellen, die durch den Blutkreislauf zirkulieren. Tiefer Schmerz bedeutet tiefe Verdrängung, und die wiederum vergrößert das Krebsrisiko. Analgetika, Tranquilizer oder chemisch herbeigeführte Ruhe vermindern den Schmerz, beeinträchtigen aber gleichzeitig die Immunfunktion. Sie sind ein Ensemble: Was das eine beeinflußt, beeinflußt auch das andere.

Man hat auch festgestellt, daß kämpferische weibliche Mäuse weniger virusinduzierte Tumore haben als nicht kämpferische. Je spontaner und aggressiver die Maus ist, desto weniger neigt sie zu Krebs. Der spontane und aggressive Mensch erleidet vielleicht einen Herzinfarkt, wird jedoch seltener an Krebs erkranken.

Die Art, wie wir unser Leben leben, ist eine Widerspiegelung unserer grundlegenden physiologischen Tendenzen. Die Forschung weist darauf hin, daß jemand, der verdrängt und eher »innenorientiert« ist, mit viel größerer Wahrscheinlichkeit Erkrankungen erleidet, die mit dem Zusammenbruch des Immunsystems einhergehen, wohingegen der Personentyp mit hoher Intensität eher zu Herzkrankheiten oder Schlaganfall neigt. Die Formeln scheinen also zu lauten:

Schmerz + Verdrängung = Krankheit
Schmerz + Leiden = Überleben

Das impliziert, daß aktives Leiden, wenn schon nicht heilend, so doch zumindest lindernd ist. Akute Angst und Schmerz, gefühlt und unmittelbar erfahren, scheinen daher eine präventive Wirkung gegen katastrophale Erkrankungen zu haben.

Warum ist das so? Warum sollten Angstgefühle das Überleben fördern? Zum einen, weil der Körper sich unter solchen Umständen in einem harmonischen Zustand befindet. Man hat Schmerzen, und man fühlt sie. Man funktioniert innerhalb einer konsistenten Realität. Ein Mensch, der Schmerzen hat, aber weiterhin funktioniert, als existiere der Schmerz nicht, befindet sich natürlich nicht in Harmonie mit sich selbst. Es findet ein innerer Krieg statt, bei dem ein Teil des Systems einen anderen bekämpft.

Im Gegensatz zu unseren früheren Annahmen ist das Fühlen von Schmerz auf lange Sicht adaptiv, während das Nicht-Fühlen nicht-adaptiv ist. Ich möchte gleich darauf hinweisen, daß das Nicht-Fühlen von Schmerz bei einem Kind adaptiv ist, auf lange Sicht aber nicht-adaptiv wird. Hier stoßen wir wieder auf eine Dialektik: Was uns in frühen Jahren das Leben rettet — Verdrängung —, ist das, was uns schließlich umbringt. Wenn man sich also fragt, ob ein Mensch an Liebesmangel sterben kann, lautet die Antwort ja. Große Strenge und Liebesmangel im frühen Leben erzeugen später Schmerz und dessen Verdrängung. Schmerz ist die raison d'etre der Verdrängung. Sie wird durch den Schmerz ins Leben gebracht.

Ich erwähnte eben den Gebrauch von Naloxon als Mittel, die Verdrängung zu blockieren. Es gibt einen chemikalienfreien Weg, dasselbe Ergebnis zu erzielen — indem die Person ihren Schmerz fühlt (d.h. wiedererlebt) und integriert. Meiner Meinung nach verringert die Primärtherapie den erforderlichen Ausstoß von Endorphinen und damit die Verdrängung. Im Gegensatz zur Neurose, die wie eine ständige Morphin­zufuhr ist, ähnelt die Primärtherapie einer starken Naloxonspritze. Sie fördert das Überleben, weil sie die Verdrängung auf natürliche Weise verringert, indem sie sich mit dem Element befaßt, durch das die Verdrängung überhaupt erzeugt wurde — dem Schmerz.

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